Österbergmord - Helena Reinhardt - E-Book

Österbergmord E-Book

Helena Reinhardt

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ein rasanter Schwabenkrimi mit Humor und Tiefgang. Silvia Salomons Tochter Viola steht unter Schock: Ihr Uni-Kollege wurde vom Tübinger Österbergturm gestoßen. Die Mordermittlungen laufen, doch Viola nimmt die Sache lieber selbst in die Hand und stellt gemeinsam mit ihrer Mutter und einem befreundeten Journalisten eigene Nachforschungen an. Die Spur führt sie zu rivalisierenden Studentengruppen und in die schwäbische Prepperszene – bis das Trio plötzlich selbst ins Visier des Mörders gerät.

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Seitenzahl: 391

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Helena Reinhardt, 1961 in Duisburg geboren, zog 2009 aus dem Ruhrgebiet an den Rand des Nordschwarzwalds. Nach abgeschlossenem Studium der Anglistik, Amerikanistik und Neugermanistik mit Schwerpunkt Literatur arbeitete sie u. a. für einen Professor der Biochemie, für ein Bestattungsinstitut und als VHS-Dozentin im Bereich Englisch. Tübingen ist ihr immer einen Besuch wert. Helena Reinhardt ist Mitglied der »Mörderischen Schwestern«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Leonid Andronov/Alamy/Alamy Stock Photos

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-970-9

Originalausgabe

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Für Jane

Tag 1: Freitag, 12. Oktober

Viola

»Blöde Kuh!« Der Fahrer im SUV bremste heftig, hupte und fuchtelte hinter seiner Windschutzscheibe herum. Seine Stimme quoll aus dem offenen Fensterschlitz an der Fahrerseite.

Viola kreischte: »Idiot! Kannst du nicht gucken!« Dort, wo die Wilhelmstraße und der Stadtgraben unübersichtlich aufeinandertrafen, hielt sich niemand an Ampelfarben oder aufgemalte Richtungspfeile. Verkehrschaos in Tübingen-City. Sie schlug dem Schlachtschiff mit der Faust auf die Motorhaube, tauchte im Gewühl der Leute unter, rempelte jemanden an und fing einen erbosten Blick auf. Noch zwei Minuten.

Vor der Haustür blieb sie stehen, keuchte und stützte die Hände auf die Knie. Die Smartwatch zeigte Viertel nach elf und eine Herzfrequenz, die für durchgejoggte fünfundvierzig Minuten zufriedenstellte.

Violas kürzlich angemietete Wohnung lag im Dachgeschoss eines renovierungsbedürftigen Altbaus am Stadtgraben, mit dem Rücken zur Altstadt und den Augen zur viel befahrenen Straße. Zum Geographischen Institut brauchte sie keine fünf Minuten zu Fuß, wenn sie die Fußgängerampel ignorierte. Ein Riesenvorteil im Arbeitsalltag. Während sie einen Endspurt die Treppe hoch absolvierte – zwei Stufen auf einmal –, dachte sie kurz an ihre erste Bleibe in dem modern-hässlichen Dozentenwohnheim am Heuberger Tor. Das Welcome Center der Universität Tübingen hatte es ihr als Übergangsunterkunft vermittelt, weil Wohnraum in der alten Universitätsstadt katastrophal knapp war.

Beim Wechselduschen hörte sie das Telefon im Flur dudeln. Doch sie rubbelte sich erst trocken und lief in das Schlaf-Arbeitszimmer. Die abgeschabten Dielen knarrten. Viel freier Fußraum zwischen Bett, Schreibtisch und Kleiderschrank.

Kaum hatte sie sich in der Küche die letzte Banane aus der Obstschale auf dem Tisch gegriffen, da meldete sich das Telefon schon wieder und zeigte die Nummer des Geographie-Sekretariats. Was wollten die von ihr?

»Syring.«

»Guten Morgen, Frau Dr. Syring. Hämmerle hier.« Die Stimme der Sekretärin ihrer Abteilung für Stadt- und Regionalentwicklung. »Entschuldigen Sie die Störung. Ich melde mich wegen der Vorträge in der Osianderschen Buchhandlung heute Abend, die Sie mit Herrn Professor Rosenberg und Frau Professor Winkler halten wollen.«

»Ja und, was ist damit?« Sie biss ein Stück Banane ab. Überreif und braun, die roch so, wie sie schmeckte, und glitschte schön süß und weich die Kehle herunter.

»Professor Rosenberg … Wir haben gerade einen Anruf von seiner Frau bekommen. Er ist am frühen Morgen, äh, verunglückt und kann seinen Vortrag nicht halten. Meinen Sie, dass Sie den Abend auch zu zweit mit Frau Professor Winkler über die Bühne bringen können?«

Viola hatte das Zögern in der sonst so resoluten Stimme der Sekretärin gehört. Verunglückt? »Hatte er einen Unfall?« Das konnte nicht sein. »Ja natürlich, die Vorträge ziehen wir durch. Ich versuche gleich, Toms – Herrn Rosenbergs – Frau zu erreichen. Was ist denn passiert?«

»Tatsächlich hat Frau Rosenberg mich gebeten, Ihnen und Frau Professor Winkler auszurichten, dass sie in Ruhe gelassen werden möchte. Sicherlich will sie sich erst mal um ihren Mann kümmern.«

»Verstehe. Haben Sie mit Frau Winkler gesprochen? Was meint sie?« Unkonzentriert legte Viola die Bananenschale ab.

»Da bin ich dran, Frau Dr. Syring. Sie müsste im Haus sein, ich telefoniere herum.«

»Ich komme nachher rüber und schaue, ob in Herrn Rosenbergs Büro Unterlagen über seinen Part liegen. Wie lange sind Sie heute da, Frau Hämmerle?«

Streng: »Freitags bis vierzehn Uhr, danach habe ich Wochenende.«

Man munkelte, vor Frau Hämmerle hätten sogar die Professoren Angst. Gerüchte von ihren in die Hüften gestemmten Armen und durch ihre Masse versperrten Fluchtwegen aus Büros machten im Institut die Runde.

»Bis vierzehn Uhr haben Sie Herrn Rosenbergs Schlüssel auf jeden Fall zurück, ich bin gleich da.« Viola legte auf.

Der eisenharte Tom und ein Unfall. Mit dem Auto? Wohin könnte er frühmorgens unterwegs gewesen sein? Oder war er gar bei einer seiner merkwürdigen Survivalübungen verunglückt, zu denen er seine Frau regelmäßig mitzerrte? Julie war abhängig davon, dass Tom sich um sie kümmerte, hoffentlich hatte er sich nichts gebrochen.

Sie checkte, wer sie unter der Dusche zu erreichen versucht hatte. Vincent. Wahrscheinlich, weil sie die Nacht, anders als geplant, ohne ihn verbracht hatte. Wollte sie ihm jetzt mehr dazu sagen? Besser nicht, entschied sie und guckte in ihren Kühlschrank, der wenig zu bieten hatte. Immerhin gab es Milch, also aß sie eine Schüssel Haferflocken, bevor sie rüber ins Institut musste. Schnell noch eine kurze WhatsApp an Julie Rosenberg, auf die sie reagieren konnte oder auch nicht. Danach räumte sie Schüssel und Löffel in die Spülmaschine, warf die Bananenschale weg, die sie auf der Fensterbank wiederfand, und griff sich ihre Arbeitstasche.

Sie überquerte die Ammer an der Fußgängerbrücke und lief die paar Stufen zur Rümelinstraße hoch. Im Alten Botanischen Garten rechts der Straße hatte sich das Laub der Bäume teilweise schon rot, orange und gelb verfärbt. Die herbstliche Idylle ließ nicht erahnen, dass ein Teil der prächtigen Grünanlage früher als Friedhof genutzt worden war.

Die Gebäude des Geographischen Instituts auf der linken Straßenseite waren freitags um die Mittagszeit spärlich besucht und heute sowieso, weil die Vorlesungszeit erst nach dem Wochenende beginnen würde. Die Räume für die überschaubare Anzahl an Dozenten und Mitarbeitern der Humangeographie befanden sich in dem weiß gestrichenen Hauptgebäude im Baustil der Zwanziger. Ein Schild am Eingang verwies auf dessen Geschichte als Kinderklinik. Nebenan war ein funktionaler Flachdachkasten hingeklatscht worden, in dem Bibliothek, Labore und Seminarräume untergebracht waren. Das Sekretariat hatte die Zimmernummer 211, und dort händigte der Hämmerle-Zerberus in Ausnahmefällen Zweitschlüssel aus.

»Hallo, Frau Dr. Syring. Hier ist der Schlüssel für Sie. Professorin Winkler weiß Bescheid, ich habe sie vor fünf Minuten erwischt.« Intensiv blumiger Parfümgeruch verteilte sich um die Sekretärin herum, als sie an die Empfangstheke trat.

Viola wich einen Schritt zurück, um der Attacke auf ihre Riechzellen zu entkommen. »Danke Ihnen. Ich bringe ihn gleich zurück. Wird ganz schnell gehen.«

Toms Schreibtisch ächzte unter tausend Dingen, die von seiner ungezügelten Schaffenskraft zeugten. Leider gehörte nichts davon zu seinem Vortrag über New York nach dem Angriff auf das World Trade Center. Sein PC war heruntergefahren, das Passwort Toms Geheimnis. Aus dem um seinen Platz kämpfenden Bilderrahmen rechts hinten sah Julie Rosenberg ihr beim vergeblichen Suchen zu.

Violas Blick wanderte zu den Wänden des Raumes, die als Ausstellungsfläche für Toms großformatige Fotografien von verlassenen Orten in New York dienten. Er hatte den Verfall der Abandoned Places, wie er dazu sagte, kunstvoll in Szene gesetzt. Sie beeindruckten durch ihren frischen Blickwinkel und die offenbare Mühelosigkeit, mit der es ihm gelang, Sinn zu transportieren. Tom war ein begnadeter Fotograf und hatte mehrere Architektur- und Geographiebildbände über die menschengemachte Veränderung der Umwelt veröffentlicht. Viola dachte kurz an die Urbex-Tour mit Tom am vorletzten Wochenende.

Sie schloss wieder hinter sich ab und ging eine Tür weiter zu Franziska Winkler, die womöglich mehr über seine Vorbereitungen für den Abend wusste. Ihr Klopfen wurde mit einem leisen »Herein« beantwortet.

»Hallo, Franziska.«

»Hallo, Viola.«

Man duzte sich. Die Professorin kleidete sich konservativ, heute in langärmliger, hochgeknöpfter Bluse und Bügelfaltenhose. Viola hatte sie mehrmals beim Joggen in einem gediegenen Trainingsanzug erwischt, ohne ein Tröpfchen Schweiß auf der Stirn. Franziska Winklers Stil drückte ihre Weltsicht in jeder Lebenslage hervorragend aus, fand Viola und fragte sich, was sie wohl im Bett trug. Franziska und Tom gehörten seit Langem zum selben Lehr- und Forschungsteam und hatten sich kurz nach der Jahrtausendwende kennengelernt. Auf welcher Ebene Tom wohl so gut mit der kühlen und distanzierten Frau auskam?

Bei Franziska zeigte das obligatorische Foto auf dem Tisch die Professorin selbst, mit Tom vor der Kulisse Manhattans, ihre aschblonden Haare ausnahmsweise windverblasen. Das Bild war neu, sie mussten es in diesem Frühjahr geschossen haben. Sogar in der Zweidimensionalität waren in Toms Gesicht hinter seinem Lachen geballte Energie und gnadenloser Wille zu erkennen. Ein militärischer Schopf schwarzer Haare, eine ausgeprägte Nase und ein breites Kinn, alles an diesem Mann war wuchtig und kraftvoll. Der Arm, mit dem er die Kamera für das Selfie mit Franziska hielt, ließ ahnen, dass er viel trainierte. Viola kannte keinen, der mit achtundvierzig noch so sportlich war wie er, und wünschte sich, in sechzehn Jahren körperlich noch genauso gut beisammen zu sein.

»Du hast es schon von unserem Hämmerchen gehört, stimmt’s?« Sie sah Franziska an. »Wir beide müssen heute Abend alleine ran. Weißt du schon Näheres darüber, wie es Tom geht, und bist du über seinen Teil ausreichend informiert? Sollen wir improvisieren oder 9/11 ganz ausfallen lassen?«

Die Kollegin machte einen besorgten und unkonzentrierten Eindruck, um Augen und Mund war ihr Gesicht faltiger als sonst. Heute sah sie definitiv älter aus als Mitte vierzig. Die Nachricht von Toms Unfall hatte sie offensichtlich mitgenommen.

»Das Sekretariat hat’s mir gerade gesagt. Ich hab versucht, Julie anzurufen, aber sie geht nicht ran. Was wohl los ist?« Sie wendete sich ab, zog einen Ordner aus dem wandhohen und -breiten Regal hinter ihrem Schreibtisch, ging das Register durch und entnahm ein paar Blätter, wobei sie innehielt und mit vor den Mund gehaltener Hand tief ausatmete. »Entschuldige, die Suppe von vorhin … Ich vermute, dass Tom den Inhalt aus seinem Seminar vom Frühjahrssemester zusammenfassen will. Darüber habe ich was.«

Sie blätterte vor und zurück. »Mein Stand der Dinge müsste für heute Abend reichen, er und ich haben uns doch im März den Ground Zero noch mal angesehen.« Ihr Blick wanderte zum Foto. »Wir beide lassen uns einfach Zeit bei unseren Vorträgen, und ich fasse mich mit seinem kürzer. In der Buchhandlung werden viele Fachfremde sein, die merken das gar nicht.«

Viola hatte das Veranstaltungsplakat am Schwarzen Brett im Eingangsbereich des Instituts selbst aufgehängt. »12.10.2018 – Städte nach der Katastrophe: New Orleans, Prypjat, New York«. Die Schauplätze hatten sie mit Bedacht gewählt, Naturgewalt, Super-GAU, Terrorattacke, drei verschiedene Ursachen in strukturell völlig unterschiedlichen Städten. Viola war für die Tschernobyl-Havarie zuständig und wollte den Schwerpunkt darauf legen, wie sich die Orte entwickelten, die die evakuierten Menschen aufgenommen hatten. Hier griff die Frage nicht, welche Entscheidungen beim Wiederaufbau gefällt worden waren. Es gab keinen.

Franziska fuhr fort: »Ich fange ja mit New Orleans an, dann kommst du, und wir hören mit New York auf, wie geplant, das passt doch ganz gut, da hab ich zwischendurch eine Pause, solange du vorträgst.«

»Kriegen wir hin. Wir sehen uns heute Abend, Franziska.«

Vor der Rückgabe des Schlüssels im Sekretariat ging Viola in ihr eigenes Büro. Kein Bilderrahmen auf dem Schreibtisch wie bei den anderen, keine Stapel wie bei Tom, keine ordentlichen wandfüllenden Ablageregale wie bei Franziska. Viola als Küken des Triumvirats arbeitete laptoporientiert und fand, Tom und Franziska gehörten zu der aussterbenden Wissenschaftlergeneration, die zu viel Papier benutzte. Nur den Ausdruck der Bevölkerungspyramiden von Tübingen und Dubai hatte sie auf der Schreibtischplatte liegen lassen.

Sie warf einen kurzen Blick darauf. Das Tübinger Diagramm zeigte die für Universitätsstädte typische überproportionale Ausbuchtung bei den zwanzig- bis dreißigjährigen Bewohnern beider Geschlechter. Ihre Erstsemesterstudenten des gerade anfangenden Wintersemesters würden die Bedeutung des Diagramms am eigenen Leib zu spüren bekommen haben, wenn sie auf Zimmersuche waren. Ab Montag würden sich alle wieder in den Veranstaltungsräumen drängen, wenn die Vorlesungen und Seminare anliefen.

Noch viel krasser war das Diagramm von Dubai. Extrem hoher Männeranteil, insbesondere im Alter von zwanzig bis fünfundvierzig Jahren. Grund dafür war die Arbeitsmigration. Dubai brauchte Kräfte aus dem Ausland für seine zahlreichen gigantischen Bauvorhaben, was nach einer Weile neuartige Probleme schuf. Als Eröffnung ihres Seminars für die Erstsemester würden die beiden Schaubilder für Aufmerksamkeit sorgen.

Ihr Telefon zeigte durch Blinken an, dass es fünf neue Anrufe gespeichert hatte. Sie blätterte durch die Nummern, erkannte das Handy ihrer Mutter. Die Anrufzeit lautete fünf Uhr sechzehn, meine Güte, litt die schon mit sechzig unter seniler Bettflucht?

»Hallo, Viola, ich bin’s. Ich erscheine heute Abend wie verabredet in der Buchhandlung und bringe vorsichtshalber meinen Schlafsack mit. Wenn dir nichts dazwischenkommt, nehm ich dein Angebot mit der Übernachtung gerne an. Können wir ja spontan entscheiden. Bis später!«

Beim Verlassen des Büros gab Violas Bauchgefühl ihr zu verstehen, dass in der Tat etwas ganz Seltsames passiert war. Das mit Tom war wirklich beunruhigend. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass hinter dem Wörtchen »verunglückt« mehr als ein normaler Unfall stecken und Franziskas Verhalten daher rühren konnte, dass sie mehr wusste, als sie zugegeben hatte.

Gleich danach raunte ihr Bauch die Frage, ob ihre Mutter wohl HD zum Vortrag mitbringen würde. Warum ging der Lokaljournalist aus Wildberg, mit dessen Unterstützung Silvia vor rund drei Monaten die Lösung eines Mordfalls gefunden hatte, ihr nicht mehr aus dem Kopf?

Silvia

Wieder einmal kein Rückruf von ihrer Tochter. Das steckte Silvia inzwischen weg. Sie hatte nur die Uninummer angerufen, um die gebieterische Ansage auf Violas Smartphone zu vermeiden. Die ließ ihren Blutdruck hochschnellen, weil so wenig Zeit für eine Nachricht gelassen wurde.

Sie saß in der offenen Tür ihres Wohnmobils, das sie mit jahreszeitlich bedingter Kühle und Dunkelheit am Sonnenhöchststand ausgerichtet hatte, um hier im Nagoldtal mit den Solarpanels möglichst viele Strahlen einfangen zu können. Die Herbstsonne schien auf ihre Haut, und sie genoss, wie sich deren Poren öffneten. Ihr Blick schweifte über den Wildberger Campingplatz, der seit einigen Wochen ihr neues Zuhause war. Beim Anblick des Sanitärgebäudes mit den Duschen und Waschmaschinen fiel ihr ein, dass sie ihren alten Freund Michael anrufen musste. Sie griff zu ihrem neuen, WLAN-fähigen Handy, das neben ihr lag. Freitagvormittag, Michael hatte seit … seit der Geschichte eine Vier-Tage-Arbeitswoche und würde erreichbar sein.

»Moin, ich bin’s.«

»Hallo, Silvia, wie geht’s dir?«

»Danke, ich schaff’s, mit der Zeit wird’s leichter.« Sie hatten beide ihr Problem damit, Annes Selbsttötung endgültig zu akzeptieren. Wieder fühlte sie die leere Stelle in sich, die vorher ihre beste und älteste Freundin ausgefüllt hatte. Wie musste es erst für Michael sein, der als Ehemann seit Jahrzehnten jeden Tag mit ihr verbracht hatte? Silvia spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten, trotz der wärmenden Sonnenstrahlen.

»Geht mir auch so, mir hilft die Sabine«, sagte Michael jetzt. Seine Kollegin, mit der er eine Affäre angefangen hatte, als Anne noch lebte. »Manchmal bin ich ungerecht zu ihr, aber wir kommen klar. Ich trink jetzt weniger, das bringt ja auf die Dauer auch nix.«

»Sehr gut. Hast du in der nächsten Woche Zeit für einen Besuch? Ich würde gerne wieder mal eine Alibinacht bei dir verbringen.« Dauercampen war verboten, also hatten sie fürs Erste diese Lösung gefunden. Doch wenn Sabine bei Michael übernachtete, wollte Silvia die beiden nicht behelligen. Eine offizielle Meldeadresse hatte Michael ihr bei sich zu Hause kürzlich ebenfalls angeboten.

»Sag einfach Bescheid. Du störst uns aber auch morgen nicht, wir wollen zusammen was im Garten schaffen.«

»Nee, ich komm vielleicht Ende nächster Woche, dann würd ich bei dir gerne ein Bad nehmen. Und ich muss unbedingt in meine Kartons gucken.« Auf Michaels Dachboden lagerten mehrere Umzugskisten mit ihrer saisonalen Kleidung und anderem Kram, vorwiegend kleinen Haushaltsgegenständen.

»Null Problemo, du meldest dich einfach. Tschö!«

Silvia freute sich am altvertrauten Ruhrpottklang und schaute zu dem Hang hinüber, der sich auf der anderen Seite des Flüsschens türmte. Die steile Kochsteige führte ein Stück vom Campingplatz entfernt am Ortseingang in Richtung Schlossruine, Rathaus und der Siedlung hinauf, wo Michael wohnte. Gut, dass sie ihr Auto mitgebracht hatte, als sie mit HD ihre Wohnung in Herne aufgelöst hatte, so würde sie ihre Sommerkleidung nicht hinaufschleppen müssen. Der Gedanke an ihre alte Heimat im Ruhrgebiet erzeugte keine Wehmut, sie war zufrieden, jetzt ein ganz anderes, viel spannenderes und naturverbundeneres Leben zu führen.

In den letzten beiden Wochen hatte die Anzahl der Camper deutlich abgenommen, und das Sanitärgebäude war ohne Wartezeit zugänglich. Es wurde einsamer und ruhiger. In ihrer Nähe gab es nur noch einen Wohnwagen, den sein Besitzer vor drei Tagen dort hinbugsiert hatte. Sie blinzelte zu dem alten amerikanischen Airstream hinüber, dessen silberne Haut die Helligkeit reflektierte. Ein tolles Geschoss! Sein vermutlich stolzes Herrchen schien sich immer noch häuslich einzurichten, es hantierte gerade mit irgendwelchen Gerätschaften um seinen Wagen herum. Schade, sie hatte bisher keinen Blick ins Wageninnere erhaschen können. Der zurückgezogene Nachbar hatte vermieden, auf ihr anfängliches Winken zu reagieren, da waren wohl gezielte Worte nötig. Und zwar jetzt sofort.

Sie stand auf, holte die Thermoskanne mit Kaffee und zwei Becher aus dem Wohnmobil und ging hinüber. Er tauchte an der Seite seines Wagens auf, einen sechseckigen Gegenstand in der Hand, mit vielen ausgestanzten Öffnungen und abgesehen von einigen Gebrauchsspuren silbern wie der Wohnwagen.

»Guten Morgen!«, begrüßte sie ihn freundlich. »Was haben Sie denn da, das sieht ja interessant aus.«

»Grüß Gott.« Ein prüfender Blick, dann sah er weg.

Ups. Nicht gerade geschwätzig, der Herr. »Ich bin Ihre Campingnachbarin Silvia und möchte Sie willkommen heißen. Jetzt stehen Sie schon seit Dienstagnachmittag da, und wir haben noch gar kein Wort gewechselt.«

Er taxierte sie wieder. Dann schien er zu beschließen, dass von ihr keine Gefahr ausging. Das wäre auch echt lächerlich, dachte Silvia, friedliche Frau, klein und total unbewaffnet, bis auf böse heißen Kaffee.

»Das ist ein Hobo-Ofen«, sagte er und schwenkte das Ding in seiner Hand, ohne zu signalisieren, dass er sich weiter darüber auslassen wollte. Was für ein knorriger Typ. Sportlich gekleidet, fettarm kantig mit muskulösen Waden und Armen, wettergegerbt. Seine dunklen, recht langen Haare standen wild durcheinander und wurden an den Schläfen grau. Ein Gefühl von verlockendem Geheimnis begann sie zu kitzeln.

»Ich finde Ihren Airstream total super. So was kriegt man selten zu sehen.«

»Brenner«, sagte er, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie verstand, dass sich das nicht auf den Ofen bezog, den er immer noch an seiner Seite baumeln ließ, sondern sein Nachname war. »Horst«, setzte er hinzu.

»Silvia Salomon, hallo, Horst. Mögen Sie einen verspäteten Begrüßungskaffee?« Sie streckte ihm einen Becher entgegen, den er annahm. Sehr gut, das Eis brach. Seine Augen waren tatsächlich eisgraublau, mit braunen Sprengseln darin. Sie goss die dampfende Flüssigkeit ein und stellte die Kanne ins Gras.

»Milchpulver und Zucker hab ich auch.« Mit der freien Hand kramte sie nach den Tütchen in ihrer Hosentasche. Er lehnte die Zutaten ab und trank einen Schluck. Sie sah ihm beim Auftauen zu. Auf Small Talk wagte sie kaum zu hoffen, und alles, was er als Aushorchen verstehen könnte, wäre fehl am Platz. Wo also anknüpfen?

»Ich komme aus dem Ruhrgebiet und finde es hier total lauschig, Wald, Fluss, Berge, Ruhe …«

»Ja. Die Ruhe vor allem.« Ein beredter Blick. »Berge sagen Sie dazu, soso.« Kein Lächeln. Seine sparsame Geste umfasste die Landschaft ringsum.

Jetzt hatte sie’s, er erinnerte sie an diesen berühmten Bergsteiger, Reinhold Messner. Der Messner hatte braune Augen, oder? Junge, konnte Horst nicht erzählen, wo er herkam, ihr Wohnmobil erwähnen, wenigstens den Kaffee loben? Na gut, sie ließ ihn erst mal trinken.

»Danke.« Er reichte ihr den leeren Becher und wendete sich ab.

»Gerne. Kommen Sie rüber, wenn Sie mal einen brauchen oder einfach plaudern möchten.« Sie spürte ein Glucksen in der Kehle. Ihr Abschiedslächeln geriet breit, hoffentlich fühlte er sich nicht veräppelt. »Bis später dann.« Sie sammelte ihre Kanne ein und zog davon. Hahaha, einfach plaudern, ein guter Witz, aber wohl vergebliche Liebesmüh.

Minuten später wählte sie koffeingestärkt HDs Mobilnummer.

»Kugele.«

»Hallo, HD, die Silvia. Was macht das Schreiben?«

»Ja hallo, Silvia, hab mich schon gefragt, wann du heut anrufst.«

Was wollte er denn damit andeuten? »Hast du inzwischen deine Kontaktlinsen?«

»Hab ich angeleiert, in ein paar Tagen kann ich sie abholen. Ich arbeite grad an dem Auftrag von diesem Hamburger Hochglanzmagazin. Hab schon ganz hippe neue Randsportarten, urbane Freizeitbeschäftigungen und so gefunden, echt krass, was es da alles gibt. Ich freu mich schon drauf, das eine oder andere auszuprobieren, um zu checken, worüber ich schreiben möchte. Schon mal was von Parkour, Urban Exploring oder Streetsurfing gehört? Dabei wäre eine Brille wirklich hinderlich.«

Vor allen Dingen sein ständig rutschendes Exemplar, dachte Silvia, während sie ihn grinsen hörte. Die Unterschiede zwischen einem durchtrainierten gefährlichen Kerl, der sich halsbrecherisch in jede körperliche Herausforderung stürzen konnte, und seiner eigenen lässigen bis nachlässigen Erscheinung waren offensichtlich. Na ja, die Journalistenhochburg lockte, es wäre kaum verwunderlich, wenn er dem Ruf folgen würde, um seine Karriere voranzutreiben. Ob ihn solche Themen denn begeisterten? Warum blieb er nicht bei der investigativen Richtung, die er für den Lynn-Pfrommer-Mordfall bereits eingeschlagen hatte?

»Äh, hast du dir überlegt, mich zu dem Vortrag nach Tübingen zu begleiten? Vielleicht erfährst du ja was, was du für deine Reportagen gebrauchen kannst.« Klang ihre Stimme beiläufig genug? Sie hatte sich alle Nachfragen in den letzten Wochen verkniffen, in der Hoffnung, dass Neugier oder gar Sehnsucht nach Viola in ihm gärte.

»Du meinst den von deiner Tochter? Was davon sollte ich wohl verwenden? Ich bin heut Abend sowieso verabredet, sorry.«

»Schade, na, dann erzähl ich dir später davon. Sie würde sich bestimmt freuen, wenn du kommen würdest.«

»Glaub ich gleich«, sagte er abschätzig. Silvia wartete und konnte sich vorstellen, wie er gerade den rechten Mundwinkel verzog. »Du lässt nicht locker, gell?«, ergänzte er. »Sei so gut und hör auf damit. Wie läuft’s mit dem Lektorat für dein Grüne-Männer-Buch?«

Sie schluckte, weil er ihren Versuchsballon mit einer für einen Schwaben ungewohnt offenen Ablehnung abgeschossen hatte. »Gut, ist fertig, der Verlag ist mehr als zufrieden. Und ich habe zwischendurch schon gedacht, es kriegt keinen Tiefgang. Von daher hat es sich gelohnt, durch meine Recherchen hier in den Pfrommer-Fall hineingezogen worden zu sein. Im Nachhinein mach ich mir immer noch in die Hose, wenn ich drüber nachdenke, wie knapp ich davongekommen bin, und ab und zu träum ich schlecht, du auch?«

Er brummte, sie ignorierte die dunkle Wolke und konzentrierte sich auf seine ursprüngliche Frage. »Das Verlagsteam wirft mein Buch jetzt so schnell wie möglich auf den Markt und plant schon ab Mitte November eine Reihe von Lesungen und vorweihnachtliche Werbeaktivitäten. Sie drücken auf die Tube, weil die Leute sich jetzt noch gut daran erinnern können, dass hier in Wildberg ein Mord passiert ist. Unvorstellbar, ich vor so viel Publikum. Deshalb möchte ich mir nachher ansehen, wie Viola –« Stopp. »Ich fahr ein bisschen früher nach Tübingen und bummel durch die Altstadt. Wenn du mitgekommen wärst, hätte ich dir eine Pizza auf die Hand spendiert. Na ja, dein Pech. Ruf mich an, wenn du am Wochenende Langeweile hast.« HD hatte garantiert überhaupt nichts vor und würde in seiner Bude vor sich hin schmoren. War das anstrengend, ein neuerliches Treffen von Viola und ihm arrangiert zu bekommen.

»Ich wünsch dir einen ersprießlichen Abend«, sagte HD. »Und Grüßle an deine Tochter.«

Viola

Viola ließ ihren Blick über die Köpfe der Besucher schweifen. Die Buchhandlung summte, und die für den Abend abgestellte Mitarbeiterin, die die Dozentinnen vorstellen würde, holte eifrig zusätzliche Stühle von irgendwo heran. Noch zehn Minuten bis zum Beginn. Die kritischsten Studenten waren gekommen und würden sich sicherlich nicht mit einer Sparversion des New-York-Themas abspeisen lassen.

Franziska schien das Gleiche zu denken, sie hatte ihre Sorgenfalten nicht glatt gebügelt bekommen, im Gegensatz zu ihrem makellos geplätteten Hosenanzug in Anthrazit mit rosa Businessblüschen. Die Farben machten sie blass. Obwohl … Weiß um die Nase war sie Viola schon am Mittag vorgekommen, die Pastellfarben betonten das nur.

Im allgemeinen Gemurmel sah Viola zu ihrer Mutter hinüber. Sie saß weiter hinten an der Seite, obwohl sie als eine der Ersten eingetroffen war und einen besseren Platz hätte wählen können. Eine unauffällige ältere Frau, ungeschminkt und schmucklos bis auf eine merkwürdige Brosche am Shirt, die Viola noch nicht gesehen hatte und die eines dieser Blattgesichter darstellte, mit denen Silvia sich seit Monaten beschäftigte. Seit wann trug man denn wieder Broschen, überlegte sie kurz. Entweder lief ihre Mutter dem Trend gnadenlos hinterher oder weit voraus. Unter deren Stuhl drohte ein voluminöser olivfarbener Schlafsack seine Hülle zu sprengen. Sah aus wie aus einem Army-Shop. HD war nirgends auszumachen.

Viola holte ihre Brille aus der Tasche. Die Gläser hatten keine Sehstärke, die eindrucksvolle schwarze Fassung diente dem Zweck, ihr eine gewisse Autorität zu verleihen, sie älter zu machen und sich zur Not dahinter verstecken zu können. Dieser Trick half an der Uni, wenn es in Seminaren schwierig wurde, den Studenten ihre Rolle klarzumachen.

Sie war nur wenige Jährchen älter als einige der Teilnehmer ihrer Lehrveranstaltungen. Philipp Röhm in der ersten Reihe direkt vor ihr musste jetzt siebenundzwanzig sein, wusste sie. Und direkt dahinter saßen die drei irakischen Studenten, scherzhaft die drei »Al-s« genannt, weil sie immer gemeinsam ihre Veranstaltungen besuchten. Ihr Sprachrohr, Yasin Al-Omar, blies seinen Atem fast in Röhms Nacken, er hatte sich direkt hinter ihm platziert. Warum? Zwischen ihm und Röhm, Mitglied einer schlagenden Verbindung, hatte sich ein Reizklima etabliert, und sie stritten oft.

Hinten rechts ein seltsames Team, das in Tarnfarbenklamotten mit Abzeichen gekleidet war, »DD« in ineinandergreifender altdeutscher Schnörkelschrift. Dazu trugen sie derbe Schuhe und hatten große robuste Rucksäcke dabei. Heutzutage waren das keine Pfadfinder mehr. Prepper waren sie, stets vorbereitet. Die würden sich freuen, etwas über Katastrophen zu hören.

Sie setzte die Brille auf. Ein sehr gemischtes Publikum. Zwei weitere Gäste kündigten sich an, denn eine der Treppen in der mit Zwischengeschossen verschachtelt angelegten Buchhandlung knarrte und knackte von ihren Schritten. Eine kleine quadratische Frau vorweg, eine zweite wie ihr lang gezogener Schatten im Schlepptau. Viola konnte die beiden nicht einordnen. Sie blieben ganz hinten mit dem Rücken zu den dunklen Bücherregalen stehen und blickten aufmerksam umher.

Viola merkte, dass Franziska sie von der Seite seltsam ansah und den Beamer startete. Die zwei Frauen hinten interessierten sich wenig dafür, was auf die Leinwand projiziert wurde. Bullen in Zivil? Viola korrigierte sich, Kühe in Zivil. Ihre Mundwinkel hoben sich minimal. Hatten die beiden jemanden aus dem Publikum im Visier?

Die Buchhändlerin entschuldigte sich dafür, dass Tom Rosenberg ausfiel, und umschrieb den Grund dafür mit knappen Worten: »Frau Professor Winkler, seine langjährige Kollegin, wird das Thema übernehmen und Sie über den Stand der Entwicklungen in New York informieren. Und würden Sie sich bitte in die Teilnehmerliste eintragen, ich lasse sie gleich herumgehen. Zum Abschluss des Abends sind Sie herzlich zu einem Imbiss eingeladen.«

Die Geographiestudenten machten enttäuschte Gesichter. Mit der Aussicht auf essbare Häppchen ließen die sich nicht beschwichtigen. Yasin Al-Omar tönte: »Frau Winkler, stützen Sie sich nur auf Herrn Rosenbergs Unterlagen, oder sind Sie wirklich in sein Thema eingearbeitet?«

Viola lächelte flüchtig in die Gesichter und spielte den Ball an Franziskas Stelle zurück, weil diese abgelenkt woanders hinsah: »Wir bitten darum, dass Sie Ihre Fragen am Ende unserer jeweiligen Themen stellen und nicht dazwischenrufen, damit Sie die Informationen zusammenhängend bekommen. Es wird für alle Gelegenheit geben, ihre Meinung zu äußern.« Das sollte als Ansage für etwaige Störer reichen. Sie lehnte sich zurück.

Franziska bemühte sich um Fassung, fand sie. Sie bemerkte, dass die Stimme der Professorin zu Beginn zitterte und ihre Augen umherhuschten. Das konnte kein Lampenfieber sein, so etwas kannte Viola von ihrer Kollegin nicht. Anfänglich drückte sie sogar eine falsche Taste auf dem Laptop, wodurch ein unpassendes Schaubild auf die Leinwand projiziert wurde. Irgendetwas war los mit der routinierten Frau. Hatte sie Angst um Tom? Zu Violas Erleichterung bekam sie sich im Laufe ihres New-Orleans-Vortrags in den Griff.

Die anschließende Fragerunde lief zögernd an. Viola wurde ungeduldig. Gut, Franziskas Vortrag war wahrscheinlich der thematisch unattraktivste, aber …

Ihre Mutter meldete sich: »Also ist in New Orleans durch die Folgen des Hurrikans schneller eingetreten, was sich in anderen Städten auch entwickelt? Die alten Armenviertel werden abgerissen oder instand gesetzt und durch Besiedelung mit Besserverdienenden, in diesem Fall Weißen statt Schwarzen, gentrifiziert?«

Daumen hoch, sie hatte sich im Vorfeld informiert. Franziska bestätigte die Frage knapp.

»Hat es eine Entschädigung für die Schwarzen gegeben? Sie haben alles verloren und kein Geld, ihre Häuser neu aufzubauen.« Das war wieder Yasin Al-Omar. Ihre Mutter hatte ihm eine Steilvorlage geliefert. Gleich würde es losgehen, Viola kannte das aus ihrem Seminar des letzten Semesters.

Er hatte natürlich recht, die Naturkatastrophe verdeutlichte die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, die schon vor Hurrikan Katrina geherrscht und das Stadtbild geprägt hatten, unter anderem mit Vierteln, in denen die Kartenhäuschen in viel höherem Ausmaß zusammengefallen waren als die widerstandsfähigeren Gebäude in privilegierteren Stadtteilen.

Ihre Kollegin war auf der Hut, antwortete betont beschwichtigend und lenkte ein. Nach mittlerweile dreizehn Jahren und neuen Erfahrungen würden heutzutage andere Entscheidungen getroffen werden, die Stadtgeographie sei inzwischen weit fortgeschritten. New Orleans habe außerdem viel investiert, beispielsweise in Flutwehre.

»Wurde doch sowieso Zeit, dass sie diesen Sumpf trockengelegt haben. Wäre hier in manchen Städten auch nötig.« Einer der »DD«-Typen funkelte auffordernd zu Al-Omar hinüber, der sich prompt zu ihm umdrehte, als ob er den Blick im Rücken gespürt hätte. Im Rahmen ihrer Seminare wäre eine solche Äußerung von Philipp Röhm gekommen.

Der Iraker antwortete: »Zum Beispiel da, wo Sie herkommen, ja? Haben Sie etwas gegen Arme oder Schwarze? Warum tragen Sie eigentlich solche Pseudo-Militärklamotten? Krieg ist kein Spiel. Im Irak –«

Viola sah Röhm grinsen und machte den Mund auf. Die Winkler war schneller: »Wir werden heute Abend kein Forum für politische oder rassistische Meinungsäußerungen bieten, in welche Richtung auch immer. Gibt es weitere Sachfragen?« Gut hatte sie das gelöst, fand Viola. So recht schien sich keiner mehr zu trauen, etwas zu sagen.

Sie ergriff das Wort, lieferte ihren Bericht über Prypjat und erwähnte, dass ehemalige Einwohner der umliegenden Dörfer illegal zurückgekehrt waren, weil sie sich nach Jahrzehnten in ihrem Heimatort nicht in neue Gemeinschaften einleben konnten oder wollten. Diese Aussage unterstrich sie mit Fotos der fluchtartig verlassenen und nun teilweise wieder genutzten einfachen Häuschen. Viola erinnerte sich gern an den ihr zugeteilten russischen Fotografen, mit dem sie unterwegs gewesen war, an der kurzen Leine auch im Inneren der Gebäude Prypjats. Nach 2011, als die ukrainische Regierung die Sperrzone für Touristen freigegeben hatte, kamen immer mehr Leute, die Selfies schießen und ihre Spraytags hinterlassen wollten. Viola sagte »Katastrophentourismus« dazu.

Ganz zum Schluss zeigte sie die Arbeiten an der neuen Schutzhülle für den havarierten Atomreaktor, dem sogenannten »New Safe Confinement«, und wie erwartet bezogen sich die Fragen zunächst darauf: »Was hat das gekostet? Wie lange wird die halten? Kann man dann wieder in Prypjat leben?« Weitere Nachfragen des Publikums drifteten in Richtung Energiebedarf der wachsenden Weltbevölkerung ab, was Viola zu weit gefasst fand und wieder eindämmte.

»Die Iwans auf dem Land leben wie im Mittelalter und können ihre Atomkraftwerke nicht kontrollieren.« Wieder der Prepper, kopfschüttelnd. Da war rigoroses Einschreiten nötig, Viola schnitt ihm das Wort ab. Der Frager lehnte sich zufrieden zurück, er hatte seine Gelegenheit genutzt.

Wenige Leute aus dem Publikum murrten zögerlich, keiner wollte sich offen mit denen anlegen. Nur Al-Omar rief kampflustig: »Ihrer Meinung nach lebt der größte Teil der Menschheit wohl im Mittelalter. Iwans, aha, was würden Sie zu mir sagen, Ölauge? Schon mal überlegt, was das über Ihr Weltbild aussagt? Halten Sie sich für einen Kreuzritter der einzig wahren westlichen Ellbogengesellschaft?«

Sie tauschte einen Blick mit Franziska, die schnell den wegen Toms Fehlen am schwierigsten zu moderierenden Part übernahm. Sie begann mit Fotos der Trümmerlandschaft der Twin Towers und lieferte Zahlen dazu, die zum Wiederaufbau überleiten sollten.

Tom und Franziska waren damals gemeinsam mittendrin gewesen. So konnte die Professorin nun das Ausmaß des Schadens und die Panik der Menschen vor Ort aus eigener Erfahrung vermitteln. Viola hatte an Toms Lippen gehangen und seine Todesangst gespürt, als er ihr vor ein paar Jahren erzählte, wie er sich aus dem Nordturm gerettet hatte, bevor der hinter ihm eingestürzt war und ein ganzes Stadtviertel, das bereits von den Resten des Südturms bedeckt war, zusätzlich mit seinem Schutt-, Glas- und Staubregen überzog. Und nicht nur damit. Ihm waren Körperteile beim Wegrennen wortwörtlich vor die Füße gefallen. Beim Herauslaufen aus dem Gebäude war sogar jemand direkt neben ihm von einem in Panik aus großer Höhe gesprungenen Menschen erschlagen worden. Er hatte das Geräusch des Aufpralls der Körper als ein Platschen beschrieben. Viola dachte an das Foto vom »Falling Man«. Es hatte traurige Berühmtheit erlangt, weil es eine in der Realität nicht da gewesene Ästhetik in der Katastrophe ausdrückte.

Sie hatte durch Toms Bericht damals förmlich den Staub auf ihrer Haut und zwischen den Zähnen gefühlt, Blut, Schutt und Brand gerochen, die Windböen gespürt, die die Leute draußen von den Füßen rissen, und die schließlich eingetretene Totenstille gehört, die sich im Anschluss an den Zusammenbruch über das verwüstete Viertel gesenkt hatte. Nur ein einziges Mal hatte Tom ihr davon erzählt, und von Franziska hatte sie bis heute kein einziges persönliches Wort darüber vernommen. Wie konnte sie das bewältigen? Halfen Tom und sie sich gegenseitig dabei? Ob sie psychologisch betreut wurde?

Jetzt sprach die Winkler über die Erinnerungsstätte, die man auf dem Ground Zero errichtet hatte. Von all den unzähligen Leichenteilen, die in den Folgejahren gefunden wurden, hatten sich über tausend bisher jeglicher Zuordnung widersetzt. Dann thematisierte sie die übrige neue Bebauung. Mehr Fotos. Erläuterungen zur Nutzung. Touristische Entwicklung. Was die Anschläge in Bezug auf die Stadtplanung ausgelöst hatten.

»Verfickte Ali Babas, seit damals ist alles anders.«

Röhm hatte das in der ersten Reihe soeben provozierend in die ergriffene Stille hineingemurmelt, Viola hatte es gehört, Franziska offensichtlich auch. Die Iraker richteten sich auf ihren Stühlen auf. Viola wendete sich mit ausgestrecktem Zeigefinger an Philipp Röhm: »Unterlassen Sie Ihre unqualifizierten und beleidigenden Äußerungen, sonst werde ich Sie aus meinen Veranstaltungen dieses Semesters ausschließen.«

»Die besuche ich sowieso nicht mehr«, gab Röhm zurück.

»Wollen Sie es auf Streit ankommen lassen, Herr Röhm? Keine gute Idee.« Was für ein Abend.

Franziska sagte: »Die anderen, Fragen zum Thema?«

»Wie sieht’s in den USA mit dem Stand der Dinge in Richtung Zivilschutz aus? Wurde das Budget aufgestockt? Hier in Deutschland werden wir nur beschwichtigt und für dumm verkauft.« Einer der Prepper.

Tatsächlich hatte Franziska eine Statistik über neue Maßnahmen zum Schutz wichtiger Gebäude in New York nach 9/11 mitgebracht, aus der sie zitieren konnte. Über den Nachsatz mit den angeblichen Zuständen in Deutschland ging sie hinweg, bemerkte Viola. Trotzdem beharrte der Kerl auf seiner Frage:

»Wir Deutsche werden uns selbst überlassen. Stellt euch vor, Leute, so was im Bankenviertel von Frankfurt. Oder Cyberangriffe, die unsere Stromnetze lahmlegen. Oder das gesamte Internet! Ihr seid in weniger als einer Woche völlig aufgeschmissen. Ich wette, keiner von euch hat größere Vorräte an Lebensmitteln und Wasser zu Hause. Wie sieht’s aus mit einem gepackten Fluchtrucksack?« Er klopfte auf seinem Modell herum.

»In Amerika dürfen sich die Normalbürger wenigstens mit Schusswaffen verteidigen. Wir haben stattdessen einen kopflosen Haufen labernder Politiker. Wie wollt ihr euer Zuhause mit bloßen Händen gegen plündernde Horden verteidigen? Dafür habt ihr keinen Plan, stimmt’s?«

Das wäre jetzt genau Toms Ding, überlegte Viola. Wollten die etwa nach dem Vortrag einen Gepäckmarsch nach Hause machen, oder rechneten sie ernsthaft damit, dass ihnen hier ein Forum für ihre sehr subjektive Beurteilung verschiedener Bedrohungslagen geboten würde? Wollten sie Reklame für ihren Verein machen?

Die Buchhändlerin warf Viola einen Blick zu und trat zwischen die Dozentinnen und die erste Stuhlreihe. »Es tut mir leid, ich muss den Abend hier abbrechen. Die Fragen haben inhaltlich nichts mehr mit dem Thema zu tun. Unsere Verköstigung muss aus Sicherheitsgründen leider ausfallen. Bitte gehen Sie jetzt und kommen Sie gut nach Hause.«

Während die Ersten zögernd aufstanden, wendete sie sich an Viola und Franziska Winkler: »Tut mir leid, dass ich so strikt bin. Nicht, dass Ihre Zuhörer ernsthaft aneinandergeraten … Für Sie gibt es zur Stärkung Brötchen, Sekt und Saft im Zwischengeschoss eine halbe Treppe höher.«

»Sie können nichts dafür.« Viola zog die Brille ab. Franziska klappte den Laptop zu, ohne das Programm zu beenden. Sie sah mehr als erschöpft aus, kündigte kurz an, dass sie dem anschließenden Beisammensein fernbleiben würde, raffte hastig ihre Unterlagen zusammen und eilte hinaus. Viola nickte ihr zum Abschied hinterher.

Ihre Mutter bahnte sich mit der zu platzen drohenden Schlafsackwurst einen Weg nach vorn: »Hab ich mit meiner Frage das Chaos losgetreten? Ich hätte vielleicht besser …«

»Das lag nicht an dir, die haben sich auf die erstbeste Gelegenheit gestürzt, und es hätte sich auf jeden Fall eine geboten. Einige sind schon mit dem Vorsatz gekommen, ihre Ansichten abzusondern. So was passiert immer wieder mal. Was hast du da eigentlich für eine Penntüte mitgebracht, willst du auf eine Arktisexpedition?«

»Ach, den hat HD mir überlassen, wenn es im Wohnmobil demnächst kalte Nächte gibt.«

Viola ignorierte den Angelhaken mit dem fetten Wurm und nahm an dem gedeckten Tisch lieber ein halbes mit Käse belegtes Brötchen und einen Sekt mit Orangensaft. Der Tag war lang gewesen, und sie hatte seit der Banane und den Haferflocken nichts mehr gegessen.

»Läuft es öfter aus dem Ruder bei euren Vortragsabenden und Seminaren?«, fragte ihre Mutter beunruhigt.

»Nein. Wenn du Lesungen über Grüne Männer hältst, kommt so was garantiert nicht vor, bei dir sitzen dann lauter esoterisch angehauchte Gutmenschen drin. Denk an was anderes.«

»Ich mache mir Sorgen, wie ich das in den Griff kriegen könnte, wenn … Schönen Gruß von HD.«

Schon wieder der Journalist. Für einen Moment hörte Viola auf zu kauen, konzentrierte sich dann erneut darauf. »Ja danke und Gruß zurück.« Ihre Mutter sah sie erwartungsvoll an. Was wollte sie denn hören?

Viola rollte mit den Augen und schob sich den Rest ihres Käsebrötchens in den Mund, um nichts mehr sagen zu müssen. Auf einer Extraplatte lagen Schnittchen mit Lachs und einem senffarbenen Sößchen mit Dillspitzen drüber. Lecker. Sie griff zu. Auch Silvia nahm eines. Zum Glück breitete sich einvernehmliches Schweigen aus.

»Komm, wir essen unterwegs weiter, ich hol meine Sachen, und du packst was vom Büfett ein, die schmeißen das doch sonst alles weg. Nimm die Servietten dafür.« Viola stürzte ein weiteres Saft-Sekt-Gemisch hinunter und beobachtete, wie ihre Mutter, der das Dilemma zwischen Gehorsam und Peinlichkeit ins Gesicht geschrieben stand, unter den Augen der Angestellten dies und das vom Tisch nahm und einwickelte. Immerhin war sie so vom Glatteisthema HD abgelenkt.

Bevor sie aufbrechen konnten, trat die Frau mit dem breiten Kreuz zu ihnen, die Viola inzwischen völlig vergessen hatte. Das stummelige Pferdeschwänzchen wippte an ihrem Hinterkopf. So eines hatte ihre Klassenlehrerin damals auch gehabt, und auch die Silhouette stimmte. Frau Kaltenbach. Sie hatten sich aus tiefstem Herzen gehasst.

»Kriminalhauptkommissarin Diane Kühn. Frau Syring, kann ich Sie kurz sprechen?«

»Was gibt es?« War einer ihrer Teilnehmer ein Bösewicht, und wollte die kleine Polizeibulldogge ihn schnappen? Anders konnte sie sich die Anwesenheit der Kripo nicht erklären.

»Es geht um Ihren Freund und Kollegen Herrn Rosenberg.« Das Kaltenbach-Double warf einen Seitenblick auf Silvia.

Viola sagte: »Meine Mutter, Frau Salomon. Reden Sie weiter. Was ist mit Tom?«

»Setzen wir uns hin. Meine Kollegin kommt dazu.« Die holte sogleich einen Notizblock aus der Brusttasche. Zu viert nahmen sie Platz. Was sollte das werden?

»Ich sag’s Ihnen geradeheraus: Herr Rosenberg ist tot. Sie beide kannten sich lange und waren befreundet, richtig?«

Wie bitte? Viola spürte, wie ihr Blut nach unten sackte und dann wieder hochstieg. Ihr wurde kalt und heiß. Sie zwang sich, die Kontrolle nicht zu verlieren, als ihr Schreckensröte ins Gesicht und Tränen in die Augen stiegen.

»Ja, seit etlichen Jahren. Wir sind gute Freunde, er hat meine Karriere gefördert und mich unterstützt, seit ich 2004 die ersten beiden Semester bei ihm studieren durfte, an der Uni Duisburg-Essen. Sagen Sie mir, was mit ihm passiert ist. Was für ein Unfall soll das gewesen sein?«

»Er ist heute früh abgestürzt, vom Österbergturm, den er laut Aussage seiner Ehefrau für eine Art Übung bestiegen hatte. Sie glaubt allerdings, dass jemand nachgeholfen hat. Sie hat unten im Auto gewartet, auf dem asphaltierten Teil der Straße zum Turm hinauf, und meint, eine dunkle Gestalt hinter ihm auftauchen gesehen zu haben, als er an der Brüstung stand. Leider hatte sie von ihrem Standort aus keinen Blick auf den Eingang und konnte nicht beobachten, ob danach jemand den Turm verlassen hat. Auf dem Gelände gibt es mehrere Wege und Trampelpfade in die Stadt hinunter, eine Person mit Ortskenntnis kann ungesehen entkommen. Die Querschnittslähmung hat Frau Rosenberg behindert, ihr Rollstuhl lag unerreichbar für sie auf der Ladefläche des Pick-ups. Wir kümmern uns gerade um die Frage, wieso der Eingang des Turms geöffnet war, normalerweise kann man ihn nur im Rahmen von Führungen betreten.«

»Vom Österbergturm? Ganz in der Nähe vom Institut und –«

»Stimmt, Frau Syring. Und noch näher bei Ihrer Wohnung, nicht wahr? Kennen Sie das Gebäude?«

»Natürlich, manchmal jogge ich oben auf dem Berg. Sagen Sie … war Tom sofort tot, oder musste er …?«

»Er ist sofort gestorben, hat bestimmt keine Schmerzen gespürt. Niemand überlebt einen Sturz aus fast vierzig Metern Höhe. Die niedrigen Büsche am Fuß des Turms konnten den Aufprall nicht abfangen. Außerdem ist Herr Rosenberg mit dem Kopf auf der Umrandung des Beets aufgeschlagen.«

»Das ist ja … Und Sie glauben, es war kein Unfall? Meinen Sie, dass das, was Julie zu sehen geglaubt hat, der Realität entspricht?« Das Lachsbrötchen wollte dringend aus Violas Magen heraus. Sie schluckte ein paarmal. Vergeblich. Gleich würde sie die Fassung verlieren.

»Menschen, die sich mit einem Sprung suizidieren wollen, landen normalerweise in einiger Entfernung vom Objekt, weil sie sich oben abstoßen. Herrn Rosenbergs Position legt nahe, dass er vielmehr versucht hat, sich festzuhalten. Die Rechtsmedizin untersucht, ob Spuren eines heftigen Stoßes auf seinem Rücken zu finden sind.«

»Tom hätte nie … Er war einfach kein Typ für … Und die arme Julie. Wie soll sie das schaffen?« Viola verschränkte die Arme, riss die Augen auf und hob den Blick zur Decke, um sich in den Griff zu bekommen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihre Mutter eine Packung Tempos herausholte und ihr zuschob.

»Sie meinen, weil sie gelähmt ist? Sie hat mir erzählt, was ihr zugestoßen ist. Ihr Mann war dabei – und Sie.«

»Ja, wir waren zusammen auf Tour in einem verlassenen Gebäude. Das haben wir eine Zeit lang zu dritt an Wochenenden gemacht. Tom war der Fotograf, und wir … Julie ist durch einen morschen Boden gebrochen, dabei haben wir immer aufgepasst.«

»Merkwürdiges Hobby, und am Rande der Legalität, nicht wahr?«

Was wollte die Krummbeinige mit den großen Ohren von ihr? Die sollte sich besser darum kümmern, wer Tom das angetan hatte. Ruhig bleiben, atmen! »Nicht für Stadtgeographen.«

»Aha? Das ist mir neu. Herrn Rosenbergs Name klingt, als ob er jüdische Vorfahren hätte. Ist das richtig? Wissen Sie etwas darüber?« Die Kommissarin beugte sich vor.

»Sein Großvater ist in den Dreißigern aus Deutschland ausgewandert. Toms Vater und Tom wurden in den USA geboren.«

»Aber Herr Rosenberg ist nach Deutschland zurückgekommen.«

»Nachdem er 9/11 in den Twin Towers überlebt hatte. Er hat sich danach in den USA und vor allem in New York unsicher gefühlt, kein Wunder.«

»Und wählt ausgerechnet das Land, das seine Verwandten und Glaubensbrüder und -schwestern gnadenlos verfolgt hat?«

In diesem Augenblick stieg in Viola unbezähmbare Wut auf denjenigen hoch, der Tom auf dem Gewissen hatte, und stellvertretend auch auf die inakzeptable Kommissarin mit ihren versteckten Vorwürfen. Gut so. Mit einer entschlossenen Bewegung fegte sie das Taschentuchpäckchen vom Tisch. Es flog zu Boden, an ihrer Mutter vorbei, die zusammenzuckte und es rasch aufhob.

»Die Zeiten haben sich geändert, Frau Kommissarin. Deutschland hat er sich ausgesucht, weil ihm seine Verwandten ein Heimatgefühl dem Land gegenüber vermittelt haben und weil er die Sprache spricht – sprach. Er fühlte sich seit 2001 überall auf der Welt fremd, hat immer versucht, sich abzusichern, auch hier. Hatte damals wohl die Illusion, dass von deutschem Nachkriegsboden weniger Gefahr für Menschen mit jüdischen Wurzeln ausgehen würde.«

»Würden Sie sagen, dass ihn der Anschlag auf die Zwillingstürme traumatisiert hat? War er in Psychotherapie?«

»Das kann ich nicht beantworten. Finden Sie das selber heraus.« Viola verschränkte die Arme.

»Er hatte eine ungewöhnliche Ausrüstung dabei, als er auf den Österbergturm gestiegen ist, einen Rucksack mit Kletterausstattung, Seil, spezielle Karabinerhaken. An den Füßen trug er Kletterschuhe und um den Kopf eine Infrarot-Stirnlampe. Sehr eigenartig, diese Aktion so früh am Morgen. Wissen Sie etwas darüber, hatte das was mit dem von Ihnen gerade erwähnten Unsicherheitsgefühl zu tun? Hat er das regelmäßig gemacht?«

»Keine Ahnung, aber ist ja nicht verboten, oder?«

»Der Turm ist seit den Neunzigern nur noch mit Voranmeldung zu besichtigen, ich vermute, er ist denkmalgeschützt. Wie auch immer, die Frage, ob das erlaubt ist, ist ja nun müßig.« Die Kühn zog es vor, das Thema zu wechseln. »Die Kollegin, die heute mit Ihnen zusammen …«

»Frau Professor Winkler.«

»Sie hat ihr Smartphone ausgeschaltet, und das Festnetz bimmelt durch. Ich muss sie dringend erreichen, um sie zu befragen.«

»Abzuschalten ist ihr gutes Recht. Es geht ihr gesundheitlich nicht besonders, sie braucht Ruhe.« Viola drückte ihren Rücken durch und fixierte ihr Gegenüber streng.

»Natürlich. Wie ist Frau Winkler denn so, beruflich und privat?«

»Korrekt, kompetent, intelligent …«

»Sind Sie mit ihr befreundet?«

»Wir haben ein angenehm kollegiales Verhältnis. Ich habe sie erst vor einem knappen Jahr kennengelernt.«

»Aber Herr Rosenberg und Frau Winkler waren Freunde. Was ist mit Julie Rosenberg? Wie lange kennen Sie sie schon?«

»Nicht ganz so lange wie Tom. Acht bis zehn Jahre? Kommt ungefähr hin.« Viola kämpfte darum, sich zu konzentrieren.

»Sie waren also häufig gemeinsam mit den Rosenbergs auf Tour durch verlassene Gebäude. Kann ich annehmen, dass Sie mit Frau Rosenberg nicht nur bekannt sind, sondern ein engeres Verhältnis zu ihr haben? Was für ein Mensch ist sie? Was unterscheidet Sie beide? Erzählen Sie mal.«

»Sie ist eine gute Bekannte. Wir sind zu verschieden für mehr und sind uns nur begegnet, wenn Tom dabei war.« Die Befragung nahm eine Richtung, die Viola nicht vertragen konnte. Wieder reichte ihre Mutter ein Tempo herüber, diesmal nahm sie es. Jetzt wurde alles zu viel. Die Kommissarin und ihr Anhängsel verschwammen. »Warum habe ich das Gefühl, dass Sie mich verdächtigen? Das wird Ihnen kaum dabei helfen, den Mörder zu finden.«

»Am Anfang eines Falles ist alles wichtig, ich sammle Aussagen. Sortiert wird später. Ich verdächtige Sie nicht mehr oder weniger als andere.«

Als ihre Mutter nickte, starrte Viola sie kurz an. Die Kühn machte eine Pause, Viola putzte sich die Nase und schluckte. Sie musste sofort hier raus.

»Frau Syring, hatte Herr Rosenberg Feinde?« Gnadenlos.

»Er war bei seinen Kollegen und den Studenten äußerst beliebt, weil er ein genialer Stadtgeograph war.«

Tom war ständig mit seinen Ansichten angeeckt, kein umgänglicher Mensch gewesen und hatte viel erwartet, von sich selbst, von seiner Frau und seinen Freunden. Kontakt zu ihm war anstrengend und von Rückschlägen begleitet. Viola wollte Tom der Kripo gegenüber aber auf keinen Fall ins falsche Licht rücken, denn hinter seinen extremen Verhaltensweisen war er ein faszinierender und letztlich fairer Mensch gewesen. Sie biss die Zähne zusammen. Diese Info würde sie dem kleinen Wadenzwicker jetzt bestimmt nicht zuspielen.

»Sie denken an etwas? Spucken Sie’s aus, es könnte uns weiterhelfen.«

»Nein, ich bin geschockt und müde, die Konzentration bei dem Vortrag …«

»Ich lasse Sie sofort gehen. Sagen Sie mir kurz, was Sie heute Morgen gemacht haben, zwischen vier und sieben Uhr?«

»Um vier habe ich natürlich geschlafen. Um halb sieben hat mein Wecker geklingelt, und ich bin aufgestanden, um mir meinen Morgenkaffee zu machen.«

»Kann das jemand bezeugen?«