Tod im Gleisdreieck - Ralf Schwob - E-Book

Tod im Gleisdreieck E-Book

Ralf Schwob

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Beschreibung

Groß-Gerau in den 80ern: Die drei Außenseiter Sebastian, Klaus und Olli könnten unterschiedlicher nicht sein und sind doch seit der Grundschule miteinander befreundet. Sie treffen sich regelmäßig in einer Schrebergartenhütte im Gleisdreieck. Der perfekte Ort zum Abhängen und Feiern, aber in einer Nacht läuft dort alles aus dem Ruder und die Teenager werden in etwas verwickelt, was sie den Rest ihres Lebens prägen wird. Frankfurt 2014: Als Sebastian, mittlerweile ein erfolgreicher Geschäftsmann, schwer erkrankt und erfährt, dass er nicht mehr lange zu leben hat, möchte er sein Gewissen erleichtern und endlich nicht mehr schweigen müssen. Er lädt seine beiden Jugendfreunde nach Frankfurt ein, um reinen Tisch zu machen. Doch bei dem Treffen auf dem Main Tower brechen die alten Konflikte wieder auf. Können die damaligen Geschehnisse im Gleisdreieck für immer begraben werden?

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Ralf Schwob

Tod im Gleisdreieck

Rhein-Main-Krimi

eISBN 978-3-947612-67-3Copyright © 2020 mainbook VerlagAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Gerd FischerCovergestaltung: Olaf TischerBildrechte: © LumineImages/ shutterstock

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Das Buch

Die drei Freunde Sebastian, Klaus und Olli teilen als Jugendliche in den 80er Jahren die Lust und den Frust des Teenagerlebens. Sie lernen einen Obdachlosen kennen, der in einer alten Hütte am Bahndamm im Gerauer Gleisdreieck haust. Sie feiern oder ziehen sich dorthin zurück, wenn es bei ihnen zu Hause oder in der Schule Probleme gibt, aber in einer Nacht läuft alles aus dem Ruder, und die drei Teenager werden in etwas verwickelt, was sie den Rest ihres Lebens prägen wird.

Über 30 Jahre später treffen sie sich auf dem Frankfurter Main Tower wieder, weil einer von ihnen über das, was damals geschah, nicht mehr schweigen kann …

Der Autor

Ralf Schwob, geboren 1966 im südhessischen Groß-Gerau, Ausbildung und Berufstätigkeit als Krankenpfleger, später Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg und Studium der Germanistik. Lebt heute mit seiner Familie in Groß-Gerau und arbeitet als Buchhändler und Autor. Für seine schriftstellerische Arbeit wurde er mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Er veröffentlichte zuletzt die Regional-Krimis „Last Exit Goetheturm“ und „Holbeinsteg“ im Societäts-Verlag.

Das Vergangene ist nicht tot.Es ist nicht einmal vergangen.

William Faulkner

Junge, wir können so heiß sein.

Extrabreit

Für Volker und Sascha, die schon gehen mussten.

Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Epilog

Nachwort und Danksagung

Erstes Kapitel

Winter 2014

Stimmen unten im Hausflur. Dann das Geräusch von Sarahs Stöckelschuhen auf dem Parkett. Sebastian ließ das Foto, das er eben noch betrachtet hatte, in der obersten Schublade seines Schreibtischs verschwinden. Sarah öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer und steckte den Kopf herein.

„Kommst du?“

„Gleich.“

„Der Fahrer sagt …“

„Ich weiß.“

Sarah legte die Stirn in Falten. „Sag mal … ist alles in Ordnung?“

Sebastian lächelte gequält. „Kopfschmerzen, das ist alles …“

„Schon wieder?“

„Nein. Immer noch.“

Er spürte, wie sie einen Moment lang zögerte, dann kam sie doch ins Zimmer und legte ihm die Hände in den Nacken. Sebastian schloss die Augen.

„Du bist bestimmt nur verspannt“, sagte sie und begann, zärtlich seine Schultern zu massieren.

Verspannt, dachte Sebastian, wenn es das nur wäre. Er spürte, wie sie sich zu ihm beugte und ihn auf den Mundwinkel küsste. „Ich warte unten.“

Sebastian nickte. Als er die Augen öffnete, überfiel ihn das mittlerweile schon bekannte Schwindelgefühl derart heftig, dass er die Augen sofort wieder schließen musste. Er hörte, wie sich Sarahs Schritte draußen auf dem Flur entfernten. Ein Hauch ihres Parfums war im Zimmer zurückgeblieben und lag noch in der Luft. Er musste sich zusammenreißen.

Langsam, wie aus tiefem Schlaf erwachend, öffnete er erneut die Augen. Diesmal ging es besser. Die Kopfschmerzen waren zwar noch da, aber der Schwindel und die Übelkeit waren weg. Na also. Geht doch.

Sebastian holte das Foto wieder hervor. Es war eine verblichene Polaroid-Aufnahme aus den frühen 80er Jahren. Das Bild war mit einer der damals beliebten Sofortbildkameras gemacht worden. Drei Teenager in Jeans und Adidas-Allround-Turnschuhen, die sich die Arme um die Schultern gelegt hatten. Links Olli Baumann, in der Mitte Klaus Schreiner und rechts er selbst. Seit damals hatte er fast alle Haare eingebüßt, dafür aber etliche Kilo an Bauch und Hüfte hinzugewonnen.

Wann hatte er die beiden anderen eigentlich das letzte Mal gesehen? Er erinnerte sich an ein Klassentreffen vor etlichen Jahren. Olli war tatsächlich Berufsmusiker geworden. Er hatte ihm einen Flyer mit den Tourneedaten eines etwas abgehalfterten Sängers, in dessen Begleitband er damals spielte, gegeben, und Sebastian hatte versprochen, zu einem der Auftritte zu kommen, was er natürlich nie getan hatte. Klaus Schreiner war damals nicht zum Klassentreffen gekommen, er saß zu der Zeit gerade mal wieder im Knast.

Sebastian sah noch einmal in die blutjungen Gesichter der drei Teenager auf dem Foto. Wo und wann war das Bild eigentlich aufgenommen worden? Er hatte keine Ahnung. Im Hintergrund verschwammen Grün- und Brauntöne zu einer undefinierbaren Melange. Auf der Rückseite von Polaroid-Bildern gab es keinen Datumsaufdruck. Die drei Teenager darauf mochten 15, 16 Jahre alt sein. Konnte das sein? Sebastian wollte sich gerade die Vorderseite noch einmal genauer ansehen, als es unten klingelte. Er fuhr so heftig zusammen, dass ihm das Foto aus der Hand fiel und auf dem glatten Parkettboden unter den Schreibtisch rutschte. Er hörte Sarah zur Vordertür stöckeln, öffnen und mit dem Fahrer reden, der lamentierte, dass sie den vorgegebenen Zeitplan nicht würden einhalten können.

Sebastian sprang auf. Mit wenigen Schritten war er auf dem großzügig angelegten Umlauf, der das gesamte obere Stockwerk umgab, und schrie: „Wenn Sie auch morgen noch einen Job haben wollen, hören Sie jetzt sofort auf, meine Assistentin zu nerven und warten draußen, bis ich fertig bin. Ist das klar?“

Der Fahrer erstarrte und sah mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen zu ihm herauf.

„Ob das klar ist, will ich wissen!“

„Ja, Herr Doktor Blank, natürlich, es ist nur …“

„Verschwinden Sie!“

Der Fahrer nickte und eilte nach draußen. Sarah verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn entgeistert an. Sebastians Hände umklammerten das kühle Stahlgeländer. Die Welt vor seinen Augen drehte sich.

Später, als sie alle im Wagen saßen, tat es ihm leid. Aber er konnte sich unmöglich bei dem Mann entschuldigen. Am Anfang seiner Karriere hatte er sich ständig entschuldigt. Bei Sekretärinnen, die er Kaffee holen schickte. Bei ihm untergeordneten Mitarbeitern, denen er Arbeit mit ins Wochenende gab. Bei Kellnern, die den falschen Wein oder lauwarmes Essen serviert hatten. Es war Sarah, die ihm damals erklärt hatte, dass es ihm als Schwäche ausgelegt wurde, wenn er sich für gerechtfertigte Anweisungen und Reklamationen entschuldigte. In diesem Fall aber hatte der Fahrer nur seinen Job gemacht und er, Sebastian, war ausgerastet und hatte sich wie ein Idiot benommen. Er würde sich trotzdem nicht dafür entschuldigen, er wollte jetzt auch nicht mehr darüber nachdenken. Das Nachdenken machte seine ohnehin schon unerträglichen Kopfschmerzen nur noch schlimmer. Bevor sie aufgebrochen waren, hatte er im Bad zwei Schmerztabletten geschluckt, obwohl er nicht glaubte, dass sie ihm wirklich helfen würden. Am liebsten hätte er den Abend abgesagt und wäre zu Hause geblieben. Aber wenn er abgesagt hätte, hätte er sich Sarah erklären müssen. Und das wollte und konnte er nicht. Noch nicht.

Sie hatten das Villenviertel auf dem Lerchesberg verlassen und passierten die Sachsenhäuser Warte und den Südfriedhof. Auf der unteren Darmstädter Landstraße staute sich stadteinwärts zum Main hin der Verkehr und es ging nur im Schritttempo vorwärts. Der Fahrer fluchte leise und schlug aufs Lenkrad. Sarah tippte eine Nachricht in ihr Smartphone. Sebastian lehnte sich zurück und schloss die Augen. Für einen Moment ließ der bohrende Schmerz hinter seiner Stirn nach, kehrte dann jedoch in langsam ansteigenden Intervallen wieder zurück.

Er dachte an Olli und Klaus. Er würde Sarah morgen damit beauftragen, die Adressen seiner beiden alten Schulfreunde ausfindig zu machen, und dann … ja, was dann? Er wusste es nicht, aber dafür wusste er auf einmal wieder, wo das Foto aufgenommen worden war. Im Gleisdreieck hinter Meusels Hütte. Dort hatten sie sich oft rumgetrieben, weil man ungestört war und einem keiner in die Quere kam. Als Kinder hatten sie dort Lagerfeuer gemacht und als Jugendliche heimlich die ersten Zigaretten geraucht. Sebastian sah sich an einem windschiefen Tisch in der Schrebergartensiedlung im Gleisdreieck sitzen, über ihm die Sterne am sommerlichen Nachthimmel und vor ihm die immer noch halbvolle Flasche Schnaps. Du bist dran, sagte Klausi Schreiner mit glasigem Blick und schob ihm den Whisky rüber. Er nahm die Flasche, lehnte sich in dem alten Campingstuhl zurück, legte den Kopf in den Nacken, trank und sah die Sterne über sich tanzen. Jemand lachte kehlig. Jemand würgte. Gleich würde er nach hinten wegkippen und im Gras landen, aber bevor das geschah, fasste ihn jemand am Arm und sagte: „Wir sind da.“

„Was?“, fragte Sebastian.

„Wir sind da“, wiederholte Sarah und stieg aus.

Sebastian blieb noch einen Moment benommen im Fond des Wagens sitzen, dann folgte er ihr.

Das Weihnachtsgansessen im Ratskeller des Frankfurter Römers war jedes Jahr Anfang Dezember eine ganz besondere Veranstaltung. Nicht weil sich dort Prominente aus Politik, Sport und Showbusiness von anderen bewirten ließen, sondern weil – umgekehrt – die Prominenz kellnerte und den Obdachlosen der Stadt Gänsekeule mit Klößen und Rotkraut servierte. Nun gehörte Sebastian nicht gerade zur sichtbaren Prominenz der Stadt, war aber seit 2012, als der ehemalige Manager des FSV, Bernd Reisig, das Weihnachtsessen zum ersten Mal organisiert hatte, einer der wenigen privaten Hauptsponsoren der Veranstaltung. Und dieses Jahr sollte er neben so prominenten Persönlichkeiten wie Sonya Kraus und Sabrina Setlur ein bisschen mitkellnern. Er hatte die Anfrage mit einem freundlichen Brief ablehnen und anderweitige Verpflichtungen vorschützen wollen, aber Sarah hatte ihn überredet. Aus Imagegründen. Und nun hatte er keine Ahnung, wie er den Abend überstehen sollte.

Weihnachtslieder und Stimmengewirr, Gänsekeulenaroma und leichter Schweißgeruch. Der Ratskeller war proppenvoll. Sebastians Kopf dröhnte, sein Magen rebellierte. Gottseidank war er zum Kellnern und nicht zum Essen hier. Er hätte keinen Bissen herunterbekommen.

Unter dem historischen Netzgewölbe des Kellers saßen Männer, Frauen und sogar ein paar Kinder an den langen Tischen zwischen den Sandsteinsäulen. Einigen sah man sofort an, dass sie schon länger auf der Straße lebten: Männer mit struppigen Bärten und wettergegerbten Gesichtern, die beim Lachen Zahnlücken entblößten. Andere schienen auf den ersten Blick gar nicht hierher zu gehören, wie die Frau mit der Brosche auf der eleganten Bluse oder der Mann mit dem schwarzen Sakko über dem weißen Hemd. Wenn man aber genauer hinsah, erkannte man, dass die Festtagsgarderobe abgetragen und an vielen Stellen bereits geflickt oder fadenscheinig geworden war. Manche saßen in dicken Anoraks, Schals und Mützen am Tisch.

Sarah dirigierte ihn sanft durch die Menge, vorbei an umhereilenden Journalisten, aufgeregt plappernden Promis und den Kameras der Hessenschau. Jemand rempelte ihn grob an und entschuldigte sich nicht, sondern fauchte nur: „Vorsicht bitte!“

Dann grelles Scheinwerferlicht. Volker Bouffier sprach in ein Mikrofon, seine Mimik wie immer aufs Wesentliche reduziert, als hätte er gerade einen Schlaganfall erlitten. Im Hintergrund posierte Oberbürgermeister Feldmann gerade mit zwei vollbeladenen Tellern für die Fotografen der Frankfurter Rundschau.

Ein untersetzter Herr in Nadelstreifen stand plötzlich vor Sebastian und streckte ihm erwartungsfroh die Hand entgegen.

„Herr Dr. Blank! Schön, Sie hier zu sehen!“

Sebastian bemerkte den feinen Schweißfilm auf der geröteten Stirn seines Gegenübers. Das Doppelkinn über dem Krawattenknoten. Er schüttelte die feuchtwarme Hand des Mannes, lächelte unverbindlich und suchte den Blick seiner Assistentin.

„Entschuldigen Sie“, sagte Sarah, „aber wir müssen weiter. Wir sind spät dran.“

Der Herr nickte wissend und gab den Weg frei.

Sebastian wartete, bis sie sich ein paar Schritte entfernt hatten, dann fragte er: „Wer war das denn?“

Sarah sah ihn überrascht und ein bisschen besorgt an und nannte einen Namen, der ihm absolut nichts sagte. Trotzdem nickte er.

Vor der Essensausgabe herrschte reges Treiben, Bernd Reisig gab letzte Anweisungen. „Immer außenherum gehen beim Bedienen, sonst gibt es Chaos!“

Er begrüßte erst Sarah und dann Sebastian, band ihm eine Schürze mit dem Logo der Organisation „helfen helfen“ um und dirigierte ihn zu den vollbeladenen Tellern.

„Ach, der Herr Doktor Blank, sind wir auch schon da, ja?“, schnauzte ihn ein aufgetakelter Mann in Frauenkleidern an.

Reisig fing Sebastians irritierten Blick auf und sagte: „Gerda von der Travestiebühne in Mühlheim.“

„Ah ja, natürlich“, sagte er lächelnd, obwohl er keine Ahnung hatte, wer diese Gerda von der Travestiebühne war und woher sie seinen Namen kannte.

Sebastian nahm den ersten Teller entgegen, dann den zweiten. Er hatte das komische Gefühl, als seien seine Hände viel zu klein für die Teller oder die Teller zu groß für seine Hände. Der aufsteigende Dampf duftete nach Rotkraut und ließ seine Brille beschlagen. Trotzdem setzte er sich sogleich in Bewegung, folgte einfach dem Kellner vor ihm, von dem er nur den breiten Rücken sah. Langsam kehrte die Sicht durch die Brillengläser zurück, jemand dirigierte ihn nach rechts, seinen Vordermann nach links, immer außenherum gehen, immer außenherum, und Sebastian ging außenherum, servierte einen Teller und wünschte guten Appetit, lächelte und servierte auch den zweiten. Eine Frau im Norwegerpulli lächelte dankbar zurück, sie hatte roten Lippenstift aufgetragen und ein bisschen davon hing auch an ihren Schneidezähnen. Sebastian hielt einen Moment inne und stand sofort im Weg. Eintracht-Präsident Peter Fischer schob sich mit zwei Flaschen an ihm vorbei und füllte Gläser mit Cola und Fanta auf.

Sebastian musste sich unbedingt einen Moment ausruhen, er steuerte einen Tisch an, an dem bereits komplett serviert worden war, und lehnte sich mit dem Rücken an eine Sandsteinsäule. Stimmengewirr und Besteckklappern, Lachen, Singen, Oh du Fröhliche. Er hatte erst zwei Teller verteilt und war schon fix und fertig. Wo war Sarah? Sie musste ihn hier rausbringen. Unbedingt. Dann fiel ihm etwas auf.

Ganz am Ende des Tisches saß ein Mann tief über seinen Teller gebeugt. Er trug einen grünen Bundeswehr-Parka, seine langen schmutzig blonden Haare hatte er zu einem Zopf gebunden, damit sie ihm beim Essen nicht in die Soße fallen konnten. Der Typ war höchstens 30 Jahre alt. Es war also ganz unmöglich. Es war auch aus anderen Gründen unmöglich, aber trotzdem begann Sebastians Herz zu rasen und der Schweiß brach ihm aus. Der Mann war voll und ganz damit beschäftigt, mit einem großen Stück Knödel auf der Gabel dunkle Soße aufzusaugen.

Als Sebastian auf dem freien Platz ihm gegenüber niedersank, hob er kurz den Kopf und nickte. Die Pockennarben im Gesicht, der Dreitagebart, das schiefe Lächeln. Der Mann wandte sich wieder seiner Mahlzeit zu, ließ aber kurz darauf das Besteck sinken, weil er spürte, dass Sebastian ihn unverhohlen anstarrte.

„Na? Hast auch Hunger, was?“, fragte er freundlich.

Die weiche Stimme mit der rheinischen Sprachfärbung. Die himmelblauen Augen. Sebastian zitterte. Seine Lippen formten Worte. Der Mann runzelte die Stirn.

„Das …“, krächzte Sebastian, „das ist nicht möglich.“

Der Mann nickte erneut.

„Ganz unmöglich.“ Sebastians Stimme brach. Jemand hämmerte unsichtbare Nägel in seine Stirn. Tränen traten ihm in die Augen.

„Hömma, du …“, sagte der Mann mitfühlend, griff über den Tisch und wollte ihn am Arm berühren, aber Sebastian wich erschrocken zurück, stieß dabei seinen Stuhl um und stürzte rücklings zu Boden. Kurz vor dem Aufprall hörte er jemanden schreien, das Licht der Kronleuchter über ihm flammte noch einmal ganz hell auf, dann war alles dunkel und still.

Klaus Schreiner stand leicht verkatert an der Fußgängerampel, die über die Hanauer Landstraße runter zum Osthafen führte. Wie zum Hohn auf das bisschen Schwarzgeld, das er gestern beim Ausräumen eines Containers im Hafen verdient hatte, ragte in der Nähe der Glaspalast der EZB auf und funkelte im Morgenlicht.

Klaus zwängte die Hände in die vorderen Jeanstaschen und zog die Schultern hoch, die Wintersonne stand hell am fast wolkenlosen Himmel, aber sie wärmte nicht. Sein Kopf dröhnte von den Bieren und dem Billigschnaps, den er sich gestern Abend allein vor dem Fernseher genehmigt hatte.

Im Hof hinter dem heruntergekommenen Wohnblock in Offenbach Bieber, in dem er seit ein paar Monaten auf knappen 30 Quadratmetern hauste, hatte Afrim, ein Albaner, einen illegalen Autohandel aufgezogen. Seit Klaus ihm einmal geholfen hatte, einen Mercedes zu verchecken, konnte er dort immer auf ein Bier vorbeischauen. Problematisch war nur, dass früher oder später meistens irgendwelche Möchtegern-Gangster auftauchten und Ärger suchten, und wenn es eines gab, was Klaus Schreiner nicht gebrauchen konnte, dann war es Ärger. Also war er am Samstagabend gleich zu Hause geblieben, außerdem hatte er üble Kreuzschmerzen von der Plackerei am Containerhafen. Die Zeit hatte gehörig an seiner Konstitution genagt. Den untersetzten aber muskulösen jungen Mann, der er einmal gewesen war, konnte man zwar noch unter dem Körper des überspeckten 49-Jährigen erahnen, aber etwas Fantasie war dafür schon vonnöten. Er hatte fast keine Haare mehr auf dem Kopf, seine Bartstoppeln waren grau und die Ringe unter seinen Augen sahen aus, als hätte man sie ihm tätowiert. Klaus Schreiner sah nicht gern in den Spiegel.

Als er bei dem improvisierten Büro im Hafen ankam, saß der alte Willy zwischen zwei Containertürmen auf dem kalten Boden und drückte sich ein schmutziges Taschentuch auf die Nase. Hier unten am Wasser war es noch kälter als oben auf der Straße, vom Main wehte eine ständige Brise herüber.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte er den alten Stadtstreicher, der sich immer mal wieder für ein paar Euro und eine Flasche Schnaps am Hafen als billige Arbeitskraft verdingte. Gestern hatte er ihm geholfen, den Container auszuräumen, und Klaus hatte ein Auge zugedrückt, wenn er zwischendurch immer mal wieder ausruhen und einen Schluck aus dem Flachmann nehmen musste.

Willy hob den Kopf und blinzelte in die Sonne. „Die wollen nix bezahlen.“

Klaus schüttelte den Kopf und sah rüber zu dem Bretterbüdchen, das der Firma als Büro diente. Durch das verdreckte Fensterglas konnte er schemenhaft zwei Personen erkennen, wahrscheinlich der Chef und die Bayernsau.

„Das gibt’s doch gar nicht. Was hast du denn zu kriegen, Willy?“

Der Berber nahm das Taschentuch von der Nase, in seinem grauen Bart hingen Blut und kleine gelbe Bröckchen, über deren Herkunft Klaus nicht weiter nachdenken wollte.

„Patte für den ganzen Tag gestern! Fast 30 Euro schulden die mir!“

Klaus nickte. Das war noch nicht mal ein Drittel dessen, was man ihm fürs Umladen der Container versprochen hatte.

„Ich red mal mit dem Chef, Willy, das wird schon.“

„Hab ich auch schon, siehst ja, was dabei rausgekommen ist.“

Klaus ging auf die windschiefe Büro-Hütte zu, vor der Tür hielt er kurz inne, drinnen lachte jemand. Er betrat den Raum ohne anzuklopfen.

Der Chef saß hinter seinem Schreibtisch zurückgelehnt im Sessel, die Hände im Nacken verschränkt. Ein Mann Ende 50 mit enormem Bauch und angestrengtem Lächeln im Gesicht. Vielleicht, dachte Klaus, rührte die gestresste Grimasse daher, dass er seinen XXL-Körper immer in viel zu enge italienische Anzüge zwängte, in denen er aussah wie eine graue Presswurst.

„Ach, Kläuschen?“, sagte der Chef, als sei er aufrichtig erstaunt, ihn zu sehen.

„Was habt ihr denn mit dem armen Willy gemacht?“, fragte Klaus.

In der Ecke lief ein Elektroofen auf maximaler Stufe. Der kleine Raum war total überheizt, die stickige Luft roch scharf nach Zigarettenrauch und altem Schweiß.

„Der ist frech geworden.“ Die Bayernsau stieß sich von der Wand ab und stellte sich zwischen Klaus und den Chef.

Die Bayernsau hieß eigentlich Bodo, aber wegen seiner Vorliebe für einen gewissen Fußballverein aus dem Alpenvorland nannten ihn alle hinter seinem Rücken nur Bayernsau. Ins Gesicht gesagt hätte ihm das aber kaum jemand, Bodo war bekannt dafür, nicht lange zu fackeln. Er war fast 1,90 Meter groß und hatte früher mal semiprofessionell geboxt.

„Willy sagt, ihr wollt nicht zahlen.“

Der Chef winkte Bodo beiseite, damit er Klaus besser sehen konnte, und runzelte die Stirn. „Bezahlen? Für was denn, Kläuschen? Für was denn? Hast du einen Vertrag?“

„Ich krieg einen Hunderter von dir. Für den Container gestern. So war es abgemacht.“

Der Chef kratzte sich am Kopf. „Ein Container? Gestern? Am Samstag? Hier?“

Klaus ballte die Fäuste.

Die Bayernsau sah es und pfiff durch die Zähne. „Da wird aber einer sauer.“

„Also, Klaus, du weißt doch, ich mag dich. Wirklich. Aber samstags arbeiten wir hier doch gar nicht.“ Der Chef lächelte milde und schüttelte den Kopf.

Natürlich nicht, dachte Klaus, zumindest nicht offiziell. Und die Containerladung von gestern, die gab es offiziell auch nicht. Und ihn und den alten Willy da draußen gab es auf den offiziellen Lohnlisten des Chefs schon mal gar nicht.

„Ich lass mich nicht verarschen, ich will meine Kohle und die paar mickrigen Kröten für Willy auch.“

„Für einen, der grad wieder aus dem Knast ist, willste aber ganz schön viel.“ Die Bayernsau lehnte an der Wand und musterte Klaus abschätzig. „Und ne große Fresse haste auch.“

„Deine besten Zeiten sind schon lange vorbei, Bodo“, zischte Klaus, „leg dich nicht mit mir an.“

„Holla, holla, holla!“ Der Chef erhob sich aus seinem Sessel und hob die Arme, als bedrohe in jemand mit einer Waffe. „Wir sind doch vernünftige Menschen, oder? Da muss man doch nicht gleich mit Gewalt drohen.“

Langsam tapste er um den Schreibtisch herum und postierte sich direkt vor Klaus. Dann lächelte er jovial und fügte leise hinzu: „Schon gar nicht, wenn man noch auf Bewährung draußen ist, oder Kläuschen?“

Klaus hörte das amüsierte Grunzen der Bayernsau hinter sich und sah dem Chef in die wasserblauen Augen, unter denen riesige Tränensäcke hingen. Er hatte die Hände immer noch zu Fäusten geballt und presste die Fingerkuppen so fest in die Handinnenflächen, dass seine Nägel sich in die Haut bohrten. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Bodo ihn beobachtete und wie der Scheißkerl nur danach gierte, dass Klaus Hand an den Chef legte.

„Ich wünsch dir noch einen schönen Tag“, sagte der Chef, „genieß deinen Sonntag.“ Er deutete mit einem seiner Wurstfinger auf die Tür, ohne Klaus aus den Augen zu lassen.

Im Knast hatte Klaus an einem Antiaggressionstraining teilgenommen. Er konnte jetzt Provokationen wegstecken, sich umdrehen und weggehen, wenn ihm einer blöd kam. Er konnte sich sogar anrempeln lassen, ohne auszuflippen. Aber das hier …

„Das ist nicht fair.“

Der Chef zuckte mit den Achseln. „Nicht fair? Kläuschen, wir sind hier doch nicht beim Tennis, oder Bodo?“

Bodo grunzte erneut und Klaus durchzuckte der Impuls, sich um die eigene Achse zu drehen, den Schwung aus der Bewegung mitzunehmen und der Bayernsau einen Schwinger zu versetzen. Stattdessen öffnete er die Fäuste und schloss einen Moment die Augen. Ich will keinen Ärger.

Ich.

Will.

Keinen.

Ärger.

Als er die Augen wieder öffnete, war alles wie zuvor, nur der Impuls zuzuschlagen war verflogen.

Wortlos ging er aus dem Büro, stand draußen im blassen Wintersonnenlicht und konzentrierte sich auf seinen Atem: Er hörte den Knastpsychologen in seinem Kopf sagen, dass er, Klaus Schreiner, soeben einen großen Sieg errungen hatte, einen Sieg über sich selbst. Er hatte die Kontrolle behalten. Ja, dachte er bitter, nur dass ich davon nicht einen Cent mehr in der Tasche habe.

Er ging zu Willy rüber, der immer noch an einen Container gelehnt auf dem Boden saß und vor sich hin starrte, wenigstens seine Nase blutete nicht mehr.

Klaus zog seine Brieftasche aus der Jeans und zählte die Scheine, ein Fünfer und zwei Zehner, der Rest der Stütze für diesen Monat. Er nahm den Fünfer heraus und gab ihn Willy, der ihn ungläubig von unten herauf anschaute.

„Mensch, Klaus, Danke … bist n Guter.“

„Mach dich mal besser vom Acker hier, bevor die beiden Arschlöcher rauskommen.“

Willy rappelte sich auf die Beine, stand einen Moment leicht schwankend da und sah zum Hafenbecken rüber. Er steckte den Fünfer in die Hosentasche und trottete davon.

Als Klaus wenig später den Wohnblock in Bieber betrat, schreckte er zwei Jugendliche auf, die in einer dunklen Ecke beim Kellerabgang zusammenstanden und offenbar gerade einen Drogendeal abschlossen. Im Eingangsflur hingen statt einer Lampe nur zwei Drähte von der Decke, die Anlage mit den Klingelschildern war ramponiert und vor den Briefkästen lag ein Packen mit Gratiszeitungen, die Werbebeilage für ein Möbelhaus war über den ganzen Boden verstreut.

Klaus ging direkt zur Treppe und ignorierte die beiden Jungs. Im dritten Stock schloss er die Tür zu seiner Wohnung auf und stand einen Moment lang wie betäubt in der verbrauchten, süßlich riechenden Luft. Links das Klo und rechts die Miniküche, geradeaus das Wohnzimmer, das gleichzeitig auch Schlafzimmer war. Auf dem Boden lag eine Matratze mit zerwühltem Bettzeug, daneben ein Aschenbecher und ein uraltes Handy. Vor der gegenüberliegenden Wand stand ein Fernseher auf einer Holzkiste, in der Ecke stapelten sich ein paar Kartons mit Klamotten, Comics, CDs und einem dicken Leitz-Ordner, auf den der Sozi aus dem Knast „WICHTIG“ geschrieben hatte.

Klaus öffnete das Fenster und ließ sich auf die Matratze fallen, lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Die hereinströmende kalte Luft biss ihm ins Gesicht. In der Wohnung nebenan lief der Fernseher, ein Mann hustete erbärmlich.

Klaus öffnete die Augen und ging in die Küche. Er ignorierte das mit schmutzigem Geschirr zugestellte Spülbecken und öffnete den Kühlschrank. Eine Packung Weißbrot, ein einzelnes Ei, ein halbleeres Glas Gurken und ein Teller, auf dem etwas Wurst lag, die sich an den Rändern schon nach oben gebogen hatte. Im Gemüsefach fand er eine Dose Billigbier und nahm sie mit auf die Matratze. Durch das Fenster fiel die Morgensonne auf den abgewetzten Teppich vor seinen Füßen. Der Mann nebenan lachte, dann begann er wieder zu husten. Lachen. Husten. Lachen. Husten.

Klaus schloss das Fenster und drehte den Heizkörper im Wohnzimmer auf, warf sich wieder auf die Matratze, knackte die Dose und nahm einen großen Schluck. Immerhin war heute Sonntag. Und es gab für ihn doch sowieso nichts anderes zu tun.

Sie waren fast mit dem zweiten Set durch, als Olli von seinem Schlagzeugpodest aus sah, wie sich der Obdachlose, der schon mehrfach von den Kellnern nach draußen geschickt worden war, wieder in den vollverglasten Raum stahl und sich über die armseligen Reste am Büffet hermachte.

Vor der Bühne hatten die Herren bereits die Krawatten gelockert oder gleich ganz abgelegt und einige der Damen waren aus ihren Pumps geschlüpft und tanzten nun ohne Schuhe. Der Mitsingteil hatte begonnen. Frontmann Leo streckte die Arme aus, dirigierte und gab vor: „We don´t need no …“

Die Mittfünfziger ließen sich nicht lange bitten und brüllten: „Education!“

„We don´t need no …“

„Thought Control!“

Olli musste einfach nur die Bass-Drum durchlaufen lassen, damit alle im Rhythmus blieben, und dabei musste er nicht viel denken, das Gestampfe im Viervierteltakt machte sein rechter Fuß seit Jahren von allein. Links unter ihm lag der Parkplatz, der vom Main begrenzt wurde, auf der anderen Flussseite funkelten ein paar Lichter in der Dunkelheit. „Höll am Main“ bot mit seinem vollverglasten Terrassenteil eine optimale Location für Feiern, die gediegen beginnen und am späteren Abend ein bisschen lebendiger werden sollten. Sie hatten hier schon ein paarmal gespielt, auf Hochzeiten, Jubiläen oder wie heute anlässlich eines runden Geburtstags. Um die Ecke lag das RIND, ein alternatives Rüsselsheimer Kulturcafé, in dem Olli vor gefühlten hundert Jahren mit einer seiner ersten Bands aufgetreten war. Irgendwann kehrst du dahin zurück, wo du hergekommen bist, dachte er und dieser Gedanke hätte ihn beinahe aus dem Rhythmus gebracht.

Die Band hatte von seinem Fast-Aussetzer nichts bemerkt, das Publikum sowieso nicht, die hingen immer noch an Leos Lippen, der mit ihnen Pink Floyds Riesenhit „Another brick in the wall“ zelebrierte, dann das Zeichen zum Wiedereinsetzen gab, und damit Gitarre, Bass und schließlich auch Olli mit einem Schlag auf die Becken zurück in den Song brachte, noch zweimal der Refrain, dann Schluss.

„Leute, ihr seid der Wahnsinn! Wir machen ein Viertelstündchen Pause, dann geht‘s weiter!“ Leo verbeugte sich und erntete nochmal spärlichen Sonderapplaus, dann zerstreute sich das Publikum, sank in die Polster, ging Getränke holen oder machte sich auf den Weg nach draußen zum Rauchen.

Toni, der Bassist der Band, drehte sich zu Olli um und zog einen Flunsch: „Die sind alle noch ziemlich fit, da werden wir heute mal wieder zum letzten Mittel greifen müssen …“

Olli grinste und zuckte mit den Schultern. Der Gastgeber hatte für drei Sets und bei Bedarf auch noch für eine Zugabe bezahlt. Die Zugabe hieß meistens „Smoke on the water“ oder „Rockin all over the world”, und wenn dann noch ein, zwei Partytiere auf der Tanzfläche standen und absolut nicht begreifen wollten, dass Schluss war, griffen sie zum letzten Mittel: „Satisfaction“ von den Stones. Danach dann aber sofort „Tschüss, ihr wart toll“ und Musik vom Band. Mit Abbau und Busbeladung wurde es dann meistens zwei, halb drei, bis sie wieder auf der Autobahn waren, heute war die Heimreise ins Ried, nach Groß-Gerau und Darmstadt, zumindest nicht besonders zeitaufwendig.

Olli lebte seit einigen Jahren wieder in Groß-Gerau Dornberg in seinem Elternhaus. Seine Mutter wohnte unten und er war mit seinen Musikinstrumenten nach oben in die leerstehende Wohnung im ersten Stock gezogen. Sein altes Kinder- und Jugendzimmer am Treppenaufgang diente ihm als Unterrichtsraum. Nach seinen, wie er es selbst halb scherzhaft nannte, Lehr- und Wanderjahren, war er also als Endvierziger wieder in der verhassten heimatlichen Provinz gelandet.

Olli wusste, dass es Leute im Ort und auch in seiner eigenen Familie gab, die ihn deshalb für eine verkrachte Existenz hielten. Vor über zwanzig Jahren hatte er beschlossen, nur noch Musik zu machen, und es in den frühen 90ern sogar in die Begleitband des irischen Sängers Johnny Logan geschafft, der 1980 den Eurovision Songcontest gewonnen hatte. Er hatte am Mischpult für Mothers Finest und als Drum-Roadie für Lee Agnew von Nazareth gearbeitet. Er hatte einige Jahre als Aussteiger auf Formentera gelebt und Gitarrenbaukurse gegeben. Und heute lebte er eben wieder in seinem Elternhaus, tourte mit den „Rocking Eighties“ im Rhein-Main-Gebiet und gab als Musiklehrer bei verschiedenen Volkhochschulen Gitarren- und Schlagzeugunterricht. Olli war der hagere Typ geblieben, der er schon als Teenager gewesen war. Er trug Jeans, T-Shirt und Turnschuhe und die etwas dünner gewordenen Haare immer noch lang, das zunehmende Silbergrau in der schwarzen Mähne kam bei den Damen auf den Betriebsfesten und Jubiläen, auf denen sie regelmäßig auftraten, sogar ganz gut an.

Irgendwann kehrst du dahin zurück …

Warum musste er heute Abend immerzu an diesen dummen Spruch denken? Und warum berührte er ihn so merkwürdig? Ja, er war wieder da, wo er hergekommen war, na und?

Ein lautstarker Tumult am Büffet riss ihn aus seinen Gedanken. Der Obdachlose hielt ein halbes Baguette in der Hand und einer der Kellner war dabei, es ihm wieder abzunehmen. Der Gastgeber kam hinzu und wollte schlichten.

Am Anfang des Abends hatte sich der Mann im Außenbereich herumgetrieben und beim Sektempfang auf der offenen Terrasse Zigaretten geschnorrt. Er trug ein abgewetztes graues Sakko und schwarze Stoffhosen. Auf den ersten Blick hätte man ihn für einen etwas exzentrischen Gast halten können, aber bei näherer Betrachtung sah man die Mottenlöcher in den Hosen und die gelben Flecken auf dem zerknitterten weißen Hemd. Außerdem hatte er für alle sichtbar sein Nachtlager auf einer der Bänke am Mainufer aufgeschlagen. Als sich die Party nach drinnen verlagert hatte, weil es rasch kälter geworden war, hatte er die Reste aus den stehengelassenen Sektgläsern getrunken und war von den Kellnern zum ersten Mal vertrieben worden. Im Laufe des Abends war er aber immer wieder aufgetaucht und hatte versucht, etwas abzugreifen, und jetzt, gegen Mitternacht, ging er wohl aufs Ganze. Nicht dass noch viel zu holen gewesen wäre, dachte Olli, als er vor dem abgegrasten Büffet stand.

„Okay, okay, lassen Sie dem Mann doch das Brot!“, sagte der Gastgeber gerade.

„Es geht nicht um das Brot!“, entgegnete der Kellner gepresst, weil er immer noch mit dem Obdachlosen rang. „Was glauben Sie, was hier los ist, wenn sich herumspricht, dass die sich hier bei jeder Feier bedienen können?“

Der Gastgeber, von einem langen Party-Abend und einer nicht unerheblichen Menge Rotwein erschöpft, hob die Arme und ließ sie ratlos wieder sinken.

Olli trat zu dem Obdachlosen und berührte ihn kurz an der Schulter. Der Mann hielt inne, war für einen Moment abgelenkt und diesen Moment nutzte der Kellner und entwand ihm das mittlerweile arg zerrupfte Baguette. Als der Obdachlose merkte, was passiert war, sah er verdutzt von einem zum anderen. Mit leeren Händen stand er da und machte ein gekränktes Gesicht, als könne er nicht fassen, dass man ihn mit einem so einfachen Trick hereingelegt hatte. Er drehte sich zu Olli und wollte etwas sagen, aber Olli schüttelte nur den Kopf.

Der Obdachlose lächelte und entblößte dabei gelbe Zähne. Dann verbeugte er sich tief, als wäre er ein Schauspieler, der sich bei seinem Publikum bedankt, richtete sich anschließend wieder auf und verließ die Terrasse, ohne sich noch einmal umzudrehen.

„Was war denn das jetzt?“, fragte der Gastgeber.

Der Kellner zuckte nur mit den Achseln und warf das Brot in den Abfall.

In der Mitte des dritten und letzten Sets gab es einen akustischen Gitarrenteil und ein Keyboardsolo, rund 12 Minuten, in denen Olli am Schlagzeug nicht gebraucht wurde. Als Leo sich die Westernklampfe umhängte, verschwand er in dem schmalen Durchlass hinter der Bühne, der ihnen als Backstage-Bereich diente. Hier standen ein Sofa und ein niedriger Tisch, auf dem zwischen Zigarettenschachteln und halbvollen Bier- und Wasserflaschen auch noch die Reste der Bandverpflegung zu finden waren. Auf einem Pappteller lagen zwei belegte Brötchen, ein paar halbierte Tomaten und eine Gewürzgurke. Von der Bühne hörte er, wie Leo sich langsam in eine Ballade hineintastete, die erst, als er zu singen begann, vom Publikum erkannt und begeistert gefeiert wurde.

„Mother doesn’t know where love has gone

She says it must be youth

That keeps us feeling strong …“

Ja, die Jugend, dachte Olli, damals, als wir alle noch unsterblich waren. Und dann wieder: Irgendwann kehrst du dahin zurück …

Er spähte durch den Vorhang auf die Bühne. Leo stand mit dem Rücken zu ihm, im Publikum hatten zwei, drei Frauen Wunderkerzen in der Hand.

Als er den Weg zur Mainpromenade hinunterging, stellte er erleichtert fest, dass man die Musik bis hier herunter hören konnte. So wusste er genau, wann er sich wieder auf den Rückweg machen musste. Die Nachtluft roch nach Schnee, die Kälte erfrischte ihn und vertrieb die Müdigkeit, die ihn in der letzten Pause befallen hatte. Er kannte das schon. Wenn er die Müdigkeit der zweiten Pause übergangen hatte, stellte sich jedes Mal eine falsche Wachheit ein, in der er sich vollkommen ausgeruht und klar fühlte, in Wirklichkeit aber schon leicht neben sich stand, weshalb er es vermied, den Bus nach Hause zu fahren.

Unten am Main spendeten ein paar Laternen diffuses Licht, der Obdachlose saß in mehrere Decken gehüllt auf einer Bank und starrte auf das dunkle Wasser. Er sah aus wie ein uralter Indianer, der sich aufs Sterben vorbereitete. Neben der Bank hatte er einen Einkaufswagen mit seinen Habseligkeiten – prallvolle Plastiktüten, Decken und sogar eine Angelroute, die wie eine Antenne aus dem Gitterwagen herausragte – geparkt.

Olli setzte sich und reichte ihm wortlos den Teller. Der Mann schaute argwöhnisch unter der Decke, die er sich über den Kopf gezogen hatte, hervor und nahm den Pappteller zögernd entgegen, als erwarte er, dass Olli ihn kurz vor seinem Zugriff wieder wegziehen würde. Er steckte sich als Erstes die Gewürzgurke in den Mund. Olli hörte ihn kauen und schmatzen. Dann nahm er eines der Brötchen, biss ab und fragte während des Kauens: „Haste auch was zu trinken?“

„Jetzt werd mal nicht unverschämt.“

Der Obdachlose grunzte. „Greif mal in die Hausbar!“

„Was?“

„Na in den Wagen da. Da is ne Flasche drin.“

Olli tastete neben sich und fand zu seiner Überraschung sofort den geriffelten Plastikhals einer ramponierten Wasserflasche und reichte sie rüber.

„Danke“, brummte der Obdachlose, setzte an und nahm einen tüchtigen Schluck aus der Pulle. „Willste auch?“

Olli verneinte, bei der klaren Flüssigkeit in der Flasche konnte es sich um vieles handeln, sogar um Wasser, aber er hatte keine Lust es herauszufinden.

„Haste auch ne Kippe für mich?“

„Hab ich oben gelassen, sorry.“

„Schon gut.“

Olli hörte das Publikum oben im Restaurant klatschen und kreischen. Der Gitarrenteil war vorüber, jetzt haute Marc, der Keyboarder, in die Tasten.

„Ich muss dann mal wieder.“ Er stand auf und sah auf den Kopf des Mannes herunter, über eine kahle Stelle an dessen Hinterkopf zog sich eine Schorfspur aus getrocknetem Blut. Olli spürte, wie sein Magen sich verkrampfte.

Er war schon ein paar Schritte gegangen, als der Alte ihm hinterherrief: „Warum machsten das?“

„Einfach so“, sagte Olli, ohne sich noch einmal umzudrehen.

„Niemand macht irgendwas einfach so. Hat alles seinen Grund.“

„Ja“, sagte Olli so leise, dass nur er selbst es hören konnte. „Vielleicht.“

Fünf Minuten später saß er wieder hinter seiner Schießbude und zählte den nächsten Song an. Die Stimmung im Raum war gut. Noch eine knappe Stunde, dann hatten sie es geschafft.

So ist das also, dachte Sebastian.

Befreit vom Körper badet die Seele im Licht.

So ist das …

So …

Und Helligkeit allenthalben.

So ist das also, wenn man tot ist.

Aber irgendetwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Bloß nicht drüber nachdenken, dachte Sebastian, bloß nicht. Lieber noch ein bisschen tot sein. Konnte er sich schon mal dran gewöhnen. Durch die bodentiefen Fenster flutete Licht in den Raum. Das Erste, was er außer diesem Licht wahrnahm, war der Stuhl vor dem Bett, über dessen Lehne Sakko und Anzugshose hingen. Das zerknitterte weiße Hemd lag auf der Sitzfläche, die rotschwarz gestreifte Krawatte baumelte herab. Und auf dem Boden davor lagen, wie zwei gekenterte Boote, seine schwarzen Lackschuhe auf den Seitennähten.