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Bei einer Wanderung im Müritz-Nationalpark stolpert die Buchhändlerin Lilo Glück über einen menschlichen Schädel. Untersuchungen zeigen: Das Skelett liegt bereits seit fast 30 Jahren im Wald. Was ist damals geschehen? Lilo Glück musste als Kind ihre Heimat verlassen und lebt erst seit Kurzem wieder in Neustrelitz, diesem paradiesischen Land der tausend Seen. Ihr Neuanfang verläuft jedoch alles andere als paradiesisch: Als eine weitere Leiche entdeckt wird, gilt sie schon bald als Verdächtige …
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Seitenzahl: 321
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Jana Jürß
Tod im Land der tausend Seen
KRIMINALROMAN
Stumme Zeugen Grausige Leichenfunde im Müritz-Nationalpark. Bei einer Wanderung stolpert die Buchhändlerin Lilo Glück über einen menschlichen Schädel. Untersuchungen zeigen: Das Skelett liegt bereits seit fast 30 Jahren im Wald. Doch was ist damals geschehen? Die Neustrelitzer Polizei ermittelt in alle Richtungen.
Lilo Glück hat als Kind ihre Heimat verlassen müssen und lebt erst seit wenigen Monaten wieder mit ihrer Familie in Neustrelitz, in diesem paradiesischen Land der tausend Seen. Ihr Neuanfang verläuft jedoch alles andere als paradiesisch: Sie hat mehr Feinde als Freunde und als ein beliebter Mitarbeiter des Nationalparkamtes tot aufgefunden wird, gilt sie schon bald als Verdächtige. Will ihr jemand den Neuanfang schwer machen oder hat sie tatsächlich etwas mit den Morden zu tun? Der Hotelbesitzer Lutz Meinhard hält zu Lilo und bringt sie dadurch, ohne es zu ahnen, in große Gefahr. Fast zu spät erkennen die zuständigen Ermittler die Zusammenhänge …
Jana Jürß wurde 1970 in Neustrelitz (Mecklenburg/DDR) geboren, wo sie mit ihren sechs Geschwistern aufwuchs. Im Jahr 1989 flüchtete sie über Ungarn/Österreich aus der DDR. Seit 2005 arbeitet die verheiratete Mutter von zwei Kindern als Schriftstellerin und Publizistin. Jana Jürß ist Mitglied im PEN sowie im »Syndikat«.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Ostseekiller (2018)
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Phil Stev / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-5950-4
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
»Sie werden schon merken, Mecklenburger haben was von Elefanten. Nicht unbedingt die Dickhäutigkeit, aber sie sind genauso nachtragend.«
»Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Wenn das stimmt, was Sie sagen, bin ich dünnhäutig und trage ständig Groll mit mir herum. Ich glaube, ganz so pauschal ist es dann doch nicht. Und mit den Elefanten ist es etwas anders, für sie ist das Erinnern lebenswichtig, für uns Menschen jedoch eher das Vergessen.«
»So philosophisch habe ich das gar nicht gemeint. Dass Mecklenburger nachtragend sind, ist eher meine persönliche Erfahrung, seitdem ich hier lebe. Wenn Sie ein Geschäft erfolgreich führen wollen, brauchen Sie auf jeden Fall ein dickeres Fell als die meisten unserer Mitbürger.«
»Danke für den Tipp. Wenn ich mehr davon brauche, wende ich mich gerne an Sie.« Lilo Glück sah unruhig auf die Uhr. Sie ließ die beiden ungern abends so lange allein. »Herr Meinhard, ich muss dann. Meine Kinder warten auf mich.«
»Sie haben Kinder?«
»Als wenn Sie das nicht längst wüssten.« Sie lächelte ihn spöttisch an, während er verlegen sein Glas hob.
»Erwischt. Der Buschfunk in unserem Städtchen lässt einen nicht im Stich.«
»Ich habe kein Geheimnis darum gemacht, dass ich …«, was eigentlich, dachte sie, dass ich Kinder habe? Warum auch? Sie ließen sich kaum verheimlichen, wenn man mit ihnen lebte. Und der fehlende Mann war offensichtlich. Alles andere ging die Leute nichts an. »Ich muss jetzt. Tschüss, Herr Meinhard.« Sie streckte ihm die Hand hin, die er nahm und ein wenig zu lange festhielt.
»Bis zur nächsten Sitzung.« Er nahm sich zusammen, um sie seine Einsamkeit nicht spüren zu lassen.
Gern hätte er noch, nachdem alle anderen gegangen waren, mit ihr geplaudert. Bei einem Glas Bier. Sie mochte Bier. Er weniger, aber seit Carmen weg war, trank er es trotzdem. Ihr zum Trotz. Carmen hatte Bier immer als Volksgetränk abgetan und gemeint, dass sie als Besitzer eines Hotels mehr als das einfache Volk waren. »Prost, Carmen!«, sagte er in den nun leeren Raum, den er gleich noch aufräumen wollte. »Du bist eine hochnäsige Zicke, aber ich vermisse dich sehr.«
Währenddessen ging Lilo Glück durch den Katersteig zur Strelitzer Straße, ein kleiner Umweg, den sie brauchte, um den Kopf freizubekommen. Sie hatte die Orientierung in der Stadt schnell zurückgewonnen, ein paar Straßennamen waren anders, aber im Grunde waren es die Straßen ihrer Kindheit geblieben. Sie schalt sich nachträglich, nicht gemeinsam mit André Kröger, dem Besitzer der »Musikklause«, vom Hotel Strelitz aufgebrochen zu sein. Dann wäre sie nicht allein mit Lutz Meinhard gewesen. Eine Freundschaft mit ihm war ihr wegen seiner Direktheit zu viel. Wenn ihre Mutter sie nicht so gedrängt hätte, dem Verein »Neustrelitzer Marktquartier« beizutreten, in dem scheinbar alles, was Geschäft, Rang und Namen hatte, sich seinen Platz suchte, wäre sie nicht genötigt, einen Abend im Monat die zähen Sitzungen zu besuchen.
Ein Blick auf die Uhr genügte ihr, um etwas schneller zu gehen. Sam musste ins Bett und ohne das übliche Ritual konnte sie nicht einschlafen. Marius hatte ihr zwar versprochen, seine Schwester ins Bett zu schicken und ihr auch etwas vorzulesen, aber selbst wenn er das tat, würde Sam nicht schlafen können. Als Lilo beim »Gymnasium Carolinum« ankam, das in ihren Kinderjahren das »Haus der Offiziere« war, fiel ihr ein, dass sie dringend mit Marius’ Klassenlehrer sprechen musste. Seine Noten waren nach dem Umzug wieder deutlich schlechter geworden. Gleich morgen früh wollte sie eine Mail an Böse schreiben. Manuel Böse war ein strenger Lehrer, wie sie von anderen Eltern erfahren hatte. Aber Marius hatte bisher nie etwas Schlechtes über ihn gesagt, was allerdings nicht zwangsläufig Zuneigung bedeuten musste. Marius schwieg ohnehin die meiste Zeit.
Ihr Handy vibrierte. Lilo nahm es aus der Jacke und las die kurze Nachricht: »Mama, wo bist du?« Sie tippte die Antwort: »Bin gleich bei dir, meine Süße.« Sie lief die letzten Meter bis zur Kreuzung und konnte ihr neues Zuhause im Obergeschoss eines Hauses in der Hohenzieritzer Straße schon sehen. Im Wohnzimmer brannte noch Licht.
Sie schlängelte sich durch die dicht stehenden Buchen.
Heimkehr, hatte er gesagt. Irgendwann einmal. Nach dem Geschäft. Einmalig, hatte er gesagt. Zu ihr. Zu seiner Geliebten. Eine einmalige, niemals wiederkehrende Möglichkeit. Etwas vom großen Kuchen abbekommen. Endlich.
Sie hatte ihm geglaubt. Sie glaubte ihm immer noch. Sie liebte ihn. Mehr als Paul, ihren kleinen Bruder. Den sie sein ganzes Leben lang schon liebte. Ein letztes Treffen, ausgerechnet hier. An dem Platz, an dem ihre Liebe begonnen hatte. Handschlag würde reichen, auch das hatte er gesagt. Nun gut, hatte sie gesagt. Ein Handschlag und dann machen wir uns auf den Weg. Wenn nicht bald, dann bleibe ich. Ich kann Paul nicht mehr in die Augen sehen. Er merkt etwas.
Sie hörte Stimmen. Eine vertraute und zwei, die sie den Männern zuordnen konnte, mit denen der Vertrag heute besiegelt werden sollte. Dann eine unbekannte Stimme, weiblich und jung.
Jetzt trat sie aus dem Buchenwäldchen heraus auf die Lichtung. Niemand bemerkte sie. Sie aber sah, wie er die andere, die junge Frau, anblickte. Und wie er sie mit seiner Schulter berührte. Nein, so war er nicht. Er verließ schließlich ihretwegen seine Frau. Und sogar sein Kind. So wie sie seinetwegen Paul verließ. Es ging nicht anders. Sie waren eins geworden. Die Sache hatte sie beide verschmelzen lassen. Er wusste, ohne sie ging es nicht, ohne sie hätte er keine Chance gehabt. Und sie? Sie liebte. Das erste Mal in ihrem Leben liebte sie, wie eine Frau überhaupt lieben konnte. Sie war ihm verfallen. Mit Haut und Haaren. Bei diesem Gedanken fasste sie in ihre dichten dunkelblonden Haare. Ja, sie würde alles für ihn opfern. Wahrscheinlich, bremste sie sich selbst. Sie war kein junges Mädchen mehr. Wusste er es? Dass sie alles für ihn geben würde? Nutzte er es aus? Vielleicht. Es spielte keine Rolle. Sie benutzte ja auch ihn. Und seine Abhängigkeit. Letztlich war es ihr egal, weshalb sie zusammen waren. Hauptsache, sie waren zusammen.
Sie gab ihren Beobachtungsposten auf und ging in gerader Linie auf die kleine Gruppe zu. Er bemerkte sie und lächelte sie an. Strahlend, fand sie. Liebevoll. Er hatte die andere gar nicht besonders angesehen und sicher nur zufällig berührt.
Sie begrüßten sich. Wie gewohnt mit Handschlag. Ob das nun die Besiegelung des Vertrags sei, fragte sie. Die Männer sahen sie erstaunt an. Ehe sie verstanden.
»Fast«, sagte der eine. Der Große mit den kurzgeschorenen grauen Haaren. Dessen zerfurchtes Gesicht schon mehr als das gesehen hatte, was gerade passierte.
»Wie alt waren Sie im Krieg? Schon alt genug, um mitzumachen?«
Er fasste ihren Arm und streichelte grob darüber.
Sie ließ es zu. Redete aber weiter. »Wir wissen nicht alle genug voneinander, finde ich. Diese Sache ist groß und wird uns für den Rest unserer Leben miteinander verbinden. Also, waren Sie im Krieg?«
Der Angesprochene hob fast hilflos die rechte Hand und strich sich damit über das Kinn. Von links nach rechts.
Sie beobachtete ihn genau. »Und, waren Sie?«
Er nickte.
»Was soll das?«
Sie ließ sich durch ihren Liebsten nicht irritieren. Eventuell hatte er vorhin doch zu nah bei dieser anderen Frau gestanden, die nun wie eine wunderschöne zarte Blume inmitten dieser Männer, die an Unkraut erinnerten, stand und sich betreten auf die dunkelblauen, bequem aussehenden Schuhe schaute, die irgendwie nicht zu ihrer eleganten Kleidung passten.
»Ich sagte schon, wir kennen uns zu wenig. Also, Sie haben den Krieg erlebt. Aktiv? Und dann nahtlos in den Kalten Krieg gewechselt? Nicht schön.« Das dachte sie wirklich. Nicht schön! Als junger Kerl in den Krieg gemusst, wer weiß, was er da erlebt hat, dann Kalter Krieg mit allem Drum und Dran. Vielleicht wie Werner Holt? Oder war er wie dessen Freund, der Wolzow? Einer, der es wirklich wollte?
»Wie kommst du jetzt auf solchen Unsinn?« Ihr Liebster wurde ungeduldig.
»Unsinn? Wenn du meinst. Entschuldigt bitte.« Ja, er hatte recht. Georg hatte recht. Sie führte sich furchtbar auf. Und wenn sie sich schuldig fühlte, wurde aus dem zärtlichen gedanklichen »er« immer »Georg«. Der Mann, den sie liebte, zu dem sie aufsah. Etwas rumorte in ihr. Was sie nicht wollte. Es war doch bisher alles gut gelaufen. Sie hatte nie auch nur den geringsten Zweifel gehabt. Reichte eine fremde Frau schon aus, um sie zu einer unsicheren Zicke werden zu lassen?
»Nachdem nun alles geklärt ist – können wir dann?« Der neben dem Zerfurchten, Heiner Schuster, mittelgroß, dunkle, fast schwarze Haare, die, wie sie für sich feststellte, dringend einen Friseur brauchten, hob die Aktenmappe vor seine Brust.
Alle nickten, nacheinander. Selbst die fremde junge Frau. Und als Letzte sie selbst.
Ob alles geklärt ist, dachte sie, werden wir noch sehen.
»Ihr Sohn lebt sich sehr schwer bei uns ein. Er ist schweigsam. Absolut introvertiert. In seiner eigenen Welt. Wenn es keine Klausuren gäbe, die er einigermaßen schafft, sähe ich sein Abitur gefährdet. Trotzdem sollten Sie mit ihm sprechen. Wir können das auch gemeinsam machen. Eltern und Lehrer gemeinsam ist manchmal hilfreich.« Manuel Böse sah sie durch seine Brille freundlich an.
Er wirkte nicht streng auf sie. Im Gegenteil. Aber was wusste er schon von ihrem Jungen? Im Grunde nichts. Und sie wollte hier nicht viel Privates erzählen. Das war ihr schon immer wie Verrat an den eigenen Kindern vorgekommen. Allerdings war sie langsam wieder in der Situation, von der sie dachte, sie überwunden zu haben. Marius hatte sehr lange gebraucht, um mit dem Tod von Christoph zurechtzukommen. Sein Vater war immer sein Held gewesen. Trotz aller Verschiedenheit. Sie machte sich Vorwürfe wegen des Umzugs. Sie hätte warten sollen bis nach dem Abitur. Aber dann wäre der Laden weggewesen. Ein anderer würde jetzt die Bücher verkaufen, würde statt ihrer die Weihnachtslesung vorbereiten, würde mit Heike, Tom und Beatrice die langen Adventsabende machen.
»Es war immer schon mein Traum, einen eigenen Buchladen zu haben.« Der Gedanke kam plötzlich als lauter Satz aus ihrem Mund. Sie schüttelte den Kopf. »Das gehört nicht hierher. Entschuldigen Sie.«
Der Lehrer sah sie noch freundlicher an. »Kein Problem. Im Gegenteil. Es kann helfen, wenn ich die Hintergründe verstehe. Es sind, so würde ich annehmen, nicht nur allgemeine altersabhängige Probleme, die Marius mit sich trägt.«
Sie zögerte, stand auf, ging zum Fenster, das die Sporthalle zeigte. Tja, er mochte recht haben, der gute Herr Böse, dachte sie. Über das Wortspiel musste sie lächeln und sie fasste den Entschluss, mit diesem Menschen zu reden, über das allgemeine Geplänkel hinaus. »Ja. Marius hat seinen Vater verloren. Das ist zwar schon fast fünf Jahre her, aber nach unserem Wegzug von Stuttgart vor ein paar Monaten ist er scheinbar wieder in eine Starre gefallen, die ihn viele Monate nach dem Tod meines Mannes gefangen hielt.«
»Verstehe. Erst der Verlust des Vaters und nun ein vollkommen neues Umfeld. Hatte er gute Freunde?«
Sie nickte.
»Und wie hatte er Ihre Pläne vor dem Umzug aufgenommen?«
»Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Er hat sich mit mir gefreut über die Chance. Außerdem leben meine Eltern hier und er liebt seine Großeltern.«
»Soll ich mal mit ihm reden?«
Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn erschrocken an. »Nein. Um Himmels willen. Ich mache das.«
Er räusperte sich. »Wie Sie wollen, Frau Glück. Falls doch, melden Sie sich einfach bei mir. Sie haben ja meine Mailadresse. Und ich achte ein bisschen mehr auf Marius.«
»Danke. Er wird sich fangen. Es ist ein neues Leben. Daran muss er sich erst einmal gewöhnen. Neue Schule, neue Lehrer und das alles.«
Sie verabschiedeten sich. Lilo ging die Treppen hinunter. Ein netter Lehrer. Er schien Marius wirklich helfen zu wollen. Dennoch war sie unzufrieden. Sie hatte das Gefühl, entweder zu viel oder zu wenig gesagt zu haben. Marius war ganz allein hier, an jedem Wochentag. Mit sich und seinen Ängsten allein. Denn die hatte er. Auch wenn er das wahrscheinlich nicht zugeben würde.
Es klingelte und sie beeilte sich, schnell wegzukommen. Marius sollte sie nicht sehen. Sie hatte ihm nicht gesagt, dass sie einen Termin in der Schule hatte. Er wollte nicht, dass sie sich »in seine Angelegenheiten« mischte. Das hatte er ihr bereits mehrfach zu verstehen gegeben. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und hörte hinter sich eine Horde Kinder. Der Ausgang lag nur noch wenige Meter entfernt, als eine Frau ihren Vornamen rief. Sie blieb stehen.
»Lilo? Bist du das wirklich?« Eine kleine Frau stand vor ihr. Mit großen grünen Augen sah sie Lilo an. »Mensch. Du bist es doch, oder? Komarow-Schule? Ihr seid doch damals weg in den Westen. Da waren wir in der siebten oder achten Klasse. Du weißt es bestimmt besser.«
»Denise?« Lilo erkannte sie wieder. Das gleiche Gesicht, das gleiche freche Grinsen und die Stimme wie früher, immer freundlich und irgendwie hastig.
»Hey. Was machst du im ›Carolinum‹?«
»Meine Kinder gehen hier zur Schule.«
»Und wir sind uns bisher noch nicht über den Weg gelaufen?«
»Wieso? Was machst du hier?«
Denise lachte. »Ich habe es tatsächlich geschafft und bin Lehrerin geworden. Englisch und Politik. Nicht Staatsbürgerkunde. Wer hätte das gedacht!«
Es klingelte wieder.
»Pause ist gleich um. Ich muss in die Klasse. Sehen wir uns?«
Lilo überlegte, wie sie hoffte kurz genug, damit es nicht unhöflich aussah. Dann gab sie nach. »Okay. Komm in meinen Buchladen. Ich habe ihn übernommen. Strelitzer Straße.«
Denise hatte sich schon auf den Weg nach oben gemacht und rief fröhlich von der Treppe aus: »Darauf kannst du Gift nehmen. Morgen habe ich mittags Feierabend, dann komme ich. Und wehe, du bist nicht da.«
Lilo liebte es, morgens als Erste im Laden zu sein. Sie ging dann immer die Regale entlang, schob Bücher dorthin, wo sie hingehörten, strich sanft über einzelne Buchrücken. So auch an diesem Morgen. Am Sonntag würde zwar erst der erste Advent sein, aber sie mussten bereits die ganze Woche alles, was mit Weihnachten auch nur annähernd zu tun hatte, nachordern. Andere schimpften über die merkwürdigen Kaufgewohnheiten mancher Mitbürger, sie hingegen verstand es. Welche Zeit im Jahr lockte sonst noch verschiedenste Generationen in die Geschäfte. Und dazu dann die Versuche, nicht lediglich etwas zu verschenken, sondern anderen tatsächlich eine Freude damit zu bereiten, das war eben Weihnachten. Auch Hektik gehörte dazu – in Stuttgart hatte sie als Buchhändlerin eine ganz andere Anzahl von Kunden abfertigen müssen. Hier in Neustrelitz hingegen ging alles persönlicher zu, und freundlicher.
Sie nahm ein Tuch und wischte einige Buchexemplare ab, die jeden Tag merkwürdigerweise schneller Staub ansetzten als andere. Donnerstags begannen die Menschen an die freien Abende und den Sonntag zu denken. Daran, dass eventuell ein wenig Zeit bleibt, um dem Alltag zu entfliehen und in fremde Welten einzutauchen. Gerade im Winter, wenn das Wetter so wie heute den ganzen Tag nass und kalt blieb, träumten sie sich, wenn nicht gleich in wärmere Gefilde, dann wenigstens in die warmen Jahreszeiten. Lilo mochte jede Jahreszeit. Allerdings gab es bei ihr den schwarzen Monat Januar. An einem Januartag war Chris verunglückt. Sie hatten sich an dem Morgen nicht einmal richtig verabschiedet. Er war zu spät aufgestanden und musste sich beeilen. Sie hatte ihn noch die Treppe hinunterlaufen gehört, bevor sie auf den Wecker geschaut hatte. 5.47 Uhr. Den Flughafen hatte er nie erreicht. Und sie hasste seither diese verdammte Uhrzeit. Sie stieß die Gedanken von sich, bevor sie von ihnen in die Finsternis weggetragen werden konnte.
Sie schob den Zeitungsständer an seinen Platz im Eingangsbereich, trat auf den Gehweg und sah die Strelitzer Straße hinauf in Richtung Markt. Wenige Autos fuhren an ihr vorbei. Sie achtete nicht darauf. Ein Fahrradfahrer klingelte, sie wich erschrocken zurück. Trotzdem ließ sie sich nicht vertreiben. Rituale taten ihr gut. Bald hörte sie das gute gelaunte »Guten Morgen« von Herbert Schneider, der wie gewohnt um diese Zeit an ihr vorbeilief. »Bis nachher«, sagte er, nachdem sie ihm zugenickt hatte. Er war einer der Menschen gewesen, die sie an ihrem ersten Tag begrüßt und sich mit ihr gefreut hatten. Er war mit einem Strauß gelber Rosen gekommen, sorgfältig gekleidet im dunklen Anzug, sogar eine Krawatte hatte er getragen. Seitdem kaufte er jeden Tag, nachdem er sich für sein einsames Frühstück ein Brötchen an der Ecke beim Bäcker geholt hatte, seine Zeitung bei ihr.
Lilo kehrte in den Laden zurück und ließ die Tür offen. Trotz des kühlen Wintermorgens tat ihr die frische Luft gut und sie wollte diese noch ein paar Minuten lang spüren. Sie war gespannt, ob Denise wirklich kommen würde. Eigentlich wollte sie nicht mehr an die Vergangenheit denken. Es war zu viel geschehen. Damals. Und danach. Und dann wieder. Sie überlegte, ob es Sinn machen würde, sich mittags wegzustehlen. Wenn Denise nicht ganz auf den Kopf gefallen war, würde sie begreifen, dass kein Kontakt gewünscht war. Aber – Lilo hatte ihre frühere Klassenkameradin eigentlich in guter Erinnerung. Sie wollte ihr nicht wehtun. Außerdem war es wahrscheinlich, dass sie sich immer wieder in der Schule treffen würden. Marius war zwar bald fertig, aber Sam hatte noch viele Schuljahre vor sich. Womöglich würde Denise sogar ihre Lehrerin werden. Lilo beschloss, die Begegnung auf sich zukommen zu lassen. Um ungelegte Eier, so sagte ihre Mutter oft, sollte man sich keine unnötigen Gedanken machen. Vielleicht hatte sie in diesem Fall ja recht.
Lilo sah auf die Armbanduhr, die sie nur in Ausnahmesituationen abnahm. Tom musste gleich da sein. Er tauchte meist genau in der Minute auf, in der seine Arbeitszeit begann. Sie wollte ihm längst gesagt haben, was sie von ihm erwartete. Nämlich dass er etwas eher kam, nicht erst mit dem ersten Kunden. Schließlich dauerte es bei ihm immer eine Weile, bis er endlich hinter der Kasse stand. Sie wusste, sie war zu weich und musste lernen, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Doch die Vorstufe dazu war es, die Vorstellung erst einmal klar zu formulieren. Nun ja, die Zeit wird es richten, dachte sie. Auch so ein Spruch ihrer Mutter.
In der angrenzenden kleinen Küche nahm sie sich eine Tasse vom frischgebrühten Kaffee, tat Milch und Zucker hinzu und rührte langsam um. In kleinen Schlucken trank sie davon. Ende November, dachte sie, fast wieder ein Jahr geschafft. Bin ich tapfer? Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, die Schritte von Tom näherten sich. Ohne jeden Eindruck der Eile blieb er vor ihr stehen, grinste und gab ihr die Hand.
»Du bist ja wieder mal die Erste. Guten Morgen. Kann ich auch einen haben?«
Lilo seufzte und suchte noch nach den richtigen Worten, um ihm zu sagen, dass er gefälligst ein paar Minuten eher kommen sollte, als Tom längst mit seiner Kaffeetasse an ihr vorbei in Richtung Kasse schritt. Ja, er schritt. Mit langen Schritten, in sich ruhend, wie es aussah. Sie hob die Schultern. Dann ein anderes Mal, beruhigte sie sich. Ich bin eben ein Feigling. Von wegen tapfer.
Der Vormittag verlief wie erwartet ruhig, sie hatten Zeit, Ware auszupacken, neue zu ordern und jeden Kunden in Ruhe zu beraten. Alles, was mit Weihnachten auch nur annähernd zu hatte, rissen ihr die Leute fast aus den Regalen. Nun ja, so wünschte sie es sich schließlich auch. Der Dezember war der Monat, der einige sehr magere Monate auf das Jahr verteilt ausgleichen musste. Sie hatte eine kleine Kaffeeecke eingerichtet, weil sie es selbst liebte, in Geschäften zu schmökern, sich kurz ausruhen zu können und besonders im Winter etwas Warmes zu trinken. Der Zustand der Leseexemplare verschiedenster Romane auf dem kleinen runden Tisch verriet schon nach wenigen Tagen, wie gern das Angebot von den Neustrelitzern und den Gästen von außerhalb angenommen wurde. Jetzt zur Weihnachtszeit gab es Punsch und Kakao, sie liebte diesen Geruch. Nur selten waren die kleinen Sessel unbenutzt und noch seltener ging jemand, der dort gesessen hatte, ohne ein Buch hinaus. Bis jetzt schien sie sich noch keine Fehler erlaubt zu haben, im Gegenteil. Sie könnte zufrieden sein. Doch Marius fühlte sich hier nicht wohl und irgendwie fehlte auch ihr Stuttgart. Und sie vermisste ihre Freunde, die ihr seit dem Tag im Januar vor fünf Jahren beigestanden hatten. Ach, sie mochte nicht daran denken, nicht immer wieder. Aber es ließ sie nicht los.
»Auch ein Süppchen, Chefin?«
Sie sah sich um. Tatsächlich waren sie die Einzigen im Geschäft. Trotzdem würde sie jetzt nicht essen, immer nur einer in die Pause, das hatte sie ihren Leuten von Anfang an gesagt. Der Einzige, der anscheinend lieber in Gesellschaft aß und trank und ihre Anweisung missachtete, war Tom.
»Du sollst nicht ›Chefin‹ zu mir sagen und hier macht immer nur einer Pause. Wie oft soll ich das noch sagen?« Der letzte Satz kam ihr leise und zögerlich von den Lippen. Sie mochte es nicht, erwachsene Menschen zurechtzuweisen, nahm sie doch an, die müssten ihre Ansagen im Grunde von alleine verstehen und umsetzen können. Aber sie war jetzt Chefin und keine bloße Kollegin. Da gehörte Zurechtweisen anscheinend dazu.
»Schon gut, Chefin. Meinetwegen kannst du das immer wieder sagen, ich nehme es dir nicht übel.« Tom hielt ihr einen Kaffeebecher hin. »Trinke wenigstens den Kaffee hier mit mir, sobald ein Kunde kommt, verschwinde ich, um mein Süppchen zu löffeln.« Er strahlte sie an.
Der fast zwei Meter große Mann wirkte so unbekümmert, wie sie sonst keinen Menschen kannte. Sie konnte ihm nicht böse sein. »Okay, ich bin erleichtert, dass du mir nicht böse bist.« Es sollte ironisch klingen, aber sie sprach es aus, wie sie es meinte, vollkommen ernst. »Allerdings gehe ich heute zuerst in die Mittagspause.« Sie zeigte zur Tür, die sich eben öffnete. Denise kam auf Lilo zu und nahm sie einfach in die Arme.
*
»Du bist dir sehr ähnlich, also der Denise von früher.«
»Ist das ein Kompliment?«
»Ja.« Lilo nickte. »Nicht nur, was dein Aussehen betrifft. Sondern auch deine Art.«
»Ich kann nichts dafür. Ich bin, was ich bin.« Denise wurde kurz ernst, lächelte aber gleich wieder. »Jede von uns ist, was sie ist, oder?«
»Wenn du nicht das Essen meinst, stimme ich dir zu.«
Sie mussten beide loslachen. Einfach so. Weil es schön war. Weil sie sich wohlfühlten.
»Haben wir früher auch gemeinsam gelacht?«
»Das weißt du nicht mehr? Oft, sehr oft. Auch mit den anderen. Oder über andere.«
Lilo überlegte. »Irgendwie kann ich mich nur noch an wenige Dinge erinnern. Manchmal glaube ich, mein Hirn funktioniert nur dann richtig, wenn es sich an üble Dinge erinnern darf.«
»Du bist dir auch ähnlich. Du hast früher schon nicht viel gesprochen, aber wenn, dann mochte ich das, was du gesagt hast. Du warst nie gemein.«
Lilo schüttelte den Kopf. »Sicher war ich auch gemein, aber die Schwachen … Das konnte ich nicht leiden, wenn es auf die losging. Du auch nicht.«
»Du erinnerst dich doch!«
»Scheint so.«
Erneut lachten beide los. Immer wieder hörte sie die Tür vorne im Laden, was Lilo sonst längst veranlasst hätte, ihre Pause abzubrechen. Heute nicht, dachte sie. Heute habe ich gern Pause und Tom wird es schon schaffen.
»Ich muss los«, sagte stattdessen Denise. »Es war so schön, dich zu sehen. Du warst bisher auf keinem Klassentreffen. Du magst die Vergangenheit nicht so sehr, oder?«
Lilo trank den Rest Kaffee, der längst kalt geworden war. Sie stellte die Tasse auf die Spüle und hob unsicher die Schultern. »Mag sein. Ich versuche mit großer Mühe, das Heute ertragen zu können. Deshalb habe ich keine Nerven, mich mit allem anderen auch noch zu beschäftigen.«
Denise reichte ihr erst die Hand, um sie dann doch wieder in die Arme zu nehmen. »Ich gebe dir meine Nummer, ruf mich an, wenn du eine Freundin brauchst.«
*
Diese Worte hallten in Lilo nach, bis sie am Abend zu Hause war und den Tisch für das Abendbrot deckte. »Wenn du eine Freundin brauchst.« Sie hatte doch Freunde, allerdings waren die weit weg und die Entfernung erschwerte vieles. Denise als Freundin? Waren sie einmal befreundet gewesen? Sie hatten zusammen gespielt, sich zum jeweiligen Geburtstag eingeladen und ja, sie hatten nie gestritten. Daran konnte sie sich erinnern. Aber Freunde? Hatte sie damals Freunde gehabt? Hatte sie nicht immer aufpassen müssen, wem sie vertraute? Sie sah auf die Uhr. Marius hätte längst zu Hause sein müssen.
»Sam, weißt du, wo dein Bruder ist? War er heute Nachmittag hier?« Sie sah ihre Tochter an, die gerade sorgfältig die Servietten faltete.
»Nö. Ich war ja noch beim Training und als ich kam, war sein Zimmer abgeschlossen.«
»Abgeschlossen? Wegen uns?«
»Mama, das nennt man Privatsphäre. Ich will auch einen Schlüssel für meine Tür haben.«
»Wir schließen unsere Türen nicht ab, wir respektieren auch so unsere Privatsphäre, oder?«
»Aber Marius darf das?«
»Ich wusste nicht mal, dass er einen Schlüssel hat für das Zimmer. Von mir hat er den nicht. Ich könnte dir auch nicht sagen, ob es für mein Schlafzimmer einen gibt.«
Sam prustete los. »Als ob du einen Schlüssel bräuchtest. Außer dir geht da sowieso keiner rein, oder?«
Lilo hob das Gemüsemesser, mit dem sie eigentlich die Gurke in Scheiben schneiden wollte. »Du freches Ding, was soll das heißen?« Sam flüchtete um den Tisch, Lilo mit dem Messer hinterher. Es war gut, wie Sam lachte und wie leicht ihr dieses Thema fiel. Tatsächlich war seit Jahren außer ihr und den Kindern niemand in ihrem Bett gewesen. Die Kinder nun auch schon eine Weile nicht mehr. Einsam in dem großen Bett. Ihr kamen die Tränen, was Sam sah.
»Entschuldige, Mama, ich wollte dich nicht traurig machen. Das sollte witzig sein. Aber du weißt ja, ich kann alles, aber nicht witzig.«
Die Tränen verschwanden ganz schnell in einem Taschentuch. »Papperlapapp, du wirst die größte Komikerin aller Zeiten. Oder was auch immer du willst. So wie du deine Mutter veräppelst, schafft das niemand.« Lilo legte das Messer weg und streichelte Sam sanft über die Wangen. Sie hatte ein märchenhaftes Gesicht, noch mit Pausbacken, aber immer mehr kam die Form zum Vorschein, die es einmal haben sollte. Hohe Wangenknochen, einen fast herzförmigen Mund und wunderschöne braune Augen. Das Aussehen hatte sie von ihrem Vater. Und auch die Fröhlichkeit und Offenheit. Lilo war sehr dankbar dafür. Marius hingegen hatte ihre Augen und war eher der Stille.
»Ich habe dich sehr lieb, kleine Maus. Egal, was du alles von dir gibst. Trotzdem würde ich sehr gern wissen, wo der große Marius bleibt.«
»Vielleicht hat er ja eine Freundin?« Sams Wangen glühten. Das Thema fand sie besonders spannend.
»Und wenn, dann ist das seine Sache. Allerdings würde ihm das guttun.«
»Dir auch, Mama. Du solltest einen Freund haben!«
Lilo winkte ab. »Lass uns schon mal was essen, ich schreibe Marius noch schnell eine Nachricht. Und dann erzählst du mir von deinem Tag und ich dir von meinem. Ich habe zwar keinen Freund, aber möglicherweise eine Freundin gefunden.« Lilo war über sich selbst erstaunt. Wollte sie von dem Männerthema lediglich ablenken oder war es tatsächlich so? Eine Freundin? »Wenn du eine Freundin brauchst«, hatte Denise gesagt. Ja, wie es aussah, brauchte und wollte sie eine.
Nach dem Essen räumten sie gemeinsam ab und spülten das schmutzige Geschirr. Marius hatte sich noch immer nicht gemeldet und Lilo machte sich langsam Sorgen. Sie wusste, er war fast volljährig und konnte im Grunde hingehen, wo er wollte. Auch wusste sie, dass er vielleicht auf die falschen Freunde treffen und sie dies nicht verhindern konnte. All das bereitete ihr nicht wirklich Sorgen. Sie vertraute ihm. Was ihr Angst machte, war, dass er eines Tages nicht mehr nach Hause käme. Überhaupt nie wieder. Dass ihm etwas zustieß, wie es Chris geschehen war. Aus dem Hause gehen und nie wieder zurückkehren. Allein der Gedanke machte sie krank. Sie würde das nicht noch einmal durchstehen können. Von einem Moment auf den anderen war ein Leben vorbei. Nichts war wie vorher. Orte, Häuser, Möbel, Gerüche, Wörter – alles veränderte sich. Allem fehlte etwas Wichtiges. Was blieb, waren Erinnerungen. Und die Einsamkeit. Und der eigene Körper, dem ein Teil der Seele unwiederbringlich genommen wurde.
Marius kannte das alles, er hatte es selbst erlebt und wusste, Lilo würde zusammenbrechen, wenn er sich etwas antat. Sie hatten darüber gesprochen. Ihr war irgendwann nichts anderes übrig geblieben, als ihm zu sagen, wovor sie sich so sehr fürchtete. Dass er sich aus Trauer das Leben nehmen könnte. Woran sie selbst gedacht hatte, nachdem ihr klar geworden war, dass Chris niemals mehr bei ihr sein würde. Das hatte sie Marius jedoch nicht gesagt. Schließlich war sie die Mutter und musste stark sein. Stark für Sam und Marius. Damit beide trauern konnten, hatte sie bald heimlich getrauert. Doch Marius war ihr fast entglitten und als letzten Ausweg hatte sie damals nur noch die Wahrheit gesehen. Er hatte sie dann lange angeschaut, hatte ihre Tränen getrocknet und sich in den Arm nehmen lassen. Seitdem war er der Beschützer, er war stark und für sie und Sam da. Aber jetzt? Was war mit ihm? Sie wusste nichts mehr von Marius, seitdem sie fast ununterbrochen arbeitete und die Kinder lediglich morgens und abends sah.
Nervös blickte sie auf ihr Handy. Eine Nachricht war angekommen. »Liebe Frau Glück, sehen wir uns nächste Woche zur Winterwanderung? Ich bitte um Entschuldigung, falls ich in den letzten Tagen zu aufdringlich war. MfG, Lutz M.«
Lilo ignorierte die Worte und rief stattdessen Marius an. Nichts. Mailbox.
»Sam, ich muss noch mal los. Wenn Marius auftaucht, schreib mir sofort, ja?« Sie versuchte, so wenig Besorgnis wie möglich aus ihrer Stimme klingen zu lassen, was ihr leider nicht gelang.
»Mama, meinst du, Marius ist etwas passiert? Willst du ihn suchen? Er hat sich immer gemeldet. Mama, ich will mit. Lass mich nicht allein.« Sam hielt ihre Mutter fest.
Ihre sonst so fröhliche Tochter, ihr Sonnenschein, klammerte sich aufgeregt an sie und ließ sie nicht gehen.
»Sam, ich rufe Oma an, die kommt dann gleich, du bist nicht allein.«
»Nein!« Sam schrie das Wort. »Er lässt uns nicht im Stich. Bestimmt.« Sie atmete schwer. »Marius kommt bestimmt gleich.«
Im selben Moment hörten sie, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte, und durch Marius’ Zimmertür schob sich dichtes dunkelblondes Haar.
»Was soll das Geschrei? Ich bin hier, wo soll ich sonst sein?«
Lilo war gleichzeitig erleichtert und zornig. Sam nur das Erste. Sie rannte zu ihrem Bruder und warf sich an seine inzwischen sehr breite Brust. »Siehst du, Mama, ich hab’s dir doch gesagt. Marius lässt uns nicht im Stich.«
»Du egoistischer Vollidiot!« Lilo brüllte los. Sie wäre am liebsten zu Marius gegangen, um ihm eine Ohrfeige zu geben. Stattdessen brüllte sie noch einmal: »Idiot, du hast Stubenarrest für die nächsten Wochen!«, bevor sie in ihr Schlafzimmer rannte und die Tür hinter sich zuknallte. Dort begann sie hemmungslos zu weinen.
*
Irgendwann war sie eingeschlafen. Mitten in der Nacht wurde sie durch einen ihrer immer wiederkehrenden Träume aufgeschreckt. Sie schaltete das Licht ein.
»Mama, was ist?« Neben ihr lag Sam und blinzelte sie verschlafen an. »Bist du noch böse? Marius war gar nicht weg. Er hat nur tief geschlafen.«
»Schon gut, Maus, schlaf weiter. Ich ziehe nur schnell meinen Schlafanzug an, dann kuscheln wir.«
»Und Marius?« Sam zeigte auf den Sessel vor dem großen Bett.
Lilo setzte sich auf. »Marius? Marius.« Sie weckte ihn sanft. »Komm, leg dich zu uns. Wie früher.«
Als sie aus dem Bad zurückkehrte, war Sam längst in die Mitte gerutscht. Sie legte sich zu den beiden, gab jedem einen Kuss und machte das Licht aus.
»Es tut mir leid, Mama. Ich wollte das nicht. Wirklich. Ich wollte nur meine Ruhe haben.«
»Mir tut es leid. Du bist kein Idiot und erst recht kein Vollidiot. Du bist wunderbar.«
»Ich bin auch wunderbar.« Sam lächelte beide abwechselnd an. »Oder?«
»Gute Nacht, meine Süßen. Ich habe euch so sehr lieb. Vergesst das niemals.«
Das erste Weihnachtsfest in Neustrelitz. Seit ihrer Kinderzeit. Früher gab es einen krummen, manchmal auch kahlen Baum, den Vati jedes Jahr aus dem Wald bei Tannenhof geholt hatte. Transportiert auf einem Schlitten. Die beiden Brüder eskortierten die wertvolle Fuhre und Lilo wartete immer schon ungeduldig, bis der Baum endlich vormittags an Heiligabend aufgestellt und geschmückt wurde. Beim Schmücken durften die Kinder nie dabei sein, auch die Bunten Teller sahen sie erst, wenn alles gerichtet war. Rituale, die sie geliebt hatte.
Mit Chris hatte sie im Laufe der Jahre eigene Rituale geschaffen. Der Baum wurde zwar auch am Heiligabend geschmückt, aber die Kinder durften helfen. Lediglich die Süßigkeiten sahen sie erst später, wenn die Geschenke um den Baum verteilt waren, nachdem der Weihnachtsmann diese gebracht hatte. An den Weihnachtsmann glaubte inzwischen niemand mehr, trotzdem hielten sie die Familienrituale am Leben und Chris bekam noch immer jedes Jahr seinen Bunten Teller und am Abend das obligatorische Glas Bowle. Lilo hatte das längst aufgeben wollen, aber sie wusste nicht wie. Außerdem: Wenn Chris zu Weihnachten nicht mehr auf diese Weise bei ihnen sein würde, wäre er endgültig tot.
In den Jahren zuvor waren ihre Eltern immer nach Stuttgart gekommen und selbstverständlich hatten sie so gefeiert, wie sie es selbst gewohnt waren. Jetzt aber hatte Sam gemeint, sie könnten alle zusammen bei Oma und Opa in dem wunderschönen kleinen Haus in Neustrelitz feiern. Es lag inmitten von Kastanien und Eichen zwischen Bürgerhorst und Tiergarten und machte einen verträumten Eindruck, ganz wie aus einer anderen Zeit oder gar aus einer anderen Welt. Sam liebte dieses Haus und verbrachte dort viel Zeit mit ihren Großeltern. Lilos jüngerer Bruder Jorge und seine Frau Ina waren gestern schon angereist. Da sie kinderlos waren, gab es für sie nichts Schöneres, als mit Sam zusammen zu sein. Matthias, der ältere Bruder, war zum zweiten Mal geschieden und lebte in Schweden. Er machte sich rar, wie Lilos Mutter oft sagte. Er ist in die Ferne gezogen, um den nahen Katastrophen zu entgehen. Lilo und er waren sich früher sehr nah gewesen. Er hatte immer auf sie aufgepasst und ihr beigestanden und sie beschützt, wo er glaubte, dass es notwendig war, auch wenn sie selbst nicht immer glücklich darüber gewesen war. Ihr fiel ein, dass sie ihm noch nie gesagt hatte, wie lieb sie ihn hatte. Er wusste es auch so, hoffte sie.
Es gab einiges, was sie nicht getan hatte. Was sie für selbstverständlich gehalten hatte. So vieles hatte sie Chris nicht gesagt und so vieles versäumt, was sie miteinander hätten haben können. Das war nicht mehr nachzuholen.
Lilo zwang sich, auf andere Gedanken zu kommen. Geschenke fehlten noch. Sie hatte zu wenig Zeit, seit Mitte November stand sie täglich im Laden. Um zusätzlich jemanden zum Einpacken einzustellen, fehlte das Geld, und die Kunden mochten nicht gerne warten. So verzichtete sie selbst auf die freien Tage. Was ihr wegen der Kinder wehtat. Denn die Adventszeit war ihnen heilig, obwohl niemand von ihnen gläubig war, und sowohl die Kinder als auch Lilo und Chris waren verrückt nach sämtlichem Weihnachtskitsch. Schon wieder Vergangenheit. Sie musste endlich lernen, ins heutige Leben zu kommen. Er war nicht mehr bei ihnen und fertig. Lilos Leben und auch das von Marius und Sam hatte keinen Chris mehr. Er war weg. Sie schlug auf den Küchentisch, an dem sie saß, seit sie Feierabend gemacht hatte. Der Kaffee war längst kalt und die Plätzchen, die Tom ihr geschenkt hatte, standen unberührt vor ihr. Ich fange mit dem Rauchen an, dachte sie. Jawohl! Ich muss etwas tun, was ich normalerweise nie tun würde.
»Hey, lass den Tisch heil.« Marius setzte sich zu ihr.
Seit dem Abend, als Lilo dermaßen in Sorge um ihn war, schien er sich verändert zu haben. Er zeigte auf die Plätzchen: »Gebacken? Du?«
»Haha.« Sie wollte schon fragen, wann sie das noch hätte machen sollen, doch das wussten ihre Kinder von allein. Und sie machten ihr keine Vorwürfe deswegen. Stattdessen sagte sie: »Ich fange an zu rauchen.«
»Du? Kannst du das?« Marius versuchte überheblich zu schauen. »Wie du weißt, ist auch das nicht ganz einfach. Und vor allem ist es ungesund.«
»Was du nicht sagst. Warum rauchst du dann?«
»Du weißt das?« Sein sonst blasses Gesicht färbte sich rot.
Sie nickte und sah ihren Sohn genauer an. Ihm wuchsen Barthaare, wenn auch noch nicht gleichmäßig. Und die Pickel, die ihn seit einigen Jahren immer wieder belastet hatten, wurden weniger. »Ach, mein Sohn, das kann man inzwischen, trotz aller Vorsicht und Rücksicht, riechen. Früher hatten wir es einfacher. Da haben alle geraucht, fast alle zumindest. Und vor allem überall. Der Qualm ist gar nicht aufgefallen.«
»Findest du es denn nicht schlimm, wenn ich rauche? Ich könnte abhängig werden. Oder Lungenkrebs kriegen.«
»Warum? Es gibt Schlimmeres als das Rauchen. Du wirst schon aufhören, wenn es dir zu viel wird. Hast du eine Kippe für mich?«
»Wieso? Wirklich? Hier?«
Sie zeigte in Richtung Balkon. »Lass uns rausgehen. Und ziehen wir uns was über, es ist kalt geworden.«