Das Präsidium - Ralf Schwob - E-Book

Das Präsidium E-Book

Ralf Schwob

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Beschreibung

Drogenkurier Maik steckt in Schwierigkeiten: Sein Kumpel hat sich mit der letzten Lieferung abgesetzt und die Auftraggeber sind ihm auf den Fersen. Maik versteckt sich im leerstehenden alten Polizeipräsidium in Frankfurt und setzt alles daran, die Lieferung wiederzubekommen. Der Ex-Banker Thomas pendelt nur noch zum Schein jeden Tag ins Bankenviertel, seinen Job hat er längst verloren und auch in der Familie kriselt es. Als er durch Zufall in den Besitz einer Tasche voller Drogen kommt, scheint das die Lösung seiner Probleme zu sein. Doch wie verkauft man als unbescholtener Bürger Kokain im Wert von einer Viertelmillion Euro? Während Maik dem dealenden Ex-Banker und dessen ahnungsloser Familie Schritt für Schritt näherkommt, werden immer mehr Personen in die Drogenjagd verwickelt ...

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Ralf Schwob

Das Präsidium

Frankfurt Krimi

Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag

© 2021 Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Satz/E-Book: Julia Desch, Societäts-Verlag

Umschlaggestaltung: Julia Dorn, Societäts-Verlag

Umschlagabbildung: Karsten Ratzke, Wikimedia Commons

Printausgabe ISBN 978-3-95542-410-7

E-Book ISBN 978-3-95542-427-5

Wir brauchen Glück & Geld

Mehr Glück & Geld

Säckeweise Glück & Geld

Extrabreit

How do the angels get to sleep,

When the devil leaves the porchlight on.

Tom Waits

Für Ilka – weil du recht hast, wenn du irrst

Frankfurt am Main, März 2009

Endlich wieder AC/DC live in Deutschland. Das Konzert in der Festhalle war schon seit Monaten ausverkauft. Keine 12 Minuten hatte es gedauert, als im vergangenen Oktober die Karten in den Vorverkauf kamen, bis sie auch schon wieder weg waren.

Die Fans kamen mit der U-Bahn vom Hauptbahnhof oder sprangen aus Autos, die kurz vor der Halle hielten. Der Gewitterschriftzug der Band war überall auf dem Vorplatz zwischen dem Messeturm und den Absperrgittern der Halle zu sehen: auf Jeansjackenrücken, auf T-Shirts, auf Baseball Caps und Schals. Es war gerade mal 16 Uhr vorbei und noch taghell, aber vor der Halle hatte sich schon eine Menschentraube gebildet, im Kampf um die besten Plätze im Innenraum.

Maik hielt die beiden Tickets am ausgestreckten Arm in die Höhe und sah sich um. Ein paar Headbanger glotzten zu ihm rüber und stießen sich gegenseitig an, schienen aber nicht interessiert. Er überlegte, ob er vielleicht etwas rufen sollte, so wie es einige der anderen Schwarzmarkthändler taten. Aber eigentlich war ja klar, was er hier anbot. Man musste wohl nur ein bisschen Geduld haben.

Er ging ein paar Schritte, zeigte seine Tickets und blieb wieder stehen. Aus einer Gruppe Jeansjackenträger löste sich einer und kam auf ihn zu.

Der Typ war fast einen ganzen Kopf kleiner als Maik, hatte einen Fusselbart und trug eine Angus-Young-Kappe mit Teufelsohren.

»Was willstn dafür haben?«

»300 für beide«, sagte Maik. »Ist ’n Schnäppchen.«

»Ich brauch aber nur eine.«

»Okay, dann kostet’s aber mehr.«

»Wieviel?«

Maik tat einen Moment lang so, als würde er eine schwerwiegende Entscheidung treffen müssen, dann sagte er gönnerhaft: »170, weil du’s bist.«

Der Kleine machte ein Gesicht, als habe er auf eine Zitrone gebissen. »170 Euro? Echt jetzt?«

»Hör zu, nimm das Ticket oder lass es bleiben, aber diskutier nicht mit mir rum, okay?«

»Also, ich weiß nicht ...«

Maik zuckte mit den Achseln, sah sich demonstrativ um und hielt die Karten wieder in die Höhe.

»Ja, gut, okay«, hörte er den Kleinen hinter sich eifrig sagen, kaum dass er sich von ihm weggedreht hatte. »Ich nehm eine.«

Maik grinste. Der Kleine fingerte seine Brieftasche aus der Jeans, holte drei Fünfziger und einen Zwanziger heraus und gab sie Maik, der ihm im Gegenzug eine der Karten aushändigte.

»Die sieht aber komisch aus ...« Der Kleine musterte das Ticket argwöhnisch.

»Sind Pressekarten.«

»Echt jetzt?«

»Wenn ich’s dir sage. Wenn du Glück hast, kommste damit auch Backstage.«

Der Kleine nickte zögerlich, warf Maik noch einen kritischen Blick zu und verschwand dann in der Menge.

Wenn das mit der zweiten Karte genauso einfach lief, würde er das öfter machen. Mal hier vor der Festhalle, mal drüben in Offenbach, wenn ein Konzert in der Stadthalle ausverkauft war. Leicht verdiente Kohle ...

Leider lief es mit dem zweiten Ticket überhaupt nicht gut. Ein Typ handelte ihn auf einen Hunderter runter und hatte dann gar kein Geld dabei, und eine Tussi, die beim Reden die Kippe nicht aus dem Mund nahm, bot ihm allen Ernstes den regulären Preis abzüglich Vorverkaufsgebühr. Maik beschloss, noch eine Runde zu drehen und es dann später erneut zu versuchen, wenn der Markt ausgedünnt wäre, als plötzlich der Kleine mit dem Fusselbart wieder vor ihm stand. In seiner Begleitung war ein Ordner in gelber Signalweste sowie zwei grimmig dreinschauende Typen in schwarzen Lederjacken.

»Das ist gar keine Pressekarte, das ist eine Fälschung!«, schrie ihn der Fusselbart an, seine Stimme überschlug sich fast dabei.

Maik sah, wie der Ordner ein Funkgerät von seinem Gürtel nahm und eine Taste drückte.

»Ich will mein Geld wieder, du Arsch!«, brüllte der Kleine. Die beiden Lederjackentypen flankierten ihn mit verschränkten Armen.

»Okay, okay ... alles klar, kein Problem, Kumpel.« Maik hob beschwichtigend die Hände, dann griff er in seine Jackentasche und tat so, als suche er darin nach dem Geld.

Der Ordner drehte sich jetzt ein Stück von ihm weg und sprach in seine Handgurke, aus der Verbindungsrauschen zu hören war.

»Hab’s gleich«, sagte Maik.

Der Fusselbart presste die Lippen zusammen, aber die beiden Ledertypen entspannten sich etwas. Maik zog die geballte Faust aus der Tasche, hielt sie am angewinkelten Arm vor das Trio und spreizte den Mittelfinger ab. Dann rannte er los.

Maik rannte in Richtung Hauptbahnhof, der Verkehr auf der Ebert-Anlage war viel zu dicht, als dass er die Straße hätte überqueren können, also blieb ihm zunächst nichts anderes übrig, als einfach weiter geradeaus zu laufen. Am Kastor-Tower hatte er das Gefühl, seine Verfolger abgehängt zu haben und drehte sich kurz um. Die beiden Lederjacken waren deutlich zurückgeblieben, holten aber auf, und solange er auf offener Straße war, würden sie ihn auch nicht aus den Augen verlieren. Maik spürte schon jetzt seine Lungen brennen, lange würde er das Tempo nicht mehr durchhalten. Er konnte nur hoffen, dass die beiden Typen genauso starke Raucher waren wie er selbst. Bei dem einen schien das auch tatsächlich der Fall zu sein, denn als er sich zum zweiten Mal umdrehte, sah er nur noch einen der beiden knapp hinter sich, der allerdings schien ziemlich trainiert zu sein und holte beständig auf. Maik passierte die Matthäuskirche – kurz hinter deren Seiteneingang lag eine Hofeinfahrt, dessen Gittertor nicht ganz geschlossen war. Kurz entschlossen schlüpfte Maik hindurch und gelangte auf einen Hinterhof, in dem Unkraut zwischen aufgebrochenen Betonplatten hervorwuchs und ihm ein einstöckiger schmaler Querbau mit zugemauerten Fenstern Schutz bot.

Maik presste sich mit dem Rücken gegen die alte Mauer und lauschte auf die Schritte seines Verfolgers, aber das Einzige, was er hören konnte, war sein eigener abgehackter Atem, das Hämmern seines Pulsschlags in den Schläfen und das Rauschen seines Blutes in den Ohren. Er schloss für einen Moment die Augen, legte den Kopf in den Nacken und schnappte gierig nach Luft. Als er die Augen wieder öffnete, sah er den Turm der Matthäuskirche mit dem goldenen Kreuz obenauf, ein geradezu surrealer Anblick neben den verspiegelten Hochhausfassaden und dem alles überragenden Messeturm im Hintergrund.

Maik trat einen Schritt vor, spähte schnell um die Ecke des Mauervorsprungs und zog sich wieder zurück. Von seinem Verfolger war nichts mehr zu sehen. Offenbar hatte er Maiks Flucht in den Hof nicht bemerkt und war einfach geradeaus weiter gerannt. In der Ferne hörte er das gleichmäßige Verkehrsrauschen der Straße, ein kleiner Vogel hüpfte vor seinen Füßen über die gesplitterten Gehwegplatten und pickte hektisch in den Zwischenräumen herum.

Maiks Herzschlag und seine Atmung normalisierten sich wieder langsam. Er beschloss, noch ein bisschen weiter in den Hof zwischen den mehrstöckigen verwinkelten Gebäuden mit den vielen toten Fenstern vorzudringen. Der gelbe Fassadenanstrich war an einigen Stellen mit Graffitis beschmiert worden, hier und da bröckelte die Farbe von den Außenwänden. Maik hatte von diesem Ort gehört: Zwischen der Matthäuskirche und der Mainzer Landstraße erstreckte sich der Gebäudekomplex des alten Frankfurter Polizeipräsidiums, das seit einigen Jahren leer stand. Die Polizei war in ihr neues Hauptquartier an der Adickesallee umgezogen und seitdem vergammelte hier der alte labyrinthartige Kasten mit der historischen Fassade.

Das alte Präsidium war irgendwann in den 60er Jahren noch um einen Neubau zur Mainzer Landstraße und zur Ludwigstraße hin erweitert worden, wodurch ein zweiter Innenhof entstanden war. Hier gab es noch eine einsame Bogenlampe und eine auf zwei Betonpfeilern ruhende geschwungene Tankstellenüberdachung, unter der sich wohl einmal Zapfsäulen für die Einsatzfahrzeuge befunden hatten. Auf dem Boden des Hofs waren sogar noch die weißen Markierungsstreifen der Parkplätze zu sehen. Der vierstöckige rechtwinklig angelegte Neubau sah allerdings noch heruntergekommener aus als das alte Gebäude, der weiße Verputz blätterte großflächig von der Fassade und an einigen Stellen war Feuchtigkeit ins Mauerwerk eingedrungen.

Maik war derart vertieft in die Betrachtung des verfallenden Gebäudes, dass er den Angriff erst bemerkte, als es schon zu spät war. Er wurde gepackt und mit dem Rücken gegen die Hauswand geschleudert, der Lederjackentyp drückte ihm den Unterarm gegen den Kehlkopf.

»So, du Arsch, und jetzt rück die Kohle raus!«

Maik krächzte, er bekam kaum Luft. Sein Herz raste. Er hatte keine Ahnung, wie es der Kerl geschafft hatte, sich unbemerkt an ihn heranzuschleichen.

»Dann wollen wir doch mal sehen ...« Lederjacke nagelte ihn mit dem rechten Unterarm an die Wand und durchwühlte mit der linken Hand Maiks Taschen. Er fuhr ihm unter die Jacke, Maik spürte die Finger des Typs an seinem Bauch und seiner Brust entlangtasten, schließlich bekam er ein zerknautschtes Päckchen Camel und Maiks altes Zippo zu fassen, dann ein benutztes Taschentuch.

Lederjacke gab einen überraschten Laut von sich und ließ die Rotzfahne fallen.

»Wo hast du’s, verdammt?«

Maik röchelte. Das Geld hatte er sich in die Unterhose gesteckt. Bei dem Gedanken, dass Lederjacke als nächstes seine Wurstfinger auch da reinstecken würde, wurde ihm schlecht.

»Mach’s Maul auf!« Der Druck des Unterarms wurde etwas gelockert.

»Ich geb’s dir ja ...«, stieß Maik mühsam hervor. Er öffnete den obersten Knopf seiner Jeans und pulte das Geldbündel heraus.

Der Lederjackentyp verzog angeekelt das Gesicht, hatte jetzt aber nur noch Augen für das Geld. Genau darauf hatte Maik gewartet.

»Hey, guck mal!«

Lederjacke hob den Kopf und sah Maik an, der im selben Moment seinen Kopf nach vorn schnellen ließ. Er spürte, wie seine Stirn auf die Nase des vollkommen überraschten Kerls traf, der sofort zurücktaumelte und sich die Hände schützend vors Gesicht hielt.

Scheiße, dachte Maik, das funktioniert ja wirklich. Bisher hatte er so etwas nur in Filmen gesehen. Dann rannte er erneut los.

Eigentlich wollte er zurück zur Straße, lief aber in die falsche Richtung und gelangte so auf die andere Seite des alten Präsidiums. Sich umzudrehen traute er sich nicht, weil er dann Lederjacke in die Arme laufen würde und der war jetzt mit Sicherheit maximal angepisst.

Maik entdeckte einen Zugang zum Gebäude, der etwas versteckt in einer Ecke lag. Er hatte kaum Hoffnung, dass er die Tür würde öffnen können, warf sich aber trotzdem gegen das massive Türblatt und stolperte dann regelrecht in den kleinen Vorraum, als das Schloss sofort nachgab. Maik taumelte vornübergebeugt gegen die Wand, die seinen Fall stoppte. Vor ihm führte ein schmaler Gang ins Innere des Gebäudes. Diesmal würde er vorsichtig sein. Maik schloss die Außentür und blockierte sie notdürftig mit einem ausgeschlachteten Aktenschrank, den er aus der Ecke des Vorraums zog, dann machte er sich auf den Weg.

Er gelangte in einen im Halbdunkel liegenden langgestreckten, leicht abschüssigen Raum und holte sein Zippo aus der Jackentasche, um besser sehen zu können: Am Boden verschraubte Sitzreihen mit Holzstühlen und Tischen zogen sich bis vor eine Tafel am anderen Ende des Raums, es sah aus wie ein Klassenzimmer oder ein Hörsaal in Kleinformat. Wahrscheinlich, so dachte er, waren hier mal Polizeischüler unterrichtet worden. Jetzt lag überall auf den Tischen Staub und feuchter Putz, der von der Decke gefallen war. Auf der anderen Seite des Raums wurde es wieder heller, und er gelangte in einen Flur, an dessen Seite eine Fensterfront verlief, durch die er in einen verwahrlosten Innenhof sehen konnte. Maik setzte seine Schritte mit Bedacht, auf dem Boden lagen Scherben und Bretter, aus denen lange Nägel ragten, in einer Ecke lag ein halbaufgerolltes Knäuel Stacheldraht. Er tastete sich langsam voran, schließlich öffnete sich der Gang und mündete in den hohen Eingangssaal des alten Präsidiums.

Maik stand wie betäubt zwischen den mächtigen Marmorsäulen und Rundbögen. Eine breite Steintreppe führte auf eine Empore, von der aus dann rechts und links die langen Freitrep­pen ins Obergeschoss führten. Die massiven Geländer waren reich verziert und alles lag im fahlen Licht, das durch die fast vollständig verglaste Rückfront des Treppenhauses fiel. Die hohen Fenster mit ihren verschnörkelten Einlassungen und Intarsien wirkten auf Maik fast wie Kirchenfenster. Er wusste, dass sich nur ein paar Meter entfernt hinter seinem Rücken, hinter den mehrfach verrammelten hohen Außentüren des Gebäudes, die mehrspurige Straße der Friedrich-Ebert-Anlage befand, auf der ein ständiger, nie endender Verkehr herrschte – aber davon war hier drin nichts zu spüren. Es war, als hätte jemand einen Schalter betätigt und die Welt da draußen einfach abgeschaltet.

Zehn Jahre später

Donnerstag, 6. Juni 2019

Die S-Bahn und auch die Regionalbahn nach Frankfurt hatten Verspätung. Als Thomas Danzer an diesem Morgen am Dornberger Bahnhof ankam, konnte er schon die unruhigen Berufspendler am Gleis 4 stehen sehen.

Einen Moment lang überlegte er, wieder kehrtzumachen, aber Steffen hatte ihn schon von weitem gesehen. Er stand mit flatternder Krawatte am Geländer der Unterführung und wischte stirnrunzelnd auf seinem Handy herum.

»Notarzteinsatz am Gleis zwischen Riedstadt und Groß-Gerau«, sagte er, als Thomas die Treppe heraufkam, und malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Da hat sich mal wieder so ein armer Irrer vor den Zug geworfen und wir dürfen es ausbaden.«

Thomas zog sich das Sakko vor der Brust zusammen. Die Sonne stand schon über dem Einkaufsmarkt, der direkt unterhalb des Bahnhofs lag, aber hier oben wehte ein kühler Wind. Ein Mensch war also tot, nur dass das hier niemanden interessierte. Die Pendler an Gleis 4 fluchten über die Verspätung und bestätigten sich gegenseitig, dass auf die Bahn eben kein Verlass mehr sei. Eine junge hübsche Frau im Businesskostüm stöckelte aufgeregt den Bahnsteig auf und ab und telefonierte. Als sie an ihnen vorbeikam, zwinkerte Steffen ihr zu, und die Frau verdrehte genervt die Augen.

»Die steht auf mich, haste gesehen?«

»Klar, alle stehen auf dich, weißte doch.«

Steffen lachte und steckte sein Handy wieder ein, dann stutzte er und sah Thomas überrascht an. »Ich dachte, du arbeitest gerade von zu Hause aus?«

»Normal schon, aber wegen der Feiertage haben wir heute noch Konferenz, und der Chef mag das nicht online machen«, entgegnete Thomas achselzuckend und wunderte sich, wie mühelos ihm die Lüge über die Lippen kam.

»Ach, ich dachte, du bist jetzt der Chef?«

»Bei mir im Homeoffice vielleicht.«

»Na immerhin ...« Steffen lächelte gönnerhaft. Während Thomas sich hauptsächlich um die Kreditvergabe an Bausparer und Kleinanleger kümmerte, saß Steffen im Obergeschoss eines Frankfurter Bankenturms an der Taunusanlage und hantierte mit millionenschweren Portfolios privater Anleger.

Im Lautsprecher über dem Bahngleis knackte es. »Es hat Einfahrt die Regionalbahn nach Frankfurt ...«

Sofort kam Bewegung in die Menschen am Bahnsteig. Steffen stieß sich vom Geländer ab und Thomas folgte ihm. Sie fanden einen Platz im unteren Teil der Bahn, die sich, kaum dass sie Platz genommen hatten, in Bewegung setzte. Der Wasserturm und die alte schon halb abgerissene und entkernte Schule zogen draußen vor dem Fenster vorbei. Hier hatten sie damals ihr Abitur gemacht und manchmal an Sommerabenden mit einem Sixpack Bier draußen gesessen und sich gegenseitig Karrieren angedichtet. Thomas schloss die Augen. Steffen Kleinschmidt wurde von allen früher nur der »kleine Schmidt« genannt, was ein ziemlich müder Witz war, denn mit etwas über einem Meter achtzig war er eigentlich nicht besonders klein. Er hatte auch keinen größeren Bruder oder so, den man den »großen Schmidt« genannt hätte. Irgendwer hatte irgendwann halt mal »kleiner Schmidt« statt »Kleinschmidt« zu ihm gesagt und das war dann hängengeblieben. Er selbst wurde damals einfach nur Tommy oder mal ›der Danzer‹ genannt.

Thomas öffnete die Augen und sah, dass Steffen schon wieder auf sein Handy starrte. Ihm war es recht, er hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Normalerweise wären sie sich ja auch gar nicht begegnet. Dass sich ausgerechnet heute jemand vor den Zug wirft, damit konnte ja keiner rechnen – obwohl, eigentlich musste man doch immer damit rechnen. Auf einmal wunderte er sich darüber, dass so etwas nicht viel häufiger vorkam. Wie viele Menschen im Jahr das wohl versuchten? Und dabei erfolgreich waren? Ein Impuls durchfuhr ihn, sein Handy herauszuholen und es zu googeln, aber dann rief er sich zur Ordnung, das führte doch zu nichts.

»Und? Schon was vor über Pfingsten?«, fragte Steffen ohne vom Display seines Handys aufzusehen.

Thomas schüttelte den Kopf. »Am Sonntag holen wir meinen Vater aus dem Heim zum Mittagessen, ansonsten ist, soviel ich weiß, eigentlich nichts weiter ...«

»Verstehe schon«, grinste Steffen, »Petra legt die Musik auf, zu der getanzt wird.«

»Wenn du meinst ...«

»Ach komm schon! Ich weiß doch, wie das ist.« Steffen steckte das Handy in die Innentasche seins Jacketts und gähnte. »Meinst du, das ist bei mir anders? Tati hat zu Hause die Hosen an.« Er machte eine Kunstpause, dann fügte er süffisant hinzu: »Naja, manchmal auch nicht, da hat sie gar nichts an ...«

Thomas machte ein säuerliches Gesicht und sagte nichts. Steffen war eigentlich ganz in Ordnung, neigte aber zu schlüpfrigen Bemerkungen, die niemand hören wollte. Nach dem Abitur hatten sich damals ihre Wege getrennt. Steffen hatte BWL studiert, war weggezogen und erst jetzt über 20 Jahre später wieder nach Groß-Gerau zurückgekommen. Thomas hingegen hatte am Ort eine Ausbildung zum Bankkaufmann gemacht, später geheiratet, eine Familie gegründet und war vor ein paar Jahren zu einer Frankfurter Bank in die Kreditabteilung gewechselt. Ein letzter kleiner Karrieresprung, dachte er und merkte, wie sein Magen dabei rebellierte.

»Dem Junior geht’s gut?« Steffen schien jetzt richtig in Plauderlaune zu sein. Der Zug hielt in Mörfelden, wo sich noch mehr gestrandete Pendler in die Abteile quetschten.

»Ja«, sagte Thomas, »arbeitet fleißig an seinem Abitur.«

Steffen nickte und kam nicht mehr auf das Thema zurück, was Thomas nur recht war. Benny und seine Aktivitäten schlugen ihm genauso auf den Magen wie der Gedanke an die Bank. Es gab momentan allgemein wenig, was ihm keine Magenschmerzen bereitete.

In Walldorf wurden die Wartenden am Bahnsteig aufgefordert zurückzubleiben und nicht einzusteigen. Mittlerweile pressten sich die Leute wie die Heringe in der Dose im engen Gang aneinander. Es roch herb-süßlich nach verschiedenen Aftershaves und Parfüms und ein bisschen nach Schweiß. Thomas atmete möglichst flach, um nicht auf der Stelle in den Wagen zu kotzen, das hätte jetzt gerade noch gefehlt.

Als der Zug schließlich über den Main fuhr und die Frankfurter Skyline in Sicht kam, beugte sich Steffen um den Mann, der sich in der Sitzreihe einfach zwischen sie gestellt hatte, herum und sagte: »Samstagabend? Grillen? Bei uns?«

»Ich weiß nicht, da muss ich erst ...«

»Du musst gar nichts, ich habe Tati vorhin eine Nachricht geschickt, die klärt das schon mit Petra.«

Thomas holte Luft, um etwas zu sagen, aber dann ließ er sich in den Sitz zurückfallen und sagte nichts. Der Mann zwischen ihnen hielt sich am Gepäckfach über ihnen fest und machte ein teilnahmsloses Gesicht. Kurz bevor der Zug in den Bahnhof einfuhr, hörte er Steffens Handy klimpern.

»Petra hat schon zugesagt, sie freut sich und macht einen Salat. Ich grille und sorge fürs Bier. Du musst dich mal wieder um nichts kümmern, du Glückspilz.«

Sie standen auf und wurden zusammen mit den anderen auf den Bahnsteig gespült. Thomas bekam vor Wut immer noch keinen Ton heraus, aber wenigstens bekam er hier draußen wieder besser Luft. Die Übelkeit ließ etwas nach, nur das Kotzgefühl wollte einfach nicht verschwinden. In der S-Bahn zur Taunusanlage überlegte er, wie er Steffen loswerden konnte, aber ihm fiel nichts ein.

Als sie sich wenig später dem Garden Tower in der Neuen Mainzer Straße näherten, verlangsamte Thomas seine Schritte und hoffte, dass Steffen ihn überholen würde, aber der dachte gar nicht daran.

»Also dann«, sagte Thomas, »bis morgen.« Er steuerte auf die Glasschiebetüren zu und blieb dann stehen.

»Ja, super, bis dann!« Steffen winkte und entfernte sich ein Stück, da klingelte sein Handy.

Anstatt telefonierend weiterzugehen, blieb er stehen und sah beim Sprechen lächelnd in Thomas’ Richtung, der sich nicht von der Stelle rührte. Durch die verglaste Schiebetür konnte er sehen, wer am Empfang Dienst hatte. Ausgerechnet die Hingst, Beate Hingst, die elegante, korrekte und immer freundliche Frau Hingst, die jeden Mitarbeiter des Hauses mit Vor- und Zunamen kannte und genau wusste, wer wo hingehörte.

Thomas zögerte. Steffen telefonierte immer noch, sah zu ihm rüber, winkte. Thomas hob kurz die Hand. Er musste jetzt da rein, wenn er kein Misstrauen erregen wollte.

Die Schiebetür glitt zur Seite. Er betrat den klimatisierten Eingangsbereich und sah, wie die Hingst sich mit einem Lächeln hinter dem Empfangstresen erhob, aber mit einer Hand unter die Holzverschalung griff, wo sich die Alarmknöpfe befanden.

»Bitte«, flüsterte er der Frau zu, »ich bin gleich wieder weg.«

Beate Hingst hob die Augenbrauen. »Wenn Sie Ärger machen wollen, Herr Danzer ...«

Thomas schüttelte heftig den Kopf. »Keinen Ärger, nein, wirklich nicht, geben Sie mir bitte nur eine Minute ...«

Er sah gehetzt über seine Schulter durch die Verglasung nach draußen. Steffen stand immer noch ein paar Meter vom Eingang entfernt und telefonierte. Er hatte eine Hand in der Tasche, mit der anderen hielte er sich das Handy ans Ohr. Thomas wandte sich wieder an die Hingst, die sich etwas entspannte, den Finger aber nicht vom Notruf nahm. Sie trug ein marineblaues Kleid und eine Perlenkette. Thomas konnte das abgetönte Make-up auf ihrer Gesichtshaut sehen und den akkurat aufgetragenen blassroten Lippenstift.

»Frau Hingst, es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, bitte, Sie kennen mich doch.«

»Ich muss Sie jetzt trotzdem auffordern zu gehen, Herr Danzer.«

»Natürlich, natürlich ...«, entgegnete er und nickte heftig, blieb aber stehen. Sein Blick wanderte zu der Seitentür, hinter der immer jemand von der Security in Bereitschaft war.

»Sofort«, stieß die Hingst gepresst hervor.

Thomas machte kehrt. Die Schiebtür glitt zur Seite und er trat mit angehaltenem Atem auf den Vorplatz und sah sich um. Steffen war nicht mehr da.

Er schaffte es bis zur Taunusanlage, dort übergab er sich hinter eine Parkbank. Danach ging es ihm besser. Er lockerte seine Krawatte, nahm sie dann ganz ab und stopfte sie in seine Ledertasche. Er öffnete die oberen Hemdknöpfe, ließ sich auf der Bank nieder und schloss die Augen. Die Sonne hatte schon deutlich an Stärke gewonnen und wärmte sein Gesicht. Er hörte die gleichmäßigen, federnden Schritte eines Joggers vorbeitraben. Jemand rief nach einem Hund. Ein anderer lachte. Das Geräusch eines Skateboards, das vom Boden abhob und kurz darauf wieder krachend aufsetzte.

Warum hatte er zur Bewältigung seiner Midlife-Crisis nicht eine der klassischen Methoden gewählt wie andere Männer auch? Er hätte sich einen Sportwagen leasen, für den Frankfurt-Marathon trainieren oder sich in eine peinliche Affäre stürzen können – stattdessen hatte er sein Gewissen entdeckt.

***

Zorans Arglosigkeit war wie immer beeindruckend. Er plapperte, scherzte und spielte Maik seine neuen Lieblingssongs auf dem Smartphone vor, als wären sie tatsächlich nur zwei alte Freunde auf dem Weg in ein verlängertes Pfingstwochenende. Das Kokain im Wert von einer guten Viertelmillion Euro im Kofferraum schien ihn nicht im Geringsten zu beunruhigen. Zoran war ein schlichtes Gemüt und manchmal glaubte Maik, dass sein alter Kumpel einfach zu doof war, um Angst zu haben.

Er selbst hingegen war jedes Mal vor allem am Anfang ziemlich nervös. Bei jeder Wagenübernahme sah er sich hektisch um, fest davon überzeugt, dass jeden Moment schwerbewaffnete Polizisten brüllend aus den Büschen springen und sie alle hochnehmen würden. Zorans flache Witzchen, seine Bums-Geschichten und Angebereien brachten Maik aber immer wieder runter. Andere hätte Zoran damit wahrscheinlich genervt und aggressiv gemacht, aber auf ihn hatte er einfach eine beruhigende Wirkung, und das allein rechtfertigte schon, ihn dabeizuhaben.

Sie waren seit knapp zwei Stunden unterwegs. Auf der Autobahn herrschte streckenweise bereits dichter Verkehr, obwohl erst Donnerstag war. Offenbar konnten es sich einige Leute leisten, sehr frühzeitig ins lange Wochenende aufzubrechen. Eine halbe Stunde vor dem Fahrerwechsel nickte Zoran mit dem Kopf am Seitenfenster ein und sabberte die Scheibe voll. Kurz vor dem Rastplatz Lorsch Ost weckte Maik seinen Freund, der auf einmal ungewöhnlich schweigsam war und nur noch verbissen durch die Windschutzscheibe starrte.

Maik nahm die Abfahrt, die zum Rasthof führte, ein überladenes Wohnmobil mit niederländischem Kennzeichen tuckerte behäbig vor ihnen her auf den Parkplatz.

Sie stellten den Wagen in Sichtweite der Tankstelle und des Schnellrestaurants ab, stiegen aus und streckten sich. Zoran klopfte eine Zigarette aus seinem Päckchen, steckte sie sich zwischen die Lippen, zündete sie aber nicht an, sondern blinzelte in die Sonne, als warte er auf eine geheime Botschaft aus dem All. Er trug Jeans und ein braunes Polohemd, an den Füßen nigelnagelneue Nike-Sneakers. Leger, aber gepflegt, so erregte man am wenigsten Aufsehen. Maik hatte sich für beige Chinos und ein schwarzes Kurzarmhemd entschieden. Er sah mit gerunzelter Stirn zu seinem Kumpel rüber, der immer noch mit der Zigarette im Mund dastand und über irgendetwas nachzudenken schien.

»Hey, alles klar?«

Zoran reagierte erst nicht, dann drehte er sich langsam in Maiks Richtung. »Hm? Haste was gesagt?«

»Ich hab dich gefragt, ob alles klar ist?«

»Ja, schon, alles klar. Ich mach mir halt nur auch so meine Gedanken, weißt du ...«

»Ach ja? Und über was machst du dir so ... Gedanken?«

Zoran hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Die Sache gefiel Maik nicht. Wenn einer wie Zoran anfing, sich Gedanken zu machen, konnte das nur in die Hose gehen. Er ging einen Schritt auf seinen alten Kumpel zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter, zog sein Zippo aus der Hosentasche und gab ihm Feuer.

»Hör mal, wenn es da was gibt, das ich wissen sollte, dann raus damit, und zwar gleich.«

Zoran sah ihn einen Moment lang mit einem Blick an, den Maik nicht zu deuten wusste, dann zog er an der Zigarette, stieß den Rauch durch Mund und Nase und schüttelte den Kopf.

»Ich geh uns da drüben mal zwei Kaffee holen«, sagte Maik und deutete mit dem Kinn zur Raststätte hinüber. »Tankst du schon mal den Wagen?«

Zoran nickte und nahm die Autoschlüssel entgegen. Auf halbem Weg drehte Maik sich ein weiteres Mal um und sah, dass sein Kumpel die halbgerauchte Zigarette ausgetreten und sich schon hinters Steuer gesetzt hatte.

Obwohl der Parkplatz vor dem Rasthof fast leer war, herrschte im Selbstbedienungsbereich Hochbetrieb. Familien mit quengelnden Kindern und Rentnerpaare, die umständlich ihr Geld abzählten, bevor sie etwas aus der Theke nahmen, belagerten den kleinen Verkaufsraum. Maik fragte sich, woher auf einmal all die Leute kamen, dann sah er durch die Vollverglasung zwei Fernbusse hinter der Raststätte stehen. Einen Moment lang dachte er daran, auf den Kaffee zu verzichten, aber dann stellte er sich doch an. Sie waren gut in der Zeit, alles lief wie am Schnürchen.

Als er eine knappe Viertelstunde später mit zwei Pappbechern in den Händen die Raststätte verließ, hatte Zoran schon getankt, der Wagen stand jedenfalls nicht mehr bei den Zapfsäulen. Maik sah zu den Parkbuchten hinüber, aber auch dort konnte er den BMW nicht entdecken. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und sah sich um. Nichts. Wenn das einer von Zorans Späßen sein sollte, so konnte er nicht darüber lachen. Mit großen Schritten überquerte er die Zufahrt. Die schrägen Parkstreifen waren leer bis auf einen VW Passat mit Fahrrädern auf dem Dach und einen alten Golf. Auch die Stelle, an der sie vorhin geparkt hatten, war verwaist. Auf dem Grünstreifen, bei den etwas zurückgesetzten Picknicktischen aus Waschbeton stand eine grüne Mülltonne, über der die Mücken kreisten.

Maik stellte die Kaffeebecher auf dem Deckel ab und ging in die Knie, um den schwarzen Rucksack zu inspizieren, der an der Tonne lehnte. Es war sein Rucksack, den er bei jeder Fahrt dabeihatte. Ein gelbes Post-it-Zettelchen klebte daran.

Tut mir leid, Kumpel stand in Zorans krakeliger Grundschülerschrift auf dem Zettel.

Es dauerte eine Weile, bis Maik kapierte, was passiert war. Dass Zoran mit dem Koks abgehauen war und ihn zurückgelassen hatte. Dass er das schon die ganze Zeit geplant haben musste. Dass er ihn in die Scheiße geritten hatte, um einmal im Leben selbst so richtig abzusahnen. Was das bedeutete, war ihm hingegen sofort klar: Er war so gut wie tot.

Obwohl es keinen Grund gab, Zoran zu schützen, zögerte Maik dennoch, die Nummer zu wählen, die für Notfälle reserviert war. Er holte das Prepaidhandy aus der Hosentasche, sah es einen Moment lang an, dann steckte er es wieder ein und zündete sich stattdessen eine Zigarette an. Für einen Moment hoffte er, dass alles doch nur ein schlechter Witz war und Zoran jeden Moment mit quietschenden Reifen um die Ecke gefahren kam und ihn auslachte: »Was glotzt du so? Schiss gehabt, was?«

Maik sah sich noch einmal um. An der Tankstelle fuhr ein Mercedes vor, ein Typ im grauen Anzug, dessen Bauch über den Hosenbund quoll, stieg aus und tankte. Auf dem eingezäunten Spielplatz vor der Raststätte standen zwei Frauen in Jeans und Sneakers und unterhielten sich, während ihre Kinder auf den im Boden verschraubten Wackelgeräten herumturnten. Einer der Busfahrer lehnte am verglasten Eingangsbereich des Restaurants und las Nachrichten auf seinem Handy. Keine Spur von Zoran und dem BMW.

Maik ging rauchend vor der Mülltonne auf und ab. Als er die zwei vor sich hin dampfenden Kaffeebecher sah, holte er aus und schlug sie vom Deckel herunter, einer fiel unspektakulär ins Gras, aber der andere Becher flog ein Stück durch die Luft, schlug dann auf dem Picknicktisch auf und verspritzte seinen Inhalt über der Platte. Ein alter Mann in beiger Popeline-Jacke und Gesundheitsschuhen, der gerade dabei war, umständlich aus einem Opel Zafira zu steigen, sah entsetzt zu ihm herüber.

Maik holte erneut das Prepaidhandy hervor und tippte die entsprechende Kurzwahltaste. Er berichtete kurz, was passiert war, und legte auf, bevor der Mann am anderen Ende der Leitung etwas sagen konnte, dann machte er sich mit geschultertem Rucksack auf den Weg zum LKW-Parkplatz. Der alte Mann hatte sich wieder in sein Auto zurückgezogen, umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad und verfolgte Maiks Abgang mit ängstlichem Blick durch die Windschutzscheibe.

Er hatte gerade einen Trucker gefunden, der bereit war, ihn bis Frankfurt mitzunehmen, da klingelte das Handy. Maik drückte den Anruf weg und schaltete das Gerät aus.

***

Thomas Danzer nahm die spätere S-Bahn, um auf der Heimfahrt nicht schon wieder Steffen in die Arme zu laufen. Er ärgerte sich immer noch über die Einladung zum Grillen. Steffen und Tatjana hatten mit Petra doch schon alles entschieden, bevor man ihn überhaupt gefragt hatte. Seit geraumer Zeit hatte er den Eindruck, von allen nur noch vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Und ihm fehlte die Kraft, sich dagegen zu wehren, weil er jeden Tag damit beschäftigt war, eine Scheinwelt aufrechtzuerhalten, in der er nach wie vor einen Arbeitsplatz hatte und Geld verdiente. Heute Morgen mit Steffen, das war verdammt knapp gewesen. Dabei würde sein Versteckspiel in den nächsten Wochen ohnehin auffliegen, wenn sein Gehalt ausblieb und die Schadensersatzforderungen eintrudeln würden. Bis dahin, so hatte er sich eingeredet, würde ihm schon etwas einfallen, aber mit jedem Tag, der verging, wurde ihm klarer, dass das wohl Wunschdenken war.

Die S-Bahn setzte sich in Bewegung und verließ den Hauptbahnhof. Thomas fiel der Selbstmörder wieder ein, der sich am Morgen vor die Regionalbahn geworfen hatte. Dieser Ausweg stünde ihm ja immer und jederzeit offen, dachte er und erschrak, wie sehr ihn dieser Gedanke beruhigte.

Am Bahnhof in Groß-Gerau Dornberg stieg er aus und lief durch das Gewerbegebiet nach Hause. Die Häuser am Ortsausgang waren durch eine hohe Hecke von der Gernsheimer Straße, die hier nahtlos in die B44 überging, abgetrennt. Gegenüber lag die Fasanerie und hinter den Häusern floss der Landgraben.

Thomas betrat den kühlen Hausflur und ließ Sakko und Tasche an der Garderobe zurück. In der Küche nahm er sich ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete es und trank an die Spüle gelehnt zwei große Schlucke direkt aus der Dose. Auf dem leeren, blankpolierten Küchentisch lag ein Zettel: Bin zum Yoga und danach noch was trinken mit den Mädels. Warte nicht auf mich.

Thomas nahm noch einen Schluck Bier. Sie warteten schon lange nicht mehr aufeinander, es gab dafür keinen Grund.

Sie hatten das Haus, sein Elternhaus, damals nach ihren Wünschen umgebaut. Nachdem seine Mutter gestorben und sein Vater ins Altenheim gezogen war, hätte er den alten Kasten am liebsten verkauft, aber Petra hatte ihn überredet, in die Immobilie zu investieren, eine neue Heizanlage ein- und den Keller auszubauen. Das Haus bekam ein neues Dach und die Fassade wurde frisch angelegt, nach hinten zum Landgraben hin wurden bodentiefe Fenster eingesetzt und eine neue Terrasse aufgeschüttet. Die Innenräume wurden verbreitert, Zwischenwände eingerissen, eine neue Küche installiert. Und als alles fertig war ...

Thomas trank die Dose mit mehreren großen Schlucken leer, er hatte gar nicht bemerkt, wie durstig er zuvor gewesen war. Er überlegte, sich mit einem zweiten Bier auf die Terrasse ins Abendlicht zu setzen, wollte sich aber zuerst noch umziehen. Er stieg die Treppe hinauf und zog oben im Schlafzimmer die Anzugshose und das verschwitzte Hemd aus, schlüpfte in Shorts und T-Shirt und ging barfuß zurück in den Flur. Vor der Tür seines Sohnes zögerte er, klopfte dann aber doch. Als sich Benny auch nach dem zweiten Klopfen nicht meldete, öffnete Thomas vorsichtig die Tür und spähte ins Zimmer.

Durch die breiten Panoramafenster im ersten Stock konnte man die Bäume sehen, in denen jedes Jahr Störche ihre Nester bauten und auf den umliegenden Feldern und am Landgraben auf Nahrungssuche gingen – nicht, dass Benny sich dafür interessiert hätte, er saß lieber, so wie jetzt, bei heruntergelassenen Jalousien vor seinem PC und sah sich Videos von leerstehenden Fabriken und Lagerhallen an. Thomas stand in der offenen Tür und sah den gekrümmten Rücken seines Sohnes. Über den Bildschirm flimmerten verwackelte, dunkle Aufnahmen. Er klopfte erneut ans Türblatt, aber auch jetzt reagierte Benny nicht, erst da fielen ihm die Kopfhörer-Stöpsel in seinen Ohren auf. Natürlich.

Thomas stand noch eine Weile so da, beobachtete seinen Sohn und dachte daran, wie er ihn vor zwei Wochen nachts auf der Polizeiwache abgeholt hatte und wie sie schweigend nach Hause gefahren waren. Er wusste, dass er in dieser Nacht noch mit ihm hätte reden müssen, aber Benny schwieg und er fand mal wieder nicht die richtigen Worte, Vaterworte, also schwieg er auch.

Das Reden hatte Petra am nächsten Tag übernommen und sie hatte Benny auch dazu gebracht, die Namen der anderen Jungs zu nennen, die dabei gewesen waren. Sie war mit ihm zur Polizei gefahren, wo ihr Sohn seine Aussage ergänzte. Als sie wieder nach Hause kamen, verschwand Benny sofort auf sein Zimmer. Als Thomas fragte, wie es gelaufen sei, sah Petra ihn mit ihrem ›Das-wäre-dein-Job-gewesen-Blick‹ an und schüttelte nur den Kopf.

Vielleicht, dachte Thomas jetzt, wäre heute ja ein guter Abend, um endlich mal mit Benny zu reden, aber dann schloss er doch nur leise die Tür und ging wieder nach unten.

Nach der dritten Dose Bier war es draußen immer noch nicht ganz dunkel. Thomas saß, die Beine von sich gestreckt, auf der Terrasse und spürte die Restwärme des Tages in den Steinplatten unter seinen nackten Fußsohlen. Es gab Momente, in denen er tatsächlich vergaß, dass er nicht nur arbeitslos und verschuldet war, sondern sich wahrscheinlich auch bald vor Gericht würde verantworten müssen. »Rechtliche Schritte behalten wir uns natürlich vor«, hatte sein Chef gesagt. Er war um den Schreibtisch herumgekommen, hatte Thomas in die Augen gesehen und den Kopf geschüttelt: »Mein Gott, Danzer, was haben Sie sich nur dabei gedacht?«

Ja, was hatte er sich dabei gedacht? Vielleicht, dass er wenigstens einmal im Leben das Richtige tun wollte. Er hatte jemandem, der unverschuldet in Not geraten war, geholfen, das war alles.