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Ein stimmungsvoller Krimi aus dem Nordschwarzwald, der unter die Haut geht. Was symbolisieren die steinernen Köpfe, umrankt von grünen Blättern, die sich seit Jahrhunderten in manchen Kirchen finden? Die Suche nach der Antwort führt Autorin Silvia Salomon in den Nordschwarzwald – und mitten hinein in einen geheimnisvollen Mordfall um Wiccakult und heidnische Bräuche. Weil sie die Tote gefunden hat, gerät Silvia unter Verdacht. Mit Hilfe eines einheimischen Journalisten, der eine Titelstory wittert, macht sie sich auf die Suche nach dem wahren Täter – und setzt damit ihr Leben aufs Spiel.
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Seitenzahl: 383
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Helena Reinhardt, 1961 in Duisburg geboren, zog 2009 aus dem Ruhrgebiet an den Rand des Nordschwarzwalds. Nach abgeschlossenem Studium der Anglistik, Amerikanistik und Neugermanistik mit Schwerpunkt Literatur arbeitete sie u.a. im Sekretariat eines Biochemieprofessors, im Büro eines Bestattungsinstituts und als VHS-Dozentin im Bereich Englisch. Grüne Männer sind 2002 in ihr Leben getreten.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: privat (Grüner Mann an der Alten Post« in Nagold)
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Uta Rupprecht
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-749-1
Schwarzwald Krimi
Originalausgabe
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»… ich fühl mich, als ob ich schwebe, meine lieben Freunde, und das kommt nicht von dem neuen Pilzzeug – danke dafür, Moira! Nein, es liegt ganz alleine an meinem Meister, unserem Priester … Ja, ich merk schon, meine Zunge verknotet sich, und ich muss dauernd kichern, weil ich so glücklich bin. Morgen ist Sonnwendfeier, Litha … mein großer Tag! Und damit ihr bis dahin was zu gucken habt, zeig ich euch, was ich mit meinem Gelaber sowieso nicht rüberbringen kann … Mir ist nach Tanzen … Moment, nur eben aufstehen, das Stativ einstellen, hoppla, sorry, so, jetzt aber. Und ich sing auch was dazu – lalala, lalalala … und drehen … und klatschen … macht doch mit … Zu blöd, immer tret ich mir auf den Saum, und ihr könnt mich gar nicht richtig sehen, ich mein, richtig wie ganz. Freunde, jetzt kriegt ihr wirklich die große Show, runter mit dem Kleid. Lalala, lalalalaaa, das macht Spaß, haha, weg mit dem Fummel, oh, ich hab den rosa Slip an, wie peinlich, den wollt ihr nicht sehen, bin doch keine fünfzehn, wartet mal, ich komm ein bisschen näher, mit Hüftschwung, soooo … ich trag übrigens nie einen BH, wie ihr seht!
Mir geht’s so gut, euch auch? Ist das geil! Und ohne das Fingerschnipsen hab ich auch meine Hände frei, ihr wisst, was ich meine? Wenn ich mich so anfasse, fühl ich meinen ganzen Körper tanzen, heute ist meine Haut ganz weich, ich spür mich im Rhythmus, hmmmmmm, und lalala, lalalalaaaaa, aaaaah …
He, das geht aber schnell total ab, sind wohl doch die Pilze, tut mir leid, Zeit, euch abzuschalten, ich hab mehr Lust auf mich alleine ab sofort … ich meld mich morgen, ihr Süßen!«
Freitag, 22. Juni
»Mailbox Viola Syring. Für Freunde: Ich rufe zurück. Für alle anderen: Was kann so wichtig sein? Die Zeit läuft. Dreißig Sekunden ab jetzt.«
Was für eine Ansage, dachte Silvia. Typisch für ihre Tochter, immer ungeduldig, immer frech. Fast bewundernswert. Also los …
»Hallo, Viola, die Mudda. Ups, was sag ich denn auf die Schnelle? Hast du Lust, mit mir essen zu gehen? Ich bin mal wieder bei Anne und Michael in Wildberg, diesmal zum Schreiben, also kein Urlaub. Kann es sein, dass wir beide uns schon fast ein halbes Jahr nicht mehr gesehen haben? In den nächsten Tagen komme ich nach Tübingen, ist ja von hier nicht weit. Ich möchte die Blattgesichter in der Elisabethkirche für mein Manuskript fotografieren und hab Hunger auf das ›Magischterle‹ in der Wurstküche. Du auch? Meld dich, ja?«
Silvia trennte die Verbindung. Violas Stimme weckte Sehnsucht in ihr. Sie seufzte, wandte sich wieder der Datei auf ihrem Laptop zu und brütete weiter darüber nach, wie sie zukünftige Leser dafür interessieren könnte, sich nach den archaischen Grünen Männern, die in Deutschland so wenig wahrgenommen wurden, auf die Suche zu machen. Sie scrollte zum Anfang zurück.
»Triff den Grünen Mann« von Silvia Salomon, Einleitung
… Die englische Bezeichnung »Green Man« steht für die Abbildung eines Gesichts, dem Blätter aus Teilen des Kopfes wachsen oder das zwischen Blättern hindurchschaut. Ich werde mich auf die Darstellung eines Blattgesichts aus Stein, Holz oder Gips konzentrieren. Alle Grünen Männer sind auf das gleiche archetypische Symbol für Werden und Vergehen im Rhythmus des Jahreslaufs zurückzuführen.
Kaum atmen konnte man hier drin. Dieser Nachmittag war einfach zu drückend für spritzige Einfälle, und sobald sie das Fenster aufmachte, kam noch mehr Hitze herein. Silvia knetete sich den Nacken. Sie saß schon zu lange am Schreibtisch, ohne mit ihrem Text weiterzukommen. Grüne Männer hatten doch etwas Wildes, Freies, sie konnte sie förmlich rufen hören: »Komm!« Also Schluss mit dem fruchtlosen Herumhocken, Schreiben und Wieder-Löschen. Ihr Rücken protestierte auch.
Jetzt war Bewegung angesagt. Warum nicht erst einmal neue Fotos in der Kirche machen? Vielleicht kam dann später noch ein fetter Musenkuss.
Sie fuhr den Rechner herunter, steckte Handy und Schlüssel in die Hosentasche und griff nach der Kamera. Nichts wie raus aus dem Gästezimmerchen. In Vorfreude auf die Zeit außer Haus spurtete sie die Treppe hinunter. War denn niemand da? Sie hatte doch Annes Auto vor ein paar Minuten gehört.
Auf der Terrasse fand sie die Freundin im orangefarbenen Licht unter der Markise. »Hallo, Anne, ganz alleine, ist Michael noch nicht zurück?«
»Kommt gleich, freitags nach der Arbeit erledigt er den Wocheneinkauf. Sein Videokurs fällt heute Abend aus, dann seht ihr euch nachher.«
»Ich geh mich auslüften, läuft grad unrund mit dem Schreiben.« Silvia atmete genüsslich den sommerlichen Lavendelgeruch ein, der von rechts aus dem Nachbargarten herüberwehte. Jedes Mal, wenn sie zu Besuch war, sog sie das Idyll des schwäbischen Städtchens wie samtige Waldluft tief in sich hinein. Sie brauchte ausgedehnte Spaziergänge zum Ausgleich für die anstrengende Kopfarbeit, und in Wildberg begann die Natur vor der Haustür – anders als in Herne, ihrer Heimatstadt. Sie war ganz bewusst ohne Auto angereist und empfand den Aufenthalt hier als willkommene Abwechslung zum Schmelztiegel Ruhrgebiet.
»Nimm einen Schirm mit, es soll regnen, sieht sogar nach Gewitter aus.« Annes skeptischer Blick ging zum Himmel. Sie wirkte in letzter Zeit angestrengt, fand Silvia. Ob sie der Ärger in ihrer alten Firma und ihre Entscheidung, dort zu kündigen, noch beschäftigte? Oder machte ihr die neue Stelle in einem Bestattungsinstitut zu schaffen? Anne hatte zwar gesagt: »Das ist nur für den Übergang«, suchte aber bisher nicht aktiv nach einer anderen Arbeit, davon hatte Silvia sich überzeugt.
»Guck mal, da kommen ganz dunkle Wolken aus Richtung Frankreich rüber, hoffentlich kühlt es ab. Es muss auch dringend mal regnen.« Anne fächelte sich mit der Zeitung Luft zu.
»Bis es losgeht, bin ich zurück«, sagte Silvia, holte aber trotzdem ihre Regenjacke.
Sie wanderte die hitzeflirrende Straße hinunter bis zu den gut hundertfünfzig ausgetretenen Stufen, die steil ins Tal zur Klosteranlage »Maria Reuthin« hinabführten. In unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Flüsschen hatte sich einst ein Nonnenorden eine eigene kleine Welt aus Kirche, Wohngebäuden, Scheunen, Brunnen, Fischteich und Kräutergarten erschaffen. Das moderne Leben hatte das Ensemble verändert, früher landwirtschaftlich genutzte Flächen hatte man in einen Park verwandelt, und manches andere war malerischem Verfall preisgegeben. Hohe alte Mauern aus Buntsandsteinblöcken umgaben die Anlage. Der Efeu in den Fugen hatte den letzten intensiven Rückschnitt überstanden und schickte unverdrossen seine frischen Triebe ans Licht.
Am Schäferlaufplatz ging Silvia durch den Haupteingang und auf die Klosterkirche zu. Sie brauchte bessere Fotos des Grünen Mannes auf dem Taufbecken. Mit den gleich nach ihrer Ankunft am letzten Wochenende aufgenommenen Bildern war sie unzufrieden, weil sie im Dämmerlicht verwackelt waren oder durch den eingebauten Elektronenblitz der Kamera flach und farblich verfälscht wirkten. Erst am Abend, als sie die Bilder am Laptop betrachten konnte, hatte sie gemerkt, dass die Freude, wieder einmal in Wildberg zu sein, sie beim Fotografieren unkonzentriert gemacht hatte.
Im Park waren Fußgänger unterwegs, ein Pärchen am Teich, Eltern mit Kindern auf dem Spielplatz und in der Nähe des gegenüberliegenden Eingangs ein Grüppchen Radler, die auf den Bänken am Brunnen belegte Brote vesperten. Ein Mädchen im Badeanzug, kreischend, nass und sandig, rannte ihr vor die Füße.
Gleich würde die Sonne weg sein, und die Leute würden versuchen, sich vor dem Gewitter in Sicherheit zu bringen. In diesem Jahr kamen Blitz und Donner viel früher und häufiger als in den Jahren zuvor, dachte Silvia. Solch ein Wetter erwartete man üblicherweise im August und nicht im Juni. Sie beschleunigte ihren Schritt.
Die Kirche, der Fruchtkasten mit dem Heimatmuseum und das Fachwerkgebäude, in dem die hiesige Polizei residierte, lagen links vor ihr. Einmal mehr fiel ihr auf, dass der Polizeiposten in seinem Knusperhäuschen weder Autorität noch Kompetenz ausstrahlte. Die Bearbeitung eines Kapitalverbrechens konnte sie sich beim Anblick des moosbewachsenen steilen Daches und der kleinen Fenster überhaupt nicht vorstellen.
Auf dem Weg kam ihr Dirk Faist entgegen, der Nachbar ihrer Freunde und Besitzer des nach Lavendel duftenden Gartens. Im Gegenlicht schien er zu schwanken, seine Bewegungen wirkten eine Spur unkoordiniert. Wahrscheinlich hatte er um diese Uhrzeit schon ein, zwei Bier in dem Biergarten auf dem Campingplatz oder an einem der rustikal kariert gedeckten Tische der Minigolfanlage getrunken.
Hoffentlich suchte er niemanden zum Schwätzen, überlegte Silvia, sonst wurde ihr auf dem Rückweg möglicherweise die Kamera nass. Sie hätte die Kameratasche mitnehmen sollen. Aber nein, er schien mit seinen Gedanken woanders zu sein.
Aus der Nähe fielen ihr Schweißperlen auf seiner Stirn und der Oberlippe auf. Kein Wunder, er trug trotz der tropischen Temperaturen eine ausgebeulte Jacke und eine Outdoorhose mit Blasebalgtaschen. Darin hatte er offenbar einiges verstaut. Auch ihr trieb die Feuchtigkeit in der Luft den Schweiß auf die Haut.
»Hallo, Dirk, heiß heute, was?«
»Hallo, Silvia, ja, arg heiß.« Sein Blick schweifte zur Seite. »Ich war spazieren und ein Bier trinken. Am Pool auf dem Campingplatz ist es auszuhalten. Eigentlich wollte ich noch in den Kräutergarten, aber ich geh wohl besser gleich nach Hause. Schönen Abend.«
Sie nahm an, dass er den Regen vermeiden wollte, grüßte zum Abschied und nahm den Objektivdeckel von der Kamera. Die schlichte Kirche mit ihren dicken Mauern, den winzigen Fenstern und dem gedrungenen Türmchen konnten Besucher schon lange nicht mehr durch das Hauptportal betreten, sondern nur durch eine Pforte auf der dem Park abgewandten Seite, dicht bei der schattenspendenden Klostermauer. Drinnen umfing Silvia Halbdunkel, es war still und kellerkühl. Der Geruch von erloschenen Kerzen stieg ihr in die Nase, vermischt mit einem darunterliegenden undefinierbaren Aroma. Ein herbes Parfüm oder ein Rasierwasser?
Sie wusste, wo Grüne Männer darauf warteten, dass sie sie voller Begeisterung entdeckte wie früher als Kind ein gut verstecktes Osterei. Manchmal begegnete sie ihnen unverhofft, manchmal erst nach gezielter Suche. Hier gab es einen auf dem steinernen Taufbecken. Ihn hatte sie vor Jahren schon einmal gesehen, aber damals noch nicht verstanden, was er bedeutete.
Die Kamera meldete, dass das Blitzlicht zugeschaltet werden sollte. Silvia ignorierte die Technik, ging in die Hocke und stabilisierte ihre Position. Zur Ruhe kommen, einatmen, Luft anhalten, auslösen, ausatmen. Auf dem Display wirkte das Bild brauchbar, ob das stimmte, musste sich später wieder auf dem großen Monitor des Laptops beweisen. Mittlerweile hatten sich ihre Pupillen geweitet, sie konnte Kontraste und Details erkennen. Eine weitere Aufnahme von der Seite, die das Relief des Blattgesichts im Profil zeigte, die Poren im Stein und die angeschlagenen Blattspitzen absichtlich betont, die Vergänglichkeit des Unvergänglichen. Es war eines jener Exemplare, denen Blätter aus Stirn, Wangen und Kinn wuchsen. Silvia besaß in ihrer umfangreichen Bildersammlung auch Aufnahmen von Gesichtern, die von Blättern eingerahmt wurden oder zwischen ihnen hindurchschauten. Anderen wiederum entsprang das Grün sogar aus den Augen- und Mundwinkeln oder den Nasenlöchern. Ein paar der Grünen Männer aus dieser Kategorie wirkten eindeutig tot. Dagegen befanden sich bei vielen anderen Früchte oder Insekten im Grün und betonten so eine muntere Lebendigkeit. Wie einfallsreich die Schöpfer der Blattspeier selbst im Detail gearbeitet hatten, dachte sie.
Auf dem Profilfoto warf eines der Kirchenfenster unvorteilhaftes Licht, und das altertümliche Gestühl mit den hochgeklappten Sitzen im Hintergrund würde sie wegretuschieren müssen. Silvia änderte ihre Position. Der technische Fortschritt der Digitalfotografie begeisterte sie. Sie öffnete die Blende und wählte die Serienbildfunktion. Aus diesem Winkel gefiel ihr zwar das Gesicht aus Stein, aber sie erkannte auf allen Fotos der Serie einen Haufen Kleidung, der zwischen den beiden Reihen des Gestühls in den Gang ragte.
Sie spürte, wie sich ihr die Härchen im Nacken und auf den Armen aufstellten, während sie den Blick auf das störende Element richtete. Von dort drüben roch es nach dem Parfüm, sie war nicht allein.
Ihre Ahnung vertiefte sich. Bei genauerem Hinschauen sah sie zwei Beine von den Knien abwärts, in Stiefeln steckend und bedeckt von einem rüschigen schwarzen Kleidersaum.
Raus hier, raunte ihr Bauchgefühl, in einer Kirche hat so etwas normalerweise nichts zu suchen. Sie unterdrückte es.
Guck nach, befahl ihr Kopf, da ist jemand in Ohnmacht gefallen, und du musst helfen.
Sie lauschte angestrengt und kam langsam aus der Hocke hoch. Totenstille statt Atemgeräuschen.
Beklommen stakste sie hinüber und beugte sich über die erste Stuhlreihe. Mit dem Rücken an die Sitzflächen der zweiten Reihe gelehnt, lag eine Frau bewegungslos halb auf der Seite, die von Kajal umrahmten Augen nur fast geschlossen, den Blick gesenkt. Lange, schwarz gefärbte Haare verdeckten ihren Hals und einen Teil des Gesichts. Die dunkel nachgezogenen Augenbrauen ließen ihre Haut ganz blass aussehen.
Viola, war Silvias erster Gedanke. Was für eine Ähnlichkeit! Das Gesicht ihrer Tochter tauchte vor ihrem inneren Auge auf, verschwand wieder. Nein, das war sie natürlich nicht. Durchatmen.
»Hallo?«, sagte sie leise. »Brauchen Sie Hilfe?« Sie hoffte auf eine Antwort, erhielt keine. Sollte sie den Körper berühren? Ja, sie musste … Sie streckte die Hand aus und fühlte eine magere Schulter. Keine Reaktion. Vorsichtig schob sie die Haare der Frau zur Seite, um das Gesicht anzufassen. Dem armen Kind war etwas zugestoßen.
Was sah sie da am Hals? Das konnte doch nicht sein. Sie betrachtete die Stelle genauer, hatte sich tatsächlich nicht getäuscht. Ausgerechnet ein Blattgesicht, ein Tattoo. Im Schatten der Bankreihen sah es seltsam verwischt aus. Wieso …
Sobald ihre Hände weniger flatterten, legte sie die Finger an die schmale, viel zu bleiche Wange. Wann war die Frau zusammengebrochen? Lebte sie noch? Silvia konnte die Antwort nicht geben, jemand mit mehr Kompetenz musste ihr zu Hilfe kommen. Hastig wühlte sie in ihren Hosentaschen, suchte das Handy, wollte den Notarzt rufen. Halt – die Polizei war doch nebenan. Sie stürzte fassungslos aus der Kirche, blinzelte in die mittlerweile dunkelwolkige Helligkeit, rannte zu dem Fachwerkgebäude, die Stufen zur Eingangstür hoch, rüttelte am Türknauf – geschlossen.
Silvia holte tief Atem, um ihren Puls zu beruhigen. An der Tür hing ein schön poliertes Messingschild mit Öffnungszeiten und Telefonnummern für Notfälle. Als sie es endlich geschafft hatte, eine davon einzutippen, spielte der Himmel einen ersten Trommelwirbel.
Die Kamera war weg, womöglich hatte Silvia sie in der Kirche liegen gelassen. Einer der herbeitelefonierten Polizisten, der aus Nagold gekommen war, hatte ihre Frage danach jedenfalls mit der Floskel beantwortet, der Apparat sei sichergestellt. Das klang beunruhigend, zumal er auch ihr Handy beschlagnahmt und sie selbst freundlich, aber bestimmt einer Durchsuchung unterzogen hatte.
Nun saß sie im Hinterzimmer der Polizeidienststelle an einem Tisch mit vier Stühlen. Der Himmel draußen weinte nicht, er heulte. Vor dem Fenster in ihrem Rücken war der Rollladen heruntergelassen, und durch die offen stehende Tür des zum Vorplatz gelegenen Hauptraums sah sie, dass der Hof immer wieder von Blitzen erhellt wurde. Das Gewitter tobte direkt über ihr, das Licht flackerte, sie zuckte zusammen. Pulsierendes Blaulicht mischte sich unter die Blitze, Notarztsirenen unter das Donnergrollen. Keiner sprach mit ihr, auch wenn hin und wieder jemand den vorderen Raum mit der Empfangstheke betrat. Sie versuchte, die Telefongespräche mitzuhören, aber wenn es wichtig wurde, zogen sie die Tür zu. Ihr wurde kühl vom Herumsitzen mit dem Rücken zur Wand, die im Dauerschatten der Klostermauer liegen musste.
Einer der Uniformierten kam mit einem Kaffeebecher in der Hand herein. »Für Sie. Milch und Zucker?«
»Milch, bitte.« Sie freute sich auf einen heißen, die Sinne belebenden Schluck und wurde skeptisch, als er ein Zehnerpack einzelner Plastikdöschen mit Kondensmilch brachte. Eindeutig nicht das Café Sacher.
»Der Hauptkommissar weiß Bescheid und ist auf dem Weg. Wenn er sich mit Ihnen unterhalten hat, können Sie nach Hause gehen.«
»Kommissar? Was ist los? Ist die Frau wirklich tot?« Sie hatte es geahnt, kein lebendiger Mensch hätte so ausgesehen. Dieser Wachtmeister sagte bestimmt nur aus Mitleid, dass sie bald gehen durfte. Das würde wohl noch dauern. Ihr wurde mulmig, und das lag nicht nur am Kaffee.
»Darüber wird er gleich mit Ihnen sprechen.«
Die Tür wurde geschlossen, sie blieb allein zurück. Das Deckenlicht mit seiner brummenden Uralt-Neonröhre verbreitete eine klaustrophobische Atmosphäre. Als ob der Raum kein Fenster hätte. Sie fröstelte wieder. Wie lange musste sie wohl hier ausharren? Das teefarbene Getränk schmeckte furchtbar und war kaum lauwarm.
Als die Tür mit einem Ruck aufsprang, wurde sie aus der Endlosschleife ihrer Gedanken gerissen. Ein athletischer Schrank im regenbetropften Anzug trat ein und brachte einen Kollegen und einen Schwall kühle Luft mit. Silvia spürte den Hauch auf den nackten Armen. Der tiefe Halsausschnitt ihres T-Shirts entblößte reichlich schutzbedürftige Haut.
»Guten Abend«, sagte er, drückte ihre Finger mit seiner feuchten Hand zusammen und versuchte offenbar, mit seinem Blick in ihre Augen bis in ihr Hirn vorzudringen. »Mein Name ist Ralf Reutter von der Kripo Calw. Der Herr neben mir wird unserer Unterhaltung beisitzen.« Beide Männer hatten nasse Haare.
»Bin ich froh, dass Sie endlich gekommen sind, vielen Dank.«
»Ich habe eigentlich dienstfrei, wohne aber in Wildberg, daher war ich dran.« Kurzes Hochziehen der Mundwinkel. »Und wie heißen Sie?«
»Silvia Salomon. Gehen Sie immer so mit Leuten um, die nur Hilfe holen wollen? Durchsuchen und dann ignorieren? Ich hätte gerne meine Kamera und mein Handy zurück.«
»Später. Zuerst Ihren Ausweis, bitte.«
»Vorhin habe ich jemandem gesagt, dass meine Papiere zu Hause liegen. Ich habe meine Brieftasche nicht mitgenommen.«
»Dann werde ich diesen Jemand schicken, um den Ausweis zu holen. Wo wohnen Sie?«
»Ich bin zu Besuch bei Freunden, ich komme nicht von hier.« Sie nannte die Adresse von Anne und Michael, ausdruckslos notierte er die Angaben.
»Möchten Sie noch einen Kaffee?«
Schwacher Versuch. »Bloß nicht. Kann ich meine Freundin anrufen? Sie macht sich bestimmt Sorgen, wo ich bleibe, und kriegt einen Schreck, wenn die Polizei klingelt.«
»Das Risiko gehen wir ein.« Er verschwand in den vorderen Raum, schloss die Tür. Der Uniformierte blieb bei ihr am Tisch, sagte kein Wort und versuchte offenbar, den Rollladen hinter ihr zu hypnotisieren.
Mit einem Mal war sie in einen Todesfall verwickelt. Dabei warteten Schreibtisch und das eilige Manuskript. Nur dafür war sie nach Wildberg gekommen. Silvia war ratlos.
Wieder riss der Kommissar kraftvoll die Tür auf, wieder folgte ein kühler Luftzug, anscheinend hatte das Unwetter die Hitze vertrieben. Vorne hatten sie die Fenster geöffnet. Fror denn keiner außer ihr? Reutter legte sein Smartphone auf den Tisch und fragte kurz, ob er das folgende Gespräch aufzeichnen dürfe. Die Alternative sei, dass der Beisitzer sich Notizen mache, um ein Protokoll zu erstellen, das in den nächsten Tagen unterschrieben werden müsse. Das erschien ihr in ihrer momentanen Verfassung zu kompliziert. Sie erteilte ihre Zustimmung zur Tonaufzeichnung, er ließ sie ein Einwilligungsformular unterschreiben und diktierte Tag, Uhrzeit und anwesende Personen.
»Name, Geburtsdatum, Adresse, weitere Angaben zur Person, soweit relevant, bitte.«
Sie sagte ihre Daten auf: »Silvia Salomon, geboren am 22. April 1958 in Herne, wohnhaft dort in der Werksstraße Nummer 15.«
»Schildern Sie mir, wie Sie die Verstorbene gefunden haben. Was ist Ihnen aufgefallen?«
»Ich habe Fotos in der Kirche gemacht, da habe ich gesehen, dass etwas hinter der ersten Reihe des Gestühls lag – ihre … Beine ragten heraus … Sie hatte ein langes Kleid an … und Stiefel, bei der Hitze … komisch, die hatten angetrocknete Erde im Profil …« Irgendwo oben links in ihrem Sichtfeld erschien die Erinnerung daran. Die Verstorbene, hatte er soeben gesagt. Es stimmte also. »Ich bin rüber, habe sie kurz berührt und dann sofort Hilfe geholt.«
»Warum die Polizei und nicht zuerst den Notarzt?«
»Ich habe nicht nachgedacht, was ich als Erstes oder als Nächstes tun müsste. Weil der Polizeiposten gleich nebenan ist und weil ich total aufgeregt war. Finden Sie das verdächtig?« Der Werbespruch »Die Polizei, dein Freund und Helfer« fiel ihr ein, aber sie hütete sich, sarkastisch zu werden. Mit diesem korrekten Beamten wollte sie es sich nicht gleich zu Beginn verscherzen.
Er signalisierte Verständnis. »Bitte versuchen Sie trotzdem, sich an weitere Einzelheiten zu erinnern.«
»Sie fühlte sich irgendwie … unlebendig an. Hat nicht reagiert. Wie … bewusstlos eben – oder so, als ob ihr das Blut erstarrt wäre. Ihre Augen waren halb offen, das war seltsam, sie hätte doch mal blinzeln müssen.«
Sie rieb sich die Oberarme und zog die Schultern zusammen. Er beobachtete sie. Verhielt sie sich ungewöhnlich, sah sie aus wie jemand, der Angst hatte?
»Sie haben einen Schock. Wir müssen trotzdem da durch, solange Sie einen frischen Eindruck haben.«
»Ja, kann ich verstehen. Darf ich meine Jacke überziehen?«
»Natürlich.«
»Danke.«
Sie entfaltete ihre Regenjacke, die sie als praktisches Täschchen um die Taille getragen hatte. Das Material war dünn, um die Jacke handlich zu machen. Besser als nichts. Sie stand auf und bemerkte, dass sich ihre Brustwarzen zusammengezogen hatten und sich durch das T-Shirt drückten. Der Kommissar sah ihr zu. Sein Kollege saß unbeteiligt da und kritzelte auf seinem Notizblock herum.
»Ansonsten ist mir nur aufgefallen, dass es zu still war. Sie hätte atmen müssen.«
Keine Reaktion, Reutter wartete.
»War sie krank? Sie fühlte sich knochig an. Hat man ihr was getan? Wenn ich von der Kripo verhört werde, bedeutet das, dass sie … nicht einfach so gestorben ist?«
Das Verziehen seiner Mundwinkel war wieder kein Lächeln.
»Als junger Mensch stirbt man nicht so schnell. Haben Sie keine Wunde gesehen?«
»Wunde? Wo soll die denn gewesen sein?«
Das flaue Gefühl kroch aus ihrer Magengegend in Richtung Kehle. Sie wollte gehen. Das schien er zu spüren, denn er wechselte das Thema.
»Sagen Sie mir, wen Sie vorher im Park gesehen haben.«
»Da waren Radfahrer, Kinder …«
Und Dirk.
»Einen kannte ich, den Nachbarn meiner Freunde, Dirk Faist heißt er.«
Sorry, Dirk, dachte sie. Den Happen musste sie hinwerfen, vielleicht würde der Kommissar dann von ihr ablassen.
»Dirk Faist?« Seine Stimme klang zum ersten Mal überrascht, als ob er ihn kennen würde. Er nahm den Block an sich, notierte etwas. Der Kuli kleckste.
»Wir haben zwei, drei Sätze gewechselt, hatten es beide eilig vor dem Gewitter. Er kam mir angetrunken vor.«
»Sonst irgendetwas Auffälliges?«
»Nein, er war wie immer. Das heißt, ich glaube, es war ihm peinlich, mir zu begegnen, weil er … so schwitzte, er war zu warm angezogen. Er hat sich ziemlich schnell an mir vorbeigedrückt. Ich war ganz froh darüber.«
»Wie gut kennen Sie ihn?«
»Wenn ich zu Besuch bin, sehe ich ihn regelmäßig, er läuft viel herum, besonders seit … Und im Garten nebenan, wir unterhalten uns oft über den Zaun, meistens über seine Rosen und andere Pflanzen.«
Das Frage-und-Antwort-Spiel wurde unterbrochen, weil der Jemand mit ihrem Ausweis kam und ihn auf den Tisch legte. Reutter griff danach. Bevor sie fragen konnte, wie Anne das Auftauchen der Polizei aufgenommen hatte, zog der Kommissar das Gespräch an sich: »Sie sind von weit her, Ruhrgebiet … Für länger bei Ihrer Freundin?«
»Frau Neuhaus und ihren Mann – Anne und Michael – kenne ich schon aus unserer Schulzeit. Sie wohnen seit fünfunddreißig Jahren hier, wir sind die ganze Zeit Freunde geblieben und sehen uns regelmäßig.«
Damit schien seine Neugier gestillt. Silvia konzentrierte sich auf den ungenießbaren Rest Kaffee in ihrem Plastikbecher. Umsonst, der Kommissar fasste nach und begann wieder von vorne: Auffindesituation, aus welchem Grund sie vor Ort war, welche Personen sie im Park wahrgenommen habe, Aussehen, Geschlecht, Anzahl. Ihre Erinnerungen wurden bis in den letzten Winkel ausgebeutet. Ermüdend. Ja, sie war müde, trotz der ungewohnten Aufregung.
»Das wird langsam zu viel für mich. Mir gerät alles durcheinander. Wie spät ist es?« Sie brauchte eine Pause. Hier drin konnte man nicht einmal sehen, ob es draußen hell oder dunkel war.
»Es ist genau … zweiundzwanzig Uhr dreiundzwanzig.« Schräg hinter ihr musste eine Uhr an der Wand hängen, sein Blick ging unvermittelt dorthin.
»Um diese Zeit bin ich manchmal schon im Bett. Frühaufsteherin.« Sie brach ab. Hier wurde nicht geplaudert.
»Ich sehe Ihnen an, dass Sie erschöpft sind. Was halten Sie davon, wenn wir Sie jetzt zu Ihren Freunden fahren und Sie morgen gegen Mittag zu einem zweiten Termin abholen? Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie sich zur Verfügung halten müssen und die Stadt nur nach vorheriger Abmeldung verlassen dürfen. Hier ist meine Karte; wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, können Sie mich Tag und Nacht erreichen.« Er schob ihr seine Visitenkarte und ihren Ausweis zu.
»Meine Kamera? Mein Handy?«
»Möchten wir bis zu Ihrer nächsten Befragung morgen behalten, wenn Sie einverstanden sind. Wir werden die Fotos in der Kirche von einem Spezialisten auswerten lassen. Und geben Sie mir Ihr Passwort zum Entsperren des Telefons, bitte.«
»Dürfen Sie das? Immerhin sind das meine persönlichen Daten, die Sie da einsehen.«
»Haben Sie etwas zu verbergen?« Sein Blick änderte sich von verständnisvoll zu distanziert, er nahm seinen Oberkörper zurück, richtete sich zu eindrucksvoller Größe auf. Sie verneinte seine Frage, was dachte er sich? Sein Kollege rutschte auf dem Stuhl hin und her.
»Sie unterschreiben eine Einverständniserklärung, ich gebe Ihnen eine Empfangsquittung, und morgen bekommen Sie beides zurück. Kommen Sie, wir erledigen das, danach fahre ich Sie heim. Und erzählen Sie keinem, worüber wir gesprochen haben, erst recht nicht der Presse, das würde unseren Erfolg gefährden. Unser Lokalschreiberling ist schon draußen, er wohnt leider in Sichtweite. Sie bleiben dicht hinter mir, ich halte Ihnen den vom Leib.«
Silvia leistete die Unterschrift mit Zweifeln im Bauch. Draußen stand der Vorplatz der Polizeidienststelle unter Wasser, zahlreiche Menschen mit Kapuzen liefen umher, und es regnete immer noch. Als der Kommissar die Eingangstür hinter ihnen zuzog, hörte sie drinnen ihr Handy klingeln.
»Seine Sprüche kannte ich aus dem ›Tatort‹. Wie im falschen Film habe ich mich gefühlt.«
Die Ermahnung des Kommissars war vergessen, sobald sie mit ihren Freunden im Wohnzimmer saß. Durch das Erlebnis in der Kirche und das Verhör war Silvia so voller Anspannung, dass es ein Ventil brauchte. Als Anne ihr eine Decke zum Aufwärmen gab, fiel Silvia auf, dass ihre Freundin blass aussah.
Michael reagierte entrüstet auf den Bericht über das Verhalten der Polizei.
»Du bist echt naiv. Mensch, du hättest gleich einen Anwalt verlangen sollen. Hat er dich über deine Rechte belehrt? An deiner Stelle hätte ich den Mund gehalten und ihm weder die Kamera noch das Handy gegeben.«
»Aber ich habe nichts damit zu tun. Je eher das klar wird und sie sehen, dass ich nichts verheimliche, desto früher kann ich weitermachen wie bisher. Ich will so schnell wie möglich aus der Sache raus sein.«
Michael klang, als ob er es mit einem begriffsstutzigen Kind zu tun hätte: »Bestimmt sind sie froh, dich als Verdächtige zu haben. Du warst am Tatort. Das wäre nicht das erste Mal, dass einem Unschuldigen ein Strick gedreht wird. Ich will dir keine Angst machen, aber ab sofort solltest du besser aufpassen, was du sagst, wenn sie dich verhören.«
Silvia schluckte, um das enge Gefühl in ihrem Hals aufzulösen. Anne sagte: »Hör auf damit, sie hat genug mitgemacht. Silvia, du brauchst was zum Abschalten, ich koch dir einen Tee.« Doch bevor sie in die Küche gehen konnte, bot Michael einen Whisky an, den Silvia ausnahmsweise akzeptierte: »Danke, ich brauche was Stärkeres als Tee heute Abend, sonst komm ich nicht zur Ruhe. Ich sehe ständig das arme Mädchen vor mir. Zuerst hab ich gedacht, da liegt Viola.«
Michael kam mit zwei gut gefüllten Gläsern von der Bar zurück und reichte ihr eines.
»Kanntest du sie? Bist du ihr mal begegnet? Haben sie dir gesagt, wer sie ist oder wie sie heißt?«
»Nein …« Silvia beschrieb das Aussehen der jungen Frau so genau wie möglich, wie dünn sie sich angefühlt hatte, das lange schwarze Kleid, das in ihrer Erinnerung wie aus Samt gewirkt hatte, und dass ihr am Haaransatz ein Stückchen ungefärbtes braunes Haar nachgewachsen war.
Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie einige dieser Details dem Kommissar gegenüber gar nicht erwähnt hatte. Nach ein paar heftigen Herzschlägen beruhigte sie sich wieder. Das machte sie bestimmt nicht verdächtiger. Merkwürdig, hier bei ihren Freunden konnte sie sich viel besser erinnern.
Sie leerte den Inhalt ihres Glases bewusst viel zu schnell. Wärme breitete sich im Magen aus. Während sie erzählte, hatten ihre beiden Zuhörer regungslos dagesessen und Blicke getauscht. Erst danach trank Michael wieder, und Anne schlug die Beine übereinander: »Ich habe den Polizisten in dein Zimmer gelassen, er musste deinen Ausweis suchen. Stell dir vor, der hat mir die Tür vor der Nase zugemacht, hoffentlich hat er nicht rumgeschnüffelt. Ich wusste nicht, was ich …«
»Du hast getan, was du konntest. Mach dir keine Sorgen.«
Michael holte sich einen zweiten Whisky. »Ich gehe nach oben, was am PC erledigen. Silvia, du brauchst Schlaf. Möchtest du eine Tablette? Im Bad bei Annes Medikamenten ist was.«
»Das ist lieb gemeint, aber es wird auch so gehen, danke.«
Er nahm die Whiskyflasche und das Glas mit und wünschte eine gute Nacht. Silvia sah zu Anne hinüber, die mit den Schultern zuckte.
»Das Wochenendprogramm. Er macht ab Freitagnachmittag ständig was am Computer. Das geht bis in den Morgen.« Sie winkte ab, hatte offensichtlich keine Lust, weiter darüber zu reden, und Silvia verabschiedete sich ins Bett. Der Whisky hatte innerhalb von Sekunden gewirkt, ihre Erschöpfung und das Gefühl der Entfremdung waren weg, sie fühlte sich fast entspannt. Ihr erster Blick im Gästezimmer fiel auf die Arbeitsecke. Der übliche Zustand, Notizzettel in bunten Neonfarben, ausgedruckte Seiten mit unterstrichenen Passagen, aufgeschlagene Bücher.
Und ihr geöffneter Rucksack mitten auf dem Schreibtisch.
In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass die Polizei damit wusste, dass sie an einem Buch über Grüne Männer arbeitete und wie tief sie in dem Thema steckte.
Und eine solche Blattmaske hatte sie auf dem Hals der toten Frau gesehen. Wer kannte das Symbol in diesem Nest, gab es hier Esoteriker oder Kunsthistoriker?
Und was bedeutete das erneute hohle Gefühl in ihrem Bauch?
Samstag, 23. Juni
Sie beugte sich zu der liegenden Gestalt hinunter, schob die Haare beiseite, um die Wange zu fühlen, und sah den Blattspeier auf der blassen Haut. Kaum mehr als eine schnelle Skizze, die Blätter schematisiert. Seine Miene war gleichgültig. Berührte es ihn denn gar nicht, dass die Frau, auf deren Hals er prangte, gerade gestorben war? Silvia wunderte sich.
Der starre Blick unter den Lidern in dem weißen Gesicht der Toten belebte sich bei ihrer Berührung und richtete sich auf sie, eine bernsteinfarbene Iris um die Pupillen.
Die Frau war gar nicht tot! »Zum Glück lebst du, kann ich dir helfen?«
Die Stimme, die ihr antwortete, war alt und brüchig wie Pergament. Die blutleeren Lippen bewegten sich kaum.
»Es ist gut. Du kennst den Kreislauf von Werden und Vergehen. Ich vergehe jetzt.«
Mit diesen Worten umklammerte eine Hand Silvias Handgelenk, Falten erschienen auf dem soeben noch glatten Gesicht und dem Hals. Das Haar wurde zusehends grau, verwandelte sich in flusiges Altfrauenhaar. Plötzlich wirkte die Gestalt vertrocknet. Ein lang gezogenes Stöhnen entwich ihrem Mund. Silvia war sicher, das war der letzte Atemzug gewesen. Ein tiefes Entsetzen breitete sich in ihr aus und schickte Gänsehaut in Wellen über ihren Körper. Ihr Magen zog sich zusammen, das Herz klopfte wild, bis sie den Rhythmus unter der Schädeldecke spürte.
Abrupt setzte sie sich im Bett auf. Ein Alptraum. War das Stöhnen ihr eigenes gewesen? Das Gefühl von Panik, das Rauschen in den Ohren. Sie rieb ihr schmerzendes Handgelenk. Wahrscheinlich hatte sie im Schlaf die Hand verkrümmt oder darauf gelegen.
Sie warf einen Blick auf das Display des Radioweckers. Kurz vor fünf, es dämmerte neblig und feucht. Diese Nacht hatte ihren Namen eindeutig nicht verdient.
Noch fand sie sich nicht ganz zurecht, zu intensiv stand ihr das Gesicht der Frau aus dem Traum vor Augen. War das gruselig gewesen! Als die Nachwehen abgeklungen waren, stand sie steifbeinig auf und tappte barfuß zur Toilette. Im gegenüberliegenden Zimmer sah sie Licht unter der Türritze. Das hieß, Michael saß noch im Arbeitszimmer, spielte am PC oder war davor eingeschlafen.
Mittlerweile fühlte sie sich zu wach, um sich noch einmal hinzulegen. Am Buch weiterzuarbeiten wäre sinnvoll, aber in dieser Situation? Stattdessen ein inspirierender Spaziergang, hinaus in die lebendige Natur, warum nicht? Die Drosseln lockten.
Anne hatte Silvia davon überzeugt, auf ihre einsamen Wege ein schrilles Alarmgerät mitzunehmen, das in die Hosentasche passte und auf Knopfdruck einen Höllenlärm erzeugte. Pfefferspray hatte Silvia strikt abgelehnt. Wenn sie überfallen wurde, dachte sie bestimmt nicht daran, die Windrichtung zu checken. Überhaupt hielt sie solche Vorsichtsmaßnahmen für unnötig. Trotzdem steckte sie das Schrillding ein, Annes Seelenruhe zuliebe. Da der Boden vom Gewitterregen gestern Abend durchnässt war, entschied sie sich für die festen Wanderschuhe und lief hinunter ins Tal, ein Stück den Radweg entlang, der vor dem Campingplatz auch von Autos genutzt wurde, und dann den geschotterten Fußpfad hinauf. Innerhalb kurzer Zeit erreichte sie entlegenere Höhen, fernab des Stadtkerns. Die Landstraße, die sich unten am Fluss entlangzog, war so früh noch kaum befahren, was der Stille Raum gab. Ein Teil der Landschaft neben Silvia wurde zur Beerenheide. Sie ließ das karge Feld rechts liegen und bog in den Wald ein. Zwischen den Bäumen sich auflösende Nebelschwaden, Kühle, kein Vogel zu hören. Vom Wanderweg führten Nebenwege weiter nach oben in den Wald hinein, sie bog willkürlich in einen davon ab, wollte ihrem Körper bergauf etwas abverlangen. Friedlich war es. Fichten und Buchen, Moos und Unterholz, das passende Milieu für Wichtel und Elfen. Alle Spielarten von Grün. Es roch nach Pilzen. Kurz machte sie Rast und setzte sich an den Fuß eines Baumes, aber trotz ihrer Reglosigkeit traute sich nicht einmal ein Zwerg vorbei. Na gut, an einem anderen Tag, dachte sie und ging mit feuchtem Hosenboden weiter. Wo war sie überhaupt, musste sie bergauf oder bergab? Und in welche Richtung? Sie entschied sich für eine Abzweigung nach rechts und lief eine Weile quer zum bisherigen Weg. Der Wald wurde dichter. Hier waren die Rinden der Bäume mit Flechten bewachsen. Eine beeindruckende Eiche breitete ihre schrundigen Arme aus, als wolle sie sie umfangen. Dahinter tat sich eine weite Lichtung auf, die von der schräg durch die Bäume aufsteigenden Sonne erhellt wurde. Das Gewitter schien hier nicht so heftig gewesen zu sein, hatte vor allem den Boden erfrischt.
Viele Steine lagen herum. Zuerst dachte sie, dass hier ein Spiel stattgefunden hatte, bei dem bis zu faustgroße Steine zu einem Labyrinth ausgelegt wurden. Am Schluss hatten vielleicht Kinder alles wieder verstreut. Im Laufe des letzten Jahres hatte sie für ihr vorheriges Buch etliche Labyrinthe begutachtet, daher fiel ihr sofort ein Grundmuster auf. Dann erkannte sie, dass es sich eher um einen unregelmäßigen Kreis handelte, dem einzelne Teile fehlten, oder eine Art Rad mit acht Speichen. Sie hätte sich das Ganze gerne von weiter oben angesehen, um einen Gesamteindruck zu bekommen. Wahrscheinlich waren die Steine korrekt ausgerichtet gewesen, bis jemand das Muster aufgelöst hatte. In der Mitte hatte ein Feuer gebrannt, das möglicherweise erst durch den Regen erloschen war, insgesamt wirkte der Ort wie vor Kurzem verlassen. Irgendwie archaisch. Sie ging zunächst in weitem Bogen darum herum und vermied es, die Stätte zu betreten. Sie hatte das Gefühl, Respekt zeigen zu müssen. Dabei stieß sie auf eine Teelichthülle, die von einem der Steine halb verdeckt wurde. Wer war in dieser Abgeschiedenheit gewesen und wozu, hatte hier eine Versammlung oder ein Fest stattgefunden? Das Gras war nass und zeigte keine frischen Fußspuren. Ein Rätsel. Die Neugier siegte. Mit vorsichtigen und langsamen Schritten näherte sie sich der Feuerstelle und glaubte, einen Hauch von Rauch zu erschnuppern. Schon bohrte sich ihr prüfender Zeigefinger in die Asche. Die unterste Schicht fühlte sich doch noch warm an?
Und jetzt schnell weg, bevor sie ein Fluch traf. Sie lächelte. Bergab orientierte sie sich an ersten Motorgeräuschen von der Landstraße her und am Bimmeln der hellen Glocke des Rathausturms. Sie kam zurück auf den Radweg, von dem sie vor einer Weile abgebogen war. Das Gewitter hatte Blätter, Zweige und Zapfen abgerissen und auf den Weg gestreut. Schnecken mit und ohne Haus waren in der feuchten Luft unterwegs und hinterließen ihre Glitzerspuren auf dem Asphalt. Als sie einen toten Feuersalamander am Wegrand liegen sah, schob sich der Gedanke an die Verstorbene hartnäckig zwischen sie und den Morgen.
Nach einer anständigen Tasse Kaffee wieder zurück im Gästezimmer, setzte sie sich an den Minischreibtisch und klappte ihren Laptop auf.
Von: [email protected]
23. Juni, 8:46 Uhr
Guten Morgen, meine liebe Viola,
per Mail lässt sich kaum beschreiben, was gestern los war. Ganz kurz: Ich habe eine tote junge Frau gefunden. Die Polizei hat mich vernommen und mich gebeten, die Stadt nicht ohne Abmeldung zu verlassen. Heute gibt es ein weiteres Verhör. Keine Ahnung, wie das weitergeht, eventuell wird aus unserem Treffen in Tübingen nichts. Alles Weitere würde ich dir gerne persönlich erzählen. Hast du gestern Abend versucht, mich anzurufen? Mein Handy bekomme ich erst heute zurück.
Magst du herkommen und mich besuchen? Morgen ist Sonntag. Ich würde mich sehr darüber freuen. Ich hoffe, dass du die Zeit findest. Für mich fühlt sich das Ganze an wie hinter einer Glasscheibe, so als ob es jemand anderem passiert.
Dir alles Liebe und Gute, lass dich nicht von deiner Forschung auffressen,
Deine Mudda
Dann schloss sie das Mailprogramm und öffnete die Buchdatei. Sie nahm Anlauf, um wenigstens eine halbe Seite zu schreiben, formulierte Sätze und löschte sie wieder. Es floss nicht. Schon war elf Uhr vorbei, in ein paar Minuten wurde sie zum Verhör abgeholt. Dabei rückte doch der Abgabetermin für das Manuskript immer näher.
Es klopfte an der Tür. Anne. »Hast du Hunger? Ich habe den Tisch gedeckt.« Sie sah übernächtigt aus.
Nachdem sie eine Weile vor den Tellern gesessen hatten, sagte Anne: »Ich glaube, ich weiß, wer die Tote ist, und Michael auch, das habe ich ihm angesehen.«
»Was? Aber wer …«
»Lynn Pfrommer. Die, wegen der ich kündigen musste.« Anne sah Silvia an. »Wahrscheinlich nehmen sie mich gleich mit, wenn …«
In diesem Moment klingelte es. Die Polizei.
Ihre Freundin hatte nicht mehr erklären können, warum Reutter ein Interesse daran haben sollte, sie ebenfalls zu befragen. Waren Annes Auseinandersetzungen mit der Kollegin heftiger gewesen als angenommen? Silvia hatte in den zahlreichen Telefongesprächen mit Anne fraglos akzeptiert, dass Lynn Pfrommer aggressiv und Anne die Dulderin gewesen war. Sie konnte sich ihre Freundin überhaupt nicht zornig vorstellen.
Jetzt saß sie zum zweiten Mal im Verhörraum des Polizeihäuschens. Nach nochmaliger Nachfrage, ob sie lieber ein schriftliches Protokoll hätte, hatte Reutter ein richtiges Diktiergerät auf den Tisch gelegt – es schien ernster zu werden. Sie dachte an Michaels Ermahnung, sich nicht überlisten zu lassen. Diesmal hatte sie ihren Rucksack dabei, darin ein Täschchen mit Notfallausrüstung, Feuerzeug, Taschenmesser, Pflaster … Wer wusste schon, was sie den Tag über brauchen würde. Das Alarmgerät aus der Hosentasche und ihre Jacke hatte sie vorsichtshalber auch mitgenommen. Fehlten nur die Kamera, ohne die sie sich nackt fühlte, und das Handy. Beides würde sie gleich dazupacken.
Der Kommissar und ein als Polizist verkleideter, ihr bisher unbekannter Pumuckl, der mit seinem Namen und seinem Rang vorgestellt wurde, setzten sich zu ihr. Reutter sah fit aus, korrekte seitengescheitelte Kurzhaarfrisur, anderer Anzug. Er legte ihre Kamera und das Handy auf den Tisch.
»Grüß Gott, Frau Salomon. Bitte sehr, Ihre Besitztümer. Ich brauche hier eine Unterschrift, dass Sie die Sachen zurückerhalten haben, danke. Darf ich fragen, was Sie da auf den Fotos haben und warum?«
»Das sind meine Grünen Männer. Ich arbeite an einem Buch, das heißt …«
»Das hat mir mein Kollege, der an Ihrem Schreibtisch war, gestern geschildert, es lag wohl eine Menge Material herum. Ich habe dann ein bissle über Sie recherchiert. Sie haben vor einer Weile etwas über Labyrinthe veröffentlicht, seltsames Thema, kleiner Verlag. Ist das was für Magie- und Mystik-Fans?«
»Nein, ich schreibe über für jeden auffindbare archetypische Darstellungen im deutschsprachigen Raum. Hinter denen steht eine allgemeingültige Bedeutung, eine Tradition, wie erkläre ich Ihnen das …«
»Ich finde, das widerspricht sich nicht. Viele Exemplare von dem Labyrinth-Buch verkauft?«
»Es war ein Achtungserfolg.«
»Haben Sie gut damit verdient?«
Silvia gelang ein Lächeln. »Na ja. Der Verlag wollte immerhin ein zweites Buch von mir. Das auf der Speicherkarte ist meine Ausbeute der letzten Tage dafür.«
Reutter beugte sich zu ihr, vergrößerte den Abstand allerdings wieder, als der Rothaarige ihn von der Seite ansah.
»Können Sie mir kurz und knapp schildern, was das für ein Symbol ist? Wofür steht ein Grüner Mann?«, fragte Reutter.
»Für Tod und Wiedergeburt, den ewigen Kreislauf der Dinge. Das Symbol ist uralt und findet sich auf der ganzen Welt. Grün steht für Leben und Wachsen, aus dem Vergangenen entsteht wieder Neues. Ein menschliches Gesicht weckt Neugier im Betrachter, die Kombination mit Blättern macht es noch interessanter. Zuerst wundert man sich, dann fühlt man einen Hauch von Ewigkeit … Es berührt uralte Instinkte, finden Sie nicht auch? Übrigens gibt es auch Grüne Tiere …« Sie brach ab.
Reutters Gesicht wirkte nicht mehr besonders neugierig. »Einige von denen sehen nicht gerade harmlos aus, sogar richtig gefährlich. Die mit der rausgestreckten Zunge, so was kenne ich aus dem Zusammenhang mit Teufelsdarstellungen.«
»Zugegeben, der Ursprung ist auf jeden Fall vorchristlich, heidnisch, wenn Sie so wollen, aber die meisten …«
»Und das fasziniert Sie.« Warum unterbrach er sie ständig?
»Es ist ein Thema, das in Deutschland kaum bekannt ist. Historisch glaubwürdige Literatur dazu gibt es fast ausschließlich in England und in Frankreich. Ich möchte es populärer machen.«
»Mir sind die Blattköpfe nie aufgefallen – bis gestern.« Unter seinem Blick fühlte sie sich wie unter der Lupe eines Insektenforschers. »Und weil Sie sich damit beschäftigen, haben Sie natürlich den Stempel am Hals der Toten gesehen.«
Achtung, Rutschgefahr. »Ich kann mich an keinen Stempel erinnern.« Kein Tattoo also.
»Hören Sie auf, mich anzulügen, das glaube ich Ihnen sowieso nicht.« Seine Stimme wurde lauter. »Meinem Team ist es jedenfalls so ziemlich als Erstes aufgefallen. Irgendwer hat ihr seinen Stempel aufgedrückt, jemand, der das Symbol und seine Bedeutung kennt, das liegt auf der Hand. Darüber hinaus gibt es keine Tattoos oder anderen Körperschmuck an der Leiche. Und Sie sind die Einzige, die etwas darüber weiß, weil es das Thema Ihres neuen Buches ist.«
Der Pumuckl ließ ein Räuspern hören.
Sie holte überrascht Luft. »Wollen Sie sagen, dass ich …«
»Ich will gar nichts sagen. Ich frage mich, ob sich die Auflage des Buchs steigern lässt, wenn der Fall publik wird. Erzählen Sie mir über Ihren finanziellen Hintergrund. Brauchen Sie Geld?«
Sie ging in Verteidigungshaltung. Zwei, drei Schachzüge, schon war es ihm gelungen, sie in die Ecke zu drängen und sich ein Motiv für sie zurechtzubasteln.
»Wer braucht denn kein Geld? Ich bin offiziell arbeitslos und habe dadurch Zeit zum Schreiben. Für mich reicht es zum Leben. Ich werde sowieso demnächst verrentet.«
»Warum sind Sie arbeitslos?«
»Nennen Sie es wie meine ehemaligen Brötchengeber: eine interne Umstrukturierung.«
Sie bekam mehr Raum, er lehnte sich zurück, nahm das Tempo heraus und dämpfte seine Stimme: »In welchem Bereich haben Sie bis dahin gearbeitet? Wie lange am Stück? Wie war der Verdienst?«
»Im Büro einer Immobilienfirma. Zwölf Jahre Vollzeit. Verdienst war okay.«
»Passt nicht zu Ihnen.«
»Ach, ich bin da reingerutscht. Hab schon das eine oder andere in meinem Leben gemacht.«
»So? Ich wollte von Anfang an zur Kripo und Verbrecher fangen. Welche Ausbildung haben Sie gemacht?«
»Studium Komparatistik und Latein. Brotlose Kunst, ich hab nicht auf Lehramt studiert.«
»Und jetzt der Bestseller, der Ihnen den Lebensabend absichern soll? Wie haben Sie die Frau getötet?«
Ihr Herz begann, unrhythmisch zu pochen, das musste er hören. Sie schluckte ihre Empörung herunter. »Ich könnte nie jemanden umbringen, hören Sie auf damit. Geld und Ruhm sind mir nicht wichtig genug.«
»Aha, Sie schreiben aus Spaß? Warum haben Sie kein Smartphone?«
Was redete er da von einem Smartphone? Nicht, dass sie in eine seiner Fallen geriet!
Als sie schwieg, fuhr er fort: »Ihr Handy ist prepaid und ohne Internetempfang. Haben Sie noch ein zweites, ein Smartphone, oder wollen Sie mir erzählen, dass Sie den modernen Kram nicht brauchen? Das nehme ich Ihnen nicht ab, Sie wirken wie mit beiden Beinen mitten im Leben, und Ihre Kamera ist technisch der letzte Schrei. Sie versuchen, keine Spuren zu hinterlassen, das steckt meiner Meinung nach dahinter.«
»Bisher bin ich mit dem Gerät ausgekommen … Tatsächlich habe ich mich schon mal nach einem Anbieter umgeschaut, das Handy an sich würde es ja noch tun, aber meine SIM-Karte ist uralt, 2G, glaub ich …« Sie hörte sich beim Herumstottern zu.
Er massierte seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger. Sein Gesichtsausdruck blieb neutral. »Wer ist diese Viola, die Sie ständig ansimsen?«
»Meine Tochter. Gehört das hierher?«
Erneut beugte Reutter sich vor, um sich mit einem Seitenblick zum Kollegen sofort zu kontrollieren und die Distanz wiederherzustellen.
»Frau Salomon, sind Sie sich im Klaren darüber, wie weit Sie in den Fall verwickelt sind? Sie waren am Tatort, kennen die Bedeutung der grünen Fratzen.«
Sie sog hörbar Luft ein, er redete weiter und überging ihren stummen Protest.
»Was ist Ihr Motiv? Höhere Verkaufszahlen für das Buch kommen mir allerdings weit hergeholt her, muss ich sagen. Für so etwas Unplanbares bringt kein normaler Mensch einen anderen um. Welche Beziehung hatten Sie also zu der Toten?«
»Keine. Ich habe sie nie zuvor gesehen.«
»Wir warten auf die Ergebnisse aus der Rechtsmedizin. Todeszeitpunkt, Rückschlüsse auf die Tatwaffe und so weiter. Ich möchte Ihnen eine Speichelprobe entnehmen, dadurch können wir die Spuren auf der Leiche zuordnen. Dass wir Ihre DNA finden werden, ist unzweifelhaft, Sie haben sie angefasst. Aber wenn wir DNA finden, die nicht von Ihnen ist, können wir Sie gegebenenfalls ausschließen.«
»Sagen Sie bitte nicht Leiche zu dem armen Mädchen. Sie lag schutzlos da und war noch so jung … Sie hatte einen Namen, und ich finde, wir sind es ihr schuldig, sie respektvoll damit anzureden.«
Reutters Augen wurden groß. Sie hatte ihn wohl überrascht.
»Lynn Pfrommer hieß sie. Sie werden es in den nächsten Tagen von den Dächern pfeifen hören. Es wird eine Menge Geschwätz geben. Und jetzt zur Speichelprobe, bitte.«
»Nein«, sagte sie energischer, als sie sich fühlte, und drückte den Rücken durch, um sich größer zu machen.
»Wir bekommen Ihre Probe sowieso, notfalls per richterlichem Beschluss.«
»Ja bitte, beantragen Sie den, darauf möchte ich bestehen. Soll ich mir einen Anwalt besorgen? Ich fand das bisher unnötig, aber Sie bedrängen …«