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In den Türmen des alten Frankfurter Gaswerks am Osthafen gehen seltsame Dinge vor sich … Alexander Bühler, ein Arzt ohne Approbation, behandelt dort Kriminelle, die schnelle medizinische Hilfe brauchen. Als der alternde Zuhälter Siggi die übel zugerichtete Zwangsprostituierte Adriana in die illegale Praxis schleppt, kann Bühler der Frau aber nicht mehr helfen. Während Siggi sich auf den Weg nach Groß-Gerau macht, um die Leiche auf dem alten Safariland-Gelände verschwinden zu lassen, macht Bühler eine verstörende Entdeckung: Offenbar irrt Adrianas kleiner Sohn irgendwo in Frankfurt herum und sucht seine Mutter. Bühler findet das verängstigte Kind und nimmt es mit zu sich nach Hause, ohne zu ahnen, dass der Junge der Schlüssel zu einer größeren Summe Geld ist, die Adriana kurz vor ihrem Tod einem Freier geklaut hat. Nicht nur Siggi, sondern auch der bestohlene Freier und ein ehemaliger Kiezkönig sind auf der Suche nach dem verschwundenen Geld und bereit, dafür über Leichen zu gehen … Ralf Schwobs fesselnder Schreibstil und seine Kenntnis der Stadt und der Region machen diesen Krimi zu einem wahren Lesevergnügen. Der Autor bewegt sich gekonnt zwischen gesellschaftskritischem Roman und Actionthriller – für Freunde spannender Literatur eine echte Empfehlung.
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Seitenzahl: 323
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Osthafen
Frankfurt-Krimi
eISBN 978-3-911008-01-3
Copyright © 2024 mainbook Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Gerd Fischer
Coverdesign und Umschlaggestaltung: Florin Sayer-Gabor -
www.100covers4you.com
Bildrechte: © Salim Chauhan Photography/ shutterstock
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Der Autor
Ralf Schwob,
Wasted and wounded
And it ain’t what the moon did
I got what I paid for now
Tom Waits
Für Jay Wicked – I guess we will meet again in the end
Frankfurt am Main, Zeilsheim
In der Jahrhunderthalle läuft gar nichts mehr und sogar den kleinen Zeilsheimer Weihnachtsmarkt hat der Vereinsring schon mal vorsorglich abgesagt, weil man die Auflagen des Ordnungsamtes nicht werde einhalten können. Und in der Gastronomie? Keine Geburtstage, keine Hochzeiten und erst recht keine Weihnachtsfeiern in diesem Jahr. Nix. Nada. Nothing.
Den ersten Lockdown im Frühjahr hat Wilfried Bolz noch klaglos mitgemacht, aber jetzt ist Schluss. Er steht in dem engen Gang zwischen Küche und Tresen, klappt die Sicherungen nach oben und die Lichter im Schankraum gehen an. Alles wie sonst auch, nur die Rollläden bleiben unten und die Vordertür geschlossen. Dafür ist das kleine Tor zur Hofeinfahrt geöffnet und jeder, der es wissen will, kann sich selbst zusammenreimen, was das heißt. Über den Hof gelangt man zum Hintereingang der Gaststätte und von dort über einen Flur in den Schankraum.
Es ist Freitagabend und Bolz muss nicht lange warten, bis die ersten Gäste eintrudeln, manche tragen Masken, andere nicht. Sie betreten den Schankraum zögernd, als hätten sie Angst, in eine Falle zu tappen. Er nickt ihnen aufmunternd zu, wartet geduldig, bis sie Platz genommen haben, und kommt mit den Speisekarten an den Tisch.
„Schnitzelessen ist kein Verbrechen“, sagt er zur Begrüßung und die Gäste lachen und für einen Moment ist es so, als gäbe es die ganze Pandemiescheiße nicht.
„Wenn Sie drauf bestehen, setze ich natürlich so ein Ding auf“, sagt er und deutet auf die OP-Maske, die einer seiner Gäste gerade langsam vom Gesicht nimmt. „Aber wenn es Ihnen egal ist, ist es mir auch egal.“
Die Gäste lachen erneut und Wilfried Bolz reicht lächelnd die Speisekarten herum.
In der Küche bereitet Maria die Fritteuse vor, wäscht den Salat und sieht nicht zu ihm auf, als er wenig später den Kopf in die Durchreiche steckt und ihr die Bestellungen zuruft. Ein kaum merkliches Kopfnicken ist alles, was er heute von ihr als Antwort bekommt.
Von mir aus, denkt Bolz, dann eben so.
Er zapft gerade die ersten Biere des Abends, als die Skatrunde eintrifft. Die Männer grinsen und zeigen ihm den erhobenen Daumen, bevor sie sich an ihrem Stammplatz niederlassen. Es wird ein stinknormaler Freitagabend werden, die Gespräche an den Tischen vielleicht ein wenig gedämpfter und die Skatbrüder etwas leiser beim Auftrumpfen, aber sonst alles wie immer. Er steht hinterm Tresen, zapft und serviert, und Maria klopft in der Küche die Schnitzel.
Traditionsgaststätte Bolz, steht auf den Speisekarten, seit 1924 in Familienbesitz. Sein Großvater hat das Lokal trotz Krieg, Zerstörung und Inflation für die nachfolgenden Generationen erhalten, und er würde nicht zulassen, dass ein chinesischer Schnupfenvirus vier Jahre vor dem 100-jährigen Jubiläum das Lebenswerk seiner ganzen Familie ruiniert. Mag ja sein, dass ein paar Hochbetagte und Schwerkranke daran sterben, aber gestorben wird schließlich immer und überall.
Maria stellt die ersten Teller mit den Salaten in die Durchreiche und zieht sich sofort wieder zurück. Aus der Küche hört er das Zischen der Fritteuse, am Tisch vorne links mischt einer die Karten für die erste Runde. Wilfried Bolz serviert die Salatbeilage und kehrt gerade hinter seinen Tresen zurück, als Herbert Schaller den Schankraum betritt und sich mit einem Gesicht umsieht, als habe er Zahnschmerzen.
Der Schreck, der Bolz in die Glieder fährt, währt nur kurz, dann hat er sich wieder im Griff. Er nickt Herbert zu, der im Türrahmen stehengeblieben ist, nimmt eine Pilstulpe aus der Halterung über der Theke und beginnt mit dem Zapfen.
„Wilfried“, sagt Herbert nach einer Weile, tritt an den Tresen heran und lässt die Arme hängen. „Wilfried, das geht so nicht.“
„Was meinst du? Du trinkst doch immer Pils, wenn du herkommst“, erwidert er ohne aufzusehen und gibt sich besondere Mühe bei der Schaumkrone.
„Du weißt genau, was ich meine …“
Bolz lässt das Glas noch einen Moment stehen und abtropfen, dann schiebt er es über den Schanktisch und sieht Herbert Schaller herausfordernd ins Gesicht. Nicht dass davon viel zu sehen ist, denn sein Gegenüber trägt eine FFP2-Maske, die ihn offenbar beim Atmen behindert. Jedenfalls schnauft der untersetzte Mann beträchtlich und die Maskenflügel ziehen sich beim Einatmen jedes Mal zusammen.
„Herbert, wie lange kennen wir uns schon?“, fragt Bolz betont ruhig und freundlich.
„Darum geht es doch nicht, darum darf es auch gar nicht gehen, das weißt du doch …“
„Ein Leben lang kennen wir uns schon, falls du es vergessen haben solltest.“
Schaller nickt. „Ja, ein Leben lang, ja. Aber das bedeutet nicht, dass ich für dich eine Ausnahme machen kann.“
„Ach ja? Spricht jetzt der Herr Oberamtsrat, oder was?“
Schaller sieht ihn unverwandt an, hebt die Schultern und lässt sie wieder fallen.
Bolz schiebt das Bierglas noch ein Stück weiter über den Tresen und verschränkt dann die Arme vor der Brust. „Warum trinkst du nicht einfach dein Bier wie sonst auch? Geht aufs Haus.“
Kleine Schweißperlen bilden sich auf Herbert Schallers Stirn. Im Schankraum ist es jetzt ganz still. Die Skatbrüder starren stumm in ihre Karten und die anderen Gäste sitzen wie gelähmt vor ihren unberührten Salaten. Ein junger Mann kommt durch den Flur in den Gastraum, sieht Schaller am Tresen stehen und geht wieder.
„Als du zum zweiten Mal geheiratet hast und noch bisschen klamm warst, wo hast du da gefeiert?“, fragt Bolz scheinbar beiläufig und sieht, wie Herberts Stirn und Hals sich rot färben. „Und was habe ich dir damals dafür als Pauschale berechnet?“
Die Gäste an Tisch vier lassen ihre Salate stehen und stehen langsam auf. Bolz sieht, wie einer von ihnen einen Geldschein auf den Tisch legt, dann verschwinden sie wortlos durch den Hinterausgang. Er sieht ihnen nach und murmelt: „Offenbar ist Schnitzelessen heutzutage doch schon ein Verbrechen.“
„Wilfried, sei doch vernünftig. Ich muss dich bitten …“
„Was musst du mich bitten, Herbert? Was?“ Bolz schlägt mit der flachen Hand auf den Tresen.
Schaller hebt beschwichtigend die Hände und tritt einen Schritt zurück. Er ist einen Kopf kleiner als der massige Wirt. Nun erheben sich auch die Skatbrüder und schleichen davon.
„Bist du jetzt zufrieden? Ja? Hast mir alle Gäste vergrault!“
„Du darfst derzeit gar nicht bewirten, das weißt du doch.“
„Und von was soll ich leben, du Schlaumeier? Du hast gut reden, sitzt dir den Arsch platt in deiner Amtsstube und kriegst jeden Monat pünktlich dein Gehalt, aber ich verdiene nichts ohne zahlende Gäste! Ich gehe vor die Hunde!“
„Du … du bekommst doch Überbrückungsgeld … der entsprechende Antrag ist doch …“
„Ich scheiß dir was auf Eure Almosen!“, schreit Bolz und kommt mit großen Schritten um den Tresen herum. Schaller weicht immer weiter vor ihm zurück in den Schankraum.
Ein Leben lang, denkt Wilfried Bolz und sieht die Angst in den Augen des Anderen. Sie sind seit der Grundschule befreundet – und jetzt das.
„Willy, mach doch keinen Unsinn …“, stammelt Schaller und hebt erneut die Hände.
„Das reicht jetzt!“, hört Bolz plötzlich jemanden hinter sich sagen und dreht sich überrascht um. Maria steht in der Küchentür und hält ein kariertes Geschirrtuch in den Händen. „Es reicht!“
„Geh wieder in die Küche“, sagt Bolz, aber seine Frau schüttelt nur stumm den Kopf. Sie faltet das Geschirrtuch akkurat zusammen, legt es auf den Tresen und beginnt, sich die Schürze aufzuknoten.
„Maria, was machst du denn da?“
Erneut schüttelt sie den Kopf. Aus den Augenwinkeln sieht Bolz, wie Herbert Schaller eilig den Schankraum verlässt.
Wilfried Bolz versucht, seine Frau am Arm zu fassen, aber sie entzieht sich ihm und verlässt ebenfalls die Gaststätte. Er hört ihre kleinen, schnellen Schritte auf der Treppe, die zu ihrer gemeinsamen Wohnung über dem Lokal führt. Jetzt steht er allein inmitten des Schankraums. Auf dem Tresen neben Marias Schürze und dem karierten Handtuch steht noch das Bier, das er für Herbert gezapft hat. Die Schaumkrone ist in sich zusammengefallen.
„So ist das also“, knurrt Wilfried Bolz, „so ist das also … das habt ihr euch ja alle schön ausgedacht …“
Er geht ein paarmal gehetzt im Raum auf und ab, kehrt zum Tresen zurück, nimmt das Bierglas und trinkt es mit großen Schlucken aus, betrachtet das leere Glas in seiner Hand, als sehe er es in diesem Moment zum ersten Mal, und wirft es an die gegenüberliegende Wand, wo es in einem Scherbenregen zersplittert.
„Haut nur alle ab!“, schreit er, „haut ab, ich brauche euch nicht, keinen von euch brauche ich! Keinen!“
Siggi parkt seinen feuerroten Camaro am frühen Nachmittag direkt vor dem Eingang des Clubs im absoluten Halteverbot.
Hinter den rot getönten Scheiben des Puffs brennt kein Licht, die Doppeltür mit der Aufschrift „Girls, Girls, Girls“ ist geschlossen. Seit man die Bordelle wegen der Pandemie dichtgemacht hat, läuft das Geschäft illegal auf der Straße. Die Türsteher sind gereizt, weil es nichts zu kontrollieren gibt, und die Mädchen, die keine andere Wahl haben, laufen scheinbar absichtslos durch die Gegend oder stehen in dunklen Hauseingängen. Ihre Zuhälter sitzen währenddessen gelangweilt in den am Straßenrand geparkten Autos und spielen mit ihren Handys.
Siggi steigt aus seinem Wagen und sieht sich um. An der Tür, die in das Treppenhaus neben dem Club führt, hängt ein mit Lippenstift gemaltes Schild: „Auch an Sexarbeit hängen Existenzen“.
Ja, denkt Siggi grimmig, zum Beispiel meine. Er schließt auf, verschwindet im Hauseingang und nimmt die Treppe nach oben. Im ersten Stock des Altbaus betritt er ein fast leeres Zimmer. Lediglich zwei einfache Holzstühle und ein Bettgestell aus Messing mit einer nackten Matratze darauf befinden sich in dem Raum. An der Schmalseite des Zimmers hängt ein Spiegel, in der gekachelten Ecke zu seiner Linken ist ein einfaches Waschbecken an die Wand geschraubt. Ein verblichenes grauweißes Handtuch hängt an einem Haken daneben. Die Luft riecht süßlich schwer und ein bisschen nach kaltem Rauch.
Siggi durchquert das Zimmer mit großen Schritten, öffnet das Fenster und sieht hinunter auf die Straße. Drei junge Männer mit Bierdosen in der Hand stehen gegenüber vor dem Eingang eines Table-Dance-Ladens. Sie stoßen sich gegenseitig an und machen eindeutige Handbewegungen, lachen laut und überqueren breitbeinig die Straße, als könne ihnen keiner was. Ihre medizinischen Masken hängen ihnen wie Lätzchen unterm Kinn. Landeier, die wahrscheinlich zum ersten Mal im Frankfurter Bahnhofsviertel unterwegs sind, und das ausgerechnet im Lockdown.
Siggi reibt sich die Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger, er hat Kopfschmerzen. Einen Moment schließt er die Augen, und als er sie wieder öffnet, stehen die Jungs unten vor dem Club. Einer lehnt sich mit seinem fetten Hintern an Siggis Camaro. Der Junge trinkt einen Schluck, rülpst und zerquetscht die Leichtmetalldose zwischen seinen Fingern. Als er Siggis Pfiff hört, sieht er sich suchend um, legt schließlich den Kopf in den Nacken und sieht ihn am offenen Fenster stehen. Ruckartig bewegt sich der Junge mit der zerdrückten Bierdose in der Hand von dem Camaro weg und hebt entschuldigend eine Hand, seine beiden Freunde treten feixend zu ihm, verstummen aber sofort, als sie Siggi am Fenster stehen sehen, der nichts weiter tut, als zu ihnen runterzusehen.
Die Jungs trollen sich und Siggi schließt das Fenster.
Früher wäre er nach unten gegangen und hätte es nicht bei bösen Blicken belassen, mittlerweile setzt er seine Mittel sparsamer ein. Mit Ende vierzig ist seine Reaktionsschnelligkeit nicht mehr die Beste und den härtesten Punch hat er auch nicht mehr. Siggis Überlebensstrategie ist deshalb, wenn es unbedingt nötig ist, immer als Erster zuzuschlagen, und zwar dahin, wo es wehtut. Wo es richtig wehtut. Meistens ist dann Ruhe im Karton.
Aber vorlaute Möchtegern-Freier, die angesoffen über die Taunusstraße stolpern, auf offener Straße zu verprügeln, ist unnötig. Die rennen am Ende noch zur Polizei, und die kann Siggi jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Er ist froh, den Job bei den Rumänen zu haben. Die bezahlen ihn unter anderem auch dafür, weil er weiß, wie man in dieser schönen Stadt am Main unter dem Radar der Bullen bleibt.
Er geht ein paar Schritte auf den knarrenden Holzdielen durch den Raum und bleibt vor dem bodentiefen Spiegel stehen. Es gibt Leute, die ihm eine Ähnlichkeit mit Lemmy, Sänger und Bassist der englischen Heavy-Metal-Band Motörhead, nachsagen, der nach einem exzessiven Leben vor ein paar Jahren gestorben ist. Der Mann war allerdings schon fast siebzig, während Siggi noch nicht einmal die Fünfzig erreicht hat.
Neuerdings hat er diese Kopfschmerzen, die sich vollkommen anders anfühlen als der gewohnte dicke Kopf nach zu viel Bier und Schnaps. Die Kopfschmerzen, die ihm seit ein paar Wochen zu schaffen machen, kommen anfallartig wie aus heiterem Himmel und fühlen sich an, als würde ihm jemand mit einer heißen Stricknadel im Gehirn herumstochern. Wahrscheinlich wird er einfach nur alt und lässt nach, von früher kennt er so einen Scheiß jedenfalls nicht. Er greift in seine Jackentasche und holt einen Blister mit Schmerztabletten heraus, drückt sich zwei auf die Hand und schluckt sie ohne Wasser herunter, dann zündet er sich eine Zigarette an.
Als er wenig später Schritte auf dem Flur hört, macht er sich bereit. Die Tür in seinem Rücken wird aufgerissen und jemand in den Raum gestoßen, ein Mann flucht, eine Frau wimmert, dann fällt die Tür wieder krachend ins Schloss und alles ist still, bis auf den schweren, zitternden Atem der Frau.
Siggi bläst den Rauch seiner Zigarette gegen die Fensterscheibe und sieht dabei zu, wie sich der blaue Dunst über dem Glas verteilt. Ohne sich umzudrehen, fragt er: „Wie heißt du?“
Die Frau flüstert etwas, das er nicht versteht. Er wartet einen Moment, dann fragt er sie erneut, diesmal betont langsam: „Wie heißt du?“
„Sofia …“, entgegnet die Frau, diesmal laut genug. Sie hat eine tiefe, aber dennoch weibliche Stimme.
Siggi zieht noch einmal an seiner Zigarette, stößt den Rauch aus und dreht sich langsam um.
Sofia steht in der Mitte des Zimmers, so wie sie alle am Anfang hier stehen: Jeans und Billig-Sneaker, eine dünne Kunstlederjacke über der zerknitterten, tiefausgeschnittenen Bluse, den Nylon-Rucksack mit ihren paar Habseligkeiten mit beiden Händen schützend vor den Bauch gehalten. Diese hier ist klein und sehr schmal, wahrscheinlich mit viel zu wenig Oberweite. Dafür mandelförmige braune Augen, dunkle lange Haare, leichter Teint, den Mund trotzig nach unten verzogen.
Siggi zieht einen der beiden Stühle heran und postiert ihn in der Mitte des Raums.
„Setz dich!“
Sofia sieht abwechselnd den Stuhl und Siggi an. Ihr Atem hat sich beruhigt. Er will sie gerade erneut auffordern, sich hinzusetzen, als Sofia sich mit dem Rucksack auf den Knien zögernd niederlässt, als könne es sich bei dem Angebot um eine Falle handeln.
Siggi geht mit der Zigarette im Mund um den Stuhl herum, streicht ihr über die Haare, bündelt sie mit einer Hand zu einem Zopf und legt so ihren Nacken frei, rechts und links des Haaransatzes kräuseln sich dunkle Nackenhärchen. Er holt einen einfachen Gummiring hervor und fixiert die gebündelten Haare mit ein paar schnellen Griffen zu einem Pferdeschwanz, den er ihr über die Schulter legt.
„So“, sagt er.
Das Mädchen schweigt.
„Wie heißt du?“
„Sofia …“
„Das stimmt nicht“, sagt Siggi sanft und wartet, ob sie darauf etwas erwidern wird, was das Mädchen aber nicht tut. Vielleicht versteht sie ihn gar nicht, vielleicht aber doch und sie will aufsässig sein. Egal.
„Du heißt ab heute Angelina“, sagt Siggi, als spreche er eine einfache, unverrückbare Tatsache aus. Er streicht ihr mit zwei Fingern zärtlich über die dunklen Härchen in ihrem Nacken, dann fragt er erneut: „Wie heißt du?“
„Sofia …“, erwidert das Mädchen leise, aber bestimmt.
Siggi seufzt. Die Zigarette in seiner linken Hand ist bis zur Hälfte heruntergebrannt. Er zieht noch einmal kurz daran, ascht ab und führt die rotglühende Spitze an ihre feinen Nackenhärchen. Als sie die Hitze auf der Haut spürt, beginnt sie, unruhig auf dem Stuhl herumzurutschen, und Siggi drückt sie mit der rechten Hand zurück auf die Sitzfläche. Der Geruch nach angesengten Haaren steigt auf.
„Wie heißt du?“
Das Mädchen sagt nichts. Siggi spürt, wie ein Beben durch ihren Körper läuft, ihr Atem wieder schneller und ungleichmäßiger wird. Er nimmt die Zigarette zwischen die Lippen und zieht erneut daran, hält sie dann zwischen Daumen und Zeigefinger und wartet.
„Wie heißt du?“
„Ich … heiße …“
Siggi winkelt den Arm mit der Zigarette ab, beugt sich zu ihr herunter und bringt sein Ohr so nah an ihre Lippen, bis er ihren warmen Atem spürt.
„Sofia …“, flüstert das Mädchen und eine Träne läuft ihr dabei über die Wange.
Siggi nickt. Irgendwie hat er das schon erwartet. Er lässt noch ein paar Sekunden verstreichen, tritt wieder hinter das Mädchen, drückt ihr mit der linken Hand den Kopf brutal nach vorne und drückt mit der rechten die glühende Zigarettenspitze in ihrem Nacken aus.
Nach der Beerdigung kehrt Dr. Alexander Bühler allein nach Hause zurück. Er parkt in der Einfahrt, lockert die schwarze Krawatte, lehnt sich im Fahrersitz zurück und sieht durch die Windschutzscheibe nach draußen. Er sucht nach einem fremden Fahrzeug in der Straße, kann aber keines entdecken. Gelbe Blätter liegen auf dem Bürgersteig und in den Vorgärten, die Bäume sind fast schon kahl, eine matte Herbstsonne, die nicht mehr richtig wärmt, steht am Himmel. Auf dem Beifahrersitz liegt die CD mit den Musikstücken, die Sylvia noch selbst ausgesucht hat. Er überlegt, ob er einfach hier sitzenbleiben und die CD noch einmal hören soll, um den köstlichen Schmerz zu verlängern.
Eine Bewegung vor dem Auto lässt ihn zusammenzucken. Jemand entfernt sich aus seinem Blickfeld und Bühler fährt mit wild schlagendem Herzen hektisch herum, erkennt aber dann, dass es sich nur um den alten Schubert aus der Nachbarschaft handelt, der mit seinem verzottelten Hund in den verwilderten Weg zwischen den Häusern einbiegt. Den schmalen, mit Unkraut überwucherten Grünstreifen zwischen Bühlers Grundstück und dem Acker hat der Hund seit einiger Zeit als Lieblingsort für sein großes Geschäft auserkoren. Früher hat er sich darüber geärgert, heute ist es ihm egal. Alexander Bühler legt die Stirn aufs Lenkrad und schließt einen Moment die Augen, wieder denkt er an die CD, entscheidet sich nun aber endgültig dagegen, sie noch einmal zu hören.
Er sitzt noch eine Weile so da, bevor er aus dem Wagen aussteigt und ins Haus geht. Er lässt die Haustür einen Spaltbreit offen, nimmt im Flur die schwarze Krawatte ab, öffnet die obersten Hemdknöpfe, hält den Atem an und lauscht, aber bis auf das leise Pochen der Heizung ist es still im Haus.
„Hallo?“, ruft er nach einer Weile und bemüht sich, seiner Stimme einen festen Ton zu geben. „Sind Sie schon hier?“
Alexander Bühler bekommt keine Antwort. Offenbar hat er noch etwas Zeit.
Er hat sich in den letzten Tagen schon ein paarmal von allem verabschiedet, aber jetzt geht er doch noch einmal durch die Zimmer im Erdgeschoss. In der Küche steht noch die Tasse, aus der er heute früh Kaffee getrunken und sich anschließend in der Toilette übergeben hat, in der Spüle. Im Arbeitszimmer seiner Frau nimmt er die gerahmte Fotografie vom Klavier und geht damit ins Wohnzimmer. Hier ist es heller als in den anderen Räumen, die Sonne fällt durch die großen Fenster in den Raum und taucht die Sofalandschaft und die Bücherregale in sanftes vormittägliches Licht. Er steht eine Weile unentschlossen mit der Fotografie in den Händen am Fenster. Über das offene Feld hinweg kann er in der Ferne durch die herbstlich entlaubten Büsche und Bäume das Schützenhaus sehen. Der Inhaber des dortigen Restaurants hat auf dem Vorplatz die rotgelbe spanische Fahne gehisst. Am Waldrand gegenüber parken ein paar Autos, vermutlich Mitglieder des Schützenvereins, die auf dem unterirdisch gelegenen Luftgewehrstand zu tun haben.
Er sieht den Nachbarn mit seinem Hund zwischen Gartenzaun und Feld durchs Gras stapfen. Der alte Mann hebt kurz die Hand zum Gruß, als er ihn am Fenster stehen sieht. Bühler lächelt und winkt zurück. Danach entfernt er sich vom Fenster, stellt das Bild seiner Frau auf den niedrigen Couchtisch und öffnet den Glasschrank mit seinen Whiskys. Er holt den guten Scotch, den er ganz hinten im Schrank versteckt hat, heraus, schenkt sich einen Doppelten ein, nimmt einen großen Schluck und schließt die Augen.
Alexander Bühler spürt, wie er etwas ruhiger wird. Er trinkt erneut von dem edlen Whisky, behält das Glas in der Hand und lässt sich im Sessel vor Sylvias Bild nieder. Die Aufnahme ist an einem warmen Tag im letzten Frühjahr auf der Terrasse entstanden. Seine Frau war von der Chemotherapie geschwächt, aber das sieht man ihr auf dem Bild nicht an. Sie trägt ein buntes Kopftuch und lacht über etwas, das er kurz davor gesagt hat. Bühler weiß nicht mehr, was es war. Er weiß nur noch, dass es einer der letzten Abende war, an denen sie draußen sitzen konnten. Im Sommer dann, als die Temperatur auch abends nicht unter zwanzig Grad fiel, war sie schon viel zu schwach dazu.
Er hat heute alles genau so gemacht, wie sie es sich gewünscht hat. Er hat in der Aussegnungshalle vor ihrer Urne gesessen und noch einmal ihre Lieblingssonaten gehört, danach hat er die Urne mit der Asche seiner Frau eigenhändig zu Grabe getragen. Da er der einzige Trauergast in der Kapelle war, musste er noch nicht einmal eine Maske tragen. Der Mann vom Beerdigungsinstitut hat ihm mit einem Nicken kondoliert. Und nun ist alles getan. Sylvia ist tot – und er wird es auch bald sein.
Alexander Bühler nimmt gerade den letzten Schluck Whisky aus dem Glas, als er Schritte vor dem Haus hört. Er überlegt, ob er sich noch schnell aus der Flasche nachschenken soll, entscheidet sich aber dagegen. Es ist genug.
Die Schritte nähern sich über die Außentreppe der Haustür, verharren einen Moment, dann hört er sie im Flur. Alexander Bühler stellt das Glas vorsichtig auf dem Tisch ab und setzt sich aufrecht in den Sessel, den Rücken durchgedrückt. Jetzt sind keine Schritte mehr zu hören, er spürt, dass die Person, die das Haus betreten hat, nun im Türrahmen direkt hinter ihm steht. Bühler schließt die Augen, er ist bereit.
Irgendwo hat er einmal gelesen, dass man den Schuss gar nicht mehr hört, wenn einem auf kurze Distanz in den Hinterkopf geschossen wird. Er hofft nur, dass die Person im Türrahmen ihr Geschäft versteht und keine halben Sachen macht.
Obwohl er sich einredet, mit dem Leben abgeschlossen zu haben, quälen ihn Fluchtreflexe, die mit jeder Sekunde schlimmer werden. Als er es nicht mehr aushält, stößt er empört hervor: „Nun machen Sie schon, verdammt nochmal!“
Tatsächlich hört er darauf ein metallisches Klicken, als nächstes jedoch keinen Schuss. Die Frau, die stattdessen mit großen Schritten das Wohnzimmer betritt, trägt enge Jeans und weiße Sneaker, sie ist groß und schlank und hat sich die blonden Haare zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden. In der linken Hand trägt sie einen geflochtenen Korb, in dem eine karierte Decke liegt. Sie sieht aus, als sei sie gerade unterwegs, um ein paar Besorgungen zu machen, nur die halbautomatische Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer in ihrer rechten Hand wirkt deplatziert.
„Darf ich mich einen Moment setzen?“, fragt sie freundlich und ohne hörbaren Akzent.
„Habe ich eine Wahl?“, entgegnet Bühler mit belegter Stimme. Er kann das Adrenalin spüren, das ihm durch den Körper schießt, seine Knie zittern und sein Mund scheint von einer auf die andere Sekunde vollkommen ausgetrocknet zu sein.
Die Frau lächelt und setzt sich in den Sessel auf der anderen Seite des Tisches. „Eigentlich nicht.“
Sie richtet die Pistole auf ihn und stellt den Korb neben sich auf den Boden. Bühler versteht sofort. Nach erledigter Arbeit wird sie die Pistole darin verschwinden lassen. Und wenn jemand sie so aus dem Haus kommen sieht, ist sie nur eine Nachbarin oder Bekannte, die dem armen Witwer etwas zu essen gebracht hat. Jetzt wundert er sich auch nicht mehr darüber, dass sie eine Frau geschickt haben.
Eine Weile sitzen sie sich schweigend gegenüber, bis die Frau auf das leere Whiskeyglas deutet: „Nehmen Sie ruhig noch einen.“
„Was soll das?“
„Trinken Sie!“
„Die Flasche ist drüben im Schrank.“
Die Frau steht auf, holt den Scotch, schenkt ihm großzügig ein und setzt sich wieder. Sie legt die Pistole vor sich auf den Tisch und fragt: „Kein Eis?“
„Hören Sie bitte auf damit …“
„Trinken Sie!“
Bühler atmet tief durch. Er muss das Glas mit beiden Händen nehmen, so sehr zittern seine Finger. Offenbar hat man die Frau instruiert noch ein bisschen mit ihm zu spielen, die Sache nicht zu schnell zu Ende zu bringen – was etwas verwunderlich ist, schließlich gibt es keine Kränkungen, keinen Grund für Rache, es geht nur um Geld, und die Leute, denen er es schuldet, hat er nie persönlich kennengelernt.
Bühler nippt an seinem Glas und ist froh, als es ihm gelingt, den Whisky hinunterzubekommen, ohne dass er sich dabei verschluckt.
„Besser jetzt?“, fragt die Frau und hebt die Augenbrauen.
Bühler schüttelt den Kopf.
„Sie müssen keine Angst haben. Ich bin hier, um Ihnen ein Angebot zu machen, also entspannen Sie sich.“
„Ein Angebot?“
Die Frau nickt. „Sie sind doch Arzt, oder?“
Bühler schließt die Augen. „Man hat mir die Approbation entzogen. Ich dachte, das wäre Ihnen bekannt …“
„Eine Approbation ist für unsere Zwecke nicht nötig.“
Bühler öffnet die Augen wieder und greift nach seinem Glas, die Frau sieht es und lächelt.
„Also, hören Sie zu …“
Unten spielen die Kinder zwischen den Müllhaufen und nebenan schlägt Adrianas Vater mit der flachen Hand so fest auf den Küchentisch, dass die dünnen Wände wackeln. Sie hört ihre Brüder lachen und das Baby ihrer jüngsten Cousine schreien. In diesem Haus ist es nie still, noch nicht einmal nachts, irgendwo läuft immer ein Radio oder ein Fernseher, stolpert ein Betrunkener krakeelend durchs Treppenhaus.
Im Stockwerk drüber tanzt jemand zu den Songs von Florin Salam, die Lampe an der Decke wippt im Rhythmus des Manele-Sounds, und wenn die Musik einmal kurz aussetzt, legt Cosmin seinen kleinen Kopf schräg, presst das Ohr an die Wand und lauscht, als habe sich die Musik darin versteckt. Adriana will, dass er runtergeht und mit den anderen Kindern spielt, aber da reißt Cosmin erschrocken die Augen auf, hält sich die Ohren zu und schreit. Vielleicht, denkt sie, vielleicht ist er wirklich nicht ganz richtig im Kopf. Wäre ja kein Wunder bei dem Vater. Und dann denkt sie wieder daran, was Bogdan gesagt hat und ihr Herz schlägt ein klein bisschen schneller.
Unter den bunten Regenschirmen in der Altstadt hat er sie zum ersten Mal geküsst. In der Viktoria-Passage zwischen all den feinen Leuten. Und wie weich seine Lippen waren. Und wie schüchtern er sich gleich darauf wieder zurückgezogen hat, als hätte er etwas falsch gemacht. Adriana erinnert sich an den Lavendelduft seines frischgewaschenen Hemdes und den Ledergeruch seiner neuen Jacke und an das herbe Aftershave, das er nach dem Rasieren aufgetragen hat. Die anderen Männer hier im Viertel riechen alle nach kaltem Rauch und altem Schweiß. Dass es Männer wie Bogdan überhaupt gibt, kann Adriana immer noch kaum glauben. Sie kannte ja bisher nur Typen wie Petre, der sie schon beim ersten Treffen befummeln und mit ihr ins Bett wollte. Sie hat sich damals vor ihm geekelt, aber ihre Cousinen haben nur gelacht. Männer sind halt so, haben sie gesagt, und dass man sich daran gewöhnt. Aber Adriana wollte sich nicht daran gewöhnen und ist ihm aus dem Weg gegangen, bis er sie eines Abends auf dem Nachhauseweg im Dunkeln abgepasst hat. Da hat sie ihn halt machen lassen, weil sie hoffte, endlich Ruhe vor ihm zu haben. Adriana war damals noch keine siebzehn Jahre alt und danach sofort schwanger, und Petre ist keine Woche später in den Autobus gestiegen und hat sich auf Nimmerwiedersehen davongemacht.
Die Musik setzt wieder ein und Cosmin strahlt. Er hebt seinen Finger, die Lippen bewegen sich lautlos, die Augen starren angestrengt gegen die Wand, als müsse er in seinem Kinderköpfchen ständig irgendwelche Rätsel lösen. Der Kleine ihrer ältesten Cousine spricht schon längst und balgt sich mit den anderen Kindern im Flur herum, während Cosmin den ganzen Tag nur stumm am Fenster sitzt und staunend jeder Wolke hinterhersieht. In Deutschland gebe es Ärzte für sowas, hat Bogdan gesagt, als sie sich unter den bunten Regenschirmen in der Bukarester Altstadt zwischen Touristen, Studenten und gutgekleideten Menschen geküsst haben. All die feinen Leute, die bestimmt nicht mit ihren Eltern und Großeltern, ihren Brüdern, Schwestern, ihren Onkeln, Tanten und ihren hundert Cousins und Cousinen in einer engen Wohnung mit papierdünnen Wänden hausen müssen. Die nicht an heißen Tagen, wenn der Wind sich dreht, die Fenster schließen müssen, weil der Gestank nach Müll und Verwesung sonst unerträglich wird. Adriana will nicht undankbar sein, ohne ihre Familie hätte sie es allein mit dem Baby niemals geschafft, aber hier gibt es doch keine Zukunft. Nicht für sie und schon gar nicht für ihren kleinen Cosmin.
Bogdan wollte Adriana auf einen Kaffee einladen, aber sie hat die Preise auf den schwarzen Holztafeln gesehen und erschrocken den Kopf geschüttelt, doch Bogdan hat nur gelacht und ein Bündel Geldscheine hervorgeholt. Wenn er Adriana nicht getroffen hätte, wäre er schon längst wieder in Deutschland gewesen, um noch viel mehr Geld zu verdienen. Wenn Bogdan einmal eine Familie gründet, würden seine Frau und seine Kinder nicht in irgendeinem Rattenloch hausen müssen, das habe er sich geschworen. Bogdan war gerade wieder auf dem Sprung in den Westen, als er Adriana kennengelernt hat, und dann ist er geblieben und hat wegen ihr auf viel Geld verzichtet. Aber darüber solle sie sich keine Gedanken machen, hat er gesagt, er kenne genug Leute, die ihm jederzeit Arbeit geben würden, er habe Kontakte, sehr gute Kontakte. Er würde auf jeden Fall wieder in Deutschland arbeiten, auf einer Baustelle. Noch nicht einmal ihre Häuser bauen die Deutschen noch selbst, stell dir das mal vor, hat Bogdan gesagt, das machen Polen, Bulgaren und wir für sie. Er schüttelte den Kopf und trank noch einen Schluck, stellte die Tasse vorsichtig auf dem Unterteller ab, legte seine Hand auf ihre und sofort begann Adrianas Herz wieder wie wild zu schlagen. Ich bin ja verliebt, hat sie gedacht, so richtig verliebt, zum ersten Mal in meinem Leben. So fühlt sich das also an. Und weil es sich so schön anfühlte, hat sie sich gar nicht darüber gewundert, wie weich seine Hände waren, wo er doch angeblich auf dem Bau arbeitete …
Cosmin malt Striche in die Luft und summt.
Ce faci?
Was machst du?
Aber Cosmin gibt mal wieder keine Antwort, ist vollkommen versunken in seine Luftmalereien. In der Küche nebenan wird laut gelacht, Gläser klirren, eine Schnapsflasche kommt auf den Tisch, und Adriana wünscht sich weit weg, holt ihr Handy hervor und schaut sich zum x-ten Mal die Bilder an, die Bogdan geschickt hat. Die kleine helle Einzimmerwohnung im zweiten Stock, in der nur sie beide wohnen werden. Ein Bad und eine Einbauküche, in der sie jeden Abend für sie beide kochen könnte. Nur für sich und Bogdan und später auch für Cosmin. Bogdan schickt ein Selfie, auf dem er auf der Kühlerhaube eines Mercedes sitzt und lacht, er schreibt von der Frau eines Kollegen, die in einem Altenheim arbeitet, dort brauchen sie immer Leute, weil die Deutschen keine Zeit und Lust haben, sich um ihre alten Menschen zu kümmern – auch das machen jetzt wir, schreibt Bodan und schickt ein Grinse-Smiley und zwei Herzen. Ein reiches Land, aber irgendwie auch ein trauriges, denkt Adriana und kann es dennoch kaum erwarten, bis das Frühjahr und der Sommer kommt, denn dann wird sie Cosmin bei ihrer mittleren Cousine lassen und ihr so schnell wie möglich Geld aus Deutschland schicken, damit der Kleine nachkommen kann.
Adriana, hat Bogdan unter den bunten Schirmen zu ihr gesagt, wir schaffen das, nächstes Jahr im Sommer!
Und sie hat noch gezögert, weil es ihr so wehtat, den kleinen Cosmin erst einmal zurücklassen zu müssen. Es sei ja nur vorübergehend, hat Bogdan ihr versichert und gefragt, was mit Cosmin denn nicht stimme, ob er krank sei?
Adriana hat den Kopf geschüttelt. Nein, nicht wirklich krank, er ist nur irgendwie anders halt.
Und dann hat Bogdan sie ganz eng an sich gezogen, sie auf die Wange geküsst und gesagt, dass er sich um Cosmin kümmern werde wie um seinen eigenen Sohn, und da war Adriana den Tränen nahe und konnte ihr Glück kaum fassen.
Frankfurt am Main, Zeilsheim
Außengastronomie geöffnet, hat Wilfried Bolz mit weißer Kreide auf eine schwarze Tafel geschrieben und sie am Hoftor angebracht. In den Innenhof hinter der Wirtschaft hat er zwei Biertischgarnituren und vier runde Tische gestellt, aber nach dem Theater im letzten Jahr ist es nicht einfach mit den Leuten am Ort.
Der einzige Gast heute ist nicht von hier, kommt aber seit ein paar Wochen regelmäßig zum Mittagessen vorbei, während ansonsten kaum mehr jemand bei ihm einkehrt. Vor Corona, als Maria noch eingekauft und gekocht hat, war das Lokal zwischen zwölf und eins immer rappelvoll gewesen, aber seit er sich selbst um alles kümmern muss, besteht das Mittagsmenü aus einer aufgewärmten Dosensuppe, einem faserigen Stück Fleisch aus der Tiefkühltruhe, das in dicker dunkler Soße schwimmt, und aus einer großzügigen Portion Bratkartoffeln oder Nudeln als Sättigungsbeilage. Manchmal serviert er dazu noch einen kleinen abgepackten Eisbecher aus dem Supermarkt zum Nachtisch.
Seine wenigen Stammgäste von früher fragten anfangs noch unverhohlen, wann denn Maria wiederkomme, aber mittlerweile hat sich die Lage im Hause Bolz im Ort rumgesprochen. Maria wird nicht wiederkommen.
Als die Pandemiescheiße im letzten Frühjahr losging, hat sie ihm noch beigestanden, aber nach der Sache mit seinem Freund Herbert im letzten Winter, wollte sie einfach nicht mehr. Trotzig hat er sein Lokal immer wieder geöffnet, obwohl kaum mehr einer kam, bis Herbert, die Kameradensau, mit der Polizei anrückte und ein Strafbefehl gegen ihn erging. Bis in die Bildzeitung hat er es damit geschafft, und zwar als „Coronarebell von Zeilsheim“. Dabei ist er niemand, der die Existenz des Virus grundsätzlich leugnet, er hält die Pandemiemaßnahmen nur für vollkommen überzogen.
Als er unter Auflagen im Frühjahr wieder öffnen durfte, war sein Ruf im Ort ruiniert und er selbst hoffnungslos bis über beide Ohren verschuldet. Hinzu kommt noch, dass er ausgerechnet Herbert Schaller die Konzession für den Biergarten verdankt. Er weiß auch, dass sein alter Freund ihm im letzten Jahr von Amtswegen noch viel mehr hätte zusetzen können, aber stattdessen versuchte er ihm zu helfen, wo er nur konnte. Dass er ihm dafür jetzt irgendwie auch noch dankbar sein müsste, ärgert Bolz maßlos.
Der Mann, der allein im Hof sitzt und in die Frühlingssonne blinzelt, ist der einzige neue Gast in letzter Zeit. Er kommt regelmäßig, verzehrt, was Bolz lieblos zusammenbrutzelt, und gibt auch noch Trinkgeld. Er ist immer leger gekleidet, glattrasiert, graumeliertes Haar, ein sportiver Mitfünfziger in Jeans, Poloshirt und Sportsakko. Der Mann hat in das Kontaktformular, das Bolz jeden Gast ausfüllen lassen muss, einen nichtssagenden Namen und eine Adresse in Niederrad eingetragen.
Als Wilfried Bolz kurz vom Sportteil der Zeitung aufsieht, die er vor sich auf dem Außentresen ausgebreitet hat, hebt der Mann kurz die Hand, um auf sich aufmerksam zu machen.
Der Wirt schlurft an den Tisch, wo sein Gast sich gerade die Mundwinkel mit der Serviette abtupft.
„Hat’s geschmeckt?“, fragt Bolz müde und nimmt den leeren Teller entgegen, sein Gast nickt und entgegnet: „Wie immer.“
Manchmal fragt er sich, ob der Kerl ihn verarschen will, aber das ist ihm nun auch egal. Er ist schon auf den Weg zurück zum Außentresen, als der Mann ihn noch einmal anspricht.
„Herr Bolz? Darf ich Sie mal was fragen?“
Er hält in der Bewegung inne, bleibt mit dem Teller in der Hand mitten im Hof stehen und atmet tief durch. „Wenn Sie von der Presse sind, dann kein Kommentar“, knurrt er, ohne sich zu seinem Gast umzudrehen.
„Nein, nein. Ich bin kein Journalist.“
„Hören Sie“, sagt Bolz, „ich glaube nicht an Verschwörungstheorien und will auch keine hören. Ich bin kein Querdenker und schon gar kein Nazi, okay?“
„Selbstverständlich nicht“, erwidert der Gast.
„Was wollen Sie dann?“ Wilfried Bolz starrt auf den Teller in seinen Händen, ein paar Soßenreste kleben noch am Rand. Das Besteck liegt unter der zusammengeknüllten Serviette.
„Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.“
„Ein … Angebot?“
„Ein finanzielles Angebot.“
Natürlich, denkt Wilfried Bolz, das ist es. Der Typ will ihm einen Vermögensplan aufschwatzen, eine Geldanlage, ein Spekulationsobjekt.
„Sie müssten dabei nichts investieren, es wäre vielmehr so, dass wir in Sie investieren würden“, fügt der Gast hinzu, als habe er seine Gedanken gelesen.
„Ach ja?“ Tatsächlich hat der Mann damit seinen wunden Punkt getroffen, denn es gibt nichts, was Wilfried Bolz nötiger braucht als Geld, und der Typ scheint das zu wissen.
Er bringt den Teller zum Tresen und stellt ihn dort ab, dann fragt er: „Möchten Sie vielleicht noch einen Kaffee oder sowas?“
Der Mann lächelt. „Kaffee? Ja, Kaffee wäre schön.“
Bolz nickt und bereitet eine Tasse vor. Während er an der Maschine hantiert, überlegt er, was der merkwürdige Typ ihm wohl anbieten könnte. Seit er sich letztes Jahr gegen den zweiten Lockdown aufgelehnt hat, kommen jede Menge Spinner von außerhalb in sein Lokal, die ihn zuquatschen, aber weder etwas essen noch trinken wollen. Einmal war sogar einer von der AfD dagewesen und wollte ihm helfen. Bolz hat dankend abgelehnt.
Als er mit dem Kaffee zurück an den Tisch kommt, lächelt der Gast übertrieben dankbar, nimmt die Tasse entgegen, nippt daran und verzieht genießerisch das Gesicht. Wieder hat Bolz das Gefühl, verarscht zu werden, in der Tasse ist stinknormaler Filterkaffee und er hat noch nicht mal Milch und Zucker dazu angeboten.
„Also?“
„Also was?“ Der Gast sieht ihn belustigt an.
Jetzt ist er sicher, dass er verarscht werden soll. Bolz verschränkt die Arme vor der Brust und nickt in Richtung Hofausgang. „Trinken Sie Ihren Kaffee und verschwinden Sie!“
„Aber, mein Lieber, nun setzen Sie sich doch erstmal.“
Bietet ihm der Kerl in seinem eigenen Lokal einen Platz an? Was soll der Mist? Er will ihn gerade erneut auffordern zu verschwinden, als der Mann einen Umschlag aus der Innentasche seines Sakkos zieht und über den Tisch schiebt.
„Was ist das?“
„Eine Gesprächspauschale“, sagt der Mann sachlich. „Dürfen Sie in jedem Fall behalten, egal, wie unser Gespräch ausgeht.“
Misstrauisch nimmt der Wirt das Kuvert entgegen. Ein dünnes Bündel grüner 100-Euro-Scheine befindet sich in dem Umschlag.
„Was … wollen Sie von mir?“, fragt Bolz vorsichtig.
„Dass Sie sich setzen und mir eine Viertelstunde ihrer wertvollen Zeit schenken.“