Ostseekiller - Jana Jürß - E-Book

Ostseekiller E-Book

Jana Jürß

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Beschreibung

Sieben Frauenköpfe in sieben Tagen, aufgespießt auf einen Dreizack. Mutmaßlicher Täter: Neptun. Der Gott des Meeres - der Mörder? Die Polizei ist ratlos. Der IT-Spezialist Hannes Liebermann, Dorothea Wilke, eine Schauspielerin am Volkstheater Rostock, und ein pensionierter Hauptkommissar kommen einer tragischen Geschichte auf die Spur, die zwar nicht bis in die Antike, dafür aber in die deutsch-deutsche Vergangenheit zurückreicht.

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Jana Jürß

Ostseekiller

KRIMINALROMAN

Zum Buch

Warnemünde kopflos! Sieben Frauenköpfe werden an sieben Tagen gefunden, aufgespießt auf einen Dreizack. Wird Warnemünde von einem Mythos heimgesucht? Steigt Neptun aus den Tiefen der Ostsee und holt sich Frauen? Die Polizei steht vor einem Rätsel. An den Mythos Neptun, der grausam mordet, will sie nicht glauben – und doch weist alles auf ihn hin. Der erste Frauenkopf wurde gerade entdeckt, als der IT-Spezialist Hannes Liebermann bei einem Spaziergang mit seinem Vater am Hotel Neptun in die Polizeiabsperrung gelangt. Was Hannes hier sieht, haut den sensiblen IT-ler im wahrsten Sinne des Wortes um. Wie kann man so etwas aushalten? Sein Vater, inzwischen pensionierter Hauptkommissar, kann das Ermitteln nicht lassen und unterstützt zusammen mit seiner Lebensgefährtin, einer Schauspielerin am Volkstheater Rostock, und Hannes die zuständige Kommissarin. Bald schon kommen sie einer tragischen Geschichte auf die Spur, die sie nicht nur zum Gott des Meeres, sondern auch in die deutsch-deutsche Vergangenheit führt.

Jana Jürß wurde 1970 in Neustrelitz (Mecklenburg/DDR) geboren, wo sie auch mit ihren sechs Geschwistern aufwuchs. Im Jahr 1989 flüchtete sie über Ungarn/Österreich aus der DDR. Seit 2005 arbeitet die verheiratete Mutter von zwei Kindern als Schriftstellerin und Publizistin. Jana Jürß ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS) sowie im »Syndikat«.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © DieterN/photocase.de

ISBN 978-3-8392-5662-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Ein letzter Wunsch

Sie wollte unbedingt etwas trinken. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was das alles sollte. Und wer die Person war, die es geschafft hatte, sie vom Strand wegzulocken. Die Müdigkeit ließ sie nicht denken. Und nicht erinnern. Falls es überhaupt eine Erinnerung gab. Nicht mal daran konnte sie sich erinnern. Aber wenigstens an ihren Namen. Andrea. Mama nannte sie »Andi«, und Papa, wenn er witzig drauf war, »meine kleine Andrea Doria«.

Sie konnte ihren Körper nicht spüren. Als wenn sie gar keinen hätte. War das der Tod? Wirres Zeug im Kopf und sonst nichts? Oder lag sie im Krankenhaus und wurde operiert? Ein wenig roch es nach Krankenhaus. Sie bewegte den Kopf, aber die Augen sahen nur einen einzigen grünen Punkt irgendwo. Konnten Tote riechen und sehen und Durst haben?

Wenn ich sprechen kann, grübelte sie, dann weiß ich, dass ich lebe. Sie versuchte es. Öffnete den Mund, schob die Zunge in Richtung Lippen, wieder zurück. Gymnastik. Alles war schwer. Sie wollte es richtig machen. Sprechen bedeutete Leben. Das stand für sie fest. Sie atmete. Wobei sie spekulierte, womit sie wohl atmete. Mit dem Körper, der Lunge, der Luftröhre? Und das Zwerchfell brauchte man doch auch. Weitermachen. Zunge bewegen, Lippen öffnen und schließen. Sie wollte es erst einmal mit der Nase wagen. Schniefen bedeutete Leben. Kein Schniefen konnte alles Mögliche bedeuten. Bitte nicht gleich den Tod. Sie zählte in Gedanken bis zehn. Dann noch einmal. Sie wollte nicht tot sein. Ich zähle bis 100, sagte sie sich, ehe ich es versuche.

Papa, wäre ich doch niemals hergekommen. Dieser tückische Strand. Du hast gesagt, die Ostsee ist gefährlich. Und dass du mich nicht auch noch verlieren willst. Verlieren. Wie eine Münze?, war meine Frage. Und du hast gesagt, darüber macht man keine Witze. Und ich habe dich ausgelacht und bin an die Ostsee gefahren. Papa, ich versuche es gleich. Sie senkte den Kopf leicht nach unten, holte einen Zug kalter Seeluft tief in die Nase und … Es klappte nicht. Sie war nicht in der Lage, zu schniefen. Papa, das bedeutet nichts. Sie wollte weinen. Aber auch das klappte nicht. Und lachen? Ging das Lachen? Sie drückte die Lippen so fest, wie es ging, zusammen. Formte sie zu einem Schlitz. Dann hob sie den einen Mundwinkel leicht nach oben. Den rechten. Ja. Ja. Anschließend den anderen. Links war immer schon ihre gute Seite gewesen. Einen Millimeter und noch einen. Soweit, bis es ein Lächeln war. Irgendwie. Bestimmt. So lachte man doch. Mundwinkel ordentlich nach oben. War das alles eine Strafe? Weil ich nicht auf dich gehört habe? Papa, du wirst sehen. Gleich spreche ich. Und dann lebe ich. Und jemand wird mich hören. Und mich holen. Nicht nur meinen Kopf. Du wirst sehen.

Sie wollte das Gesicht ihres Vaters sehen. Sie strengte sich an. Graue, ganz kurze Haare. Einen grauen Schnauzbart, der kitzelte. Damit sie lachte. Ein Kinn, Nase, zwei Augen, darüber graue Brauen. Allerdings schwebte alles einzeln vor ihr. Sie bekam das nicht zusammen. Scheißpuzzle. Wer hatte ihr in diese Hölle ein Puzzle geschickt? Welche verdammte Arschgeige wagte es, Papas Gesicht auseinanderzunehmen? Ich schaffe es, Papa. Ich bau dich zusammen, sobald ich was gesagt habe. Mit aller Kraft, die ihr zur Verfügung stand, sah sie zum grünen Licht und schrie. Sie hätte vor Glück jubeln können. Doch ihr fiel ein, dass niemand auf die Idee kommen würde, jemand, der jubelt, schwebe in Gefahr und müsse gerettet werden. Warum auch. Sie schrie weiter und es hallte in der verdammten dunklen Grotte. Ja, eine Grotte hält mich gefangen. Nein, ein Teufel in einer Grotte. Mit einem Licht. Grün ist die Hoffnung. Ihr Schreien erstarb, weil sie husten musste. Leiser, trockener Husten. Eine Ewigkeit hustete sie. Jetzt war sie ohne jede Kraft. Selbst die Lippen waren müde geworden. Einen Retter, wenn es denn einen gab, hätte sie gehört.

Papa, bestimmt. Du wirst nicht ohne mich sein. Ich werde gerettet und ich komme zu dir und du hältst mich fest und wir werden nie wieder auseinandergehen. Und falls, ich sage, falls niemand kommt, dann habe ich einen letzten Wunsch. Und nicht einmal der Teufel kann einem Menschen den letzten Wunsch verwehren. Nicht einmal der Teufel, Papa. Ich werde ihm sagen, er soll mich zu dir bringen. Ein letztes Mal. Und du, mein lieber, kluger, süßer Papa, wirst dir etwas einfallen lassen. Ich weiß das. Ich kann mich immer auf dich verlassen. Der Teufel wird die List nicht durchschauen. Der Teufel ist dumm. Das weiß jedes Kind. Er ist nur böse, mehr nicht.

Aus den Augen

Hannes duckte sich gerade noch rechtzeitig. Die Tomate klatschte genau über seinem Kopf ins Bücherregal. Über »Krieg und Frieden« lief nun ein roter Matsch. Die »Kunst des Krieges« blieb verschont.

»Willst du noch eine?«, schrie sie ihn an. Liliana griff bereits zum nächsten Wurfgeschoss. Schnell warf er sich nach vorn, um ihre Hand festzuhalten. Aber sie ließ sich in ihrem Zorn nicht aufhalten. Ein zweites Wurfstück traf das Krimiregal. Irgendwie war ihm danach, zu schauen, welches Buch sie getroffen hatte. Sie war schließlich eine ausgesprochen gute Werferin. Sie war im Zirkus groß geworden. Ihre Großeltern, Malenko und Malenka, waren einmal im sowjetischen Staatszirkus eine große Nummer gewesen. Akrobatik am hohen Seil ohne doppelten Boden. Drei oder vier Mal im Jahr bekam Liliana ihre Anfälle. Entweder, wenn es um Urlaubsplanung ging oder um eine größere Anschaffung. Jedes Mal begann sie auszurasten.

Hätte ich bloß keine Tomaten eingekauft, dachte er und weiter: Hätten wir nur in der Küche genug Platz für einen Esstisch.

»Hör auf zu grinsen!« Die letzte Tomate pfiff an seinem Ohr vorbei. Haarscharf.

Jetzt reichte es ihm. »Ich grinse, wann es mir passt. Und hör auf, die Wilde zu spielen. Das ändert nichts. Immer, wenn dir was nicht passt, zerdepperst du unsere Wohnung.« Er hatte sich im Griff. Brüllte nicht. Nicht einmal lauter sprach er. Das brachte sie noch mehr auf.

»Duuuu …« Sie suchte nach Worten. »Du deutscher Ignorant! Du Bürohengst. Du Langweiler. Du Feigling!«

Das traf ihn. Schließlich wollte er nichts von allem sein. Er fand sich aufregend. Er bot ihr viel. Nur das eine nicht. Er war einfach noch nicht so weit. Als er als einzige Reaktion wortlos die Schultern hob, nahm sie die gefüllte Wasserkaraffe und hielt sie über den Kopf. Er wusste, er müsste reagieren. Müsste sie beruhigen. Ihr sagen, dass er sie liebte und nie eine andere lieben würde. Aber er wollte nicht erpresst werden. Gleichgültig, wie verständlich in den Augen ihrer Therapeutin die Wutanfälle waren. Verlustängste. Eltern früh gestorben, nie ein dauerhaftes Zuhause gehabt. Es war ihm bewusst. Doch er konnte nicht aus seiner Haut. Nicht so und nicht jetzt.

Liliana beobachtete Hannes. Jedes Zucken in seinem Gesicht erzählte ihr etwas. Sie wollte ihn nicht verlieren. Und sie hasste sich für ihre Unbeherrschtheit. Die ihn irgendwann von ihr wegtreiben würde. Doch auch sie konnte nicht anders: Mit voller Wucht ließ sie die Kanne fallen. Wasser und Scherben stoben in alle Richtungen.

Er sah sie stumm an. Schüttelte den Kopf. »Ich brauche eine Auszeit.«

Die unbändige Wut, die bis eben alle Macht über ihr Handeln hatte, verschwand. Abrupt. Sie ließ Schuld und Leere zurück.

Hannes spürte, dass nun jede Gefahr vorbei war. Sie sah ihn nicht mehr zornig an. Ihre blauen Augen blickten hilflos. Er nahm sie in den Arm, schaukelte sie vorsichtig wie ein kleines Kind hin und her.

Sie schluchzte und wischte die Tränen an seinem Hemd ab. »Lass mich nicht allein. Bitte.«

Ihr Flehen war für ihn weit schlimmer, als wenn sie die Wohnungseinrichtung samt Obst und Gemüse nach ihm warf. Das musste er bei der nächsten gemeinsamen Therapiesitzung unbedingt sagen. Bisher hatte er sich nicht getraut. Er wollte nicht wie ein Kerl dastehen, der hartherzig daherkam und immer mehr an seiner Partnerin auszusetzen hatte. Er sah auf die Uhr, die über dem Küchentresen hing. »Lass uns heute Abend sprechen. Ich muss los. Und du hast ja auch Termine.«

Er hatte sich im Griff. Emotionen zeigen, wenn er es wollte. Nicht, wenn die meinten, unbedingt rauszumüssen. Vicky, seine erste Beziehung, die länger andauerte als ein Wochenende, hatte zu ihm gesagt, er wirke nicht nur auf Fremde wie ein kühler Norddeutscher. Er hatte es nicht als Kritik aufgefasst. Im Gegenteil. Gefühle, die spontan geäußert wurden, verursachten sogar Kriege. Das würde ihm niemals passieren.

Als er an dem Abend nach Hause kam, sah die gemeinsame Wohnung in Stuttgart in der Schwabstraße noch immer aus, wie er sie am Vormittag verlassen hatte. Er lebte seit über sieben Jahren hier. Stuttgart ist ein gutes Pflaster für IT-Experten. Er holte die Kehrschaufel und einen Lappen und begann gerade damit, die Spuren des Streits zu beseitigen, als Liliana in die Wohnung stürmte.

»Ich habe einen neuen Auftrag. Hurra! Ich habe es geschafft!« Sie sprang um ihn herum, während er sich mühte, die Scherben vom Boden aufzuheben. Das Wasser war inzwischen getrocknet.

»Schön. Wollen wir erst einmal Ordnung machen und dann suchen wir uns zwei nette Stühle am Schlossplatz? Und dann verwöhne ich dich in der Königstraße.«

Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ihn graute davor, sich über irgendeines ihrer Hirngespinste zu unterhalten, während noch immer die Überreste des letzten Krachs seine Bücher verunstalteten. Selbst die Gefahr eines neuen Streits nahm er dafür in Kauf. Irgendetwas war heute Morgen mit ihm geschehen. Er hatte etwas Bestimmtes gesagt. Er hatte es ernst gemeint. Und in der Regel hielt er, was er versprach. Gleichgültig, welche Konsequenzen das haben würde.

Jetzt beobachtet sie mich. Ungläubig. Sie scheint fassungslos, dass ich nicht sofort auf sie eingehe und alles erzählt haben will. Ihre schönen blauen Augen streifen mich von oben nach unten. Mich, der ich vor ihr hocke und aufräume. Niemals provozieren. Ich höre die sonore Stimme von Frau Doktor Michaelis. Ich habe mich an ihre Tipps immer gehalten. Ja, ich provoziere meine Liliana das erste Mal. Ganz bewusst. Ich will, dass sie mich anschreit, dass sie ausrastet. Ich will gehen. Ich will sie nicht heiraten.

Hannes’ Gedanken kreisten um den einen Punkt. Heirat. Seit Monaten drehte sich alles darum. Die vergangenen Stunden hatte er dafür genutzt, um über all das nachzudenken. Er war überzeugt von seinem Entschluss. Ein paar Tage jeder für sich. Um zu sehen, ob der andere einem noch fehlte. Ob die Sehnsucht wiederkam, die er anfangs immer gespürt hatte, wenn Liliana sich morgens von ihm verabschiedet hatte. Und er musste in sich hineinhorchen. Ob seine Liebe ihre Launen, oder was es auch war, länger ertragen könnte. Wenn er ehrlicher wäre, zu sich selbst wenigstens, würde er sich eingestehen, dass es eine Flucht war. Dass er im Begriff war, wegzugehen. Aus ihrem Leben. Liliana zerrte an seinem Leben.

»Du willst mich verlassen.«

Er wollte gescheit und rücksichtsvoll antworten. Schließlich hatte sie sich erstaunlicherweise im Griff. Stattdessen stammelte Hannes: »Eine Weile nicht sehen.«

»Meine Großmutter hat immer gesagt: Aus den Augen – aus dem Sinn.« Liliana holte den rotbefleckten Tolstoi aus dem Regal und legte das Buch vor seine Füße. »Männer sollten vielleicht schreiben, wenn sie nicht reden können.«

Kurz dachte er tatsächlich darüber nach. Darüber, ob er ihr einen Brief schreiben sollte. Mehrere Seiten um das Unabwendbare fabulieren. Um den heißen Brei schreiben. Und ihr elegant seine Gründe darlegen. Weshalb er seine eigenen Wege gehen musste. Dass nicht sie, sondern er allein schuld an der Trennung sei. Die Michaelis hatte ihm mehr als einmal ans Herz gelegt, Liliana nie das Gefühl zu geben, sie wäre schuld. Schuldgefühle waren wie reines Gift für Liliana. Er nickte ihr zu und begann schon im Kopf mit den Zeilen. Sie stand unbeholfen vor ihm. Er wollte sie nicht anschauen. Nicht jetzt. Sie würde ihn wieder einfangen. Für eine Weile. Würde die schnurrende Katze sein. Bis der Tag kam – und der kam bestimmt –, an dem sie ihre Krallen ausfahren und alles von vorne beginnen würde. Hannes erhob sich, holte den Mülleimer und schob ihn vor Lilianas Füße.

»Du meinst es ernst. Oder?« Sie fragte leise, als wollte sie ihn nicht erschrecken.

»Hier. Nimm und mach den Rest. Es tut mir leid. Ich brauche eine Pause. Ich muss nachdenken.« Er reichte ihr die Kehrschaufel. Es tat ihm wirklich leid. Er sprach es nicht nur so dahin. Er war davon ausgegangen, dass sie die Frau seiner Träume war. Dass sie ihn liebte, wie er sie liebte. Und dass seine Art von Liebe ausreichen könnte.

»Du hast eine andere?«

Neptuns Gespielin

Hannes kam sich ein bisschen wie ein Feigling vor. Er war für einen Auftrag schon seit Längerem unter der Woche in München geblieben. Statt an den Wochenenden wie üblich heim nach Stuttgart zu fahren, hatte er seit ihrem Streit gekniffen. »Wichtige Sache«, war seine Antwort gewesen, wenn Liliana fragte, wann er nach Hause käme. Er wäre unabkömmlich, und ohne das Geschäft keine Brötchen und so weiter. Er hatte es nicht fertiggebracht, ihr die Wahrheit zu sagen. In langen Mails hatte sie von ihrer Sehnsucht geschrieben, ihrer Schuld, ihrer Angst. Auch von ihrem neuen Projekt. Marketing für eine Kunstschule. Auf Provisionsbasis.

Er fuhr langsamer. Es wurde Zeit, den Strich nicht nur durch das Packen seiner Koffer zu machen. Er hatte keine Lust mehr, an sie zu denken. Die ganzen Jahre drehte sich alles um sie und ihre Probleme, dachte er voller Selbstmitleid. Wo war ich eigentlich? Ich habe brav das Geld verdient, ihre Hirngespinste finanziert und war ihren vielfältigen Wurfgeschossen manchmal nur schwer entkommen. Als Frau hätte alle Welt mit mir Mitleid. Männer mussten stark sein. Immer. Geld verdienen. Kinder zeugen, alles finanzieren, und wenn sie Glück hatten, durften sie auch die Windeln wechseln. Zudem die Leiden der unglücklichen Frau ertragen. Mit Würde. Vielleicht sollte er sich einen Kumpel suchen. Wie früher. Gemeinsam um die Häuser ziehen, Frauen aufreißen, das Leben genießen. Endlich grinste er. Das alles war nie sein Ding gewesen. Er hasste es, Zeit sinnlos zu verprassen. Er trank zwar gern Alkohol, aber nicht unbedingt in der Öffentlichkeit. Und Frauen? Was das betraf, war er eher der schüchterne Typ. Frauen mussten ihn finden. Wie Liliana. Und vorher Andrea. Und Hilke. Und … Hannes grinste noch breiter. Es waren doch einige. Allerdings war keine bei ihm geblieben. Bis auf Liliana.

Ein Traktor bog überraschend vor ihm auf die Straße. Er bremste scharf ab. Der Firmenwagen, ein Audi, reagierte wie erwartet. Erstklassig. Vor ihm tuckerte es laut und schmutzig mit 40 Stundenkilometern. Unter anderen Umständen wäre er ungeduldig geworden. Vielleicht sogar ungemütlich. Doch er musste zu keinem Termin, kein Abteilungsleiter saß ihm im Nacken. Urlaub. Er hatte Liliana belogen, ihr seine geschäftliche Unabkömmlichkeit in München vorgegaukelt, um ein paar freie Tage ohne sie verbringen zu können. Der erste Urlaub allein seit …? Konnte es sein, dass er niemals allein in den Ferien gewesen war? Er lachte. Und gerade, als er sich im Stillen über seinen ersten Urlaub allein freuen wollte, fiel ihm ein, dass er dafür den falschen Ort gewählt hatte. Allerdings war dieser Ort wichtig und voller Erinnerungen. Er war dort aufgewachsen. Wenigstens ein paar Jahre. Und irgendwie wollte er aufräumen in seinem Leben. Damit er in Ruhe weiterleben konnte. Zum Aufräumen gehörte eben auch Vergangenheitsbewältigung. Welch großes Wort. Frau Doktor Michaelis hätte ihre helle Freude mit ihm. Ihre albern hohe Stimme wäre vor Glück noch höher geworden. Noch weniger erträglich.

Die Sonne strahlte heiß hinab an diesem Sonntag. Es kam ihm vor, als wäre sie nur für ihn so freundlich. Er wollte sich erkenntlich zeigen und öffnete die Fenster. Sogleich breitete sich die Hitze in seinem sorgsam klimatisierten Auto aus. Und zudem der Geruch des Wassers. Hannes sog alles tief in sich hinein, schüttelte den Kopf über alle Fahrer, die es scheinbar schrecklich eilig hatten und ungestüm ihn und den roten Traktor überholten. Die meisten hatten keine hiesigen Kennzeichen. Wie er auch. Seines hatte eines aus dem hessischen Raum, obwohl er aus Stuttgart kam. Dienstfahrzeug eben. Hannes wollte mehr Heimatgefühl. Er drückte so lange den Sendersucher seines Radios, bis er die Ostseewelle hörte. Als hätte er es bestellt, spielten sie »Wind of Change«. Er fühlte sich wie ein anderer. Er fühlte sich jung und spürte eine Lebensfreude zurückkehren, die er nur hier vor vielen Jahren einmal empfunden hatte.

Ebenso plötzlich, wie er vorhin auf die Straße gebogen war, verschwand der Traktor in einen kleinen Weg ohne Beschilderung. Trotzdem behielt Hannes die Geschwindigkeit bei. Er sang mit. Er beschloss, in Bad Doberan eine letzte Pause zu machen. Ein wenig Aufschub. Schließlich war der Weg das Ziel. Und der Weg konnte gut und gern eine längere Weile andauern.

Das Ortsschild tauchte auf. Wie lange war er hier nicht durchgefahren? Überall stand groß »Moorheilbad«. Ein hübsches Städtchen mit schönen Häusern und gepflegten Anlagen. Dort, wo er jetzt lebte, sagte man Dörfle und Häusle, und wenn etwas gepflegt war, lag es an der erfüllten Pflicht der Kehrwoche. Dass die Kehrwoche typisch schwäbisch sein sollte, empfand Hannes als Unsinn. Demnach wäre ganz Deutschland schwäbisch. Ein Land mit Pflicht zur Kehrwoche fand er beunruhigend. Andererseits konnten innere Kehrwochen guttun. Er blieb, erstaunt über seine philosophischen Gedanken, vor einem weißen Gasthaus stehen. »Zum Ostseeschwan« hieß es. Die fröhliche männliche Stimme der Ostseewelle kündigte Nachrichten an. Gleich 12.00 Uhr. Eine Unmenge Fahrräder stand auf dem Parkplatz. Er hatte ein wenig gehofft, dass die frühe Mittagsstunde ihm eine fast leere Gaststube gönnte. Leider hatte man aber auch hier die Brunch-Mode entdeckt, was dazu führte, dass die Leute inzwischen rund um die Uhr aßen. Alle Tische waren besetzt. Hannes beschloss, aufs Klo zu gehen und dann weiterzufahren. Vielleicht gab es ja einen Kaffee in die Hand für einen Junggesellen. Dieses Wort kam ihm das erste Mal in den Sinn. Er war jetzt Junggeselle. Er hatte sich von Liliana getrennt. Er hatte ihr vor seiner Abfahrt an die Ostsee eine lange Mail geschrieben und ihr erklärt, dass er nicht mehr so weitermachen konnte. Dass es besser ist, wenn sie sich trennen würden. Das hatte er geschrieben. Deutlich. Ohne Wenn und Aber – Faber. Ach, die 90er-Jahre mit knapper Kasse und Billigsekt waren zurück. Die nahe Ostsee brachte Erinnerung und gleichzeitig Wehmut. Trotz aller Querelen mit seinem Vater. Die letztlich ausschlaggebend gewesen waren für den Abschied von der besten Heimat, die er je gehabt hatte.

Er benutzte, wenn möglich, immer eine Kabine. Diese Stehklos waren ihm schon als Kind zuwider gewesen. Das öffentliche Pinkeln unter den Augen anderer konnte er nicht mal unter Alkoholeinfluss leiden. Als er zurück in die Gaststube trat, um eine Bedienung nach einem Kaffee zum Mitnehmen zu fragen, starrten ihn dunkel geschminkte Augen an. Die Frau, zu der dieser Blick gehörte, stand in Jeans, weißem Top und alten Turnschuhen am Tresen. Sie winkte ihm zu, während er kopfschüttelnd die übervollen Teller der Brunch-Gäste betrachtete.

»Komm. Alles voll. Hier ist ein Platz.« Sie klopfte auf den Barhocker neben sich.

Er hob abwehrend eine Hand und zeigte auf seine Armbanduhr. »Nett von Ihnen. Danke. Aber ich muss weiter.« Trotz des großen Wunsches nach Kaffee setzte er seine Füße zügig in Richtung Ausgang. Auf eine Unterhaltung hatte er nicht die geringste Lust.

Der schwarze Wagen hatte sich in der prallen Mittagssonne aufgeheizt. Er öffnete alle Türen, kramte im Kofferraum nach Wasser. Gierig nahm er einen großen Schluck. Es war lauwarm, löschte trotzdem seinen Durst und auch die Lust auf Kaffee. Er atmete erneut die wunderbare Luft ein. Langsam fiel eine Last von ihm, die er nachträglich erst als eine erkannte. Die Beziehung war in einem kaum noch ertragbaren Zustand gewesen, wie eine schleppende, lebensbedrohende Krankheit. Er fühlte sich erleichtert und das erste Mal seit Jahren richtig wohl. Er dachte zwar besorgt an Liliana, aber eher mit brüderlichen Gefühlen. Mit fast den gleichen Gefühlen, mit denen er an seine Schwester Kathi dachte, die weit weg in Brisbane lebte.

»Du nimmst mich doch mit?«

Er schrak leicht zusammen. Sie, denn es war eine Frauenstimme, die ihn das fragte, fasste ihn an die Schulter.

»Du siehst aus wie einer, der Ferien macht.« Die Frau von der Theke zwinkerte ihm zu. »Willst dir den Pott und das alles ansehen. Und die wunderschöne deutsche Ostseeküste.«

Hannes drehte sich zu ihr um. In der Gaststube hatte er nur einen flüchtigen Blick auf sie geworfen. Jetzt stand sie unmittelbar vor ihm. Sie war älter als er. Vorhin hätte er sie deutlich jünger geschätzt. Wenn er es denn gemusst hätte. Sie hatte kurze braune Haare, unzählige Sommersprossen und Augen, deren Farbe irgendwo zwischen grün, blau und grau lag. Sie war einen halben Kopf kleiner als Hannes. Vielleicht ein winziges Stück größer als Liliana.

»Was starrst du mich an? Meinst du, ich will dir unterwegs die Brieftasche klauen?« Sie lächelte ihn an. »Nimm mich ein paar Kilometer mit, ja? Ich quatsche auch nicht viel. Ich rauche nicht. Ich trinke nicht. Ich bin ganz artig.«

Ihre Stimme war ihm sympathisch. Trotz der Impulsivität sprach sie leise und mit einem warmen Klang.

Endlich nickte er. »Okay. Ich fahre bis zum Kurhaus in Warnemünde. Etwa eine gute halbe Stunde werden wir miteinander auskommen.«

Sie schlüpfte schnell, zu schnell, wie er fand, auf den Beifahrersitz. Er schloss alle Türen, ärgerte sich ein wenig über seine Gutmütigkeit und fuhr schnell vom Parkplatz. Ein paar Minuten blieb es tatsächlich still.

»Mir ist kalt. Ist ja wie im Kühlschrank bei dir.« Sie drehte an der Klimaanlage. »Ich friere schnell. Seit damals schon. Damals, weißt du. Na eben, wie das alles kam. Du weißt schon.«

Hannes wusste nicht, was sie meinte. Und er hatte auch keine Lust, irgendetwas über sie zu erfahren. Er war viel zu sehr mit sich beschäftigt. Und mit der gerade gewonnenen Freiheit. Aber er sagte der Höflichkeit halber: »Ja, damals eben.«

Sie nickte. »Du weißt, was er getan hat?« Sie schluckte und setzte hastig hinterher: »Und was er tut?«

Er war es gewohnt, als IT-Berater oftmals Dinge von Menschen zu hören, die ihn eigentlich nichts angingen. So nickte er abermals.

»Du kommst auch von hier. Wusste ich es gleich. Ich habe es dir angesehen. Es gespürt. Du bist einer von uns.«

Jetzt kam die Leier. Dabei war er keiner von hier. Wenigstens nicht auf die Weise, wie sie es meinte.

»Nein. Ich bin später hergekommen. Nach der Wende erst.« Hannes meinte, das klarstellen zu müssen.

»Wende. Scheißwende.« Sie klatschte sich auf die Schenkel. »Scheiß Wende, sag ich dir.« Neben Verachtung legte sie Hohn in ihre eigentlich schöne Stimme. Die er noch immer mochte. Sonst hätte er womöglich bei diesem Thema angehalten und sie rausgesetzt.

»Du bist ein Wahl-Ossi? Einer, der alles besser weiß? Und der meint, zu denen zu gehören, die auf der richtigen Seite standen?«

Er drehte erst die Temperatur auf 21 Grad zurück, dann das Radio auf, als Zeichen, dass er nicht reden wollte. Konnte sie nicht erkennen, dass er viel zu jung war für das, was sie ihm vorwarf? Oder sah er inzwischen so alt aus? Möglich. Die letzten Wochen hatten ihm zugesetzt. Ach was. Die letzten Monate. Und er hatte nie die Zeit für Sport oder etwas Freizeit gehabt.

»Es ist dir wichtig, nicht von hier zu stammen. Warum? Ist es dir peinlich?« Sie lachte laut auf. Das Lachen war aufgesetzt und passte nicht zu ihr. »Und reden willst du auch nicht!« Sie schrie fast, um »Vamos a la playa« zu übertönen.

»Ja, ich will nicht reden und ich will mich nicht über meine Vergangenheit oder sonst etwas auslassen.« Seine gute Laune war zum Teufel, und das verdankte er dieser überdrehten Person. Er machte das Radio aus. Die Sonne blitzte ihn an.

Die merkwürdige Frau schniefte in ein Taschentuch, das sie, ohne zu fragen, im Handschuhfach gesucht hatte. Sie legte eine Hand vorsichtig auf sein Knie und flüsterte: »Du weißt, wer Neptun ist. Wir haben uns Treue geschworen. Ewige Treue. Bis in den Tod. Ich muss meinen Schwur einlösen. Endlich. Er erwartet mich. Ich hätte niemals gehen dürfen. Damals. Du weißt. Damals, als alles noch ganz anders war. Ich bin schuld. Ich habe ihn verlassen.« Sie putzte sich kräftig die Nase.

Er überlegte, ob er sie zu einem Arzt bringen sollte. Sie war vollkommen überdreht und erzählte wie im Fieberwahn weiter: »Nun weißt du auch, wer ich bin. Neptuns Gespielin. Seit 30 Jahren bin ich das. Er hat immer für mich gespielt. Er hat alles immer nur für mich getan. Und ich für ihn. Ich muss zurück. Kein weiterer Versuch. Versuche sind zum Scheitern verurteilt. Er wird sehen, dass ich es ernst meine.«

Sie versuchte erneut, ihre Hand auf seinen Oberschenkel zu legen. Er schob sie zurück. Sie redete unbeeindruckt weiter. Hannes schaltete ab, als sich immer wieder die Worte »Neptun« und »Ewigkeit« wiederholten. Es war ihr geflüsterter Singsang, der ihn einlullte, und somit nahm er kaum den Gespensterwald wahr, an dessen Steilküste er und seine Freunde einige Mutproben miteinander bestanden hatten. Die wenigen Kilometer über die Landstraße bis Diedrichshagen ertrug er seine Beifahrerin.

Mitten im Ort boxte sie ihn mit der Faust in die Seite. »Halt an. Lass mich raus. Den Rest laufe ich.« Sie gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange. »Tschüss.« Sie ging davon, ohne sich umzudrehen.

Erleichtert drehte Hannes die Musik an und fuhr weiter. Als er kurze Zeit später das Ortsschild mit der Aufschrift »Warnemünde – Hansestadt Rostock – Staatlich anerkanntes Seebad« passierte, dachte er noch einmal kurz an die sommersprossige Frau. Als er in das Parkhaus vom Kurhaus fuhr, begann er bereits, die Begegnung zu vergessen.

Vater und Sohn

Dorothea rief verärgert von der Tür: »Und wenn ihr euch nicht endlich vertragt, könnt ihr beide gehen! Es reicht! Johannes Liebermann, ich wusste ja, dass du stur bist. Aber dass du ungerecht und selbstherrlich bist, ist mir neu.«

Hannes wollte sich gerade vom Stuhl erheben.

»Du bleibst da. Du trägst leider viel zu viel von deinem Vater in dir. Nicht nur äußerlich. Entweder haltet ihr es zusammen aus und redet wie vernünftige Menschen miteinander, oder jeder von euch kann seiner Wege gehen. Aber keiner dieser Wege ist in dem Falle meiner.«

Ihre geschulte Stimme schallte wie eine einzige Welle durch das Zimmer. Hannes wusste nicht, ob sie es ernst meinte oder in die Rolle der bösen Lebensgefährtin geschlüpft war, um ihren Johannes zu erschrecken. Er wäre gern Zuschauer gewesen. Stattdessen spielte er wohl eine der Hauptrollen. Johannes presste die Lippen zusammen und atmete schwer.

»Mein Lieber! Du brauchst nicht prusten wie ein altes Walross. Ich meine es ernst. Und du weißt das ganz genau! Ich gebe euch beiden genau 72 Stunden. Keine Sekunde länger!« Mit diesem letzten Ausrufezeichen, das sie sorgfältig in die letzte Silbe gelegt hatte, schloss sie geräuschvoll die Tür.

Hannes kratzte sich verlegen am Kopf. Ihm war diese Schelte mehr als peinlich. Gut, dass sie in der kleinen Küche saßen und nicht nebenan im Frühstücksraum der Gäste. Obwohl – wahrscheinlich hatten die ohnehin jedes Wort mitbekommen. Dorothea Wilke hatte selbst mit Mitte 60 noch eine der besten weiblichen Sprechstimmen.

Beide Männer versuchten eine Weile so zu tun, als wäre nichts passiert. Johannes löffelte sein Ei und blätterte in der »Ostsee-Zeitung«. Hannes schmierte sich ausgiebig ein Brot mit Marmelade. Obwohl ihm der Appetit vergangen war, biss er herzhaft in das Graubrot. Jeden Bissen spülte er mit Kaffee nach. Johannes trank Schwarztee. Wie immer schon. Jeden Morgen zwei Tassen Schwarztee. Mit jeweils zwei Stücken Zucker. Ohne Milch. Hannes tat Milch in den Kaffee, dafür verzichtete er auf den Zucker. Aus Prinzip mochte er nichts, was Johannes schmeckte.

»Das geht nun schon ewig, dass die Radler jeden Monat den gesamten Verkehr lahmlegen. Rücksichtnahme wollen sie. Ha!« Johannes rührte wütend in seiner Tasse herum.

Hannes wusste nicht, worum es ging. Er zuckte mit den Schultern.

»Siehst du! Dich interessiert wieder mal nichts! Du schlurfst durchs Leben, während andere immer die Köpfe hinhalten müssen.«

Unter der Ostseebräune breitete sich ein Rot aus. Hannes kannte das. Der alte Jo redete sich in Rage. Noch ein paar Sätze und er würde laut werden, auf den Tisch hauen, die Zeitung zusammenraffen und verschwinden. Wie in alten Zeiten. Seit drei Tagen ging es so.

Wahrscheinlich hatte Doro vollkommen recht. Vater und Sohn konnten einfach nicht miteinander. Allerdings stritt Hannes jede Ähnlichkeit mit seinem Vater ab. Seiner Meinung nach sah er nicht nur anders aus. Er war sogar ein vollkommen anderer Mensch. Nicht rechthaberisch. Und erst recht nicht immer überzeugt von dem, was er tat. Und er konnte mit anderen reden. Jawohl!

»Die wissen gar nicht, was sie da tun. Spaß haben und andere ärgern! Und du zuckst mal wieder die Schultern, als würde dich das nichts angehen! Was geht dich überhaupt an?« Johannes warf ihm ein Stück der Zeitung hin. »Zeitung! Kennst du das überhaupt noch? Du und dein Computer! Und dieser Handykram und was noch? Wisst ihr eigentlich, was ihr damit anrichtet?«

Hannes warf die Zeitung zurück. Dabei stieß er an seine Tasse. Ein Rest Kaffee floss vom Tisch auf seine helle Leinenhose. »Was willst du, Jo? Willst du, dass ich gehe? Verschwinde? Wie du Mama rausgeworfen hast?« Er rubbelte heftig mit der Serviette am nassen Fleck auf seinem Oberschenkel herum.

»Jetzt schlägt’s 13! Was bildest du dir ein! Mama ist gegangen und lebt glücklich mit ihrem Neuen in der bayrischen Pampa!«

»Du hast sie rausgeekelt. Mit deiner Selbstherrlichkeit und deinem ewigen Pochen auf deine Gerechtigkeit! Du hast alles kaputtgemacht! Und sie lebt längst nicht mehr in Bayern!«

Während sie sich anbrüllten, klopfte es. Was sie nicht hörten. Die Tür ging auf und ein Kind lugte hindurch.

»Hallo?«, rief das kleine Mädchen.

»Was ist?« Johannes’ Tonfall senkte sich, trotzdem konnte er das Schimpfen nicht verhindern.

Schnell flog die Tür wieder zu, das Mädchen war verschwunden.

»Siehst du! Mit deinem Geschrei verscheuchst du unsere Gäste. Die kleine Anna weint sicher und ihre Eltern werden uns einen Hassstern in deinem verfluchten Internet geben.« Er kaute einen Kanten Brot, was ihn zu beruhigen schien.

Hannes schüttelte den Kopf. »Jo, es ist nicht mein verfluchtes Internet. Ich habe es nicht erfunden. Du solltest dich endlich einfinden in das heutige Leben. Sonst bist du die nächste Frau auch los!« Hannes setzte nach. Er konnte und wollte nicht anders. Sein Vater sollte einmal klein beigeben. Einmal sagen: Du hast recht. Sorry. Tut mir leid. Genauso war es immer bei ihnen zugegangen. Immer hatte er unter Jo gelitten. Der große Kriminalhauptkommissar, der jeden Fall löste und stets alles im Griff hatte. Der furchtlose Polizist, der sich gegen das Böse stellte, gleichgütig, was es kostete.

Bevor sein Vater reagieren konnte, rief Conny, die Haushälterin der Pension, vom Flur: »Herr Liebermann, wir brauchen mal Ihre Hilfe. Kommen Sie bitte.«

Beide Männer sprangen auf. Jo zeigte demonstrativ auf sich, hieb die Faust mitten auf den zum Glück massiven Tisch und ging hocherhobenen Hauptes zur Tür hinaus. Hannes hörte, wie vor der Tür getuschelt wurde. Verstehen konnte er nichts. Aber er dachte sich seinen Teil. Endlich wurde es ruhig und er konnte ein wenig nachdenken. Womöglich hatte Doro recht. Dieses Mal war es fast noch schwieriger, mit Jo auszukommen. Jede Kleinigkeit trieb seinen Vater an, boshaft zu werden und Hannes herauszufordern. Manchmal mochte es auch umgedreht sein. Er stand auf und ging zum runden Spiegel, der neben der alten weißen Anrichte stand. Braune Augen, leicht rundes Gesicht, dunkle, lockige Haare. Ein Leberfleck an der linken Wange nahe dem Ohr. Den Leberfleck wollte er sich seit Urzeiten wegmachen lassen. Hannes war ein paar Zentimeter größer als Jo. Und Jo konnte harmlos wirken. Und unbeteiligt. Und nett. Bei Hannes lag das anders. Er war wirklich harmlos, unbeteiligt und nett. Er streckte seinem Spiegelbild die Zunge raus. Es gibt viel, was uns unterscheidet. Er beschloss, einen Spaziergang zu machen und sich vorher eine saubere Hose anzuziehen.

»Hannes, komm mal.« Conny zog ihn in den inzwischen leeren Frühstücksraum. Sie hielt den Besen, mit dem sie eben den Boden gefegt hatte, vor sich wie ein Tambourmajor seinen Küs.

»Das könnt ihr nicht machen. Ich kenne Dorothea länger als meinen Helmut, Gott hab ihn selig. Und ich habe sie oft unglücklich und selten glücklich gesehen. Du weißt, ich tue alles für sie. Sie hat mich durch die schweren Wendejahre mitgeschleppt. Hat mir Jobs verschafft und mich letztlich aufgenommen. Sie ist mir mehr als eine Freundin. Sie ist für mich, seitdem Helmut nicht mehr ist, Gott hab ihn selig, der wichtigste Mensch auf Erden.« Sie holte Luft und richtete den Besen bedrohlich nahe an Hannes Kopf. »Das könnt ihr nicht machen!«, wiederholte sie. »Seit du da bist, gibt es keine friedliche Minute. Dein Vater ist ein guter Mann. Er schafft es, Dorothea glücklich zu machen. Nur, wenn er von der Vergangenheit anfängt, wird er ein ganz anderer Mensch.« Sie stampfte mit dem Ende des Stiels fest auf. »Ich weiß nicht, was mit euch nicht stimmt und warum ihr meint, euer Gift gegenseitig versprühen zu müssen. Aber …«, sie stampfte noch einmal auf, »ihr vertragt euch und kommt ein paar Tage miteinander aus. Und wenn ich euch Schauspielunterricht geben muss. Schließlich habe ich jahrelang Schauspieler jeder Art rausgeputzt. Ich habe sogar die eine oder andere kleine Rolle gespielt. Wenn Not am Mann war. Tut wenigstens so, als ob ihr es schafft, und dann, ich sag’s nicht gern, dann verschwinde und lass beide in Ruhe ihren Lebensabend genießen. Meine Dorothea hat’s verdient.«

Hannes stand die ganze Zeit, in der Conny ihm ihre Predigt hielt, sprachlos und mit einer Hand an der Tür vor der kleinen Frau, die im nächsten Monat ihren 70. Geburtstag feiern wollte. Zwei alte Frauen, ein alter Mann und er mittendrin. Was für ein Tag. Im Rückblick erschien ihm das Leben mit Liliana dagegen wie Zuckerschlecken.

»Sag was, Hannes. Bei mir biste still, bei deinem Vater schaffst du es nie, etwas runterzuschlucken. Müsst euch immer was beweisen. Männer!«

Conny stampfte ein letztes Mal auf, als Hannes den Kopf schüttelte.

»Doch. Du wirst. Deinem Vater zuliebe. Dem du wenigstens dein Leben zu verdanken hast. Und zudem noch das gute Aussehen.«

Hannes glaubte, sich verhört zu haben. Dankbarkeit für Leben und gutes Aussehen. Er wollte gern erwidern, wie satt er es hatte, dankbar für allen möglichen Mist zu sein. Conny schielte schelmisch zu ihm hinauf. Da musste er grinsen. »Gutes Aussehen, ja?«

Sie nickte.

»Du meinst, meine Eitelkeit zu streicheln genügt, um mich mit Jo zu vertragen?«

Sie nickte wieder.

»Ach, wenn das so einfach wäre. Schließlich kann nicht einer allein Frieden halten. Die andere Seite muss wenigstens seine Waffen niederstrecken.« Hannes strich Conny über die faltige Wange. »Danke für den Versuch. So eine Freundin wie dich hätte ich gern. Ich verschwinde und lass euch euer Leben.«

»Hannes. Sag ihm wenigstens Tschüss. Du wirst es sonst bereuen.«

Er klopfte an das Schlafzimmer, das sich eine Treppe höher unter dem Dach befand. Niemand rief herein, obwohl er eine Schranktür klappern hörte.

»Jo, ich will mich verabschieden. Es ist besser, wenn ich gehe.« Er sagte es laut genug, damit sein Vater ihn verstand.