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Virginia Woolf: Orlando – Geschichte eines Lebens || Für die eBook-Ausgabe neu lektoriert und mit modernisierter Rechtschreibung. Voll verlinkt, mit eBook-Inhaltsverzeichnis und zahlreichen Erklärungen zeittypischer Ausdrücke. | Virginia Woolf schickt ihren Helden auf einen Parforceritt durch Raum, Zeit, soziale Milieus und sogar Geschlechterrollen. Geboren im 16. Jahrhundert als Adeliger in London, verschlägt es Orlando nach Konstantinopel. Dort erwacht er nach mehrtägigem Schlaf als Frau und setzt sein Leben in weiblicher Rolle fort. Durch diese radikale Änderung gewinnt er/sie erhellende Einsichten in die Beziehung der Geschlechter, die ›Normalsterblichen‹ verborgen bleiben. Zurück in London – wir schreiben inzwischen das späte 19. Jahrhundert – wird sie zur erfolgreichen Schriftstellerin. Im Jahr 1928, das Buch endet hier, sehen wir die nun etwa 300jährige Orlando, äußerlich eine Frau von Mitte 30, die Fahrt in ihrem neuen Automobil genießen. | ›Orlando‹ ist ein Meisterwerk, angesiedelt zwischen Schelmenroman und Sozialstudie. Hier kann Virginia Woolf ihrer unbändigen schriftstellerischen Phantasie freien Lauf lassen, gepaart mit elegant leichtem Schreibstil, der die unglaubliche Geschichte wie selbstverständlich dahinfließen lässt.
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Seitenzahl: 432
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Innentitel
Klappentext
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Über die Autorin
Impressum
Fußnoten
Virginia Woolf schickt ihren Helden Orlando auf einen wahren Parforceritt durch Raum, Zeit, soziale Milieus und sogar Geschlechterrollen, wie ihn kein anderes Buch der Literaturgeschichte zu bieten hat. Geboren im 16. Jahrhundert als Adeliger in London, verschlägt es Orlando nach einer tragischen Liebe als Botschafter nach Konstantinopel. Dort erwacht er nach mehrtägigem Schlaf als Frau und setzt sein weiteres Leben in weiblicher Rolle fort. Durch diese radikale Änderung, die nicht weiter erklärt, sondern fast selbstverständlich hingenommen wird, gewinnt er/sie erhellende Einsichten in die Beziehung der Geschlechter, die ›Normalsterblichen‹ verborgen bleiben.
Zurück in London – wir schreiben inzwischen das späte 19. Jahrhundert – entwickelt Orlando literarische Ambitionen, kommt mit berühmten Schriftstellern ihrer Zeit zusammen und publiziert schließlich selbst. Die Handlung endet im Jahr der Publikation des Buches, 1928. Die nun etwa 300jährige Orlando, äußerlich eine Frau von Mitte 30, genießt die Fahrt in ihrem neuen Automobil.
›Orlando‹ ist ein Meisterwerk, angesiedelt zwischen Schelmenroman und Sozialstudie. Hier kann Virginia Woolf ihrer unendlichen schriftstellerischen Phantasie freien Lauf lassen, gepaart mit elegant leichtem Schreibstil, der die unglaubliche Geschichte wie selbstverständlich dahinfließen lässt.
© Redaktion eClassica, 2018
Über die Autorin: Virginia Woolf (1882–1941) war eine der bedeutendsten europäischen Schriftstellerinnen und gab der Literatur des 20. Jahrhunderts völlig neue Impulse. Zeitlebens unter Depressionen leidend, beging sie im Alter von 59 Jahren Selbstmord.
Lesen Sie mehr über die Autorin im Anhang
Er – denn es war kein Zweifel über sein Geschlecht möglich, wenn auch die Kleidermode jener Zeit dazu beitrug, es halbwegs zu verwischen – er also war damit beschäftigt, den von den Dachbalken herab baumelnden Kopf eines Mohren geflissentlich zu attackieren. Dieser Kopf hatte die Farbe und mehr oder weniger auch die Form eines Fußballs, wenn man von den verschrumpften Backen und einer oder zwei Strähnen groben, dürren Haares absah, das den Fasern einer Kokosnuss glich. Orlandos Vater (vielleicht war es auch sein Großvater gewesen) hatte den Schädel von den Schultern eines gewaltigen Heiden heruntergeschlagen, der sich auf den barbarischen Wüstenfeldern Afrikas unter dem Halbmond gegen ihn erhoben hatte; und nun hing er in dem mächtigen Hause des Lords, der ihn abgehauen hatte, und schwang sacht schaukelnd und unablässig in der Brise, die ohne Unterlass durch die Räume des Dachgeschosses strich.
Orlandos Väter waren über Felder geritten – Asphodelusfelder1, und steinige Felder, und Felder, die von fremden Flüssen getränkt wurden; und sie hatten Köpfe von vielerlei Farben von vielerlei Schultern gehauen und sie heimgebracht, um sie vom Sparrenwerk herabbaumeln zu lassen. Orlando wollte es ihnen gleichtun, das gelobte er. Da er aber erst sechzehn Jahre zählte und noch zu jung war, um mit ihnen nach Afrika oder Frankreich zu reiten, so stahl er sich von seiner Mutter und von den Pfauen hinweg und ging in seine Dachkammer, um da seine Hiebe und Stöße zu führen und mit seiner Klinge die Luft zu zerhauen. Zuweilen hieb er die Schnur durch, sodass der Schädel bumsend zu Boden fiel; dann musste er ihn wieder aufhängen, wobei er ihn in einer Art von ritterlicher Wallung so hoch anbrachte, dass er fast außer Reichweite war und nun mit eingesunkenen, schwarzen Lippen triumphierend auf seinen Feind herab grinste.
Der Schädel schwang hin und her, denn das Haus, in dessen höchstem First er wohnte, war so riesengroß, dass selbst der Wind sich darin wie in einer Falle zu fangen schien und hierhin und dorthin wehend durch die Räume fegte, Winter und Sommer. Die grünen Wandteppiche aus Arras2 mit den Jägergestalten darauf bewegten sich unablässig. Orlandos Väter waren Edelleute gewesen, seit es sie gab. Sie kamen aus den Nordlandnebeln und trugen Adelskronen auf den Häuptern.
Wie kamen die Bahnen lichtloser Schwärze und die gelben Farbtümpel, die den Boden pflasterten, in den Raum? Brachte sie nicht die Sonne hervor, die durch die farbige Glasmalerei eines mächtigen Wappenschildes am Fenster fiel? Orlando stand nun mitten im gelben Leibe eines heraldischen Leoparden. Wenn er die Hand auf den Sims legte, um das Fenster aufzustoßen, war sie alsbald rot und blau und gelb gefärbt wie ein Schmetterlingsflügel. Wer sinnbildliche Züge liebt und Freude daran hat, sie zu deuten, mag hier zur Kenntnis nehmen, dass Orlandos wohlgeformte Beine, sein anmutiger Körper und seine eleganten Schultern ganz und gar mit den mannigfachen Farbtönen dieses heraldischen Lichtes geschmückt waren, dass aber Orlandos Gesicht, als er das Fenster aufgestoßen hatte, allein von der Sonne beleuchtet war.
Ein ehrlicheres, trotzigeres Gesicht würde man auf der ganzen Welt vergeblich suchen. Glücklich die Mutter, die das Leben eines solchen Menschen im Schoße trug, glücklicher noch der Biograph, der es schildert! Sie braucht sich niemals zu grämen, und er braucht sich von keinem Romanschreiber noch Dichter Beistand zu leihen. Von Heldentat zu Heldentat, von Ruhm zu Ruhm, von Ritterdienst zu Ritterdienst muss ein solcher Mann dahin schreiten, den treulichen Aufzeichner seiner Laufbahn hinter sich, bis sie das höchste Ziel erreicht haben, nach dem jeweils ihre Sehnsucht langt.
Orlando war, das zeigte sein Anblick sogleich, für eine solche Laufbahn geradezu mit Bedacht geformt. Das Rot seiner Wangen bedeckte ein Flaum, samt und zart wie Pfirsichhaut, auf den Lippen war dieser Flaum nur wenig dichter als auf den Wangen. Diese Lippen waren vornehm und ließen, ein wenig hochgezogen, Zähne von untadeliger mandelfarbener Weiße aufschimmern. Nichts störte die kurze, straffe Linie der pfeilgeraden Nase; das Haar war schwarz, die Ohren klein und fest an den Kopf gefügt. Leider aber, leider kann man diese Aufzählung jugendlicher Schönheit nicht vollenden, ohne der Stirn und der Augen Erwähnung zu tun. Leider, leider kommen ja die Menschen selten ohne diese drei Dinge auf die Welt; denn – dies zur Begründung – im Augenblick, da wir Orlando betrachten, wie er so am Fenster stand, müssen wir einräumen, dass er Augen hatte wie wassergefüllte Veilchenkelche, so groß, dass es aussah, als hätte der Tau sie überflutet und geweitet; und eine Stirn wie die Wölbung einer marmornen Kuppel, fest umschlossen von den glatten Flächen seiner Schläfen. Sobald wir nur einen Blick tun auf Augen und Schläfen, geraten wir einerseits in lobpreisenden Überschwang. Sobald wir nur einen Blick tun auf Augen und Schläfen, müssen wir auch tausend peinliche Unstimmigkeiten einräumen, die nicht zu sehen das ernstliche Bestreben eines jeden guten Biographen ist.
Manches, was er sah, verstörte Orlandos Gemüt: So der Anblick seiner Mutter, einer sehr schönen Dame in grünem Gewand, die durch den Park wandelte, um die Pfauen zu füttern, gefolgt von Twitchett, ihrer Magd. Anderes wieder entzückte ihn: So die Vögel und die Bäume, und wieder anderes weckte in ihm die Liebe zum Tode: Das taten der Abendhimmel und die zum Horst heimkehrenden Krähen; und alles dies, das als andrängende Schau die gewundene Treppe zu seinem Hirn (seinem geräumigen Hirn) hinan stieg, dazu die Geräusche des Gartens, Hammerschlag und das Dröhnen der Holzfälleräxte – alles dies löst nun jenes Getümmel und jenen Aufruhr von Leidenschaften und Erregungen des Gemütes aus, die jeder gute Biograph verabscheut.
Aber treiben wir unseren Bericht voran: Orlando zog sich langsam ins Zimmer zurück, setzte sich an den Tisch, nahm mit dem ein wenig geistesabwesenden Gebaren eines Menschen, der sein ganzes Leben lang um immer die gleiche Stunde immer die gleiche Verrichtung tut, ein Schreibheft zur Hand, auf dessen Deckel zu lesen stand ›Aethelbert – Ein Trauerspiel in fünf Akten‹ – und tauchte eine alte fleckige Gänsefeder in die Tinte.
Bald hatte er zehn Seiten und mehr mit Dichterei bedeckt. Sie floss ihm offenbar leicht aus der Feder, aber sie war abstrakt. Laster, Verbrechen und Elend waren die handelnden Gestalten seines Dramas; es kamen Könige und Königinnen unmöglicher Länder darin vor; schauerliche Verschwörungen stürzten sie ins Verderben; edle Gefühle überrannen sie von Kopf bis Fuß; da wurde kein einziges Wort so gesagt, wie Orlando selbst es gesagt haben würde, sondern es war alles mit einer Geläufigkeit und glatten Anmut geformt, die bemerkenswert genug war, wenn man bedenkt, dass er noch nicht siebzehn Jahre zählte, und dass das sechzehnte Jahrhundert noch etliche Jahre seiner Bahn zu durchmessen hatte. Schließlich kam er aber doch zum Stillstand. Er schilderte, was alle jungen Dichter bis in alle Ewigkeit schildern werden: Die Natur; und um das Abbild des Baumgrüns recht getreu dem Vorbild zu machen, sah er sich (und hierbei erwies er mehr Kühnheit als sonst) das Ding selbst an, das sich in diesem Falle in der Gestalt eines unterm Fenster wachsenden Lorbeerbusches darbot. Danach konnte er natürlich nicht weiterschreiben. Baumgrün in der Natur und Baumgrün in der Literatur sind zwei verschiedene Dinge. Natur und Literatur sind anscheinend von gegenseitiger Abneigung erfüllt: Bring sie zusammen, und sie zerreißen einander zu Fetzen. Das Abbild des Baumgrüns, dessen wurde Orlando nun inne, verdarb seinen Reim und zerspellte sein Versmaß. Obendrein hat die Natur noch ihre eigenen Tücken. Hat man einmal aus dem Fenster auf Bienen inmitten von Blüten geblickt, oder auf einen gähnenden Hund, oder auf einen Sonnenuntergang, hat man einmal gedacht: »Wie viele Sonnenuntergänge werde ich noch sehen?« und so weiter und so weiter (der Gedanke ist allzu bekannt, als dass es sich verlohnte, ihn auszuspinnen) – so lässt man auch sogleich die Feder fallen, nimmt seinen Rock, rennt aus dem Zimmer und stößt sich dabei den Fuß schmerzhaft an einer gemalten Truhe. Denn Orlando war ein wenig täppisch. Er vermied es sorgsam, einer Menschenseele zu begegnen. Da kam zum Beispiel Stubbs, der Gärtner, auf dem Wege daher. Orlando versteckte sich hinter einem Baum, bis der Mann vorüber war. Er verließ den Park durch eine kleine Pforte in der Mauer. Er ging ohne Verweilen an allen Ställen, Hundezwingern, Brauhäusern, Zimmermannswerkstätten, Waschhäusern, Talglichtziehereien, an allen den Arbeitsräumen, wo man Ochsen schlachtete, Hufeisen schmiedete, Wämser nähte – denn das Haus war in Wahrheit eine Stadt und dröhnte vom Arbeitslärm der Menschen bei ihren mannigfachen Verrichtungen – ging, sage ich, an alledem vorüber und gewann den farnigen Pfad, der durch den Park hügelan führte, ungesehen. Es besteht vielleicht eine Verwandtschaft zwischen den menschlichen Eigenschaften, eine zieht die andere mit sich durch unser Leben; und der Biograph tut gut, hier die Tatsache zu beachten, dass täppisches Ungeschick sich oft mit der Liebe zum Einsamsein verbindet. Da er über eine Truhe gestolpert war, liebte Orlando natürlich einsame Stätten, weite Ausblicke und das Gefühl, auf ewig, auf ewig, ja, auf ewig allein zu sein.
So sagte er denn nach einem langen Schweigen erlöst aufatmend: »Ich bin allein!« – öffnete also zum ersten Mal in diesem Bericht die Lippen. Er war durch Farnkräuter und Hagedorngebüsch sehr rasch bergan gegangen, Rotwild und Waldvögel aufscheuchend, bis er an eine Stelle kam, die ein einzeln stehender Eichbaum krönte. Sie lag sehr hoch, so hoch, dass man neunzehn englische Landschaften drunten liegen sah und an klaren Tagen gar dreißig oder vielleicht auch vierzig, wenn das Wetter sehr schön war. Zuweilen sah man den Ärmelkanal und gewahrte, wie Woge auf Woge zum Ufer zog. Flüsse sah man und Lustboote, die auf ihnen dahinglitten; Galeonen, die aufs Meer hinausfuhren; und Kriegsschiffe mit Rauchwölkchen daran, aus denen das dumpfe Gebums von Kanonenschüssen hervordröhnte; und Forts an der Küste; und Schlösser inmitten der Wiesen; und hier einen Wachtturm; und dort eine Festung; und dann wieder ein mächtiges Herrenhaus wie das von Orlandos Vater, massig wie eine kleine Stadt eingezwängt in das Tal, das von Wällen umrundet war. Im Osten erblickte man die Türme Londons und den Rauch der großen Stadt; und vielleicht, wenn der Wind aus der richtigen Ecke wehte, zeigte sich ganz am Horizont sogar der Snowdon3 bergriesenhaft mit felsigem Gipfel und zackigem Kamm inmitten der Wolken. Einen Augenblick lang stand Orlando zählend, angestrengt spähend, Geschautes erkennend. Dies war seines Vaters Haus, jenes gehörte dem Oheim. Die drei großen Türme da inmitten der Bäume waren Eigentum der Tante. Die Heide war ihnen zu eigen und der Wald, der Fasan und der Hirsch, der Fuchs, der Dachs und der Schmetterling.
Er seufzte tief und schleuderte sich – es lag in seiner Bewegung eine Leidenschaftlichkeit, die eine solche Bezeichnung rechtfertigte – am Fuße eines Eichbaumes auf den Waldboden. Er liebte es, unter all der Vergänglichkeit dieser Sommerwelt das Rückgrat der Erde unter seinem Körper zu spüren (denn dies war die Deutung, die er der harten Wurzel des Eichbaumes gab); oder sie war – Bild drängte sich an Bild – der Rücken eines großen Rosses, auf dem er ritt, oder das Deck eines schlingernden Schiffes – allem war sie vergleichbar, wenn es nur hart war, denn er fühlte, dass er etwas haben musste, daran er seinem überwallenden Herzen Halt geben konnte: Diesem Herzen, das so wild an seiner Brust zerrte; diesem Herzen, das jeden Abend etwa um diese Stunde, wenn er ins Freie ging, mit abenteuerlich süßen und verliebten Liedern angefüllt schien. Am Eichbaum band er es fest, und indessen er so dalag, verebbte allmählich die wallende und kreisende Unruhe in ihm und um ihn; die kleinen Blätter hingen Still herab, Wild blieb stehen; die blassen Sommerwolken verhielten ihren Gang; seine Glieder wurden schwer am Boden; und er lag so still, dass allmählich die Hirsche und Rehe näherkamen und die Krähen ihn umkreisten und die Schwalben ihn in herabschießendem und drehendem Flug umflitzten und die Libellen vorüberschossen, als wäre alle die Fruchtbarkeit und verliebte Betriebsamkeit des Sommers spinnenwebartig um seinen Körper gewoben.
Nach einer Stunde oder so – die Sonne sank nun rasch hinab, die weißen Wolken waren rot geworden, die Hügel waren veilchenfarbig, die Wälder purpurn, die Täler schwarz – tönte eine Trompete. Orlando sprang auf die Füße. Der schmetternde Ton kam aus dem Tal. Er kam aus einem schwarzen Flecken da drunten; einem dicken, scharf abgegrenzten Flecken; einem Labyrinth; einer Stadt, gar einer mit Mauern umgürteten Stadt; er kam aus dem Herzen seines großen Elternhauses, das eben noch finster dalag, nun aber, indessen er hinunterblickte und der einzelne Trompetenstoß sich mit zwei, mit drei, mit vier noch lauter gellenden Stößen paarte, seine Schwärze verlor und sich mit Lichtlöchern bedeckte. Da waren kleine, eilig hinhuschende Lichter, als ob Diener durch Flure eilten, um Befehle auszuführen; da waren hellbrennende, glänzende Lichter, die strahlten, als brennten sie in leeren Festhallen zum Empfange von Gästen, die nicht gekommen waren; andere wieder tauchten nieder und schwankten und hoben und senkten sich, als würden sie gehalten von den Händen dienender Mannen, die sich beugten und knieten und sich erhoben und so mit allen Ehren eine große Fürstin empfingen und ins Haus geleiteten, nachdem sie ihre Kutsche verlassen hatte. Wagen rollten durch den Hof und wurden gewendet. Pferde schüttelten ihre Federbüsche. Die Königin war angekommen.
Orlando schaute nicht länger. Er rannte bergab. Er gelangte durch ein Seitenpförtchen ins Haus. Er sauste die gewundene Treppe hinan. Er erreichte sein Zimmer. Er schleuderte seine Strümpfe in die eine Ecke, sein Wams in die andere. Er tauchte den Kopf ins Waschwasser. Er wusch sich die Hände. Er schnitt sich die Fingernägel. Ihm standen zu alledem nicht mehr als sechs Zoll Spiegelglas und ein paar alte Kerzen zur Verfügung: aber ihre Hilfe genügte ihm, um karmesinfarbige Beinkleider, Spitzenkragen und Taffetwams anzulegen, dazu Schuhe mit Rosetten darauf, so groß wie zwei Dahlien; alles das in weniger als zehn Minuten nach der Stalluhr. Er war fertig. Er war erhitzt. Er war erregt. Aber er war furchtbar spät dran.
Auf gewohnten Richtwegen eilte er nun durch das riesige Gewirr von Räumen und Treppen zum Bankettsaal, der tausend Meter entfernt auf der anderen Seite des Hauses lag. Aber auf halbem Wege, in dem abgelegenen Teil, wo die Dienstboten wohnten, blieb er stehen. Die Tür von Mrs. Stewkleys Wohnzimmer stand offen – die Bewohnerin war zweifellos mit allen ihren Schlüsseln fortgegangen, um zu den Befehlen ihrer Herrin zu sein. Drinnen aber, an Mrs. Stewkleys Wohnzimmertisch, eine Kanne neben sich, Papier vor sich, saß ein fetter, ziemlich schäbig aussehender Mann, dessen Halskrause ein wenig schmutzig war, und der bäurisch grobe, braune Kleider trug. Er hatte eine Feder in der Hand, aber er schrieb nicht. Er schien damit beschäftigt, einen Gedanken hin und her, auf und nieder durch seinen Schädel zu wälzen, bis er ihm die Gestalt oder die Ausdruckskraft gegeben hatte, die er haben sollte. Seine Augen, rundgewölbt und wolkig getrübt wie ein grüner Stein von sonderbarem Gefüge, waren starr auf das Papier geheftet. Er sah Orlando nicht. Trotz seiner Hast blieb Orlando stehen und verharrte reglos. War der Mann da ein Dichter? Schrieb er an einer Dichtung? Es drängte Orlando, ihn anzureden: »Saget mir alles, alles über die ganze Welt!« – denn er hatte die schwärmerischsten, törichtesten, abenteuerlichsten Vorstellungen von Dichtern und Dichtkunst – aber wie kannst du einen Mann ansprechen, der dich gar nicht sieht? der stattdessen vielleicht Menschenfresser, Satyrn, ja gar die Tiefen des Meeres erblickt? Orlando stand und starrte, indessen der Mann seine Feder zwischen den Fingern drehte, bald so herum, bald so herum; dann, sehr rasch, ein halbes Dutzend Zeilen schrieb – und schließlich aufblickte. Worauf Orlando, von Scheu überwältigt, davonrannte und den Bankettsaal eben noch rechtzeitig erreichte, um in die Knie zu sinken und mit verwirrt gebeugtem Kopf der Königin, der großen Königin eine Schale Rosenwasser zu reichen.
Seine Befangenheit war so groß, dass er von ihr nicht mehr wahrnahm als ihre beringte Hand im Wasser; aber das war genug. Es war eine Hand, die man nicht wieder vergaß; eine dünne Hand mit langen Fingern, die sich beständig krümmten, als schlössen sie sich um Reichsapfel oder Zepter; eine nervöse, verbitterte, kränkliche Hand; auch eine gebieterische Hand; eine Hand, die sich nur zu heben brauchte, und es fiel ein Haupt unterm Beil; sie gehörte, so dachte Orlando, zu einem alten Körper, der wie ein Schrank mit eingekampferten (mit dem weißen Pulver des Kampfer eingepuderten) Pelzen roch; ein Körper, der jetzt mit Pelzwerk und Edelsteinen überreich herausgeputzt war und sich sehr straff hielt, wenn er vielleicht auch mit geheimem Hüftweh kämpfte; der niemals zuckte und zurückwich, und würde er auch von tausend Ängsten gefoltert; und die Augen der Königin waren von einem lichten Gelb. Alles dies erfühlte er, als die großen Ringe im Wasser blitzten, und dann spürte er einen Druck auf seinem Haar – was wir vielleicht als den Grund dafür ansehen dürfen, dass er keinerlei weitere Wahrnehmungen machte, mit denen ein Geschichtsschreiber etwas anfangen könnte. Und um die Wahrheit zu sagen: in seinem Kopfe war ein solcher Wirrwarr entgegengesetzter Eindrücke – da waren die Nacht und die strahlenden Kerzen, der schäbig gekleidete Dichter und die große Königin, das schweigende Land und der Lärm des Bediententrosses –, dass er nichts sah, oder vielmehr: Dass er nur eine Hand sah.
Die gleiche Fügung bringt es mit sich, dass die Königin nur einen Kopf gesehen haben kann. Aber wenn es möglich ist, aus einer Hand das Bild eines ganzen Körpers zu erschaffen, der mit allen Eigenschaften einer großen Königin ausgestattet ist, mit ihrer grämlichen Misslaune, ihrem Mut, ihrer Gebrechlichkeit, ihren Ängsten; so kann sicherlich ein Kopf ebenso fruchtbare Anregung geben, wenn ihn von einem Prunksessel herab eine Dame betrachtet, deren Augen (sofern man dem Wachsfigurenkabinett in der Westminster Abbey trauen darf) immer weit geöffnet waren. Das lange, lockige Haar, der dunkle Kopf, der so ehrfürchtig, so voll Unschuld vor ihr gebeugt war, ließen auf ein Paar der edelsten Beine schließen, auf denen je ein junger Edelmann straff aufgereckt stand; und auf veilchenfarbige Augen; und auf ein goldenes Herz; und auf Lauterkeit und den Zauber männlicher Gesinnung – auf lauter Eigenschaften also, denen umso mehr die Liebe der alten Frau galt, je mehr sie selbst ihrer ermangelte. Denn sie wurde alt und müde und gebeugt vor ihrer Zeit. Immer klang der Donner der Kanonen ihr in den Ohren. Immer sah sie das glitzernde Gift niederträufeln und das lange Stilett niederfahren. Wenn sie bei Tafel saß, lauschte sie; ihr Ohr vernahm die Geschütze vom Kanal; sie fürchtete sich – war das da eben ein Fluch gewesen, war da nicht ein Gewisper? Unschuld und Einfalt – sie erblickte sie vor einem düsteren Hintergrund, und sie waren ihrem Herzen umso teurer. So geschah es denn, wie uns die Überlieferung berichtet, in derselben Nacht, als Orlando in tiefem Schlafe lag, dass die Königin dem Vater Orlandos das große klösterliche Haus, das einst dem Erzbischof und dann der Königin gehört hatte, feierlich zu eigen gab: und sie setzte ihre Unterschrift und ihr Siegel auf das Pergament der Urkunde.
Orlando schlief die ganze Nacht und wusste nichts von alledem. Eine Königin hatte ihn geküsst; aber auch das wusste er nicht. Und vielleicht war es dies (denn die Herzen der Frauen sind unerforschbare Wirrnis), vielleicht war es seine Ahnungslosigkeit und sein zuckendes Erschauern, als ihre Lippen ihn berührten – vielleicht war es alles dies, was die Erinnerung an ihren jungen Vetter (sie waren blutsverwandt) in ihrem Gedächtnis so frisch erhielt. Jedenfalls – es waren noch nicht zwei Jahre dieses stillen ländlichen Lebens verstrichen, und Orlando hatte inzwischen nicht mehr als vielleicht zwanzig Tragödien und ein Dutzend Erzählungen und etwa zwanzig Sonette geschrieben, als eine Botschaft ihn ins Gefolge der Königin zu Whitehall berief.
»Da kommt mein reiner Tor«, sagte sie, als sie ihn durch die lange Säulenhalle auf sich zuschreiten sah. (Es war immer eine helle Heiterkeit an ihm, die wie Unschuld aussah, selbst dann noch, als dieser Begriff, körperlich-wörtlich genommen, nicht mehr auf ihn zutraf.)
»Komm!«, sagte die Königin. Sie saß steil aufgereckt am Feuer. Und sie hielt ihn auf Schrittlänge von sich weg und musterte ihn von Kopf zu Fuß. Verglich sie ihre halben Wahrnehmungen von jenem Abend mit der ganzen Wahrheit, die nun sichtbar war? Fand sie ihre Vermutungen bestätigt? Augen, Mund, Nase, Brust, Hüften, Hände – über alles fuhr ihr gleitender Blick; ihre Lippen öffneten sich dabei wie in zuckendem Krampf; aber als sie seine Beine sah, lachte sie laut auf. Er war das Ur- und Vorbild eines rechten Edelmannes. Aber inwendig? Ihre gelben Habichtsaugen packten ihn mit blitzendem Blick, als wollten sie in seine Seele dringen. Der junge Mann hielt diesem Blick stand, nur errötete er gleich einer Damaszener-Rose, wie es sich für ihn geziemte. Kraft, Anmut, Schwärmerei, Tollheit, Dichtertum, Jugend – sie las es von ihm ab wie aus einem Buche. Sogleich zog sie einen Ring vom Finger (das Gelenk war beträchtlich geschwollen), steckte ihn an Orlandos Hand und ernannte ihn zu ihrem Schatzmeister und Seneschall4; dann legte sie ihm die Dienstketten seiner Würden an; und sie hieß ihn das Knie beugen und schmückte es an seiner schmalsten Stelle mit dem juwelenbesetzten Hosenbandorden. Von nun an blieb ihm kein Wunsch versagt. Wenn sie im Galawagen ausfuhr, ritt er an ihrer Kutschentür. Sie sandte ihn nach Schottland mit einer schlimmen Botschaft an die unglückliche Königin. Er wollte eben an Bord gehen, um in den Polenkrieg zu ziehen, als sie ihn zurückrief. Denn wie vermochte sie den Gedanken zu ertragen, dass dies blühende Fleisch von Wunden zerrissen werden, dieses lockige Haupt in den Staub rollen sollte? Sie hielt ihn in ihrer Nähe. Auf der Höhe ihres Triumphes, als die Kanonen des Towers dröhnten und die Luft so dick war vom Pulverdampf, dass man niesen musste, und das Hurra-Geschrei des Volkes unter den Fenstern erklang, zog sie ihn zu sich in die Kissen herab, in die ihre Frauen sie gebettet hatten (sie war so schwach und alt), und zwang ihn, sein Gesicht in diesem erstaunlichen Geruchsgemisch zu bergen (sie hatte seit einem Monat die Kleider nicht gewechselt) – wonach roch es doch? Es roch, so dachte er in einer Erinnerung an seine Knabenzeit, ganz genau wie eine alte Kammer daheim, in der die Pelze seiner Mutter aufbewahrt wurden. Er richtete sich auf, halb erstickt von der Umarmung. »Dies«, flüsterte sie, »ist mein Sieg!« – indessen draußen eine Rakete krachend barst und ihren Wangen Scharlachfarbe lieh.
Denn die alte Frau liebte ihn. Und die Königin, die einen Mann im Tiefsten kannte, sobald sie ihn nur sah (wenn sie ihn auch, so sagen die Leute, nicht auf die übliche Art schätzte) – die Königin plante für ihn eine glänzende und ruhmbegierige Laufbahn. Ländereien wurden ihm geschenkt, Häuser ihm zu eigen gegeben. Er sollte der Sohn ihrer alten Tage sein; die Stütze ihrer Schwäche; der Eichbaum, an den sie, entkräftet, sich lehnen konnte. Sie krächzte diese Verheißungen und seltsam herrschsüchtigen Zärtlichkeiten – der Hof war nun in Richmond –, indessen sie steil aufgerichtet in ihrem steifen Brokat am Feuer saß, das, so hoch die Diener es auch türmten, sie niemals zu wärmen vermochte.
Über alledem kamen die langen Wintermonate heran. Jeder Baum im Park war von Reif überzogen. Der Fluss rann träge dahin. Eines Tages, als der Schnee gefallen war und die düsteren getäfelten Räume voll von Schatten waren und die Hirsche im Park bellten, sah sie im Spiegel, den sie aus Angst vor Spähern immer vor sich hatte, durch die Tür, die sie aus Angst vor Mördern immer offen ließ, einen jungen Fant5 – konnte das Orlando sein? – ein Mädchen küssen – wer in des Teufels Namen war die freche Dirne? Sie packte ihr Schwert beim goldenen Griff und hieb heftig in den Spiegel. Das Glas barst klirrend; Leute kamen gelaufen; man hob sie auf und setzte sie wieder in ihren Stuhl; aber sie war getroffen und stöhnte und klagte viel, indessen ihre Tage sich dem Ende zu schleppten, über die Verräterei der Männer.
Es war vielleicht Orlandos Schuld; und doch, recht bedacht – dürfen wir Orlando darum tadeln? Die Begebenheit fiel in das Elisabethanische Zeitalter; ihre Sitten glichen nicht den unseren; ihre Dichter auch nicht; ebenso wenig das Klima; ja, nicht einmal das Gemüse. Alles war anders. Sogar das Wetter, die Hitze und die Kälte im Sommer und im Winter, waren, das dürfen wir getrost glauben, von einer ganz anderen Leidenschaft der Stimmung. Der strahlende liebeglühende Tag war von der Nacht so klar getrennt wie das Land vom Wasser. Die Sonnenuntergänge waren von stärkerem und tieferem Rot; in der Morgendämmerung war das Weiß lichter, das Morgenrot von größerer Leuchtkraft. Von unserem dämmernden Halblicht und zögerndem Zwielicht wussten sie damals nichts. Der Regen fiel heftig, oder er fiel überhaupt nicht. Die Sonne loderte, oder es war finster. Die Poeten übertrugen das, wie es ihre Art ist, in die geistigen Bezirke und sangen schöne Verse, in denen von welkenden Rosen und fallenden Blütenblättern die Rede war. Der Augenblick ist kurz, so sangen sie; der Augenblick ist schon dahin; und dann kommt eine lange Nacht, da alle schlafen müssen. Sie benutzten nicht Treib- und Gewächshäuser, um diesen frischen Nelken und Rosen Leben und Blüte zu verlängern; mit solchen Kunstkniffen mochten sie nichts zu schaffen haben. Die welken Spitzfindigkeiten und listigen Doppeldeutigkeiten unseres umständlicher stufenden und zweifelsüchtigeren Zeitalters waren ihnen unbekannt. Alles war Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit. Die Blume blühte und verdorrte. Die Sonne ging auf und sank. Der Liebhaber liebte und ging von dannen. Und was die Dichter in Reimen sagten, das machte die Jugend zur Tat. Mädchen waren Rosen, und ihre Zeit war kurz wie die der Blumen. Man musste sie pflücken vorm Abendrot; denn der Tag war kurz, und die Nacht war der Tod. Also: Wenn Orlando dem Vorbild des Wetters, der Dichter, ja des ganzen Zeitalters folgte und die Blume in der Fensternische pflückte, mochte draußen auch Schnee liegen und drinnen die Königin über den Korridor spähen, so werden wir es kaum übers Herz bringen, ihn deswegen zu tadeln. Er war jung; er war jungenhaft; er tat nur das, was die Natur ihn trieb zu tun. Was nun das Mädchen angeht, so wissen wir seinen Namen so wenig, wie Königin Elisabeth ihn wusste. Es mag Doris, Chloris, Delia oder Diana gewesen sein, denn er dichtete Verse auf sie alle, immer umschichtig; es mag eine Hofdame gewesen sein oder auch irgendeine Magd. Denn Orlandos Geschmack hatte weite Grenzen; er liebte durchaus nicht nur Gartenblumen, auch die Feldblumen, sogar die Unkräuter hatten immer ihren großen Reiz für ihn.
Hier legen wir mit jener rücksichtslosen Offenheit, die einem Biographen gestattet ist, einen wunderlichen Zug seines Wesens bloß, der vielleicht durch die Tatsache zu erklären ist, dass eine seiner Ahnfrauen im groben Linnenhemd gegangen war und Milcheimer getragen hatte. Ein paar Körner der Erde von Kent oder Sussex waren dem dünnen, feinen Blute beigemengt, das als normannisches Erbe in ihm floss. Er hielt dafür, dass braune Erde und blaues Blut eine gute Mischung gäben. Jedenfalls ist gewiss, dass er immer eine Vorliebe für niederen Umgang hatte, insbesondere für den Umgang mit studiertem und schreibendem Volk, dem so oft der eigene Witz den Aufstieg im Leben verdirbt; das war wie eine Zuneigung aus Blutsverbundenheit. In dieser Jahreszeit seines Lebens, da ihm der Kopf von Versen überging und er sich niemals schlafen legte, ohne sich aus dem Geschwirr der Einfälle einen einzufangen, schien ihm die Wange einer Schenkwirtstochter frischer und der Witz einer Wildhütersnichte flinker als Wangen und Witz der Damen am Hofe. Deshalb ging er nun oft bei Nacht nach Wapping Old Stairs und in die Biergärten, in einen grauen Mantel gehüllt, damit man den Ordensstern auf seiner Brust und den Hosenbandorden an seinem Knie nicht sah. Dort, einen Bierkrug vor sich, inmitten der Sandwege und der Rasenplätze und all der kargen Schmucklosigkeit solcher Umgebung, saß er und lauschte den Geschichten der Seeleute von Mühsal und Grauen und Grausamkeit an der Küste Südamerikas, die man »Spanish Main« nannte; und wie dieser seine Zehen und jener seine Nase verloren hatte – denn die erzählte Geschichte war niemals so sorgsam ausgerundet und säuberlich farbgetönt wie die geschriebene. Besonders liebte er’s, sie ihre Lieder von den Azoren brüllen zu hören, indessen die Papageien, die sie von diesen Fahrten mitgebracht hatten, nach den Ringen in ihren Ohren pickten, mit ihren harten gierigen Schnäbeln nach den Rubinen an ihren Fingern hackten und genauso gräulich fluchten wie ihre Herren. Die Mädchen aber waren kaum weniger verwegen in ihren Reden und weniger keck in ihrem Tun als die Vögel. Sie setzten sich ihm aufs Knie und schlangen die Arme um seinen Hals; und da sie ahnten, dass sich unter seinem Düffelmantel6 ein nicht alltäglicher Gast verbarg, waren sie beinahe ebenso versessen darauf, die Wahrheit zu ergründen, wie Orlando selbst es war.
An Gelegenheit fehlte es ihm nicht. Der Fluss war früh und spät bedeckt von einem Gewimmel von Fährschiffen und Seglern und Fahrzeugen aller Art und Größe. Jeden Tag segelte irgendein schmuckes Segelschiff hinaus, das nach Indien bestimmt war; dann und wann schlich sich ein anderes, besudelt und übel zerfetzt und mit haarigem fremden Volk an Bord, mühsam zu seinem Ankerplatz. Niemand fragte danach, ob ein Bursche oder ein Mädel nach Sonnenuntergang sich ein bisschen auf dem Wasser herumtrieb; niemand rümpfte entrüstet die Nase, wenn das Geschwätz ging, man hätte sie eng umschlungen in tiefem Schlafe zwischen den Schatzbeuteln liegen sehen. Von solcher Art nämlich war das Abenteuer, das Orlando, Sukey und dem Herzog von Cumberland widerfuhr. Der Tag war heiß; ihre Liebkosungen waren emsig und heftig gewesen; sie waren inmitten der Rubine in Schlaf gesunken. Spät in der Nacht kam der Herzog, dessen Reichtum erheblich mit diesen »hispanischen« Beutezügen verknüpft war, allein mit einer Laterne, um die Beute zu zählen. Er ließ den Lichtstrahl auf eine Tonne fallen. Er prallte mit einem Fluch zurück. Da lagen, um das Fässchen geschlungen, zwei Gespenster und schliefen. Der Herzog, der von Anlage abergläubisch war, dazu die Last manchen Verbrechens auf dem Gewissen hatte, hielt das Paar – die beiden waren in einen roten Mantel gehüllt, und Sukeys Brüste waren beinahe so weiß wie der ewige Schnee in Orlandos Dichtwerken – für ein Spukgebilde, dem Grabe ertrunkener Seefahrer entstiegen, um ihn strafend zu schrecken. Er bekreuzte sich. Er gelobte Buße. Die Reihen von Armenhäusern, die noch heute in der Sheen Road stehen, sind die sichtbaren Früchte, die der grausame Schrecken jenes Augenblicks trug. Zwölf arme alte Weiber jenes Kirchspiels sitzen darin und trinken tags ihren Tee und segnen nachts Seine Lordschaft dafür, dass sie ein Dach über dem Kopfe haben; sodass also sündhafte Liebe in einem Beutefahrerschiff – aber lassen wir die Moral der Geschichte ungepredigt.
Bald aber bekam Orlando das alles satt – nicht nur die Unbequemlichkeiten dieser Lebensführung und das holprige Gässchengewirr der Nachbarschaft, sondern auch die ungehobelten Umgangsformen der Leute. Man darf nämlich nicht vergessen, dass Verbrechen und Armut für die Menschen des elisabethanischen Zeitalters nicht dieselbe Anziehungskraft hatten wie für uns. Sie schämten sich nicht, wie wir Heutigen, des aus Büchern erlesenen Wissens; sie glaubten nicht, wie wir, dass es ein Geschenk des Himmels sei, als Sohn eines Fleischers geboren zu sein, und eine Tugend, nicht lesen zu können; sie bildeten sich nicht ein, wie wir, dass alles, was wir »Leben« und »Wirklichkeit« nennen, irgendwie mit Unwissenheit und Rohheit zu tun haben müsse; ja, sie hatten überhaupt keine diesen beiden Worten entsprechenden Begriffe. Es geschah nicht, um »Leben« zu suchen, dass Orlando sich unter sie mischte; noch verließ er sie, um nach »Wirklichkeit« zu fahnden. Aber wenn er ein paar Mal die Geschichten vernommen hatte, wie Jakes dereinst seiner Nase und Sukey ihrer Ehre verlustig gegangen war (und sie erzählten das bewunderungswürdig, das muss man ihnen lassen) – so begann er der Wiederholungen ein bisschen überdrüssig zu werden; denn eine Nase kann schließlich nur auf eine Art heruntergehauen und eine Jungfernschaft nur auf eine Art verloren werden – so schien es ihm wenigstens –, während man an den Künsten und Wissenschaften Mannigfaltigkeit fand, die seine Neugier tief erregte. So besuchte er denn, wenn er ihnen auch immer ein glückliches Erinnern bewahrte, die Biergärten und Kegelbahnen nicht mehr, hängte seinen grauen Mantel in den Kleiderschrank, ließ den Ordensstern an seinem Halse strahlen und das Hosenband an seinem Knie blitzen und erschien wieder einmal am Hofe des Königs James. Er war sehr jung, er war reich, er war hübsch. Niemand hätte mit größerem Wohlgefallen aufgenommen werden können als er.
Es ist denn auch gewiss, dass viele Damen geneigt waren, ihm ihre Gunst zu schenken. Und mindestens drei Namen wurden ganz offen in Verbindung mit dem seinigen genannt, und es war von Eheabsichten die Rede; in seinen Sonetten nannte er sie Chlorinda, Favilla und Euphrosyne.
Um sie der Reihe nach zu erledigen –: Chlorinda war eine liebliche und freundliche und gesittete Dame, wahrhaftig. Orlando war denn auch sechs Monate und einen halben recht sehr für sie entflammt; aber sie hatte weiße Augenwimpern und konnte kein Blut sehen. Ein Hase, der gebraten auf ihres Vaters Tafel gebracht wurde, genügte, um sie ohnmächtig umsinken zu lassen. Auch stand sie sehr unter dem Einfluss der Priester und machte Ersparnisse an der eigenen Unterwäsche, um den Armen geben zu können. Sie setzte sich die Aufgabe, Orlando von seinen Sünden zu bekehren – womit sie seinen Abscheu erregte; sodass er seine Heiratsabsichten aufgab und nicht allzu traurig war, als sie bald darauf an den Blattern starb.
Favilla, die nächste in der Reihe, war von gänzlich anderer Art. Sie war die Tochter eines armen Edelmannes aus Somersetshire; durch reine Beharrlichkeit und dadurch, dass sie die Augen zu gebrauchen verstand, hatte sie sich bei Hofe emporgearbeitet, und ihre Gewandtheit beim Reiten, ihre feinen Fesseln und ihre Anmut beim Tanzen wurden von Allen bewundert. Eines Tages indessen war sie unbesonnen genug, einen Wachtelhund, der einen ihrer seidenen Strümpfe zerrissen hatte (und es muss gerechterweise vermerkt werden, dass Favilla nur wenig Strümpfe besaß, und die noch zumeist aus Wolle) – diesen Wachtelhund unter Orlandos Fenster um ein Haar zu Tode zu peitschen. Orlando, der Tiere leidenschaftlich liebte, entdeckte nun, dass sie schiefe Zähne hatte, und dass die beiden Vorderzähne nach innen gedreht standen; was, so sagt man, bei einer Frau mit Sicherheit auf widernatürliche und grausame Veranlagung deutet. So löste er denn noch am selben Abend die Verlobung für immer.
Die dritte, Euphrosyne, verursachte die bei Weitem ernsthafteste seiner Entflammungen. Sie entstammte dem irischen Geschlecht der Desmonds, und so war ihr Stammbaum so alt und so tief verwurzelt wie der Orlandos. Sie war schön, von blühender Gesundheit und ein wenig träge. Sie sprach gut Italienisch und hatte im Oberkiefer eine untadelhafte Zahnreihe, während die Zähne im Unterkiefer etwas missfarben waren. Man sah sie niemals ohne ein Windspiel oder einen Wachtelhund auf dem Schoß; sie fütterte sie mit weißem Brot von ihrer eigenen Tafel; sie sang mit süßer Stimme zum Spinett; und sie war immer erst mittags angezogen, wegen der außergewöhnlich großen Sorgfalt, die sie ihrem Äußeren widmete. Kurz, sie hätte für einen Edelmann wie Orlando eine vollkommene Gattin abgegeben, und die Sache war bereits so weit gediehen, dass die beiderseitigen Rechtsanwälte emsig mit den Verträgen, Leibgedingen7, Erbbestimmungen, Grundstücken, Pachtrechten und allem Sonstigen beschäftigt waren, was geregelt werden muss, bevor ein großes Vermögen mit einem anderen verheiratet werden kann – als, mit jener Jähe und Strenge, die damals für das englische Wetter bezeichnend waren, der Große Frost einsetzte.
Der Große Frost war, so berichten uns die Geschichtsschreiber, der strengste, der jemals unsere Inseln heimgesucht hat. Vögel erfroren mitten im Fluge und fielen wie Steine zur Erde. In Norwich wollte eine junge Bäuerin, gesund und derb und kräftig wie sie war, die Straße überqueren, als an der Ecke der eisige Wind sie traf: Da wurde sie vor den sehenden Augen der Zuschauer zu Staub, und der Sturm trieb sie wie eine Puderwolke über die Dächer. Die Sterblichkeit unter den Schafen und dem Milchvieh war riesig. Leichname gefroren und konnten nicht von den Tüchern losgerissen werden. Eine ganze Schweineherde, zu starrem Eis gefroren mitten auf der Straße, war kein ungewöhnlicher Anblick. Die Felder waren voll von Schäfern, Ackerleuten, Pferdegespannen und vogeljagenden Knaben, alle erstarrt in der Stellung der augenblicklichen Bewegung: Der eine mit der Hand an der Nase, der andere mit der Flasche an den Lippen, der dritte einen Stein in der erhobenen Hand, als wollte er den Raben treffen, der wie ausgestopft ein Yard von ihm entfernt auf der Hecke hockte. Die Härte des Frostes war so außerordentlich, dass er bisweilen eine Art von Versteinerung bewirkte; und es wurde allgemein vermutet, dass die große Zunahme der Felsblöcke in manchen Teilen Derbyshires nicht auf einen vulkanischen Ausbruch zurückzuführen sei, denn es war keiner erfolgt, sondern auf die Steinwerdung unseliger Wanderer, die buchstäblich zu Fels geworden waren, wo sie eben standen. Die Kirche vermochte in dieser Not nur wenig zu helfen, und wenn auch manche Landbesitzer diese Überbleibsel segnen ließen, so zogen es doch die meisten vor, sie als Grenzsteine, Kratzpfosten für die Schafe oder, wenn die Form des Steines es zuließ, Sauftröge für das Vieh zu verwenden; welchen Zwecken sie, und zwar zumeist bewundernswert gut, bis auf den heutigen Tag dienen.
Während indessen das Landvolk die allerhöchste Not litt und der Handel Englands stilllag, ergötzte sich London an einem Karneval von üppigster Pracht. Der Hof war in Greenwich, und der neue König nutzte die Gelegenheit, die ihm seine Krönung bot, um sich die Gunst der Bürger zu gewinnen. Er befahl, dass der Fluss, der auf sechs oder sieben Meilen Entfernung zu beiden Seiten der Stadt bis zu einer Tiefe von zwanzig Fuß und mehr gefroren war, gefegt und geschmückt und ganz genau wie ein Park oder Lustplatz hergerichtet werden sollte, mit Lauben, Irrgärten, Gängen, Trinkhallen und so fort – alles auf seine, des Königs, Kosten. Für sich selbst und die Höflinge nahm er einen Raum unmittelbar gegenüber den Toren des Palastes aus; und dieser Raum, gegen das öffentliche Gelände nur durch eine seidene Schnur abgegrenzt, wurde sogleich zum Mittelpunkt der glanzvollsten Gesellschaft, die man in England finden mochte. Große Staatsmänner, mit Bärten und Halskrausen, erledigten in aller Geschwindigkeit die Geschäfte des Staates unter dem karmesinfarbigen Dache des königlichen Pagodenzeltes. Soldaten saßen in gestreiften Zeltlauben, die mit Büscheln von Straußenfedern geschmückt waren, und machten Pläne für die Eroberung des Mohrenlandes und die Niederwerfung der Türken. Admirale schritten auf den schmalen Wegen hin und her, ihr Fernrohr in der Hand, musterten prüfenden Blickes den Horizont und erzählten Geschichten von der Nordwest-Passage und der Spanischen Armada. Liebende tändelten auf zobelpelzbedeckten Ruhebetten. Gefrorene Rosen fielen in dichter Fülle nieder, wenn die Königin und ihre Damen ausgingen. Farbige Ballons schwebten reglos in der Luft. Da und dort brannten riesige Stöße von Zedern- und Eichenholz, verschwenderisch mit Salz bestreut, sodass die Flammen grün, rotgelb und purpurn leuchteten. Aber so ungestüm sie auch loderten, ihre Hitze reichte dennoch nicht aus, das Eis zu schmelzen, das so hart wie Stahl und von ungewöhnlicher Durchsichtigkeit war. Ja, so klar war es, dass man in einer Tiefe von mehreren Fuß die eingefrorenen Bewohner des Wassers sah: Hier einen Tümmler, dort eine Flunder. Schwärme von Aalen lagen in regloser Starre; ob sie tot waren oder nur in einem Zustande unterbrochener Lebenstätigkeit, um dann von der Wärme wieder erweckt zu werden – das war ein Problem, über das die Gelehrten sich die Köpfe zerbrachen. Nahe der London Bridge, wo der Fluss bis zu einer Tiefe von etwa zwanzig Faden gefroren war, lag ein Ewer (ein kleines Küstenschiff mit flachem Boden), der im Herbst, mit Äpfeln überladen, gesunken war, vor aller Augen auf dem Grunde des Flusses. Die alte Bumbootfrau (des kleinen Händlerbootes zur Versorgung von großen Schiffen), die ihr Obst zum Markt auf der Surreyseite hatte bringen wollen, saß da in ihren Umschlagtüchern und ihrer Krinoline, aller Welt sichtbar, den Schoß voll von Äpfeln, gerade als wollte sie einen Kunden bedienen, wenn auch so eine gewisse blaue Farbe um die Lippen herum die Wahrheit ahnen ließ. Es war das ein Anblick, den König James mit besonderer Vorliebe betrachtete, und er brachte sich immer einen Schwarm von Höflingen mit, die ebenfalls hinunterstarrten. Kurz, nichts Glanzvolleres und Fröhlicheres konnte man erdenken als das Bild des Flusses bei Tage. Nachts aber erstieg der Karneval den Gipfel der Lust. Denn der Frost dauerte mit ungebrochener Kraft an; die Nächte waren vollkommen still; Mond und Sterne glitzerten mit der starren Härte von Diamanten, und zur lieblichen Musik der Flöten und Trompeten tanzten die Höflinge.
Orlando, dies ist zu sagen, gehörte nicht zu denen, die leichtfüßig im Takte des Coranto8 und der Lavolta9 tanzten; er war linkisch und ein wenig zerstreut. Ihm waren die schlichten Tänze seiner Heimat, die er als Kind getanzt hatte, weit lieber als diese phantastischen ausländischen Bewegungen. Am siebenten Januar etwa um sechs Uhr abends hatte er eben nach einer solchen Quadrille10 – vielleicht war es auch ein Menuett – seine Füße wieder glücklich beieinander, als er vom Zelte der moskowitischen Gesandtschaft her eine Gestalt kommen sah, die ihn mit der größten Neugier erfüllte. Es war nicht zu erkennen, ob es ein junger Bursche oder eine Frau war, denn die weite Tunika und die Beinkleider von russischem Schnitt verbargen das Geschlecht. Der oder die Fremde war von ungefähr mittlerer Größe, sehr schlank und ganz und gar in austernfarbigen Samt gekleidet, der mit einem hierzulande unbekannten grünlichen Pelzwerk besetzt war. Alle diese Einzelheiten aber wurden gleichsam überstrahlt durch die unsagbare Verführungskraft, die von der ganzen Gestalt ausging. Bilder und Vergleiche der wunderlichsten und abenteuerlichsten Art formten sich und gesellten sich in Orlandos jäh entfesselter Phantasie. Er nannte sie eine Melone, eine Ananas, einen Ölbaum, einen Smaragd und einen Fuchs im Schnee, alles das in einem Zeitraum von drei Sekunden; er wusste nicht, ob er sie gehört, geschmeckt oder gesehen – oder auf alle diese drei Arten zugleich aufgenommen hatte. (Denn: obschon wir unsere Erzählung keinen Augenblick unterbrechen dürfen, sei es uns doch gestattet, hier in aller Eile anzumerken, dass in diesen Jahren alle seine Bilder und Vergleiche in höchstem Maße einfach waren, wie es zur Art seiner Sinne passte, und dass sie zumeist von den Dingen entnommen waren, für die er als Knabe eine Vorliebe gehabt hatte. Aber wenn seine sinnlichen Neigungen auch einfach waren, so waren sie doch zugleich ungemein stark. Es hat demnach gar keinen Zweck, hier den Bericht zu unterbrechen und den Ursachen seiner Vergleiche nachzuspüren.) Eine Melone, ein Smaragd, ein Fuchs im Schnee – so phantasierte er und stand und starrte entzückt. Als der Knabe (denn ach, ein Knabe musste es wohl sein, weil keine Frau mit solcher Geschwindigkeit und Kraft Schlittschuh laufen konnte) fast auf Zehenspitzen an ihm vorübersauste, war Orlando durchaus geneigt, sich die Haare zu raufen aus Kummer darüber, dass dieser Schlittschuhläufer seines eigenen Geschlechtes war und deshalb keinerlei Möglichkeit zu irgendwelchen Umarmungen bestand. Aber der Läufer kam näher. Beine, Hände, Haltung waren die eines Knaben, nie aber hatte ein Knabe einen solchen Mund; nie hatte ein Knabe solche Brüste; nie hatte ein Knabe Augen, die aussahen, als wären sie vom Grunde des Meeres heraufgeholt. Nun brach der fremde Läufer ab und beschrieb mit höchster Anmut einen Bogen höflicher Verneigung vor dem König, der eben am Arme eines Kammerherrn vorüberschlarrte; und dann stand er still. Er war keine Handbreit von Orlando entfernt. Und es war ein Weib. Orlando starrte; zitterte; wurde heiß; wurde kalt; spürte das Verlangen, seinen Körper durch sommerliche Luft zu wirbeln; Eicheln unter seinen Füßen zu zermalmen; seine bebenden Arme emporzurecken wie die Eichen und die Buchen ihre Zweige. Da alles dies unmöglich war, zog er die Lippen von seinen kleinen weißen Zähnen hinweg; öffnete die Zahnreihen etwa einen halben Zoll, als wollte er zubeißen; schloss sie wieder, als hätte er zugebissen. Die Lady Euphrosyne hing an seinem Arm.
Der Name der Fremden war, so erfuhr er, Prinzessin Marusha Stanilovska Dagmar Natasha Iliana Romanovitch, und sie war im Gefolge des russischen Gesandten, der vielleicht ihr Vater, vielleicht auch ihr Oheim war, gekommen, um der Krönung beizuwohnen. Man wusste nur sehr wenig von den Moskowitern. Sie saßen, mit ihren großen Bärten und pelzbesetzten Hüten, meistens schweigend da; und sie tranken irgendeine schwarze Flüssigkeit, die sie dann und wann auf das Eis spuckten. Keiner von ihnen sprach Englisch, und das Französische, mit dem wenigstens einige von ihnen vertraut waren, wurde damals am englischen Hofe wenig gesprochen.
Diese Tatsache übrigens war es, durch die Orlando und die Prinzessin miteinander bekannt wurden. Sie saßen sich an der großen Tafel gegenüber, die unter einem riesigen Zeltdach für die Mahlzeiten der Notabeln aufgestellt war. Die Prinzessin hatte ihren Platz zwischen zwei jungen Edelleuten, Lord Francis Vere und dem jungen Earl of Moray. Es war lustig anzusehen, wie sie die beiden alsbald in peinliche Verlegenheit brachte, denn wenn sie auch auf ihre Art treffliche Jungen waren, so hatten sie doch von der französischen Sprache so viel Ahnung wie ein ungeborenes Kind. Wenn sich die Prinzessin zu Beginn der Mahlzeit an den Earl wandte, mit einer Anmut, die sein Herz zur Begeisterung hinriss, und sagte: »Je crois avoir fait la connaissance d’un gentilhomme qui vous était apparenté en Pologne l’été dernier«11, oder: »La beauté des dames de la cour d’Angleterre me met dans le ravissement. On ne peut voir une dame plus gracieuse que votre reine, ni une coiffure plus belle que la sienne«12, – so saßen Lord Francis und der Earl in der größten Verlegenheit. Der eine versorgte sie ausgiebig mit Meerrettichtunke, der andere pfiff seinem Hund und ließ ihn um einen Markknochen betteln. Worauf die Prinzessin das Lachen nicht mehr zurückhalten konnte; und Orlando, der zwischen den Wildschweinsköpfen und gefüllten Pfauen hindurch ihre Augen suchte und fand, lachte ebenfalls. Er lachte, aber das Lachen auf seinen Lippen gefror in Staunen. Wen, so fragte er sich in einem wirbelnden Aufruhr des Erstaunens, hatte er bis zum heutigen Tage geliebt, was hatte er geliebt? Ein altes Weib, so antwortete er sich, lauter Haut und Knochen. Rotbackige Weibsbilder, zu viele, um sie auch nur zu nennen. Eine plärrende Nonne. Eine störrische Abenteurerin mit einem grausamen Mund. Ein nickendes Gestell aus Spitzen und steifer Gespreiztheit. Was hatte er für Liebe gehalten? Sägespäne und Asche. Die Ergötzungen, die er davon gehabt hatte, schmeckten schal, unsagbar schal. Er wunderte sich jetzt, dass er alles das ohne Gähnen hatte mitmachen können. Denn indessen er schaute, schmolz sein dickes Blut; das Eis wurde zu Wein in seinen Adern; er hörte die Wasser strömen und die Vögel singen; Frühling stürmte nieder auf die harte winterliche Landschaft; seine Mannheit erwachte; er packte zu und hatte ein Schwert in der Hand; er rannte gegen einen kühneren Feind an, als es der Pole oder der Maure war; er tauchte tief in tiefes Wasser; er sah die Blume Gefahr in einem Felsspalt wachsen; er streckte die Hand aus – und er ließ, natürlich im Stillen, eins seiner leidenschaftlichsten Sonette abschnurren, als die Prinzessin ihn anredete:
»Würden Sie die Güte haben, mir das Salz zu reichen?«
Er errötete tief.
»Mit dem größten Vergnügen der Welt, Madame«, sagte er, und er sprach das Französische mit untadeligem Akzent. Denn er sprach es, der Himmel sei gepriesen, wie seine Muttersprache; die Kammerfrau seiner Mutter hatte es ihn gelehrt. Und doch wäre es vielleicht besser für ihn gewesen, wenn er diese fremde Zunge niemals erlernt hätte; dieser Stimme niemals geantwortet hätte; dem Lichte dieser Augen niemals gefolgt wäre – –
Die Prinzessin sprach weiter. Wer waren, so fragte sie ihn, diese Tölpel, die da neben ihr saßen und Manieren hatten wie Stallknechte? Was war das für ein Übelkeit erregendes Gebräu, das sie ihr da auf den Teller gegossen hatten? War es in England Sitte, dass die Hunde am selben Tisch aßen wie die Menschen? Die komische Figur da oben am Tisch, die sich das Haar aufgetakelt hatte wie einen Maibaum (»comme une grande perche mal fagotée«)13 – war das wirklich die Königin? Und schlabberte der König immer so beim Essen? Und welcher von diesen frisierten Affen war denn nun George Villiers? Obwohl diese Fragen Orlando zuerst peinlich waren, wurden sie doch mit so viel drolliger Schalkhaftigkeit gestellt, dass er schließlich lachen musste; und als die gleichgültigen Gesichter rings am Tische ihm bewiesen, dass niemand ein Wort verstand, antwortete er ebenso offenherzig, wie sie fragte, und zwar, wie sie, in tadellosem Französisch. Dies war der Beginn eines vertrauten Verhältnisses! zwischen den beiden, das bald alle Klatschmäuler am Hofe in Bewegung setzte.
Bald schon hatte man heraus, dass Orlando der Moskowiterin weit mehr Aufmerksamkeit widmete, als es die bloße Höflichkeit erforderte. Wenn sie erschien, so war er selten weit, und wenn auch ihr Gespräch allen anderen unverständlich blieb, so wurde es doch mit solcher Lebhaftigkeit geführt, rief so viel Erröten und Lachen hervor, dass auch der Dümmste erraten konnte, um was es da ging. Obendrein war mit Orlando eine außerordentliche Wandlung vorgegangen. Niemand hatte ihn jemals so angeregt und lebhaft gesehen. In einer einzigen Nacht hatte er seine jungenhafte Unbeholfenheit abgestreift, aus einem verdrossenen jungen Fant, der kein Damenzimmer betreten konnte, ohne die Hälfte der Putzgegenstände vom Tische zu fegen, war ein Edelmann voll Anmut und ritterlichen Anstandes geworden. Wenn man sah, wie er der Moskowiterin (so wurde sie bei Hofe genannt) in ihren Schlitten half oder ihr die Hand zum Tanze reichte oder das getupfte Halstuch aufnahm, das sie hatte fallen lassen, oder irgendeinen anderen jener mannigfachen Dienste tat, die von der Herzensdame gefordert und vom ahnungsvollen Liebhaber unaufgefordert eiligst erfüllt werden, so war das ein Anblick, recht dazu angetan, die trüben Augen der Alten aufleuchten und die raschen Pulse der Jungen noch rascher schlagen zu machen. Die Lady Margaret O’Brien O’Dare O’Reilly Tyrconnel (so hieß die Euphrosyne der Sonette im Alltagsleben) trug Orlandos herrlichen Saphir am zweiten Finger ihrer linken Hand. Sie war es, die das höchste Anrecht auf seine Aufmerksamkeit hatte. Aber sie konnte sämtliche Taschentücher ihres Wäschebesitzes (und sie besaß deren viele Dutzende) aufs Eis fallen lassen, ohne dass Orlando sich jemals bückte, um sie aufzuheben. Sie konnte zwanzig Minuten darauf warten, dass er ihr in den Schlitten helfen sollte – und musste sich schließlich mit den Diensten ihres Mohren begnügen. Wenn sie Schlittschuh lief (was sie ziemlich unbeholfen tat), so war niemand an ihrer Seite, um ihr Mut zu machen, und wenn sie fiel (was sie mit einem ziemlichen Plumps tat), so half ihr niemand wieder auf die Füße und stäubte ihr den Schnee von den Röcken. Wohl war sie von Veranlagung träge, durchaus nicht übelnehmerisch und viel weniger als die anderen bei Hofe geneigt, zu glauben, dass eine Ausländerin (»nur« eine Ausländerin) ihr Orlandos Neigung rauben könnte; aber sogar Lady Margaret begann schließlich und endlich zu argwöhnen, dass sich da eine Gefahr für ihren Seelenfrieden zusammenbraute.