Wie sollte man ein Buch lesen? - Virginia Woolf - E-Book

Wie sollte man ein Buch lesen? E-Book

Virginia Woolf

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Beschreibung

Anders als der Titel vermuten lässt, ist der einzige Rat, den Virginia Woolf hier gibt, der, keine Ratschläge zu geben. Ihr Essay über das Lesen ist heute noch so aktuell wie bei seinem Erscheinen vor knapp hundert Jahren. Die Autorin bietet keine Anleitung, sondern lädt dazu ein, das »Chaos« im eigenen Bücherregal, in Bibliotheken und Buchhandlungen neugierig zu erkunden. Wie gelingt es, in dieser Büchermenge nicht zu versinken? Wieso lässt man sich besser keine Lektüre vorschreiben? Und warum sollten Lesende sich zu Komplizen der Schreibenden machen, wenn sie ein Buch zur Hand nehmen? Virginia Woolfs Leser verschlingen Klassiker oder Vergessenes, Lyrik oder Dramen, vor allem aber: Sie lesen eigenständig und widerständig. Ihr Essay ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Kraft des geschriebenen und gelesenen Wortes, Vor- und Nachwort von Sheila Heti unterstreichen seine Aktualität.»Gott, der in seinem Himmel festsitzt, beneidet die menschlichen Leser - denn während sein Himmel ein Ort ist, führen Bücher an unzählige Orte. Den Lesern wird es nicht langweilig wie Gott.« Sheila Heti

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Virginia Woolf

Wie sollte man ein Buch lesen?

Aus dem Englischen von Antje Rávik Strubel

Mit Vor- und einem Nachwort von Sheila Heti

Kampa

Eine Schattenform

Vorwort von Sheila Heti

Nachdem wir ein Buch beendet und es zur Seite gelegt haben, wenn sich der Staub gesetzt hat und wir viele Nächte geschlafen, häufig zu Abend gegessen, viele Spaziergänge gemacht und unsere Verpflichtungen erledigt haben, dann kommt das Buch als eine Schattenform zu uns zurück, wie Virginia Woolf es ausdrückt, als eine visionäre Form: »Dort hängen sie, im Geist, die Formen der Bücher, die wir gelesen haben.« Warum wählt sie den Begriff der Form, um über das zu sprechen, was von den Büchern bleibt, die wir gelesen haben? Meiner Erfahrung nach sind es meistens Schriftsteller*innen, die über die Form von Büchern sprechen – nicht nur der Bücher, die sie gelesen haben, sondern auch der Bücher, die sie schreiben. Denn eine Schriftstellerin braucht nicht nur eine Stimmung oder eine Handlung, nicht nur Figuren oder Ideen, sondern sie braucht etwas Plastischeres, eine Gestalt, ähnlich der Gestalt einer Skulptur. Ein Roman ist eine wässrige Skulptur, die im Geist weiter existiert, wenn das Lesen beendet ist. Wenn ich an die Bücher zurückdenke, die ich geliebt habe, erinnere ich mich selten an die Namen der Figuren, an den Plot oder an viele Szenen. Nicht einmal der Tonfall oder die Stimmung sind es, woran ich mich erinnere, und doch bleibt – und hier ist dieses merkwürdige Wort angebracht – der Abdruck einer einzigartigen Form.

Manchmal verdichtet sich die Form eines ganzen Buches in einer Erinnerung an eine einzelne Szene – ein Zimmer, das im Geist heraufbeschworen wurde, in dem zwei Figuren saßen und sich unterhielten. Manchmal ist die Form eher metaphysischer Natur: ein neues Lebensverständnis am Ende des Buches. Wie aber wird aus einem Verständnis eine Form? Vielleicht indem Bücher uns an Orte versetzen; in Büchern geht es um Körper im Raum oder um die geistige Entwicklung von Figuren. Es ist, als würden sich eine Reihe von Formen – Räume, Körper, Schilderungen, Offenbarungen – übereinanderlegen, während man die Buchseiten umblättert, bis schließlich der Eindruck entsteht, man würde durch einen Stapel durchsichtiger, gefärbter Plastikfolien schauen, die eine ultimative Form ergeben.

Wie sollen wir, die Leser*innen, die Form des einen Buches gegenüber der Form eines anderen Buches beurteilen – wenn die Form das ist, was bleibt? Wie soll man die Form eines Buches auch nur einem anderen Menschen beschreiben, wenn sie nicht in etwas Einfachem, Wiederholbarem, Gemeinsamem besteht wie etwa einem Dreieck, einem Kreis oder einem Viereck? Die wässrige Form eines Buches ergibt sich durch seine Bewegung – den Verlauf, den seine Figuren oder die Erzählung nehmen, und den wir während des Lesens durchleben, ehe er sich zu einer einzigen, fortdauernden Episode verfestigt, unabhängig davon, wie oft wir das Buch lesen. Diese geistige Episode schließt alles aus, was wir zwischen den Momenten erleben, in denen wir das Buch in die Hand nehmen. Und doch enthält die endgültige, schattenhafte Form etwas von jenem Leben, das sich ereignete, während wir die Seiten umblätterten – nicht nur vom Leben in unserer Vorstellung, in Form von szenischen Bildern, sondern auch etwas von dem Raum, in dem wir saßen, den Geschehnissen unseres Lebens, dem Geruch der Tage, von unserer Jugend und der allgemeinen politischen Lage. Die Form des Buches ist letztendlich eine Alchemie der Form, die die Autorin schuf, und der Form, die unser Leben hat, während wir es lesen.

Diese Alchemie der zwei getrennten Welten schafft eine erstarrte Form. Aber die Form ist nicht eigentlich erstarrt, denn im Laufe der Jahre und Jahrzehnte, in denen man sich an das Buch erinnert, schmilzt die Zeit und holt die Form aus der Erstarrung heraus, wieder und wieder.

Das macht Literatur zu einer so lebendigen Kunstform. Die Bücher, die wir gelesen haben, verändern sich mit der Zeit, vielleicht lieben wir die Veränderung mehr als wir ein Gemälde lieben, denn während Gemälde und Theaterstücke und Filme in unserem Gedächtnis vorkommen als etwas, dessen Zeuge wir geworden sind, erlebt man ein Buch wie einen Traum. Die spezifischen Bilder, die in der Phantasie aufgerufen werden, lassen sich am besten als Traumbilder beschreiben – also ist das eigentliche Buch nicht das physische Buch, sondern die Schattenform, die es hinterlässt.

Noch geheimnisvoller ist die Tatsache, dass eine Schriftstellerin beim Schreiben eine Form für das Buch zu erschaffen versucht. Wie aber kann sie sich sicher sein, dass die Form, die sie anstrebt, diese wässrige geistige Skulptur in ihrer Phantasie, dieselbe geistige Skulptur ist, die im Geist der Leser*innen erscheint? Darüber gibt es keine Sicherheit, und ebenso wenig kann man wissen, ob die Form, die das Buch bei den Leser*innen hinterlässt, auch nur irgendeine Ähnlichkeit mit dem hat, was der Autorin vor Augen stand, als sie es schrieb. Aber das ist nicht so wichtig. Einer Autorin bleibt nichts anderes übrig, als mit dem Buch, das sie schreibt, eine Form zu erschaffen, die sie in ihrer eigenen geistigen Höhle als zufriedenstellend empfindet; etwas, das in ihren Augen eine bestimmte Bewegung und Harmonie und die richtigen Ausmaße besitzt.

Ein Kreis oder ein Dreieck entstehen nicht aus einer Bewegung heraus, wie es bei einer Form der Fall ist, die vom Verlauf einer Erzählung geschaffen wird. Aber vorausgesetzt, es wäre bei Dreiecken und Vierecken so ähnlich. Wenn eine buchstäbliche Form nicht durch ihre Seiten bestimmt würde, sondern durch das Entfalten in der Zeit, das – ist der Prozess des Entfaltens vorüber – eine innere Empfindung zurückließe, die wir »Viereck« oder »Kreis« nennen würden, könnten wir die Literatur zur Mathematik zählen. Und die Beurteilung, ob ein Buch gelungen ist oder nicht, läge nicht länger in den Händen der Kritiker. Die Geometrie würde darüber entscheiden.

Am Ende ihres Essays vergleicht Virginia Woolf die Freude des Lesens mit den Freuden des Himmels. Gott, der in seinem Himmel festsitzt, beneidet sogar die menschlichen Leser*innen – denn während sein Himmel ein Ort ist, führen Bücher an unzählige Orte. Den Leser*innen wird es nicht langweilig wie Gott.

Allerdings bin ich nicht der Ansicht, dass der Essay Wie sollte man ein Buch lesen? ein Lobgesang auf die himmlischen Freuden des Lesens wäre. Mit jedem Lesen bleibe ich mit einem dunkleren Gefühl zurück. Ich glaube, Woolf schrieb den Essay zum Teil aus einem Missfallen daran, an den Kritikern vorbeizumüssen, um an ihre Leser*innen zu gelangen. Wenn Leser*innen darin unterrichtet werden müssen, wie man besser liest, sagt sie, dann, um einen alternativen Maßstab zur Beurteilung der Schriftstellerin zu setzen, die sich von den Maßstäben der Kritiker angegriffen fühlt, die keinerlei tatsächlichen Maßstab anzubieten haben. Warum? Weil sie zu beschäftigt sind: »Bücher traben durch Rezensionen wie die vorüberziehenden Tiere in der Schießbude, und der Kritiker hat nur eine Sekunde zum Laden, Zielen und Schießen.« Eine Sekunde! Weil es aber immer professionelle Kritiker*innen geben wird, ist die einzige Hoffnung für alle, die schreiben, die, dass es eine andere Art der Kritik geben könnte, »die Meinung der Menschen, die um des Lesens Willen lesen, langsam und unprofessionell, die mit großer Sympathie und zugleich mit großer Ernsthaftigkeit urteilen.« Kann eine Vielzahl solcher Leser*innen über die hastigen Kritiker*innen triumphieren?

In den 1970er und 1980er Jahren veränderte sich das Ansehen Virginia Woolfs schnell und grundlegend: Aus einer wichtigen, aber wenig bekannten Schriftstellerin wurde eine kanonisierte und bedeutende, eine zentrale Figur in der englischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie kam es dazu? Es war hauptsächlich der harten Arbeit feministischer Akademiker*innen zu verdanken. Jahrzehnte nach Woolfs Tod tauchten jene Leser*innen auf, die sie sich gewünscht hatte – mit eigenen Maßstäben, die sich von denen der Zeitungskritiker*innen unterschieden –, lasen und verstanden ihre Romane. Biographien und unzählige wissenschaftliche Artikel und Bücher wurden über sie geschrieben, von Menschen, die jene Qualitäten besaßen, von denen Woolf glaubte, dass verantwortliche Leser*innen sie besitzen müssten: Geschmack, Einfühlungsvermögen, Geduld, Sympathie, Neugier, eine umfassende Lektürebiographie und ein Verständnis von Literatur, das aus Erfahrungen mit dem eigenen Schreiben resultiert.

 

Als ich jünger war, besaß ich eine Art blindes Vertrauen darin, dass die Literatur sich ihren eigenen Weg in die Welt bahnen würde – dass die Menschheit nicht das Beste dessen, was wir