Holbeinsteg - Ralf Schwob - E-Book

Holbeinsteg E-Book

Ralf Schwob

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Beschreibung

Ein Mädchen verschwindet spurlos und niemanden scheint es zu interessieren. Die neue Mitarbeiterin einer dubiosen Arbeitsvermittlung stellt als einzige Nachforschungen an und kommt dabei einem Mann in die Quere, der seine illegalen Geschäfte am Frankfurter Holbeinsteg abwickelt. Je näher die junge Frau der Wahrheit kommt, desto mehr Unschuldige werden in die verwickelte Geschichte hineingezogen – so auch der von Panikattacken geplagte ehemalige Lehrer Ingo Bäumler und dessen alter Nachbar. Der allerdings hat selbst eine undurchsichtige Vergangenheit und immer eine geladene Pistole griffbereit. Schließlich kreuzen sich die Wege aller Beteiligten in einem heruntergekommenen Haus am Landwehrweg, aber nicht alle werden dieses Haus lebend wieder verlassen.

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Ralf Schwob
Holbeinsteg
Frankfurt-Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2017 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlagabbildung: © ina.mija / photocase.de
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-282-0
Die menschliche Entwicklung bietet zwei Möglichkeiten, die der Liebe und die der Macht.Arno Gruen
If there’s one thing you can say about mankind, there’s nothing kind about man.Tom Waits
Für Ilka (We’re one but we’re not the same…)

1

Du hast nicht geglaubt, dass er wirklich kommen würde. Aber er hat dich abgeholt. An einem Sonntag. In seinem Auto. Die anderen Männer haben gegrinst und Gesten gemacht. Aber er hat sie gar nicht beachtet. Er trug Jeans und ein weißes Hemd und war glatt rasiert. In seinem Auto roch es nach Holz und Leder. Du hattest dich schön gemacht. Ein enges Top. Ein kurzer Rock. Hohe Schuhe. Parfum. Männer mögen das. Er auch. Gesagt hat er nichts, aber dir im Auto immerzu auf die Beine geschaut. Männer machen das. Das ist so. Wahrscheinlich überall auf der Welt. Du hast damit gerechnet, dass er dich anfassen will. Du bist schließlich nicht naiv. Aber der Mann hat dich nur angesehen. Und dabei gelächelt. Er hat gefragt, ob du Kaffee trinken möchtest, und du hast ja gesagt. Aber das Café am Marktplatz war geschlossen. Wegen Geschäftsaufgabe. Die Tische und Stühle auf dem Platz waren zusammengekettet und glänzten in der Sonne. Die Luft roch nach Frühling. Der Himmel war blau. Du wärest gern mit dem Mann in einem Cabrio gefahren. Du hattest eine Sonnenbrille dabei. Ein Kopftuch auch. Aber du hättest deine Haare auch im Fahrtwind wehen lassen, wenn der Mann das gewollt hätte. Doch der Mann hätte viel lieber mit dir in diesem Café gesessen. Er war ganz unglücklich und verärgert deshalb, und da hast du gelächelt und gesagt: Es ist nicht schlimm. Aber der Mann hat gesagt: Doch, es ist schlimm. In seinem Gesicht war jetzt kein Ärger mehr. Da war etwas anderes, und du hattest auf einmal Angst. Dann hat er gelacht und gesagt, es sei nur Spaß. An der Tankstelle hat er zwei Becher Kaffee mit Milch und Zucker gekauft. Er hat gesagt, ganz in der Nähe gäbe es einen Park und einen See. Ob du in den Park oder an den See wolltest? Du hast auf deine Absatzschuhe gezeigt und gelacht, und da hat er auch gelacht und gesagt: Das sind sehr schöne Schuhe. Ihr habt den Kaffee in seinem Auto getrunken. Auf einem Parkplatz gleich bei der Tankstelle. Im Radio lief ein Lied, das du kanntest. Du hast die Melodie mitgesummt. Der Mann hat dich gefragt, ob du Musik magst und ob du dir ein besseres Leben wünschst, und dabei auf deine Brüste geschaut. Du hast genickt und gesagt, dass du dir ein besseres Leben wünschst. Der Mann hat auch genickt und einen kleinen Schluck Kaffee getrunken. Du hast auf irgend­etwas gewartet. Dass er seine Hand auf dein Knie legt vielleicht. Oder, dass er sich zu dir herüberbeugt. Aber der Mann hat nur geredet. Ohne dich dabei anzuschauen. Er hat gesagt, dass man für ein besseres Leben manchmal Opfer bringen müsse. Ob du bereit seiest, Opfer zu bringen? Du hast nicht verstanden, was das heißen soll: Opfer bringen. Da hat er es dir erklärt, ganz ausführlich und geduldig, und dich dann nochmal gefragt. Und du hast einen Moment darüber nachgedacht und dann gesagt, dass du bereit seiest, Opfer zu bringen, wenn er dir dabei hilft. Da hat er gelächelt und sich endlich zu dir herübergebeugt und dir einen Kuss gegeben. Einen ganz leichten Kuss auf die Wange.
* * *
Larissa Winterkorn erwachte, als der Wagen durch ein Schlagloch fuhr. Sie sah den Rücken des Fahrers und hörte, wie der Mann leise fluchte. Sie wusste nicht, wie er hieß, weil sie aufgehört hatte, die Fahrer nach ihren Namen zu fragen. Es schien ihnen unangenehm zu sein. Manchmal standen sie rauchend auf dem Hof, wenn Philipp und sie im Haus mit den Frauen redeten.
Beim nächsten Schlagloch erwachte auch Philipp, rieb sich die Augen und sah Larissa verwirrt an. Er trug einen beigefarbenen Anzug über dem weißen Hemd, die beiden oberen Knöpfe waren geöffnet und die Krawatte hing ihm lose um den Hals.
„Sind wir schon da?“ Seine Stimme war nur ein heiseres Krächzen. Er räusperte sich und fragte erneut: „Sind wir schon da?“
Sie schüttelte den Kopf. Der Fahrer hielt eine Hand hoch und zeigte ihnen seine fünf ausgestreckten Finger.
„Was heißt das jetzt?“
„Keine Ahnung.“ Larissa hob die Schultern. „Fünf Minuten?“
„Frag ihn.“
Sie beugte sich nach vorne und berührte den Fahrer leicht an der Schulter. Als er daraufhin kurz den Kopf in ihre Richtung drehte, konnte sie seinen Zigarettenatem riechen. Sie musste gar nicht fragen, der Mann begann sofort, sich zu rechtfertigen.
Larissa ließ sich wieder auf den Rücksitz des Kleintransporters fallen. Philipp sah sie gespannt an.
„Und? Was hat er gesagt?“
„Er sagt, es sei nicht mehr weit. Ich glaube, er hat sich verfahren.“
„Scheiße.“
Ja, dachte Larissa, Scheiße. So konnte man das auch nennen. Sie war 25 Jahre alt und hatte vor einem Jahr ihre Magister­arbeit in Slawistik geschrieben, alle Prüfungen mit Auszeichnung bestanden und sich schon auf dem besten Weg gesehen, eine der begehrten Doktoranden-Stellen zu ergattern. Reine Formsache, hatte ihr Prof damals augenzwinkernd gesagt und mit ihr bereits über mögliche Themen der Arbeit gesprochen. Sie war sich ihrer Sache so sicher gewesen, dass sie das Schreiben, in dem er ihr ein paar Wochen später schließlich mitteilte, sich nun doch für einen anderen Bewerber entschieden zu haben, dreimal lesen musste, um es glauben zu können.
„E departe?“, fragte sie den Fahrer noch einmal von ihrem Platz aus, aber der Mann tat so, als habe er sie nicht gehört. Larissa sah nach draußen. Ein undurchdringlicher Wald breitete sich zu beiden Seiten des Weges aus, manchmal streiften überhängende Äste die Wagentüren.
Sie hatte in den letzten Monaten viel Armut gesehen. In der Ukraine. In der Slowakei. Auch in Polen. Aber das hier war der traurige Höhepunkt. Dörfer, die keine Dörfer mehr waren, sondern Ruinen. Häuser ohne Türen und Fenster. Eingefallene Dächer. Rußgeschwärzte Wände. Und Menschen, die in selbstgezimmerten Bretterverschlägen hausten. Kein Strom, kein fließendes Wasser. Rumänien. Das Armenhaus Europas. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob die Straße, auf der sie fuhren, überhaupt für den motorisierten Verkehr vorgesehen war.
Erneut wurde der Wagen durchgeschüttelt, die Stoßdämpfer quietschten erbärmlich und der Fahrer schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Philipp schüttelte den Kopf und sagte: „Weck mich, wenn wir da sind.“
Philipp hatte sie eine Woche, nachdem sie den Brief ihres Professors erhalten hatte, kennengelernt. Noch am selben Tag war sie zur Uni geradelt, um ihn in seiner Sprechstunde zur Rede zu stellen. An der Tür zu seinem Büro hing ein Zettel. Wegen Krankheit fielen die Sprechstunde und alle Lehrveranstaltungen des Akademikers aus. Larissa hätte heulen können. Stattdessen starrte sie auf die Aushänge am Schwarzen Brett, las von einem freiwerdenden WG-Zimmer im Ostend (nur an Nicht-Raucher) und einer Mitfahrgelegenheit ins Saarland, von verlorenen Taschen und verbilligter Fachliteratur – von all dem Kram, der vor ein paar Wochen noch ihr Leben gewesen war und der für sie jetzt keine Rolle mehr spielte – und dann traten ihr doch die Tränen in die Augen. Sie hatte sich so sehr auf die Promotionsstelle verlassen, dass sie sich erst gar nicht um etwas anderes bemüht hatte. Und nun? Nun würde sie den Gang nach Canossa antreten müssen.
Canossa lag eine knappe Autostunde von Wiesbaden entfernt im Taunus. Dort, am Rande eines kleinen Städtchens, stand ein Haus auf einem Grundstück, das direkt an den Wald grenzte. In diesem Haus gab es Abstellkammern, die größer waren als jedes Studentenzimmer in Frankfurt. Wenn sie dort ankäme, stünde draußen auf der Terrasse vor diesem Haus natürlich nicht der Papst, sondern Larissas Vater. Sie sah ihn schon vor sich, wie er dort steht und in den dunkler werdenden Wald blickt, ein Glas Spätburgunder in der Hand. Er schüttelt den Kopf und lächelt milde über seine naive Tochter. Drinnen bezieht unterdessen die Mutter schon das Bett in Larissas altem Kinder- und Jugendzimmer, später wird sie für alle etwas kochen, und dann werden sie wieder wie früher um den großen Esstisch im vorderen Zimmer sitzen und sich schweigend die Schüsseln über den Tisch reichen.
Larissa rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Am linken Rand der Anschlagtafel baumelte ein blauer Handzettel mit einem Job-Angebot. Die Pro East GmbH suchte Absolventinnen im Fach Slawistik für eine interessante Tätigkeit in Osteuropa. Zwei slawische Sprachen sollten die Bewerberinnen fließend beherrschen und möglichst gute Kenntnisse in einer dritten mitbringen. Die einzige weitere Einstellungsvoraussetzung war hohe zeitliche Flexibilität. Larissa riss den Zettel von der Wand. Der Aushang war auf den gestrigen Tag datiert. Wenn sie in den nächsten Monaten einem potentiellen Arbeitgeber neben der sicheren Beherrschung slawischer Sprachen eines garantieren konnte, dann war es ihre hohe zeitliche Flexibilität.
Eine Woche später saß sie Philipp in einem kleinen Büro in Frankfurt-Niederrad gegenüber. Die Räumlichkeiten der Pro East GmbH waren in einem mehrstöckigen Wohn- und Bürohaus aus den Siebzigerjahren untergebracht. Auf dem Flur im zweiten Stock befanden sich außerdem noch eine Zeitarbeitsfirma, eine Anwaltskanzlei und eine Zahnarztpraxis, aus der man ab und zu durch die Wände das surrende Geräusch eines Bohrers hören konnte.
Larissa hatte erwartet, dass es sich bei dem Job um eine Stelle als Reiseleiterin handelte. Sie würde in einem schwankenden Bus vorne gleich neben dem Fahrer stehen und um ihr Gleichgewicht kämpfen, während sie in ein Mikrofon sprechen und den bildungshungrigen deutschen Rentnern in den Sitzreihen vor ihr etwas über die Geschichte und Kultur Krakaus, Kiews oder Sankt Petersburgs erzählen würde. Sie würde sich um deren Beschwerden kümmern und mit dem Hotelpersonal in der Landessprache verhandeln müssen, wenn die Matratzen in den Zimmern zu weich und die Frühstückseier am Morgen zu hart waren. Dann wieder Sightseeing, Larissa mit einem roten Regenschirm in der Hand. Sehen Sie hier, schauen Sie da.
Aber in Philipps Büro gab es keine vierfarbigen Prospekte oder Pappaufsteller über Bus- und Fernreisen. Es gab einen grauen Aktenschrank, eine leere Ablage und zwei halb vertrocknete Topfpflanzen auf dem Fensterbrett, welche die Trostlosigkeit des Raums noch unterstrichen. Philipps Schreibtisch war bis auf Tastatur, Maus und den Flachbildschirm des Computers ebenfalls vollkommen leer. Dafür gab es Kaffee, den Phi­lipp gleich zu Beginn ihres Gesprächs selbst aus einem kleinen Nebenraum holte. Er hatte sich ihr als Herr Hofmeister vorgestellt, sie etwas länger, als es unter den gegebenen Umständen höflich gewesen wäre, gemustert und dann gesagt: „Sie werden sich sicher fragen, was wir hier so machen und was Ihre Aufgabe bei uns sein soll.“
Larissa nippte an ihrem Kaffee und bejahte.
„Kurz gesagt: Die Pro East GmbH vermittelt Arbeitskräfte.“
Zeitarbeit, dachte Larissa. Damit hatte sie nicht gerechnet. Schöner Mist.
Philipp hob die Hände und lächelte: „Ich weiß, was Sie jetzt denken, Frau Winterkorn: Dass wir Sie für einen Hungerlohn irgendwohin vermitteln wollen.“
Genau das hatte sie gedacht, schüttelte aber vehement den Kopf.
„Ich kann Sie beruhigen“, sagte Philipp Hofmeister, zog einen blauen Schnellhefter aus einer Schublade und legte ihn zwischen sich und Larissa auf den Tisch. „Wir vermitteln junge Arbeiterinnen aus Osteuropa an Firmen in Deutschland. Wir werben die Frauen direkt in ihren Heimatländern an, und sie erhalten Verträge nach deutschem und EU-Recht. Eine Aus­fertigung in Deutsch und eine in ihrer Muttersprache.“ Philipp schob Larissa den Schnellhefter über den Tisch und forderte sie mit einem Kopfnicken auf, sich die Unterlagen anzusehen.
Tatsächlich befanden sich in der Mappe Norm-Arbeitsverträge in Deutsch und Übersetzungen in mehrere slawische Sprachen.
„Und was verdienen die Frauen so?“
„Interessiert es Sie nicht zunächst einmal, was Sie bei uns verdienen können?“
Larissa erschrak. Genau deshalb war sie doch eigentlich hier. Um Geld zu verdienen. Es hatte keinen Sinn, sich als sozial engagierte Akademikerin zu präsentieren, damit war hier nicht zu punkten. Sie war hergekommen, damit sie im nächsten Monat ihre Miete bezahlen konnte, ohne ihre Eltern anzubetteln.
„Doch, doch“, lenkte Larissa kleinlaut ein, „natürlich interessiert mich das.“
Philipp nickte und trank einen Schluck Kaffee. Nachdem er die Tasse wieder abgestellt hatte, klopfte er mit dem Nagel seines Zeigefingers gegen den Tassenrand. „Schauen Sie, selbst unser Kaffee hier ist aus fairem Handel!“
Philipp lachte und Larissa lachte mit ihm, wurde aber das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Der Typ war kaum älter als sie, sah aus wie jeder x-beliebige BWL-Student an der Uni, hatte sie aber jetzt schon völlig aus dem Konzept gebracht. Er hatte sie dazu bewegt, über Geld zu reden, noch bevor sie überhaupt wusste, was sie dafür tun sollte.
„Wie ich schon sagte“, fuhr Philipp fort, „wir werben direkt in den Herkunftsländern an. Dazu brauchen wir seriöse, mehrsprachige Mitarbeiterrinnen, die übersetzen und auch mal zwanglos mit den Frauen plaudern können.“
„Und das wäre dann mein Job.“
„Richtig.“
„Und wie geht das genau vor sich?“ Beinahe hätte sie gefragt, wo der Haken an der Sache ist.
„Wir rufen Sie kurzfristig an, wenn eine Fahrt ansteht. Wir fahren mit einem eigenen Kleinbus, das ist bequemer. In Deutschland fahre ich, im entsprechenden Zielland haben wir einheimische Fahrer.“
Larissa nickte und versuchte ihre Überraschung zu verbergen, dass er als Chef offenbar selbst bei allem dabei war.
„Wir stehen noch ganz am Anfang unserer Firmentätigkeit“, sagte Philipp Hofmeister, als habe er ihre Gedanken gelesen. „Außer mir und einer Buchhalterin in Teilzeit, die auch ab und zu Telefondienst macht, besteht die Pro East GmbH nur aus freien Mitarbeitern in den Zielländern.“
Philipp hielt einen Moment inne und sah aus dem Fenster, sein Geständnis schien ihm ein bisschen peinlich zu sein. Dann wandte er sich wieder an Larissa, lächelte und fügte hinzu: „Und natürlich aus Ihnen, wenn Sie möchten.“
Larissa sagte nichts und blätterte in dem Hefter mit den mehrsprachigen Verträgen. Zielländer, dachte sie, das klingt nicht nach Arbeitsvermittlung, sondern als wollten sie dort einmarschieren. Und der Chef? Ein Ein-Mann-Betrieb. Möchtegern-Yuppie.
„Ach ja, zu Ihrer Frage von vorhin. Sie wären bei uns natürlich ab dem ersten Tag sozialversicherungspflichtig angestellt und bezögen ein Festgehalt.“
Diese Frage hatte Larissa überhaupt nicht gestellt, aber sie musste zugeben, die ganze Zeit daran gedacht zu haben. Mit einem Festgehalt hatte sie nicht gerechnet. Eine halbe Stunde später verließ sie das Büro mit einem unterschriebenen Arbeitsvertrag.
Der erste Anruf kam zwei Wochen später. Die Fahrt ging nach Tschechien. Philipp fuhr bis über die Grenze nach Eger, dort übernahm ein Fahrer, der offenbar leidlich Deutsch sprechen und verstehen konnte, es aber über weite Strecken vorzog zu schweigen. Philipp setzte sich zu ihr nach hinten in den Bus und schlief mit dem Kopf an der Scheibe sofort ein. Auf der langen Autobahnfahrt am Morgen hatte er ihr das Du angeboten und Larissa war nicht mutig genug gewesen, es abzulehnen. Schon nach ihrem ersten Treffen war sie sich ziemlich sicher gewesen, dass Philipp früher oder später versuchen würde, sie anzumachen – aber bereits an diesem ersten Abend wurde ihr klar, dass sie sich darüber keine Sorgen machen musste.
Sie übernachteten in einer schlichten, aber sauberen Pension in der Nähe von Ostrava. Im kleinen Gastraum der Herberge waren außer ihnen keine Gäste und nach dem Abendessen ging Philipp sofort schlafen. Der erste und der letzte Tag seien für ihn immer am anstrengendsten wegen der Fahrerei, entschuldigte er sich bei Larissa, schlagkaputt sei er da jedes Mal. Philipp gähnte, wie um seine Ausführungen zu untermauern, und Larissa, die froh war, noch ein bisschen allein sein zu können, ließ ihn ziehen.
Als Philipp den Raum verließ, kam gerade der Fahrer von draußen zurück. Larissa sah, wie die beiden Männer einen schnellen Blick wechselten, dann verschwand Philipp die Treppe hinauf. Larissa bestellte sich ein Budweiser, trank das Bier in kleinen Schlucken und hing ihren Gedanken nach. Sie bemerkte, wie der Fahrer, der sich an die Theke gesetzt hatte, von Zeit zu Zeit zu ihr herübersah und lächelte. Larissa beschloss so zu tun, als bemerke sie es nicht.
Später, als sie nach oben in ihr Zimmer ging, stieß sie im Treppenhaus mit einem jungen Mann zusammen, der sich im Gehen das Hemd zuknöpfte. Er roch penetrant nach Aftershave, obwohl er außer einem zarten Flaum auf der Oberlippe noch gar keinen Bartwuchs entwickelt hatte. Larissa schätzte den verstörten Jungen auf höchstens 17 Jahre und sah ihm verwundert hinterher, als er, sich immer wieder auf Tschechisch entschuldigend, an ihr vorbeidrängte und die schmale Treppe hinabstieg. Als sie am oberen Treppenabsatz angekommen war, sah sie, dass die Tür zu Philipps Zimmer nur angelehnt war. Der gedämpfte Schein der Nachttischlampe war durch den Türspalt zu sehen und das Prasseln der Dusche im Badezimmer zu hören. Larissa zog mit einer schnellen Bewegung die Tür ins Schloss und begab sich in ihr eigenes Zimmer. So war das also auch geklärt.
„Frag ihn noch mal!“ Philipps Aufforderung riss Larissa aus ihren Gedanken. Offenbar fand ihr ansonsten tiefenentspannter Chef nun doch keine Ruhe mehr. „Das gibt’s doch gar nicht, der muss doch wissen, wo wir sind!“
Larissa nickte. Sie konnte Philipps Unruhe verstehen. Draußen wurde es schon langsam dunkel und die Felder, Wiesen und kleinen Wäldchen um sie herum verloren in der Dämmerung zunehmend ihre Konturen. Es war auch bereits eine ganze Weile her, seit sie an einem Haus oder Hof vorbeigekommen waren. Das Letzte, an das sich Larissa erinnerte, war ein unverputztes, zweistöckiges Gebäude mit Löchern im Dach, von dem sie nicht hätte sagen können, ob es überhaupt bewohnt gewesen war. Zumindest schien der Wagen jetzt wieder festeren Boden unter den Reifen zu haben.
Noch bevor Larissa fragen konnte, drehte sich der Fahrer zu ihnen um und verkündete, dass sie jeden Moment am Ziel seien. Zuerst glaubte sie ihm nicht, aber dann fingen die Scheinwerfer des Buses tatsächlich eine hüfthohe Mauer ein, an deren Ende sich ein Tor öffnete.
Sie fuhren auf einen grob gepflasterten Hof und hielten auf halber Strecke vor einem Haus, das bis auf ein Licht im Erdgeschoss komplett dunkel war. Larissa schloss die Augen. Warum hatte sie sich auf diese Fahrt überhaupt eingelassen? Sie beherrschte die Landessprache in Grundzügen durch einen freiwilligen Zusatzkurs, den sie besucht hatte, aber Rumänisch war keine slawische Sprache, und das hatte sie Philipp auch gesagt, doch der hatte sie unbedingt dabeihaben wollen.
Über der kleinen Treppe, die zur Haustür führte, ging ein Licht an. Ein Schattenriss erschien im Türrahmen und sah zu ihnen herüber.
Der Fahrer hatte den Motor abgestellt, war ausgestiegen und drückte seinen Rücken durch. Philipp öffnete die Schiebetür und sprang aus dem Wagen. Er zögerte einen Augenblick, zog sich den Krawattenknoten fest und machte dann zwei Schritte auf das Haus zu. Die kühle Abendluft, die durch die geöffnete Tür in den Bus drang, erfrischte Larissa.
„Komm schon“, sagte Philipp und drehte sich mit ausgebreiteten Armen zu ihr um, „für die Leute hier sind wir doch der Weihnachtsmann!“
Ja, dachte Larissa, als sie ihm zu dem im Zwielicht liegenden Haus folgte, und für manche sind wir der Knüppel aus dem Sack.
* * *
Manfred Kowalski stand im Ostend und beobachtete den Abriss des Häuserblocks, der einmal das bekannteste Bordell Frankfurts beherbergte. In den Achtzigerjahren hatte sein damaliger Chef ihn und seine beiden Kollegen jedes Mal am letzten Abend nach der Sanitär- und Heizungsmesse ins Sudfass eingeladen. Die Inter-Klo, wie die Messe in Fachkreisen scherzhaft genannt wurde, war alle zwei Jahre ein kleines Highlight im Terminkalender der Firma. Erst Armaturen, Pumpen und Pissbecken angucken und dann ab in den Puff. Kowalski lächelte. Das waren gute Zeiten damals. Zeiten, in denen man mit ehrlicher Arbeit noch richtig Geld verdienen konnte, weil die Kunden erstklassige Handwerksarbeit zu schätzen wussten und vor allen Dingen ihre Rechnungen pünktlich und ohne Wenn und Aber bezahlten. Aber damals war damals und vorbei, und heute war 2014.
Kowalski sah, wie die beiden Bagger ihre Arbeit verrichteten und eine Wand nach der anderen zum Einsturz brachten. Ein paar Badewannen lagen wie angeschwemmtes Treibgut unterhalb des Schuttbergs am Rande des abgesperrten Geländes. Alles vorbei, dachte er und stellte seinen Jackenkragen hoch. Vom Main her wehte es kalt herüber, die Luft roch nach Herbst.
Kowalski sah auf seine Uhr. Er hatte noch Zeit. Zeit, um einen kleinen Spaziergang am Fluss entlang zu machen. Hier unten, direkt am Wasser, schlug ihm der Wind noch heftiger ins Gesicht als oben auf der Straße, aber er entschloss sich, trotzdem auf dem Promenadenweg zu bleiben, und zündete sich eine Zigarette an. Er musste die Flamme des Feuerzeugs mit der Hand gegen den Wind abschirmen und sich mit dem Rücken zum Main drehen, um die Marlboro anzubekommen. Als die Zigarette endlich brannte, setzte er rauchend seinen Weg fort, in Gedanken immer noch bei dem Bordell-Abriss. In den Neunzigerjahren reichte es nicht mehr für Einladungen in den Puff, aber wenigstens kam das Gehalt noch regelmäßig. Dann kam auch das nicht mehr.
Er blieb einen Moment stehen und wurde von einem Jogger in grellbunter Sportbekleidung überholt. Der Tag, an dem nicht der Chef, sondern seine Frau in den Betrieb kam, war ein Tag wie heute: novembergrau, wolkenverhangen und kühl. Sie hatte ihn im Keller gefunden. In seinem Werkraum hatte er ein Loch in die Decke gebohrt, das Gebrösel aus Verputz und Beton vom Boden aufgekehrt, die Bohrmaschine noch einmal gründlich gesäubert und wieder zurück an ihren Platz auf der Werkbank gebracht und sich anschließend an einem Schwerlastdübel in der Decke aufgehängt.
Fast zehn Jahre war das nun schon her. Zehn Scheißjahre, in denen Kowalski keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen hatte.
Die Chefin ließ die Firma abwickeln und alles, was nicht niet- und nagelfest war, kam unter den Hammer. Am Ende blieb ihr nur das fast leere Haus am Lerchesberg und ein paar Euro im Monat aus einer Witwenrente. Der Chef hatte spekuliert und verloren. So einfach war das. Aufs falsche Pferd gesetzt. Warnungen in den Wind geschlagen. Und dann war er zu stolz, um es zuzugeben und sich Hilfe zu suchen. Die Chefin schwieg sich aus, und seine beiden Kollegen kapierten einfach nicht, warum der Alte mit niemandem darüber geredet hatte, als noch was zu machen war. Nur Kowalski verstand. Diese Blöße gab sich ein Mann wie der Chef nicht. Der zog lieber die letzte Konsequenz.
Die Zigarette zwischen seinen Fingern war fast bis auf den Filter heruntergebrannt, er schnippte die Kippe auf den Gehweg und trat sie aus. Damals, vor zehn Jahren, hatte er auch daran gedacht, die letzte Konsequenz zu ziehen. Er war 45 Jahre alt, geschieden und arbeitslos. Er stand morgens auf, setzte sich in die Küche und starrte die Wand an, rauchte Billig-Zigaretten und trank Dosenbier, bis er betäubt und benebelt genug war, um durch den Tag zu taumeln. Er ekelte sich vor sich selbst. Die letzte Konsequenz ziehen wie der Chef, diesen Schneid hätte er gern gehabt. Aber Kowalski war kein Mann der letzten Konsequenz. Stattdessen: Arbeitsamt und Arbeitslosengeld. Dann Bewerbungen. Nachqualifizierungen. Nach einem Jahr hatte er wieder eine Stelle als Heizungsbauer, aber überstand die Probezeit nicht. Sein neuer Chef war ein jungdynamischer Besserwisser, und Kowalski konnte nun mal noch nie gut mit seiner Meinung hinterm Berg halten. Die folgenden Jahre waren eine einzige zähe Masse aus Stütze und Schwarzarbeit, zeitlich befristeten Anstellungen und Umschulungsbewerbungen, die allesamt abgelehnt wurden. Seit zwei Jahren verdiente er nun ein Almosengehalt, das hinten und vorne nicht reichte, als Wachmann im Objektschutz.
Kowalski kam an zwei jungen Männern vorbei, die nebeneinander auf einer Bank saßen und kauend auf die Displays ihrer Smartphones starrten. Sie trugen dunkle Anzüge unter ihren Mänteln, weiße Hemden und kaminrote Krawatten. Neben ihnen lagen zwei angebissene Sandwichs in Pappschalen auf der Sitzbank. Er blieb einen Moment stehen und starrte die Männer derart unverwandt an, dass einer der beiden schließlich den Kopf hob und ihn stirnrunzelnd ansah. Kowalski lächelte entschuldigend und ging weiter.
Jedes Mal, wenn er solche Typen sah, musste er an Sven denken. Kreditberater bei der Deutschen Bank. 30 ist er im Frühjahr geworden, ein Häuschen in Bad Soden hat er und eine hübsche kleine Frau. Und wer weiß? Vielleicht hat er mittlerweile sogar schon Nachwuchs und er, Manfred Kowalski, war bereits Großvater und lief hier dumm in der Gegend herum und wusste nichts davon. Kowalski ballte die Fäuste in den Jackentaschen. Er würde das Haus seines Sohnes niemals betreten, solange seine Exfrau dort ein und aus ging. Das hatte er Sven auch unmissverständlich klargemacht. Und statt seinem Vater entgegenzukommen und ein bisschen Verständnis zu zeigen, hatte er ihn einfach nicht mehr angerufen. Er hätte doch seine hübsche kleine Frau sonntagnachmittags einfach mal in seinen protzigen Kreditberater-Schlitten setzen und ihn, seinen Vater, besuchen können. Schließlich war das alte Haus am Landwehrweg auch sein Elternhaus, aber auf diese Idee war der Junge nie gekommen. Kowalski wusste schon, warum. Weil er sich für ihn und das heruntergekommene Haus schämte. Und weil er sich 15 Jahre lang die Lügengeschichten seiner Mutter hatte anhören müssen.
Auf Höhe des Bahnhofsviertels verließ Kowalski die Main-Promenade und stieg die Treppe zur Straße hinauf. Er betrat den Holbeinsteg, der hier über den Fluss führte, und spürte das sanfte Federn der Konstruktion unter seinen Füßen. In der Mitte der Fußgängerbrücke blieb er stehen, sah den Kaiserdom links über der Altstadt in den trüben Himmel aufragen und den Autoverkehr über die Untermainbrücke vor ihm donnern. Er lehnte sich ein Stück über das Geländer und sah hinunter auf den dunkel dahinfließenden Main. An den Holmen hatten Liebespaare Vorhängeschlösser angebracht. Kowalski überlegte, woher er diesen romantischen Unsinn kannte, kam aber nicht darauf.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass jemand von der Sachsenhäuser Seite aus auf ihn zukam. Die Person näherte sich zuerst schnell, aber dann verlangsamte sie ihre Schritte und blieb schließlich schnaufend neben Kowalski stehen, der sich nicht bewegte und weiter aufs Wasser hinabsah.
Der Mann war kleiner als er und atmete mit offenem Mund, das schnelle Gehen auf der Brücke hatte ihm offensichtlich schon zu schaffen gemacht. Kowalski sah sich den nach Luft ringenden Kerl neben ihm etwas genauer an: Er trug einen grauen Mantel, der sich vorne straff über seinen Bauch spannte, und fuhr sich unablässig mit einem Taschentuch über die verschwitzte Stirn. Mitte, Ende 50, dachte Kowalski, in miesem körperlichen Zustand und furchtbar nervös. Gerade als der Mann ihn ansprechen wollte, wandte sich Kowalski wieder ab. Eine Zeit lang standen die beiden stumm nebeneinander und starrten aufs Wasser.
„Und? Die Eintracht?“, sagte Kowalski schließlich ohne aufzusehen.
„Bitte? Was?“
Kowalski sah aus den Augenwinkeln, wie der Dicke den Mund öffnete und wieder schloss wie ein Fisch auf dem Trockenen.
„Haben sich von den Bayern mal wieder ganz schön abschießen lassen, was?“
Jetzt schien der andere endlich zu begreifen und nickte eifrig. „Ja“, stammelte er, „aber ja doch, natürlich, die Eintracht, Fußball und so, ja, ja…“
„Gehst du ab und zu ins Stadion?“
„Nein, das eher nicht.“
„Hab ich mir schon gedacht. Naja, macht nix.“
Kowalski beschloss, das schwitzende Nervenbündel, das sich jetzt mit beiden Händen an der Brüstung festklammerte, noch ein bisschen länger zu quälen.
„Commerzbank-Arena, wenn ich das schon höre“, schnaubte er. „Das ist und bleibt doch unser Waldstadion, oder?“
Der Mann zögerte, hob die Hand zu einer vagen Geste und ließ sie gleich darauf wieder kraftlos aufs Geländer sinken.
„Und?“, fragte Kowalski nach einer Weile leise, „hast du’s aufgeschrieben?“
Statt einer Antwort zog der Mann einen Umschlag aus seinem Trenchcoat.
„Telefonnummer auch?“ Er steckte den Umschlag ein und der andere nickte. „Gut, du hörst von uns.“
„Und… und wann kann ich…?“
„Bald, sehr bald.“
„Schön“, sagte der Mann, „sehr schön.“ Jetzt lächelte er sogar.
Kowalski hätte ihm am liebsten die Fresse poliert.
* * *
Das Mobiliar im Sitzungssaal 158 am Amtsgericht Groß-Gerau war funktional. Auf steingrauen Teppichfliesen standen weißgraue Tische und Stühle, allein im nüchternen Rauputz an den Wänden schien sich eine Spur Türkisgrün verloren zu haben. Heiner Schultes sah von seinem Platz aus durch die gegenüberliegenden Fenster und fand es durchaus passend, dass an diesem Vormittag auch draußen außer einem grauverhangenen Himmel nichts zu sehen war. Er hatte seinen Mantel auf dem Stuhl neben sich abgelegt, wo eigentlich sein Verteidiger hätte sitzen sollen, aber er hatte auch diesmal auf einen Rechtsbeistand verzichtet.
Der Richter saß links von ihm hinter seinem Pult, die beiden Stühle, die wohl für Beisitzer gedacht waren, blieben leer. Gegenüber, vor der Fensterfront hatte die Protokollantin hinter einem Flachbildschirm Platz genommen und neben ihr, etwas abgerückt, saß die Staatsanwältin, die Schultes demonstrativ ignorierte und in ihren Unterlagen blätterte.
Der Junge, dem er damals mitten auf der Straße eine verpasst hatte, war mit seinen Ausführungen fertig. Nun betrat sein Kumpel den Zeugenstand, setzte sich und begann sofort zu reden. Er wurde vom Richter unterbrochen und darum gebeten, zunächst Angaben zu seiner Person zu machen. Er heiße Denny. Sei 18 Jahre alt und wohne in Groß-Gerau. Auszubildender. Dann fing er erneut an, seine Aussage herunterzurattern. Es klang, als trage er einen auswendig gelernten Text vor.
Beide Jungs trugen Schlabberjeans und Kapuzenpullis mit irgendwelchen sinnfreien englischen Aufdrucken sowie dünne Turnschuhe, die wahrscheinlich ein Vermögen gekostet hatten. Horden solcher Typen kamen ihm jeden Morgen entgegen, wenn er mit seinem Hund die erste Runde drehte. Entweder sie alberten lautstark herum oder glotzten mit offenen Mündern wie Taubstumme auf ihre kleinen Handybildschirme. Die Welt auf Abruf vor der Nase und trotzdem vollkommen ahnungslos.
Auf einmal sah er sich selbst, wie er, noch keine 20 Jahre alt, vor dem Plakat stand, das ihn immer wieder magisch anzog. Da waren Palmen und Kamele und eine orientalisch aussehende Frau, die ihn mit verführerischem Augenaufschlag ansah. Die große weite Welt, so unerreichbar fern für ein ehemaliges Heimkind, das im Saarland der Sechzigerjahre allenfalls eine Stelle als Hilfsarbeiter ergattern konnte. Palmen und Kamele und exotische Schönheiten. Und das alles rückte dieses Plakat für ihn auf einmal in greifbare Nähe. Man durfte nur keine Angst haben, das war alles. Und Heiner Schultes hatte keine Angst.
Heute warb die Fremdenlegion wahrscheinlich nicht mehr mit bunten Plakaten, sondern mit Filmchen im Internet, um Typen wie Denny und seinen Kumpel anzulocken. Aber diese Generation, die den ganzen Tag nur auf Bildschirme starrte, war dem Einsatz in einem Kriegsgebiet doch ohnehin nicht gewachsen. Bei dem Gedanken musste Heiner Schultes lächeln, obwohl ihm gleichzeitig ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Sein Lächeln war der Staatsanwältin offenbar nicht entgangen. Ob er denn irgendetwas an den Ausführungen des Zeugen lustig finde, fragte sie gerade, und erst da wurde ihm bewusst, dass der Junge schon seit einiger Zeit nichts mehr gesagt hatte und der Richter grimmig zu ihm herübersah. Heiner hatte nicht zugehört und schüttelte deshalb einfach nur den Kopf, aber die Staatsanwältin war noch nicht fertig mit ihm.
„Der Geschädigte hat also nach Ihrem Hund getreten und Sie beleidigt, woraufhin Sie den Jungen ohne Vorwarnung angegriffen haben. Soll ich Ihnen nochmal das medizinische Gutachten vorlesen?“ Die Staatsanwältin zog ein einzelnes Blatt aus der Akte, las aber nicht wie angekündigt daraus vor, sondern schwenkte es lediglich vor sich durch die Luft. „Sie haben dem jungen Mann das Nasenbein gebrochen, Herr Schultes, so sieht es aus!“
Heiner schätzte die Staatsanwältin auf Mitte 40. In ihrer dunkelblonden Kurzhaarfrisur schimmerten bereits einige graue Haare. Sie war eine zierliche Person mit herben Gesichtszügen und schmalen Schultern, aber einer sonoren, festen Stimme, die ihr eine natürliche Autorität verlieh.
Was sollte er dazu sagen? Vielleicht, dass die beiden Arschgeigen Rosi jedes Mal ärgerten, wenn sie ihnen unterwegs begegneten. Die übrigen Jungs lachten. Machten Handyfotos. Er zog Rosi dann immer auf die andere Straßenseite. Ging ihnen aus dem Weg. An diesem einen Morgen aber war das nicht möglich gewesen. Rosi hatte Angst bekommen, die Lefzen hochgezogen und geknurrt, der Junge hatte gelacht und ihr in die Flanke getreten.
Heiner hatte mit der Linken zugeschlagen, weil er sich auf die Rechte zuweilen nicht mehr verlassen konnte. Der Punch war nicht besonders hart gewesen, aber platziert. Es war im Grunde auch keine Absicht, kein Plan, kein wirkliches Wollen hinter diesem Schlag. Es war ein Reflex, den er als junger Mann erlernt hatte und den er jetzt im Alter nicht mehr loswurde. Er wusste allerdings, was die Staatsanwältin zu einer solchen Argumentation sagen würde, weshalb er darauf verzichtete, sie überhaupt vorzubringen.
Der Richter sah ihn eine Weile lang schweigend an. „Herr Schultes“, begann er schließlich, „wie alt sind Sie?“
„Ich bin 67 Jahre alt.“
„Siebenundsechzig“, wiederholte der Richter gedehnt. „Und was sagen Sie zu den Anschuldigungen gegen Sie, die wir hier soeben gehört haben?“
Heiner Schultes schürzte die Lippen. „Ich habe mich nur verteidigt. Also, meinen Hund beschützt.“
Der Richter schwieg. Die Staatsanwältin hatte die Augen geschlossen und schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Nun sitzen wir hier ja nicht zum ersten Mal“, fuhr der Richter schließlich fort und runzelte die Stirn. Er sah in eine für Heiner Schultes unsichtbare Akte, die er vor sich auf dem Richtertisch liegen hatte.
„Vor nicht ganz zwei Jahren Beleidigung und Bedrohung eines Verkehrsteilnehmers.“ Die Staatsanwältin schien dem Richter auf die Sprünge helfen zu wollen und zitierte aus ihren eigenen Unterlagen.
„Dieser Mensch hätte mit seinem albernen Geländewagen beinahe meinen Hund überfahren, die Bedrohung ging eigentlich mehr von ihm aus…“, versuchte Schultes sich zu verteidigen, aber die Staatsanwältin brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen.
„Vor etwa einem Jahr haben Sie einem unbescholtenen Mann unterstellt, er lege Hundegiftköder aus, und haben ihn deshalb verprügelt.“
„Das war ein Fehler“, räumte Heiner Schultes sofort ein, „ich habe mich bei ihm entschuldigt.“
„Und eine Bewährungsstrafe haben Sie damals auch von uns bekommen, und jetzt sitzen wir schon wieder hier, weil Sie grundlos zugeschlagen haben, verdammt nochmal!“
„Grundlos stimmt nicht.“
Die Staatsanwältin atmete geräuschvoll ein und betont langsam wieder aus. „Herr Schultes“, sagte sie dann so ruhig und liebenswürdig, als spräche sie mit einem begriffsstutzigen Kind. „Sie können andere Menschen nicht einfach so verprügeln, nur weil Sie sie verdächtigen etwas getan zu haben oder weil sie frech zu Ihnen waren – mein Gott, Sie sind doch kein unreifes Früchtchen mehr, sondern ein Mann mit Lebenserfahrung!“
Die Protokollantin erfasste die letzten Sätze der Staatsanwältin, dann hörte sie mit dem Tippen auf, und es wurde ganz still im Sitzungsaal.
Lebenserfahrung, dachte Heiner Schultes und schluckte. Ja, die hatte er. Nur war es nicht die Art von Erfahrung, die einen gütig und weise machte.
Der Richter wechselte einen schnellen Blick mit der Staatsanwältin, nickte und begann dann wieder, in der Akte auf seinem Tisch zu blättern.
„Wenn ich mir das hier so ansehe“, sagte er schließlich, „dann müsste ich Sie diesmal eigentlich zu einer Haftstrafe verurteilen.“
Heiner Schultes ließ keine Regung erkennen, er schien über das ihm zugedachte Strafmaß nicht im Geringsten überrascht zu sein.
„Ja, ich glaube, das müssten Sie aus Ihrer Sicht der Dinge diesmal wirklich tun.“
Der Richter sog scharf die Luft ein und sah Schultes ungläubig an. „Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?“
Über Heiner Schultes Gesicht huschte ein müdes Lächeln.
„Herr Richter, ich war in meinem Leben schon an schlimmeren Orten als in einem deutschen Gefängnis.“
* * *
Die Gäste an den Nebentischen waren verstummt und sahen alle zu ihm herüber. Hatte er etwa geschrien? Die beschürzte Frau wischte mit einem Lappen über den Tisch. Sie hob seine Tasse nicht an, sondern wischte einfach um sie herum. Der Lappen war gelb. Die Frau sagte: Sie können hier nicht schlafen.
Ingo Bäumler nickte und sah ihr nach. Ihre Kollegin beugte sich über die Theke, hinter der die Brote in langen Holzregalen lagen, und reckte stirnrunzelnd ihr Kinn in seine Richtung. Die Frau mit dem gelben Lappen tippte sich kurz an die Stirn. Bäumler schloss die Augen. Er hatte geschrien.
Er entschied sich, die Augen wieder zu öffnen, aber den Kopf nicht zu heben. Am besten nie wieder. Er starrte auf die Tischplatte und sah die langsam eintrocknenden Wischspuren, die der Lappen um seine Tasse herum hinterlassen hatte. Er hörte die anderen Gäste wieder ihre Gespräche aufnehmen. Vorsichtig griff er nach seinem Milchkaffee. Er hob ihn an die Lippen und nippte, verzog das Gesicht und spuckte die kaltgewordene Brühe zurück in die Tasse. Am Nebentisch lachte jemand. Ungelenk brachte er den Kaffee-Pott wieder auf die Tischplatte.
Er musste hier raus. Aber allein bei dem Gedanken, aufzustehen und an den anderen Gästen vorbei zum Ausgang zu gehen, brach ihm der Schweiß aus. Er saß an einem der niedrigen Tische direkt an der Vollverglasung. Den Sessel gegenüber hatte er mit seinem vollgestopften Rucksack und dem Parka belegt. Die Heizungswärme hatte ihn schläfrig gemacht, er war eingenickt und im Dämmerschlaf hatte etwas nach ihm gegriffen. Bäumler tastete nach seinen Einkäufen. Die beiden prall gefüllten Tüten lehnten unter dem Tischchen aneinander wie zwei angeschlagene Boxer. Der Wocheneinkauf, den er jeden Freitag hier draußen im Groß-Gerauer Helvetia Parc erledigte. Es gab drei Wege von seinem Haus in das Einkaufszentrum. Einen langen, einen gefährlichen und einen durch die Vergangenheit. Für den langen fehlte ihm manchmal die Kraft und der gefährliche…
Wieder lachte jemand am Nebentisch, diesmal eine Frau. Bäumler wünschte, er wäre bei seiner gewohnten Routine geblieben. Dann wäre er nämlich nach dem Einkauf sofort nach Hause gegangen. Wahrscheinlich wieder über den langen Weg. Na und? Was hatte ihn nur geritten, stattdessen hierher zu gehen? Der Bäckerladen mit dem kleinen Café war morgens um diese Zeit voller Frühstücksgäste. Hatte er wirklich geglaubt, dass das funktionieren würde? Warum nur? Bäumler legte die flache Hand auf den Bauch, so wie man es ihm gezeigt hatte, und atmete tief ein.
Er wusste warum. Weil er am kommenden Mittwoch zu Frau Doktor Körner sagen könnte: Ich habe ein Café besucht. Und sie ihn dann gelobt hätte. Von wegen. Wahrscheinlich hätte sie nur wieder Fragen gestellt: Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Vorher? Nachher? Und wie fühlen Sie sich jetzt? Und dafür war er in die Falle hier gelaufen. Die Bauchatmung machte ihn auch nicht ruhiger. Die Angst war noch nicht da, kroch aber schon heran. Er konnte spüren, wie sie unter den Tischen lag und sich zwischen den Füßen der anderen Gäste langsam auf ihn zu schlängelte. Er machte einen Versuch aufzustehen und sank fast augenblicklich wieder zurück in den Sessel. Seine Beine boten ihm keinen Halt, waren aus Gummi.
Draußen hatte leichter Nieselregen eingesetzt und besprenkelte die Scheibe mit kleinen Tropfen. Bleigraue Morgendämmerung. Es wurde nicht wirklich heller, nur weniger dunkel. Der Parkplatz füllte sich. Bald würden auch die anderen Geschäfte öffnen. Der Elektromarkt, die Videothek, die Läden mit den Billigklamotten. Dann würde es hier nur so wimmeln von Menschen.
Am Nebentisch lachte jetzt niemand mehr. Dafür wurde getuschelt. Bäumler sah ein junges Mädchen draußen zwischen den geparkten Autos auf das Café zukommen. Sie hielt sich mit einer Hand eine Zeitschrift über den Kopf, um sich vor dem Regen zu schützen, mit der anderen presste sie ein Handy an ihr Ohr. Sie kam direkt auf die Scheibe zu, hinter der Bäumler saß und sie anstarrte. Sie trug Jeans und eine für das Sauwetter viel zu dünne Lederjacke, sie sprach aufgeregt in das kleine Gerät und kam immer näher, erst kurz vor der Scheibe blieb sie abrupt stehen, verdrehte die Augen und steckte das Handy ein. Das Mädchen biss sich auf die Lippen. Wenn das Glas nicht gewesen wäre, hätte er sie berühren können. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke, dann zog sie erneut das Handy aus ihrer Tasche und verschwand um die Ecke aus seinem Blickfeld.
Bäumler war sofort auf den Beinen. Er wusste nicht, wie lange sein Körper ihm gehorchen würde, aber er war entschlossen, den Fluchtimpuls zu nutzen. Er schlüpfte in seinen Parka, schulterte den Rucksack und packte die beiden Einkaufstüten. Das Pärchen am Nebentisch saß ganz still und gab sich Mühe, ihn nicht allzu offensichtlich anzuglotzen.
Er nahm den Ausgang ins Visier. Dort musste er raus, bevor das Mädchen reinkam. Sie würde mit dem Handy in der Hand auf ihn deuten und schreien: Der da! Der da! Der da! Sie würde ein Foto von ihm machen, vielleicht hatte sie ja eben durch die Scheibe schon ein Foto von ihm gemacht. Bestimmt hatte sie das.
Bäumler taumelte vorwärts. Die Leute an den Tischen zogen überrascht die Beine ein. Die beschürzte Verkäuferin, die seinen Tisch abgewischt hatte, stand neben dem Eingang und sah ihm kopfschüttelnd hinterher.
Der feine Nieselregen benetzte sofort seine Brillengläser, aber er durfte jetzt nicht innehalten, um sich die Kapuze überzuziehen. In jeder Hand eine Einkaufstüte, den Rucksack voller Konservendosen, stapfte er über den Parkplatz, die Scheinwerfer der Autos verschwammen vor seinen Augen zu einem Brei aus Licht und Regen. Einer hupte ihn an, ein anderer rief ihm etwas zu. Bäumler wich auf den Grünstreifen aus, um den Autos zu entkommen. Seine Schuhe füllten sich mit Wasser.
Zwischen dem Gebäude mit der Videothek und der Zufahrtsstraße zum Einkaufszentrum war eine mit Unkraut überwucherte Senke entstanden, in deren Mitte Ingo Bäumler schwer atmend zum Stehen kam. Die Trageschlaufen der Plastiktüten schnitten in seine Handflächen und er spürte, wie immer mehr Feuchtigkeit in seine Schuhe eindrang. Er setzte die Tüten auf dem unebenen Boden ab. Eine kippte sofort um und ihr Inhalt entleerte sich ins feuchte Gras. Bäumler kümmerte sich nicht darum, zog ein Taschentuch hervor und putzte mit zitternden Fingern die regennassen Gläser seiner Brille. Als er seine Kapuze überziehen wollte, stellte er fest, dass es aufgehört hatte zu regnen. Er sah sich um. Niemand war ihm gefolgt. Die Leuchtreklamen der meisten Geschäfte waren auf einmal erloschen. Die Autos auf der Zufahrtsstraße schossen vorbei und verteilten Spritzwasser. Der Geruch nach in Fett gebratenem Hackfleisch lag in der Luft, das Schnellrestaurant auf der anderen Seite der Straße hatte gerade geöffnet.
Bäumler sammelte seine Einkäufe ein und machte sich an den Aufstieg, überquerte die Zufahrt am Burger King und folgte dem Fußweg, der unter dem Bahndamm hindurch auf die andere Seite in den Ort führte. Die Feuchtigkeit in seinen Schuhen hatte seine Socken durchtränkt, er spürte das Wasser bei jedem Schritt unter seinen Fußsohlen und begann zu frieren.
Der gefährliche Weg führte an der Vorderseite der Berufsfachschule vorbei. Hier waren die Bushaltestellen und ein Kiosk. Hier musste er immer damit rechnen, auf einen Pulk Schüler zu treffen. Der lange Weg war am sichersten. Er führte noch ein ganzes Stück auf dieser Seite am Bahndamm entlang, bis zu einer kleineren Fußgängerunterführung. Hier gab es nur Feld und Acker. Aber bereits heute Morgen war der unbefestigte Pfad vom Regen der letzten Tage aufgeweicht und verschlammt gewesen. Er würde den dritten Weg zurück nach Hause nehmen: die Abkürzung durch das hinter der Berufsfachschule gelegene Gymnasium.
Der verwinkelte Gebäudekomplex des Oberstufenbaus mit den rot umrahmten Fenstern und den gelben Jalousien stand seit dem Sommer leer. Schüler und Lehrer waren in den Neubau am Groß-Gerauer Bahnhof umgezogen. Die Grünfläche vor den alten NaWi-Räumen war mit Hundehaufen zugeschissen, ein grüner Müllcontainer, aus dem ramponiertes Schulmobiliar ragte, stand vor einem der verschlossenen Nebeneingänge.
Bäumlers Blick ging nach oben zur ehemaligen Schulbibliothek und zu den Räumlichkeiten, in denen früher die Abiturprüfungen abgenommen wurden. Goethes Faust und Schillers Tell. Lyrik der Romantik. Kafkas Schloss. Textimmanente Interpretation. Wie einem alles im Leben zur Falle werden konnte. In den Fensterscheiben des leerstehenden Gebäudes spiegelte sich der wolkenverhangene Himmel.
Er umrundete die Schule und überquerte den verwaisten Lehrerparkplatz am Wasserturm. Der fast 50 Meter hohe Turm war das Wahrzeichen der Kreisstadt und verfügte im oberen Viertel tatsächlich über einen Wasserspeicher, der aber schon lange nicht mehr genutzt wurde. In den Etagen darunter waren Anwaltskanzleien und Ateliers untergebracht. Ganz oben gab es eine Aussichtsplattform, die aber fast nie geöffnet war.
Wenn man zu der Reihenhaussiedlung gelangen wollte, in der Bäumler wohnte, konnte man einen geschotterten Zwischenweg hinter dem Turm nutzen und sparte sich so die Umrundung des Möbelhauses, das die Straße ein Stück weiter vorne keilförmig teilte.
Er beschleunigte seine Schritte. Gleich würde er die Tür hinter sich schließen und aus seinen nassen Schuhen schlüpfen können. Er wollte schon die Straße überqueren, als er seinen Nachbarn bemerkte, der sich ebenfalls dem Haus näherte. Der alte Heiner Schultes hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben und schien nach seinem Haustürschlüssel zu suchen. Bäumler wusste einen Moment lang nicht, was er tun sollte. Er hatte keine Probleme mit dem Mann, aber er wollte ihm jetzt nicht begegnen. Er wollte heute überhaupt niemandem mehr begegnen. Noch nicht einmal sich selbst. Sein Nachbar schloss die Tür auf und sofort stürzte sein Hund heraus. Der Terrier umtanzte schwanzwedelnd seinen Herrn, hielt aber plötzlich inne und bellte den kleinen hölzernen Verschlag an, in dem die Mülltonnen untergebracht waren. Heiner Schultes sprach beruhigend auf das Tier ein, das sich nur widerwillig von dem Verhau weglocken ließ. Er sah noch einmal zu den Mülltonnen hinüber, dann zog er kopfschüttelnd die Tür ins Schloss und verschwand im Hausflur.
Bäumler wartete noch einen Moment, dann endlich überquerte er die Straße und legte die letzten Meter zu seinem Heim zurück. Er musste die beiden Tüten absetzen, um die Haustür aufschließen zu können. Seine Finger zitterten. Er war viel zu erschöpft, um die Bewegung hinter den Mülltonnen zu bemerken und das mehrfache Klicken der Fotokamera wahrzunehmen.

2

Larissa hatte sich diesmal vorab im Internet über den Ort informiert, um sich auf die dortigen Gegebenheiten vorzubereiten. Aber auf einen Ort wie Kleinkopisch konnte man sich nicht vorbereiten. Nicht, wenn man sein Leben lang daran gewöhnt war, halbwegs saubere Luft zu atmen. Zwei Fabriken, eine Buntmetallhütte und eine Rußfabrik, hatten den Ort nachhaltig und flächendeckend mit Cadmium und Blei verseucht. Kleinkopisch, das waren verrottete Industrieanlagen und rußgeschwärzte Häuser vor dem Hintergrund der dünn bewachsenen Hügel Siebenbürgens. Ein märchenhaft blauer Himmel spannte sich wie zum Hohn über der Stadt.
Larissa wusste, dass es inmitten der Tristesse einen fast idyllischen Ortskern mit schmucken kleinen Häuschen gab. Maler­ische Gebäude mit doppelverglasten Fenstern, dichten Dächern und rosafarbenem Verputz. Das Ziel ihrer Reise war jedoch nicht das Zentrum der kleinen Stadt, sondern die etwas abseits auf einer Anhöhe errichteten Wohnblocks.
Der Fahrer hielt am Rand einer vermüllten Wiese und sah mit gerunzelter Stirn zu den Häuserblocks hinüber. Er fuhr vage mit der Hand durch die Luft, als er sich im Fahrersitz zu Phi­lipp und Larissa umdrehte und sagte: „Zigeuner hier. Viel. Nicht gut.“
Roma, dachte Larissa, das sind Sinti und Roma, verzichtete aber darauf, den Fahrer zu korrigieren.
Philipp streckte sich und nickte dem Mann begütigend zu. Er wusste natürlich, dass hier oben viele Roma-Familien hausten. Die Stadt kümmerte sich nicht um sie.
Larissa öffnete die Schiebetür des Kleintransporters, stieg aus und sah sich um. Zwei Männer mit bis zum Platzen gefüllten Plastiktüten in den Händen überquerten gerade die Wiese zu den Wohnblöcken. Ein frischer Wind wehte heran und fast augenblicklich begannen Larissas Augen zu brennen.
„Das gute Luft von Kleinkopisch.“ Der Fahrer, der ebenfalls ausgestiegen war, zündete sich eine Zigarette an und grinste. Er teilte ihr auf Rumänisch mit, dass er hier beim Wagen bleiben und auf sie warten werde, es sei sicherer so. Larissa nickte. Phi­lipp kam fluchend um den Bus herum und rieb sich ebenfalls die Augen. Er trug wie immer seinen beigefarbenen Anzug mit der roten Krawatte, über den er einen eleganten Kamelhaar-Mantel gezogen hatte.
Sie folgten dem Trampelpfad über die Wiese, den auch die Männer mit den Plastiktüten genommen hatten. Die beiden standen jetzt rauchend vor einem der Wohnblocks und beobachteten aus der Ferne, wie Philipp und Larissa sich die Anhöhe hinaufplagten. Gott sei Dank hatte Larissa auf Schuhe mit hohem Absatz verzichtet.
Als sie vor dem Eingang des Hauses ankamen, tauchte wie aus dem Nichts eine Horde verdreckter Kinder auf und umkreiste sie, erst in einigem Abstand, dann immer enger. Larissa zog sich die Jacke vor der Brust zusammen und suchte Philipps Blick, aber der ignorierte die Bande einfach und hielt einem der Männer einen Zettel unter die Nase. Der Mann nahm ihm das Stück Papier aus der Hand und sagte etwas, was Larissa nicht verstand. Philipp wollte seinen Zettel wiederhaben, aber der Mann steckte ihn ein und rief einen Jungen aus der Kinderschar heran, die sich im Halbkreis um die Erwachsenen gruppiert hatte. Der Junge war vielleicht sieben Jahre alt, hatte dichtes schwarzes Haar und trug löchrige Schuhe, die ihm viel zu klein waren. Er hing sich mit beiden Armen an die Klinke der Haustür und zog sie auf, verschwand in dem dunklen Flur und rief Larissa und Philipp ein paar Worte zu.
„Was sagt er?“ Philipp schien sich seiner Sache auf einmal doch nicht mehr so sicher zu sein.
„Wir sollen ihm folgen“, antwortete Larissa, die insgeheim hoffte, dass er sich die Sache noch mal überlegen würde.
„Und was noch?“
„Dass wir keine Angst zu haben brauchen…“
Sie hörten die Schritte des Jungen irgendwo vor sich in dem dunklen Hausflur widerhallen. Larissa entdeckte einen Lichtschalter an der Wand und drückte ein paarmal auf die gesprungene Plastikscheibe, ohne dass irgendwo ein Licht anging.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel des Flurs. Sie hörte Fernsehstimmen und Musik hinter den geschlossenen Türen, manchmal polterte es auch, als würden Möbel gerückt. Eine Frau lachte, ein Baby schrie. Im Treppenhaus begegneten sie einem Mann, der erschrocken wieder kehrtmachte, als er sie die Stufen heraufkommen sah.
Im dritten Stock klopfte der Junge an eine Tür. Larissa konnte nicht sehen, ob ihm die Tür geöffnet wurde oder ob er sie selbst öffnete.
Hinter der Tür lag ein Wohnungsflur, wie sie schon so viele gesehen hatte: abgetretenes Linoleum auf dem Boden und verblichene Tapeten an den Wänden. Auf einer Leine, die längs durch den ganzen Flur gespannt war, trocknete Damenunterwäsche und Kinderbekleidung. Am Ende des Gangs lehnte der schwarzhaarige Junge im Türrahmen, er kaute jetzt irgendetwas. Eine Frau fasste ihn an den Schultern, beugte sich lächelnd über ihn und winkte Philipp und Larissa herein. In der überheizten kleinen Küche roch es nach aufgewärmtem Essen und nassen Schuhen. Vier stark geschminkte junge Frauen saßen um den Tisch herum und plapperten aufgeregt miteinander, verstummten aber sofort, als die beiden Gäste eintraten. Es gab Tee und süßliches Gebäck. Philipp hielt seine übliche Ansprache und Larissa übersetzte, so gut sie konnte. Die Frauen rauchten Zigaretten und nickten ab und zu. Das Fenster blieb die ganze Zeit geschlossen. Für Larissa konnte das Treffen nicht schnell genug vorbeigehen.
Sie hatten schon wieder vor dem Kleinbus gestanden, als die alte Frau auftauchte. Sie kämpfte sich schwankend durch das kniehohe Gras und rief etwas.
„Was will die denn?“ Philipp runzelte die Stirn und sah zu dem Fahrer hinüber, dessen Kopf gerade unter der geöffneten Motorhaube des Buses verschwand.
„Wir sollen warten“, übersetzte Larissa.