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Allein auf dem Atlantik – die Geschichte eines außergewöhnlichen Segelabenteuers Wer träumt nicht von Freiheit? Einmal alle Termine und Verpflichtungen sausen lassen und aus dem Alltagstrott ausbrechen? Dirk Mennewisch ist erfolgreicher Nachwuchs-Steuerberater und erklimmt zielstrebig die Karriereleiter. Doch als sich eine Lücke in seinem Lebenslauf auftut, beschließt er, die Zeit nicht mit noch mehr Berufserfahrung zu füllen, sondern etwas Außergewöhnliches zu wagen: Einmal Karibik und retour! Mit nur 600 Seemeilen Segelerfahrung startet Dirk Mennewisch das Abenteuer seines Lebens – und kehrt als versierter Einhandsegler zurück. • Segeln statt Karriere: zur Nachahmung unbedingt empfohlen! • flott, selbstironisch und unterhaltsam – ein besonderer Segel-Bericht • Höhen und Tiefen eines Sabbatical auf See – eine wahre Geschichte • Der Bestseller jetzt im Paperback! Segel-Tour oder Tortur? Im Bürojob weiß man, was der Tag bringen wird. Bei einem Atlantiktörn hingegen ist nur eines sicher: Kein Tag verläuft wie der andere. Sehr ehrlich schreibt Dirk Mennewisch über die Ängste der vielen "ersten Male": allein Anlegen, Ablegen, Navigieren, lange Strecken segeln. Selbstironisch entdeckt er bisher unbekannte Seiten an sich selbst: den Skipper ohne Autorität, den unfähigen Smutje, den ahnungslose Maschinisten, die faule Crew. Er beschreibt aber auch die Freude an der Einsamkeit, zeichnet kleine Portraits von Inselbewohnern und originellen Skippern, die er in den Marinas trifft. Die Bilder von Häfen und der Yacht lassen die Segelreise für den Leser noch lebendiger werden. So entsteht ein unterhaltsamer, farbiger Erlebnisbericht eines Hochsee-Novizen, der mit einfachen Mitteln, Mut und einer Prise Unbekümmertheit die Reise seines Lebens machte. Am Schluss seines Buches gibt der Einhandsegler Lesern und potenziellen Nachahmern viele Tipps und ermutigt, das Abenteuer zu wagen: ein Jahr "Out of office".
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Seitenzahl: 451
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5. Auflage
© by Delius, Klasing & Co. KG, Bielefeld
Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:
ISBN 978-3-667-11675-8 (Print)
ISBN 978-3-667-11816-5 (Epub)
Lektorat: Birgit Radebold, Monika Hoheneck
Titelfoto: Dirk Mennewisch
Karte: inch3, Bielefeld
Umschlaggestaltung: Felix Kempf, www.fx68.de
Satz: Fotosatz Habeck, Hiddenhausen
Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH
Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus, nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.
www.delius-klasing.de
Vorwort Uwe Röttgering
Vorwort Johannes Erdmann
Wasser überall
Nein, du nicht!
Der nördlichste Punkt
Eine Holländerin wird deutsch
Neue Richtung: Kurs Süd
Kanalfahrt
Durch die Gezeiten der Irischen See
Eine Flasche Champagner
Wartetage
Ein kurzes Stück vom langen Stück
Der lange Rest vom langen Stück
Südwind ist Wartewind
Flautentörn nach Porto Santo
Bei Kolumbus
Zuhause-Gefühl auf den Kanaren
23 Tage meine See
Ja und jetzt?
Windarme Weihnachten
Zwischen den Tagen
Anguilla, Karibik
Bei Freunden
Leidemeilen
Bilderbuchinseln im goldenen Dreieck der Karibik
Besuch im Anflug
Barfußland
Kluburlaub
Bahamas Endspurt
Amerika
Huckepack
Endspurt
Epilog
Anhang
Wiki
Herzlichen Dank
Dirk Mennewisch muss einen guten Chef gehabt haben. Denn der gab ihm die Weisheit mit auf den Weg: »Wenn Sie in Ihrem Leben noch Wünsche und Träume haben, versuchen Sie, diese umzusetzen, bevor Sie beruflich und privat Verantwortung übernehmen müssen.«
Der Mann hat recht. Als ich mit Anfang 30 einhand via Kap Hoorn um die Welt gesegelt bin, war ich ungebunden, risikobereit und neugierig auf die Welt. Jetzt, da ich Familie habe, könnte ich diese Reise unter den genannten Vorzeichen nicht mehr machen. Ich habe Freiheit gegen Verantwortung getauscht. Ein Tausch, den ich nur deshalb nicht bereue, weil ich mir mit meiner Weltumsegelung eine Freiheit genommen habe, von der ich den Rest meines Lebens zehren kann.
Dass es nicht gleich um die Welt gehen muss, zeigt die Reise von Dirk Mennewisch. Mit vergleichsweise einfachen Mitteln, Mut und der Unbekümmertheit eines Hochsee-Novizen hat er das in diesem Buch beschriebene »Abenteuer seines Lebens« gemeistert. Es ist zu hoffen, dass Dirks Reise vor allem jungen Leuten Ansporn ist, die Welt unter Segeln für sich zu entdecken. Es lohnt sich.
Uwe Röttgering
Viele Menschen tragen den Traum in sich, einmal im Leben etwas Ungewöhnliches zu machen. Wer dann die Freiheit unter Segeln kennenlernt, weiß, dass das beste Mittel dafür ein Segelboot darstellt. Doch der Absprung ist nicht einfach. Viele Bedenken treten auf: Ist man noch jung, so ist die fehlende Erfahrung das Argument. Ist man hingegen alt, mangelt es oft an Gesundheit und Kraft. Wer in mittlerem Alter ist, setzt womöglich die Karriere aufs Spiel.
Deshalb liegen in vielen Häfen top ausgestattete Yachten, die nie die Küstengewässer verlassen. Wer den Absprung dennoch schafft, kann sich glücklich schätzen. Manche jedoch lassen sich unterwegs durch »Sirenen« vom Kurs abbringen. Nur einem kleinen Prozentsatz gelingt es, tatsächlich alle Klippen zu umschiffen und auf den freien, tiefen Ozean zu gelangen. Sie lernen die Freiheit unter Segeln in ihrer gewaltigen Form kennen. Nach der Rückkehr können sie denen, die davon träumen, dann nur denselben Rat geben wie einst Joshua Slocum: »To young man contemplating a voyage I would say go.«
Dirk Mennewisch hat seinen Traum in die Tat umgesetzt, trotz aller Bedenken. Die Segelerfahrung ersetzten ein unbeugsamer Wille, eine tolle, unterstützende Familie und ein verständnisvoller Chef. Vielleicht waren diese ja sogar wichtiger als die nötige Erfahrung – denn die bekam er unterwegs. Solche Vorbilder von Menschen, die einfach ihre Träume realisieren, anstatt nur darüber nachzudenken, braucht es. Regelmäßig.
Johannes Erdmann
Seemeilen: 0–612
Für die Seefahrt wurden immer schon vorzugsweise Nichtschwimmer rekrutiert. Sie kämpfen länger für das Schiff.
Seemannsweisheit
Ein schönes Segelboot. Nach der langen Zeit der Vorbereitung liegt M – meine neuneinhalb Meter lange Stahlyacht – nun seeklar, reiseklar, wunderbar im Hafen von Bensersiel. Die Wellen spiegeln sich am dunkelblauen Rumpf, die Flagge weht leise im sommerlichen Wind.
Viele Ferien haben meine Familie und ich in diesem kleinen Ort an der ostfriesischen Nordseeküste verbracht. Häufig sind wir für einen Tagesausflug nach Langeoog gefahren, knietief im Watt versunken und haben die eine oder andere Sandburg gebaut. Angeblich bestand ich als Dreikäsehoch auf einem täglichen Besuch im Hafen, um Schiffe zu gucken. Gerüchte. Fasziniert haben mich immer die Schiffe und Boote, die sich langsam durch das Fahrwasser schoben und in meiner Fantasie von weither kamen. Eines Tages fahre ich mit einem eigenen Boot hinaus, dachte ich.
Dieser Moment ist nun gekommen. Seit mehr als einem halben Jahr verwende ich fast jede Minute für dieses Segelvorhaben: Routenplanung, Sponsorensuche, Landverbindung trennen. Insbesondere Letzteres verursachte mehr Aufwand, als ich gedacht hatte. Millionen Fragen flogen in meinem Kopf herum, Adressaten dafür musste ich erst suchen und habe sie gefunden. Die Wohnung brauchte einen Untermieter, das Auto musste abgemeldet werden, Versicherungen und Sparverträge wurden auf das Notwendigste reduziert, um meinen finanziellen Handlungsspielraum nach Möglichkeit nicht allzu sehr einzuschränken.
Langsam wird Bensersiel immer kleiner. Familie und Freunde werden zu Strichen auf dem Steg. Zu verschwommenen Strichen, denn Tränen in den Augen machen mir das Sehen schwer. Mit dem Nebelhorn rufe ich zum Abschied und setze die Fock nur für die Optik; Lust zum Segeln habe ich noch keine, stolpere die drei Stufen unter Deck und ziehe mir dabei eine fiese Schnittwunde an der Hand zu. Die Fahrwassertonnen kommen bedrohlich nahe, und viel Wasser ist auch nicht unter dem Kiel. M hat eigentlich zu viel Tiefgang für Bensersiel, sodass ich das Hochwasserfenster abpassen musste.
Mit dem rund 20 Knoten stark pustenden Westwind können M und ich die Shetlandinseln – unser erstes Ziel nördlich von Schottland – anliegen lassen. Laut Wetterbericht soll er noch auf bis zu sechs Windstärken aufdrehen, in Böen acht. Zwischen uns und Lerwick liegen sechs Segeltage, einige Bohrinseln und sonst nur freier Seeraum. Mir geht es hundsmiserabel, denn der Abschied hängt mir nach, die Seebeine müssen erst wiederkommen, und diese Einschätzung halte ich für realistisch: Ich wage mich mit meinen knapp 600 Seemeilen Segelerfahrung an ein ziemlich anspruchsvolles Projekt.
Langeoog liegt querab, Motor aus. Wir sind auf See, aller Anfang ist schwer. Ich lasse meine Windselbststeueranlage ihren Dienst aufnehmen und bin beeindruckt, dass alles sofort tadellos klappt. Leider hatte ich nie Zeit, sie auch nur ein einziges Mal zu testen. Unter Deck liege ich in der Koje und lese die Seiten mit ein paar guten Wünschen, die mir in Bensersiel in die Hand gedrückt worden sind, höre Musik und schreibe mit der Restenergie des Handy-Akkus noch eine SMS; lasse den Tag an mir vorbeiziehen. Wie versprochen dreht der Wind ein wenig auf, und als sich der Verklicker in einer Bö in das salzige Nass verabschiedet, wird es Zeit, die Genua gegen die Arbeitsfock zu tauschen. Nach einigen Salzwasserduschen gelingt das Werk, und ich kehre klitschnass und durchgeschwitzt wieder ins Cockpit zurück, wechsle unter Deck den kompletten Satz Unterwäsche und haue mich wieder in die Koje.
Nachts klingelt alle 30 Minuten der Wecker. »Schichtwechsel«, sage ich zu mir selbst, denn ich brauche hin und wieder noch eine Minute, um mich daran zu erinnern, dass ich allein an Bord bin und der sich bewegende Stofffetzen in meinem Blickwinkel kein Mensch, sondern nur ein Handtuch ist. Gegen Mitternacht haben M und ich fast 80 Seemeilen auf die Logge gespult, das Meeresleuchten lässt die Bug- und Heckwellen meiner Gefährtin glitzern, und die sternenklare Nacht gibt mir zum ersten Mal das Gefühl, hier gerade den Beginn einer schönen Reise zu erleben. Spät am Nachmittag des zweiten Seetages schwappt Wasser in der Bilge. Wo kommt das denn her? Alle Seeventile sind zu, und die Bereiche neben den Ventilen sind trocken. Doch es gluckert und schwappt unter den Bodenbrettern – das Wasser wird langsam mehr. Wegen des Rostschutzöls, welches sich in der Bilge befindet, ist diese Brühe schmierig und stinkt abartig. Auf allen vieren an Deck zum Vorschiff kriechend, bin ich mir ziemlich sicher, im Ankerkasten die Ursache gefunden zu haben. Als ich das Vorhängeschloss öffne und einen Blick unter den Deckel riskiere, kommt mir der erste Schwall Wasser schon entgegen. Der Ankerkasten ist bis oben hin voll mit Wasser. Durch eine undichte Stelle wird das Nass von dort aus in die Kabine fließen. Die Dichtung im Deckel hatte ich noch vor der Abreise erneuern wollen, es dann aber vergessen.
Wütend auf mich selbst schreie ich den Ankerkasten an und feuere das Vorhängeschloss in die Nordsee. Das ist alles etwas viel für den Anfang. Einmal mehr durchnässt bis auf die Unterwäsche, verziehe ich mich wieder unter Deck. Auf die Idee, während der Vorschiffsturnereien stets die komplette Montur Ölzeug anzulegen, komme ich erst wesentlich später. Manche Leute brauchen halt ein wenig länger … In einem Anfall von Aktionismus schmiere ich Sikaflex auf den nassen Ankerkastendeckel und stopfe noch ein altes T-Shirt als Dichtung zwischen Deckel und Kasten. Die Hälfte der schwarzen Dichtmasse landet auf dem weißen Deck, auf meiner Hose, auf meinem T-Shirt und an meinen Händen. Elendig klebriges Zeug. Meine Bemühungen scheinen zunächst aussichtslos. Wellen waschen übers Deck, Wasser schwappt aus dem Ankerkasten heraus.
Plötzlich Flaute. Ich genieße die Ruhe auf dem treibenden Boot und beobachte gespannt das auf uns zu laufende Regengebiet. Weltuntergangsstimmung. In der Koje liegend spiele ich auf meiner Mundharmonika, bringe erste Töne heraus. Vor meiner Abreise scherzte ich zu Hause, dass ich gern ein Klavier mit auf die Reise nähme, wenn ich nur genügend Platz hätte. Denn obgleich musikalisch gänzlich talentfrei, hätte ich gern die Zeit genutzt, mir das Klimpern beizubringen. Dies war für meine Eltern Anlass, mir eine Mundharmonika mit auf den Weg zu geben.
Trotz des Wassers im Schiff fühle ich mich in meinem Schlafsack rundum wohl. »Wo fängt dein Himmel an« von Philipp Poisel tönt aus dem Lautsprecher meiner Stereoanlage, und schon wenig später dreht der Wind wieder auf. Hoch am Wind bolzen M und ich unserem Ziel entgegen und werfen dabei viel Wasser über den Bug, was angesichts des Lecks im Wasserkasten alles andere als vernünftig ist. Um zehn Uhr abends befördere ich 50 Liter Wasser über Bord und dahin, wo es hingehört: in die See. Weitere 30 Liter folgen nachts um zwei.
Welche Möglichkeiten habe ich? Weitere zwei bis drei Tage lenzend und hoch am Wind weiter nach Schottland eilen oder abdrehen und einen Reparaturstopp in Norwegen oder Dänemark einlegen? Für keines der beiden Länder habe ich eine Gastlandflagge an Bord, nicht einmal Papierseekarten. Bis nach Dänemark sind es 120 Seemeilen und bis nach Norwegen 90. Meine Entscheidung fällt morgens um vier für Norwegen. Für die gesamte Route habe ich digitale Seekarten an Bord – bis genau fünf Seemeilen vor meinem neuen Ziel Farsund an der Südspitze Norwegens. Glücklicherweise kann ich mir im Revierführer Nordsee Mut anlesen, denn dort heißt es, dass Farsund durch eine gute Betonnung bei Tag und Nacht einfach angesteuert werden könne. Gegen 4 Uhr 30 lenze ich weitere 30 Liter, abends um fünf nochmals zehn. Zu allem Überfluss dreht der Wind auf Nordnordost und bläst M nun mit fünf bis sechs Beaufort direkt auf die Nase. Wasser, Wind und das vorausliegende Verkehrstrennungsgebiet rechtfertigen den Einsatz des Motors. Der gesamte Verkehr, der in die Ostsee möchte und damit Kurs Dänemark, Schweden, Finnland und weiter nach Osteuropa nimmt, läuft hier dicht an dicht in den Skagerrak. Den Kampf gegen das Wasser gebe ich nach inzwischen 200 geschöpften Litern auf, die ersten kleinen Bläschen schieben sich bereits durch die Fugen der Bodenbretter. In Ölzeug eingepackt und in nassen Stiefeln steckend, versinke ich im Zehn-Minuten-Takt mit dem Kopf auf dem Kartentisch in den Schlaf. Vor mir flimmert das Radarbild des Kartenplotters. Durchschnittlich 15 Echos sehe ich um M herum, dazu nerven mich das Dröhnen des Dieselmotors und die Lecks in den Fensterdichtungen. Ich bin fix und fertig, meine Augen tränen und brennen.
Als es langsam Tag wird, habe ich das Verkehrstrennungsgebiet durchquert, und irgendwo voraus muss dieses angeblich so großartig betonnte Fahrwasser liegen. Leider ist davon nichts zu sehen. M schlängelt sich zwischen hohen Felsen und kleinen Tonnen durch den Fjord, der nach Farsund führen soll. Während die ersten Sonnenstrahlen über die Berge schielen, machen M und ich nach 304 Seemeilen in unserem ersten Hafen fest. Sofort sind die Sorgen des Wassereinbruchs vergessen, denn eines ist augenblicklich klar: Hier fühlen wir uns wohl.
M versteckt sich unter einer Schicht von Handtüchern und Laken, Schlafsack und Ölzeug. Schuhe stehen zum Trocknen an Deck. Es sieht aus wie bei Hempels unterm Sofa. Farsund schläft noch, auch der Supermarkt direkt neben dem Steg hat noch geschlossen, und nur vereinzelt fährt ein Auto die Straße entlang. Von einem deutschen Gastlieger erfahre ich, dass die Liegeplätze hier kostenlos sind, ebenso Wasser, Strom und Internet. Das Ganze refinanziert sich über den Tarif für die Duschen, die drei Euro pro Einsatz kosten, insgesamt ein sehr fairer Deal für einen Einhandsegler. Auch im Laufe des Tages sprudelt in Farsund das Leben nicht über. Im Internet steht, dass der Ort weniger als 10 000 Einwohner hat und im Wesentlichen von Fischfang und Tourismus lebt.
Den ersten Tag verbringe ich damit, mich mit norwegischem Geld zu versorgen, eine Gastlandflagge zu organisieren und eine elektrische Bilgenpumpe zu kaufen. Sollte sich noch einmal Wasser in das Boot schleichen: Von Hand werde ich es sicherlich nicht wieder hinausbefördern. Das nächtliche Intervallschlafen scheint mich nicht wirklich belastet zu haben, und ich freue mich, dass ich so fit bin. Das glaube ich jedenfalls bis ich abends in weniger als einer Sekunde einschlafe.
Das Organisieren einer Dichtung für den Ankerkasten wird zum großen Abenteuer. In Farsund gibt es nur einen kleinen Yachtausrüster, der eigentlich gar nichts hat, und auch die kleinen Baumärkte haben wenig, was sich als Dichtung eignen könnte. Glücklicherweise sprechen die Menschen hier alle ziemlich gutes Englisch, was mein Problem etwas einfacher macht. Auf meinem Fahrrad, welches den Namen »Rosalie Klapprad aus der Backskiste« bekommt, radle ich bergauf und bergab, irre von einem Eisenwarenladen zum anderen. In meiner Ratlosigkeit stoppe ich bei einer Großschlosserei, wo man für mich das ganze Lager auf den Kopf stellt und am Ende eine Gummimatte findet, diese in Stücke schneidet und mir zum Preis von »that’s okay« verkauft. Den Inhalt einer Tube Sikaflex verwende ich für die Abdichtung der Fenster, eine weitere Tube benötige ich, um den Ankerkasten mit dem Deckel zu sichern, und eine ordentliche Portion Klebeband soll die Dichtung noch dichter machen. Die mir hier gebotenen Möglichkeiten reichen meines Erachtens nicht aus, um das Problem mit dem Wassereinbruch zu lösen – durch das Verkleben des Ankerkastens sollten wir jedoch provisorisch erst einmal bis zum nächsten Yachtausrüster auf der trockenen Seite sein. Später bin ich auf einen kleinen Umtrunk auf einer deutschen Charteryacht eingeladen. Ich lerne allerlei Nützliches und Skurriles für die Weiterfahrt. Eine wahre Flut von Informationen.
Nach zweieinhalb Tagen habe ich genug von Norwegen und will weiter. Die in der Zwischenzeit etwas dezimierten Lebensmittel- und insbesondere Süßigkeitenvorräte sind wieder aufgefüllt, der Windgenerator, der sich auf dem ersten Seestück etwas losgewackelt hatte, ist wieder festgeschraubt und die Bilge trocken. Vor allem das Trockenlegen des Bootes war mühsam, schmierig und schmerzhaft. Fast alle Bodenbretter musste ich abschrauben und habe mir dann mit schmutzigen und öligen Fingern drei große Blasen in die Handflächen geschraubt. Am Nachmittag tuckert M langsam aus dem großen Hafenbecken von Farsund und durch die Schären zurück auf die Nordsee. Eine Gewitterfront begrüßt uns mit tonnenweise Regen, den Donner kann ich fast im Magen spüren. Beeindruckend, wie Regen die Wellen glättet. Nach ein paar Minuten ist der Spuk vorbei, und ich breche mir beim Ausbaumen der Genua fast sämtliche Knochen, elegant ist anders. Auf den vor uns liegenden Tausenden Seemeilen wird sich hoffentlich noch ein wenig Routine einstellen. Als die Logge auf sieben Knoten steht, fliegt den blöd grinsenden Möwen ein sichtlich stolzes »Siehste!« von Bord der M entgegen. Das uns bereits bekannte Verkehrstrennungsgebiet liegt wie verwaist vor uns, und ich steuere M gegen alle Vorschriften diagonal über die Schifffahrtsautobahn in der Hoffnung, dass niemand dieses Gebiet überwacht.
Gut gelaunt sitze ich auf dem Vorschiff und beobachte einen kleinen Schmetterling, der um die Genua flattert und in Lee des Segels ein wenig rastet. Was macht der hier 20 Seemeilen vor der Küste? Mit der einsetzenden Dunkelheit ist er verschwunden, und von der Küste Norwegens, die hier an der Südspitze nicht stark besiedelt ist, ist nur noch der Schein der Leuchttürme zu sehen. Das Drehen der Lichtkegel ist im leicht diesigen Wetter gut zu erkennen. Auf mich haben Leuchttürme eine beruhigende Wirkung, als wollten sie sagen: Fahr du ruhig, ich bin da, ich pass’ auf. Ich kann die Feuer der Türme Lista und Lindesnes zwar sehen – die Türme selbst leider nicht.
Die tägliche Portion Wissen gibt es heute aus dem Leuchtturmatlas. Es ist kaum zu glauben, dass der Versuch, einen Leuchtturm in Lindesnes zu errichten, in den Jahren 1656, 1725 und 1822 wegen der schlechten Versorgungsmöglichkeit (mit Brennkram für die Leuchte) scheiterte. Erst 1915 konnten die Versorgung und damit der Betrieb des Feuers durch ein paar Bauarbeiter in Eigenregie erreicht werden.
Die Tage auf See vergehen schnell. In den ersten 24 Stunden des zweiten Seestücks lassen wir 124 Seemeilen zwischen uns und Norwegen. Eine halbe Packung Frischeiwaffeln aus dem deutschen Lebensmitteldiscounter fliegt im hohen Bogen über Bord. Es ist schwer zu glauben, dass dieses Gebäck einen natürlichen Ursprung hat, denn es riecht und schmeckt eher nach Chemie. An Land kann ich davon eine ganze Packung wegfuttern, hier auf See wird mir davon übel. Als Ersatz gibt es eine Dose feurigen Zigeunertopf – ebenfalls vom Discounter. Schmeckt eigentlich ganz gut, aber etwas viele Bohnen schwimmen zwischen den scheinbar handverlesenen drei bis sieben Stückchen Fleisch. Was wäre das Leben langweilig, wenn man nichts zu meckern hätte! Da ich erst seit ein paar Tagen unterwegs bin, gibt es noch jede Menge Leckereien an Bord. Und das Beste ist, ich weiß noch grob, wo sich was befindet. Im weiteren Verlauf der Reise wird sich in den hinteren Ecken immer wieder einmal eine Überraschung finden.
In der Nacht begleitet funkelndes Meeresleuchten unsere Reise. Die Bug- und Heckwellen glitzern silbrig unter dem Sternenhimmel. Mit einer Tasse Kakao sitze ich an Deck und beobachte das Schauspiel. Glücklicherweise scheitern alle Versuche, dieses Naturphänomen mit der Kamera einzufangen – eine Erinnerung nur für mich. Laut Wettervorhersage sollen uns südwestliche Winde um vier bis fünf Windstärken auf dem Weg durch die Seegebiete Utsira-Süd und Viking bis zu den Shetlandinseln begleiten. Wir segeln durch ein Bohrinselfeld, haben aber das Glück, keinem der riesigen Stahldinger zu nahe zu kommen. Besonders im Dunkeln sind die Fackeln der Bohrinseln überall zu erkennen.
Kurz vor Mitternacht am Ende des zweiten Seetages dümpeln wir in der Flaute, kein Lüftchen weht – Grund genug, das Schlafintervall auf 45 Minuten zu verlängern. Einige Zeit später sitze ich gespannt vor dem GPS und beobachte die Positionsanzeige. Die zum Längengrad gehörende Zahl wird immer kleiner, und schließlich weicht das E (Ost) einem W (West), die Zahlen steigen wieder. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich segelnd den Greenwich-Meridian überquert. Willkommen auf der Westhalbkugel.
An Bord wird inzwischen alles einfacher. Die Bewegungsabläufe spielen sich ein. Auch kopfüber im Vorschiff über den Vorräten zu hängen ist inzwischen zur Routine geworden, und der im Morgengrauen einsetzende Südwind kommt wie bestellt. Direkt voraus liegt unser nächstes Ziel. Der Wind dreht weiter und weiter auf. Ich berge die Genua und lasse M direkt vor dem Wind fahren. Eine dumme Idee, denn durch den Druck im Groß läuft sie mehrfach aus dem Kurs. Die Windselbststeueranlage ist mit dem Kurshalten ein wenig überfordert, bei einer Patenthalse kann ich dem Baum gerade noch ausweichen, wenngleich mich die Großschot am Arm erwischt. Das gibt einen ordentlichen blauen Fleck. Stück für Stück tasten wir uns vor, laufen in den Hafen ein, drehen eine Runde im Becken und finden keinen Liegeplatz. Drei Boote liegen bereits an dem einzigen Schwimmsteg und haben sich so viel Platz gegönnt, dass ich mich nicht traue, mich dazuzugesellen. Hinter der nächsten Kaimauer befindet sich ein verwaister Ponton, der eher aussieht wie ein Fähranleger. Ich weiß nicht genau, ob ich hier anlegen darf, versuche mein Glück daher noch einmal im ersten Hafenbecken. Vielleicht kann ich mich neben einem anderen Boot ins Päckchen legen? Auf dem Steg ruft mir jemand zu, dass ich natürlich auch im anderen Becken anlegen darf, und bietet an, meine Leinen anzunehmen. Um zehn Uhr machen wir am Albert-Wharf-Ponton fest.
»… Viele derjenigen Experten, die mit der Zunge Maßstäbe zu setzen versuchen, […] verunglimpfen nach dem Motto: Was jenseits meiner Möglichkeiten und Fähigkeiten liegt, ist sowieso Wahnsinn, Hasardeurtum, einfach unseemännisch!«
Reimer Böttger, 1988, Trans-Ocean Magazin
Wenn das Wörtchen »wenn« nicht wär’ … Dann wäre alles ganz anders gekommen. Dann hätte es diese Reise vielleicht gar nicht gegeben. Oder erst ein paar Jahre später. Oder erst im Rentenalter. Zumindest hätte ich den Sommer nicht in Norwegen und Schottland, Irland und auf der Isle of Man verbracht, sondern vergraben zwischen Steuerrichtlinien, -gesetzen und -erlassen. Ich hätte Paragrafen gewälzt und auswendig gelernt und den Oktober nicht in Portugal, sondern bei drei sechsstündigen Klausuren in geschlossenen Räumen verbracht.
Im Januar 2009 bin ich beruflich in Hannover. Irgendwo in den Posteingangskörben der Steuerberaterkammer liegt ein Schreiben von mir, in dem ich meine praktische Tätigkeit auf dem Gebiet der Steuern nachweise. Über zwei Jahre – so die gesetzlichen Bestimmungen – muss dies genau dargelegt werden, um am Examen teilnehmen zu können, dessen Bestehen in die Ernennung zum Steuerberater mündet. Inwieweit dieser Titel sexy ist, lässt sich sicher kontrovers diskutieren, dass er bei meinem Arbeitgeber eine Voraussetzung ist, um »weiterzukommen«, steht außer Frage. Seit meinem ersten Tag in dieser Firma wollte ich die Prüfung machen und habe keinen Grund gefunden, sie nicht so zeitnah wie möglich abzulegen. Sie findet einmal im Jahr statt, und zum Prüfungstag muss man die erforderliche Berufspraxis nachweisen können. Mir war klar, dass es eine knappe Kiste werden würde. Telefonisch gab mir die Behörde dann jedoch bekannt, dass es in diesem Jahr noch nichts werden könne, meine Berufspraxis reiche nicht aus. Meinen eigenen Nachrechnungen zufolge belief sich das Zeitdefizit auf drei bis fünf Tage. Aber zwei Jahre sind eben zwei Jahre und nicht ein Jahr und 362 Tage. Das Steuerberaterexamen konnte in diesem Jahr für mich also nicht stattfinden. Plötzlich tat sich ein riesiger Raum freier Zeit auf, den ich nun arbeitend und nicht lernend verbringen sollte.
Zum Glück gab es noch diesen Traum irgendwo in den Abgründen meiner Langzeit-Lebensagenda. Seit meinem 14. Lebensjahr träumte ich von einer Weltumsegelung. Die Lektüre zahlreicher Einhandsegelbuch-Klassiker, die ich meist mit dem Laptop neben mir förmlich verschlang, folgte. Den Laptop brauchte ich, um meinen Wissensdurst zu stillen: Wo ist der Autor da genau? Wo segelt der nun lang? Was hat der da gerade erzählt? Ständig verlor ich mich auf den Internetseiten von Google Maps und Wikipedia. Es war einfach zu interessant zu sehen, zu lesen und mitzufühlen, wie die Kollegen in spe so durch die Welt segeln. Das wollte ich auch. Wollte ich ja schon lange. Aber nun schlich sich ein »zeitnah« in meine Wunschwelt. Nach dem Examen schien mir ein guter Zeitpunkt zu sein. Statt der Weltumsegelung sollte es erst mal nur eine Atlantikrunde werden. Mein Lieblingsozean hat auch so seine Reize.
Im Dezember 2008 hatte sich deshalb unter dem Weihnachtsbaum ein kleines, dünnes Päckchen befunden, welches ich mir selbst dorthin gelegt hatte. Die versammelte Mannschaft – meine Eltern, mein Bruder und Oma – staunten damals nicht schlecht, als sich darin eine IMRAY-100-Seekarte mit dem faszinierenden Titel »Atlantic Ocean Passage Chart« befand. Ich habe irgendwo mal gelesen, dass es in jeder Familie einen Verrückten gibt, und schien auf einem guten Weg zu sein, diesen Titel für mich beanspruchen zu können. Könnte ich die Weltumsegelung vorziehen und das Examen danach machen, fragte ich mich. Oder nicht? Konnte ich einfach den Job ruhen lassen? Ich fing an, im Internet nach einem Boot zu suchen, klickte mich hier und da durch und versuchte, dem ganzen Vorhaben eine Struktur zu geben.
Wie lange will ich unterwegs sein? Wie lange kann ich mir so etwas leisten? Wie viel muss ich für ein geeignetes Boot ausgeben? Auf eBay versteigert ein Engländer ein Boot, welches ihn schon über den Atlantik getragen hat. Ich nehme Kontakt zu Matt auf und löchere ihn mit tausend Fragen. Zu seinem Boot, zu einem guten Zeitpunkt für einen solchen Trip. Und so wächst und konkretisiert sich in meiner Vorstellung ein Bild dieser Reise.
In der darauffolgenden Woche sitze ich wieder in Hannover, den Blick über einen Schrottplatz gerichtet – die Sonnenuntergänge sind ein Traum für jeden Industrieromantiker. Damit mein Bedürfnis für Romantik nicht zu kurz kommt, breite ich allabendlich die große Atlantiküberseglerkarte aus und fahre mit dem Finger den zukünftigen Kurs ab. Auf der Rückseite der Karte befinden sich Informationen zu Wind- und Wetterlagen auf dem Atlantik, welche mir bei der Auswahl eines geeigneten Zeitfensters für meine Reise helfen sollen. Routenplanung ist für mich ein neues Terrain. Bisher gab es nur rund 30 Seemeilen lange Schläge auf der Ostsee zu planen, bei denen ich selten das Land aus den Augen verlor. Beim Versuch eines pragmatischen Ansatzes entnehme ich meinen Segelbüchern eine durchschnittlich pro Tag segelbare Distanz und runde sie auf 100 Seemeilen zurecht, um besser rechnen zu können. Mit dem Zirkel und dem Einmalhundert wird die Routenplanung ganz simpel. Aber kann ich mir das so einfach machen? Ich plane die gesamte Reise um meine erste Atlantiküberquerung herum, denn ein stabiler Passatwind sei für eine Ozeanpassage durchaus förderlich – habe ich gelesen.
Über die eigentliche Route muss ich nicht nachdenken, sie ist von Anfang an klar: Von Deutschland zu den Shetlandinseln, denn dort will ich schon seit Jahren hin. Weiter geht es nördlich um die Britischen Inseln herum, durch die Irische See zur Isle of Man (ein weiteres »must see« in meiner Welt). Es sollen Madeira und die Kanaren folgen. Der Landfall nach der Atlantiküberquerung muss aus Gründen, die ich selber nicht kenne und auch nicht erklären kann, auf Antigua erfolgen. Auf den Cayman Islands möchte ich vorbeigucken und auf Kuba ein paar Zigarren kaufen, weiter soll es unter Segeln nach New York gehen. Dann will ich über die Bermudas und Azoren und die Kanalinseln wieder nach Hause. Was wohl mein Arbeitgeber dazu sagen wird? Ob er mich für die Zeit beurlauben wird? Oder muss ich kündigen?
Aufmunternde Worte kommen von Matt: »Hearing from you has awakened the excitement and anticipation that I remember when I bought Milko myself and planned and prepared her for the adventure of a lifetime. In short, you remind me of myself! […] Milko was my home for nearly three years. She is the only boat I have ever sailed and I learnt to sail on her (mostly on my trip). We have been through many experiences together, good and bad, and she has always got me through. It may sound ridiculous when I say it but she is more than just a boat to me. […] People will tell you that you are crazy, and maybe they are right, but I know what that ambition is like. Whatever you end up doing I wish you well.« (»Von dir zu hören, hat in mir wieder die Gefühle der Aufregung und Begeisterung geweckt, die ich damals empfand, als ich Milko kaufte und mit ihr das Abenteuer meines Lebens plante und vorbereitete. Kurzum, du erinnerst mich an mich selbst (…) Milko war für fast drei Jahre mein Zuhause. Sie ist das einzige Boot, das ich je segelte, und ich lernte das Segeln auf ihr überwiegend während der Reise. Wir haben viel miteinander erlebt, Gutes und Schlechtes, und sie hat mich immer durchgebracht. Es mag sich vielleicht lächerlich anhören, wenn ich sage, dass sie für mich mehr ist als nur ein Boot. (…) Die Leute werden dir sagen, dass du verrückt bist. Und vielleicht haben sie recht, aber ich weiß, wie sich diese Begierde anfühlt. Wie auch immer es bei dir weitergehen wird, ich wünsche dir alles Gute.)
Als ich die E-Mail an einem Nachmittag erhalte, kann ich mich den Rest des Tages nicht mehr wirklich auf die Arbeit konzentrieren, schiebe Unterlagen von links nach rechts, klicke im Computer etwas hier und da an, öffne mal einen Ordner, lese wieder und wieder Matts Brief. Am Abend steht für mich fest: Jetzt segeln! Zwar habe ich kein Boot. Ich habe auch nicht viel Segelerfahrung. Erst vor zwei Jahren habe ich meinen Segelschein gemacht. Die Theorie von Seezeichen und Lichterführung aber kannte ich schon als Grundschüler. Häufig hatte ich als Junge an den Molenköpfen irgendwelcher Häfen gestanden und die Yachten beobachtet, die ein- oder ausliefen, und nach dem Studium hatte ich zur Theorie auch die Praxis beherrschen wollen und mich für einen SKS-Praxiskurs (SKS ist der Sportküstenschifferschein, ein Segelschein, der auf den Kenntnissen des Sportbootführerschein-See (SBF) aufbaut), dem die Prüfung zum SBF-See vorangegangen war. Es ging Rund Rügen, und nach einer Woche und meinen ersten 300 Seemeilen hatte ich den SKS in der Tasche. Es folgten kleinere Chartertouren – stets als unerfahrener Skipper einer meist noch unerfahreneren Crew. Glücklicherweise ist immer alles gut gegangen.
Bewaffnet mit der Bereitschaft, im Zweifel die allerletzte Konsequenz zu ziehen, betrat ich also das Büro meines Chefs und zitierte ihn mit seinen Worten: »›Wenn Sie in Ihrem Leben noch Wünsche und Träume haben, versuchen Sie, diese umzusetzen, bevor Sie beruflich und privat Verantwortung übernehmen müssen‹, und genau deswegen bin ich hier, um Sie um Zeit zu bitten.« Nach einem kurzen »Wofür?« und »Wie lange?« erhielt ich seine Zustimmung innerhalb von zehn Minuten, die Formalitäten würde die Personalabteilung klären. Ich sollte zunächst meinen angesparten Urlaub und in Zeit umgewandelte variable Gehaltskomponenten abbauen und meinen Arbeitsvertrag nach Aufbrauchen dieser Reserven ruhen lassen.
Insgesamt verfüge ich zum Zeitpunkt des Reisebeginns über rund 600 Seemeilen Erfahrung. Und diese fast ausschließlich auf der Ostsee. Den Titel »alter Seebär« werde ich so nicht gewinnen können, aber ich rede mir ein, die Hälfte der nötigen Fertigkeiten und Fähigkeiten zu haben, 20 Prozent unterwegs lernen und weitere 20 Prozent durch einen großzügigen Schuss jugendlicher Unbekümmertheit kompensieren zu können. Um die letzten zehn Prozent mache ich mir keine Gedanken. So geht die Rechnung auf, Haken dran.
Seemeilen: 612–612
Wenn Schotten glauben, dass sie nicht richtig verstanden werden, wiederholen sie alles ein wenig lauter. Und wenn sie immer noch nicht verstanden werden, noch lauter. Also seien Sie nicht beleidigt, wenn Sie einen schreienden Schotten vor sich haben. Sagen Sie nur: »Rephrase.«
British Waterways Scotland – Der Schifferguide für den Kaledonischen Kanal
Acht Tage und 611 Seemeilen liegen seit dem Auslaufen in Bensersiel in unserem, Ms und meinem, Kielwasser. In Lerwick haben wir auf 60 Grad Nord einen wichtigen Punkt erreicht: den nördlichsten auf der gesamten Reise. Lerwick ist die Hauptstadt der Shetlandinseln, einer kleinen Inselgruppe im äußersten Norden Großbritanniens. Weiter nördlich geht es in diesem Land eigentlich nicht. Seit Jahren wollte ich einmal zu den Shetlandinseln, mich hier einfach nur mal umschauen, die rauen Felsen sehen, an denen der Zahn der Nordsee auf der einen Seite und der Atlantik auf der anderen Seite nagt.
Die Shetlands bestehen aus mehr als 100 eher kleinen Inseln. Die größte ist Mainland, auf der sich auch die Hauptstadt Lerwick befindet. Der erste Gang führt mich zur Port Control, dem Hafenbüro, wo ich mich anmelden möchte. Neben einem Formular für die Hafengebühren erhalte ich auch ein Einwanderungsformular.
»Wofür ist das denn?«, frage ich den Hafenmeister, der mir erklärt, dass ich einklarieren muss, wenn ich aus Norwegen kommend wieder in die Europäische Union zurückreise. Huch, Norwegen ist gar nicht in der EU? Da hat sich bei mir eine Bildungslücke aufgetan. Wenn ich das richtig sehe, dann hätte ich nicht nur in Deutschland aus-, sondern auch in Norwegen einklarieren müssen. Farsund ist kein Einreisehafen, und ich hätte dort gar nicht an Land gehen dürfen …
Es regnet an diesem windigen Sonntagmorgen, als ich vom Hafenbüro wieder zurück zu M gehe. Neben meinem Boot steht ein Mann und betrachtet den neuen Hafenlieger. Er stellt sich als Lotse vor, und wir kommen ins Gespräch. Als ich ihn nach einem McDonald’s frage, lacht er mich aus und weist mich an, mich doch an lokalen Köstlichkeiten zu erfreuen. Während meiner ganzen Zeit auf den Shetlands wird es leider nie dazu kommen, dass ich eine solche Gelegenheit entdecke. Ausgerüstet mit meiner Kamera und einer Socke erkunde ich den Ort, der sich mir als eine Mischung aus Mittelalter und Moderne präsentiert. Ein Fort, eine Burg, ein neues Museum aus Glas. Viele enge und verschlungene Straßen. Wenn die Einwohner auf ihre mausgrauen Fassaden verzichten würden und ein wenig Mut zur Farbe offenbarten, könnte dieser Ort eine Vielzahl von Touristen anziehen. Stellt sich nur die Frage, ob sie das wollen.
In der Touristeninformation kaufe ich Postkarten und nehme einige Inselprospekte mit. Die Shetlands haben ihre eigene Flagge, die jedoch erst 1984 kreiert und vor vier Jahren offiziell anerkannt wurde. Als der schottische König vor einigen Hundert Jahren eine dänische Prinzessin heiratete, konnte der Brautvater wegen Ebbe in den königlichen Schatzkammern keine Mitgift nach Übersee schicken. Als Ersatz mussten die damals noch dänischen Shetlandinseln herhalten. Deshalb sieht die Flagge auch sehr ähnlich aus wie die dänische: Lediglich das Rot ist durch das schottische Blau ersetzt.
Fünf Tage habe ich für den Aufenthalt auf der Insel eingeplant, und allmorgendlich führt mich mein Weg in den Keller des knapp 200 Meter entfernten Lerwick Boating Club, wo sich die sanitären Einrichtungen befinden. Es ist jedes Mal wieder eine Freude, die muffigen Duschen im Keller zu verlassen. Zu meiner Überraschung klettert am dritten Tag in Lerwick eine nette Dame von der Einwanderungsbehörde an Bord der M und fragt nach den ausgefüllten Formularen. Ich habe das weiße mit dem rosa Durchschlag und das blaue ohne Durchschlag ausgefüllt, weswegen sie ankündigt, mir später noch das wichtige weiße Formular mit dem weißen Durchschlag vorbeizubringen. Das erinnert mich stark an die Erlebnisse der weltberühmten Gallier Asterix und Obelix auf der Suche nach dem Passierschein A38 in dem Bestsellercomic »Asterix erobert Rom«. Kurz nach diesem Besuch schaut schon der nächste vorbei. Der Lotse hält einen Brief in der Hand. Meine Eltern haben mir den Objektivdeckel meiner Kamera nachgeschickt, welchen ich zu Hause vergessen habe. Jetzt kann ich für weitere Landexkursionen den provisorischen Objektivschutz in Form der – noch sauberen – Socke an Bord lassen. Da der Lotse schon einmal da ist, nutze ich die Gelegenheit und frage, ob ich einmal mit dem Lotsenschlepper mitfahren darf. Das sei gar kein Problem, versichert er mir, und schon ein paar Minuten später sind wir auf dem Weg in den nördlichen Teil des Hafens. Während der Lotse an Bord des Ölplattformversorgers klettert, erkläre ich der Besatzung des Schleppers meine Routenplanung. Nach knapp 20 Minuten nehmen wir den Lotsen wieder an Bord.
»Wofür braucht man für eine so kurze Strecke einen Lotsen?«, frage ich.
»Es ernährt meine Familie – das ist Grund genug«, so die prompte Antwort.
M braucht viel Pflege. Die Vorschiffsluke erhält ein wenig Silikon, die Vorsegel werden getrocknet, die Wassertanks für unsere baldige Abreise wieder gefüllt. Als ich den Spibaum etwas zur Seite schiebe, finde ich darunter eine unabgefeuerte Patrone für eine Magnum .357 (steht drauf). Wie kommt die bloß an Bord? Und vor allem: Was soll ich damit machen? Ich beschließe, das knapp streichholzlange Ding zu fotografieren, wische anschließend meine Fingerabdrücke mithilfe von Spülmittel ab und werfe es ins Hafenbecken. Mir ist etwas mulmig. Ich will weiter. Vorher muss ich mich jedoch noch mit Seenotsignalmitteln versorgen, denn in der Heimat hätte ich für den Erwerb den Nachweis über eine absolvierte pyrotechnische Ausbildung vorlegen müssen, den ich nicht habe. Von Segelfreunden hatte ich erfahren, dass man Signalraketen und -fackeln in Schottland nicht nur ohne Nachweis, sondern auch noch wesentlich billiger erwerben kann. Also lasse ich mir jetzt ein Paket zusammenschnüren, das auch für internationale Hochseeregatten taugt, und bekomme vom Verkäufer einen 50-Prozent-Einhandseglerrabatt, denn er scannt an der Kasse nur jedes zweite Teil und nickt mir dabei zu.
Später am Tag besteige ich den Bus, um die Südspitze der Insel zu erkunden. Dort gibt es nämlich einen Leuchtturm zu betrachten. Die Steilklippen der Insel gelten zudem als Brutstätte von Millionen Vögeln, und Walsichtungen sollen auch nicht selten sein. Fernab der »Touristenhochburg« Lerwick offenbaren die Shetlands ihr wahres Gesicht: verschlafen, ruhig und ein wenig glanzlos. Mit meinem – das Wetter ist ganz ausgezeichnet – knallblauen T-Shirt bin ich ein wahrer Farbklecks inmitten der grau bis dunkelbraun gekleideten Einwohner. Der Sumburgh-Head-Leuchtturm ist der älteste Leuchttum der Shetlands, 1821 gebaut und nur 17 Meter hoch, jedoch 91 Meter über dem Meeresspiegel. Die Hochphase der Vogelbrut habe ich leider verpasst, und die berühmten Papageientaucher, Puffins genannt, sind leider nirgendwo zu sehen. Ich werde noch einmal wiederkommen müssen, denke ich und blicke hinaus aufs Meer. Von sechs Windstärken leicht aufgewühlt liegt es vor mir und flößt mir riesigen Respekt ein. Es ist einer dieser Momente, in denen mir wieder einmal klar wird, dass die See einen Menschen in seinem kleinen Boot nur duldet. Wenn sie wollte, dann wäre es ziemlich schnell vorbei mit deren Leben, Technik hin oder her.
Auf dem Rückweg genieße ich die Natur. Saftig grüne Wiesen brechen an den steilen Klippen ab, Wellen zerschlagen am Stein der Insel. Ein kleines Auto hält neben mir. Ob ich mitfahren möchte, werde ich gefragt. Na gut, Natur kann man ja auch aus dem Auto heraus genießen. Und draußen bin ich sonst eh die meiste Zeit. Also steige ich ein und lasse mich komfortabel zurückchauffieren.
Unter Deck meiner M brummt der Heizlüfter und wärmt den Innenraum auf angenehme 22 °C. Ich zwänge mich in meinen neu erworbenen Neoprenanzug. Den habe ich im Geschäft um die Ecke gekauft, als ich feststellte, dass ein Bad im Hafenbecken ohne einen solchen Anzug unmöglich ist. Das Wasser ist einfach viel zu kalt. Der Grund für diesen Tauchausflug hat sich um die Welle von Ms Propeller gewickelt. Die blaue Schnur muss weg. Gott sei Dank erleide ich nicht den gefühlten Erfrierungstod und kann die 40 Zentimeter in die Mülltonne befördern. Morgen geht’s weiter.
Die Bundesflagge ist in der im Seeverkehr für Seeschiffe der betreffenden Gattung üblichen Art und Weise zu führen. An der Stelle, wo die Bundesflagge gesetzt ist oder regelmäßig gesetzt wird, dürfen andere Flaggen nur zum Signalgeben gesetzt werden. Die Bundesflagge ist beim Einlaufen in einen Hafen und beim Auslaufen zu zeigen.
§8 Abs. 2 und 3 Gesetz über das Flaggenrecht der Seeschiffe und die Flaggenführung der Binnenschiffe – Flaggenrechtsgesetz (FlaggenRG)
Mit der Entscheidung, diese Reise anzutreten, hatte ich mich den damit zwangsläufig verbundenen Vorbereitungsmaßnahmen stellen müssen. Vor allem: Wie organisiert man so eine Reise, während man einer beruflichen Tätigkeit nachgeht, die auch schon mal am Mittwochabend die Wochenarbeitszeit von 40 Stunden erreicht hat? Was kauft man sich für ein Segelboot, wenn man noch nie eines hatte? Auf was muss man achten? Ich würde mich ex post zu der Aussage hinreißen lassen, dass eher ein Boot als die Crew hochseetauglich sein muss, und dazu, dass fast jedes moderne Segelboot einen Atlantiktörn meistern kann, falls es so gebaut ist, dass man darauf wohnen kann.
Ich wälzte also die Blauwassersegelbibeln von Erdmann, Schenk und wie sie alle heißen. Ein Boot aus Metall wäre genial, gern aus Aluminium, aber das wird wahrscheinlich nicht zu finanzieren sein, dachte ich. Meine Suche fand auch schnell ein Ende. So sehr scheint man hierzulande nicht (mehr) auf ein Boot aus gutem Stahl oder Aluminium zu stehen. Letzteres hätte ich unter Umständen trotz der Kosten in Erwägung gezogen. Sicher, Stahlboote sind schwer und entsprechend langsam. In meiner Vorstellung bieten sie aber einen erheblichen Sicherheitsgewinn: Sollte ich beispielsweise einen Wal oder einen Container rammen, dann hätte ich zumindest die Hoffnung, mit einem blauen Auge (sprich: einer Beule im Rumpf) davonzukommen. Also weitete ich die Suche aus, und siehe da: Unsere Nachbarn im Westen stehen offensichtlich auf Stahlboote. Schnell fand ich ein paar Segelboote, die infrage kamen. Von einem Freund ließ ich mir die niederländischen Anzeigen übersetzen und vereinbarte schließlich die Besichtigungstermine.
Die erste Kandidatin war sehr schön. Der Eigner war mit ihr angeblich bereits in Spitzbergen gewesen, segelte vornehmlich einhand. Sie verfügte über Selbststeueranlage und Maststufen. Unter Deck war die Odyll 2 fachmännisch ausgebaut mit wunderschönem Holz. Sogar ein Ölofen stand in der Ecke. Leider konnte ich unter Deck nicht aufrecht stehen. Das Vorschiff verdiente bei höchstem Wohlwollen allenfalls die Bezeichnung »Kriechkeller«, eine Schlafgelegenheit war nur für Menschen unter 1,80 Metern Körpergröße vorhanden.
Eine Alternative lag in Baarn in den Niederlanden. Als ich dort vorfuhr, begrüßte mich der einseitig blinde Hund des Maklers mit einem heiseren Bellen auf dem Hof. Das Büro befand sich in einem Container, aus dem graubrauner Qualm aufstieg. Es nieselte, es war saukalt, einfach ungemütlich. Drinnen empfing mich Lodewijk, der Makler, im Ofen brannte ein Feuer, kleine Modellschiffe standen herum, es gab eine Tasse Tee. Ich schilderte meine Vorstellungen von einem geeigneten Boot. Der Gesichtsausdruck des Maklers war schwierig zu deuten, jedenfalls schien er nicht jeden Tag mit ähnlichen Wünschen konfrontiert zu werden.
Schließlich zeigte er mir ein Boot und sagte: »Guck dich um, das kann man am besten allein. Ich lass’ dich einfach in Ruhe, und wenn du Fragen hast: Ich sitze im Container.«
Die Corinthian lag traurig im Hafenbecken. Der blaue Rumpf war matt, das rote Unterwasserschiff bärtig grün, ihr war anzusehen, dass sie bereits ein paar Tage (Monate? Jahre?) auf einen neuen Eigner wartete. Insgesamt kein schöner Anblick – wenngleich sie schöne Linien zeigte. Über Deck und Sprayhood, Baumkleid und Leinen zogen sich grüne Beläge, und unter Deck empfing mich die Freundlichkeit eines seit Jahren nicht mehr benutzten Wohnwagens. Aber sie war aus Stahl, ich konnte unter Deck aufrecht stehen und hätte mich in jeder der beiden Salonkojen beim Schlafen ausstrecken können. Der Motor war 2004 generalüberholt worden, die Segelgarderobe war in einem guten Zustand, das Cockpit tief und durch eine solide Seereling geschützt. Ich fühlte mich sicher an Bord. Das Boot fühlte sich gut an. Ich entschied: Das wird meine Yacht. Bereits vor dem Termin hatte ich mich beim Konstruktionsbüro Koopmans erkundigt, ob dieses Boot und meine Pläne zusammenpassten.
Die Antwort war kurz, aber zufriedenstellend ausgefallen: »Das Boot wurde für solche Reisen konstruiert.«
Mit dem Makler machte ich eine Probefahrt unter Motor auf einer kleinen Gracht direkt vor dem Hafen. Dank des Regenwetters und der Kälte fiel es mir nicht schwer, mit einer langen Mängelliste bei den Preisverhandlungen aufzuwarten. Die Corinthian hat es mir leicht gemacht: Sie hatte Rostflecken, die technische Ausrüstung war nicht die beste, und es war viel zu tun, bevor ich mit ihr lossegeln konnte. Mit jedem negativen Argument sank der Preis. Schlussendlich erhielt ich ein tolles Boot zu einem sehr fairen Kurs – ich bin ziemlich gut darin, etwas schlechtzureden.
Ihren Weg nach Norddeutschland fand die Koopmans 32 auf Rädern, denn ich traute mir nicht zu, ein Boot, welches ich nicht kannte, im März über die Nordsee nach Glückstadt zu segeln. Direkt neben dem Makler befand sich glücklicherweise eine Transportfirma, die regelmäßig Yachten aus Dänemark in die Niederlande überführte und somit häufig leer in den Norden fuhr. So erhielt ich einen sehr günstigen Preis, und es war an mir, das Beste aus dem Boot zu formen.
Meine ersten beiden Arbeitseinsätze machten die Corinthian zu M. Mit einem Schrubber, sehr viel Reinigungsmittel, Wasser und einer Autopoliermaschine erhielt sie ihre alte Farbpracht zurück, und mit dem Heißluftfön plus einem Spatel rückte ich dem alten Namenszug und der Angabe des Heimathafens zu Leibe. Selbstverständlich hätte ich mich auch erst um die wichtigen Dinge kümmern können, aber ich wollte sie erst einmal zu meinem Boot machen. Dann kaufte ich beim örtlichen Yachtausrüster die größte erhältliche Landesflagge und besorgte die Aufkleber für den neuen Namen. M sollte sie heißen. Ein Name, der sich von den kunststoffweißen und langweiligen Albatrossen absetzte, der Abstand nahm vom pseudogebildeten Aiolos und so gar nicht zum Ach-wir-sind-so-international-Wavedancer passte. Viele Fragen erreichten mich später zu diesem Namen, und häufig wurde ich nach der Geschichte hinter diesem Buchstaben gefragt. Als einfachste, wenngleich unrichtige Erklärung gab ich an, dass mein Nachname mit ebendiesem Buchstaben anfängt.
In meinem Freundes- und Bekanntenkreis breitete sich die Nachricht über mein Segelvorhaben aus. Zustimmung, Begeisterung, aber auch das ein oder andere kritische Wort wurden mir entgegengebracht. Die Klassiker waren: Warum ich meinen recht auskömmlichen Job aufgeben wolle? Warum ich allein segeln wolle? Ob ich ein wenig verrückt sei? Ob ich überhaupt die nötige Erfahrung für einen solchen Törn hätte? Was ich mir davon versprechen würde?
Für verrückt hielt ich mich nicht. Aber auch nicht für sonderlich mutig. In Irland würde ich später in einem Buch lesen: »Schlussendlich geht es nur darum zu entscheiden, es zu tun.« Das beschreibt meinen Zustand ganz gut. Innerhalb meiner Familie wurde mein neuer Plan zunächst auch nicht mit vollendeter Begeisterung aufgenommen. Ich vermute, dass mein Vater, der früher Autorennen gefahren war, ihn eigentlich ziemlich gut fand, sich aber nur verhalten äußerte, um meiner Mutter nicht allzu sehr in den Rücken zu fallen. Sie war alles andere als begeistert. Da sie sich hinter einer Protestmauer zu verstecken drohte, blieb mir nichts anderes übrig, als ihr charmant, aber ziemlich deutlich mitzuteilen, dass sie mich nicht von der Reise abbringen könne und sich einfach mit dem Vorhaben abfinden müsse.
In Glückstadt verbrachte ich viel Zeit. Manchmal mehr Zeit im Auto auf dem Weg dorthin als tatsächlich auf der Werft. An vielen schönen Samstagvormittagen fuhr ich zu dem Hafenort an der Elbe, kaufte am Ortseingang bei McDonald’s ein Eis und einen Burger, kletterte über die Leiter an Bord meines Schiffes, aß das Eis und den Burger an Deck und fuhr wieder zurück nach Hamburg. Die meisten Arbeiten blieben zunächst liegen. Ich hatte keine Lust anzufangen, ich hatte noch nicht die richtigen Teile, oder ich hatte einfach mehr Interesse daran, meine Freizeit mit Freunden an der Alster zu verbringen, um eine gute Ausrede war ich nie verlegen. Außerdem: So viel war doch gar nicht zu tun. Oder? Wenn erst einmal der Mast steht und M schwimmt, dann ist nicht mehr viel zu machen, redete ich mir ein, ich kann fast schon los, fit ist sie ja.
Im Nachhinein weiß ich, dass ich vielleicht etwas zu wenig Zeit in die technische Vorbereitung gesteckt habe, mich hier und da ein wenig mehr um mein Boot hätte kümmern sollen. Vielleicht war dieses Zögern meine Form des Zweifels an dieser Reise; Zweifel, die ich per Definition ausgeschlossen hatte. Ebenso war ein Aufgeben, Umkehren oder Abbrechen ausgeschlossen. Schließlich hatte ich in meinem Studium auch die eine oder andere Vorlesung in Volkswirtschaftslehre besucht und dort viel über die sympathische Methode gelernt, Ungewünschtes einfach aus dem Kreis des Möglichen auszuschließen. Und neben der technischen Umsetzung meines Vorhabens galt es auch, die Finanzierung auf ein den Umständen entsprechend solides Fundament zu stellen. Ich war bereit, meine gesamten Barreserven einzusetzen, die neben den Ersparnissen aus zwei Jahren Berufstätigkeit nach meinem abgeschlossenen Studium insbesondere aus zusammengesparten und zusammengehaltenen Kleinstbeträgen bestanden. Altes Geld, das ich als Schüler mit Zeitungaustragen und Aushilfstätigkeiten an einer Tankstelle verdient hatte. Ich überlegte mir, dass ich auch einige Firmen um ihre Unterstützung bitten könnte – in einer Zeit, die unter der Bezeichnung »Finanzkrise« in die Geschichte eingehen wird, und entschied mich daher, nur Unternehmen zu kontaktieren, die mich mit Ausrüstung unterstützen könnten. Es schien mir einfacher, einen Rettungsring gesponsert zu bekommen als 100 Euro. Wer Mitarbeiter entlassen muss, kann kein Geld verschenken, aber der Rettungsring liegt ohnehin im Lager.
Ich war sehr glücklich über erste Zusagen von Yachticon, die mir Farben für einen kompletten Unterwasserschiffanstrich schenkten, und Plastimo, die mir mit guten Konditionen für Rettungsmittel wie EPIRB und Rettungsinsel entgegenkamen. An einem Freitagnachmittag erhielt ich eine Nachricht von dem Bekleidungshersteller Murphy & Nye, der mich um eine Präsentation meines Vorhabens bat.
»Die gewünschten Informationen haben Sie Montagmorgen in Ihrem Postfach«, antwortete ich zuversichtlich und saß am Sonntagabend immer noch vor einer leeren PowerPoint-Präsentation. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, für Montag zuzusagen? Ein Glas Rotwein vermittelte mir die Zuversicht, ein gutes Ergebnis liefern zu können: »Wenn ich etwas in meinem Job gelernt habe, dann ist es, eine gute Geschichte zu erzählen, obwohl es eigentlich nichts zu sagen gibt«, sagte ich laut zu mir selbst, und tatsächlich gelang alles so gut, dass ich eine Woche später mit Dominik von Murphy & Nye in einem Besprechungsraum saß.
»Einhand? Toll, einen Behinderten unterstützen wir sofort«, versicherte er mir in spontaner Begeisterung, sagte mir aber nach der Erklärung, dass »einhand« nur ein anderes Wort für »allein« bei einem solchen Segeltrip ist, trotz meiner beiden Hände seine Unterstützung zu.
Ich freute mich sehr über Ölzeug, T-Shirts, Badeshorts und Funktionskleidung. Auch die Firma ISTEC zeigte sich interessiert an meinem Vorhaben. Ich fragte sogar nach einem Parasailor, dies ist ein spezielles und einfach zu bedienendes Segel für die Vorwindkurse. Kurz vor meinem Start kam es an, und die Unterstützung machte mir nicht nur Mut, sondern erfüllte mich auch mit Freude – denn es schienen viele Menschen an ein Gelingen meiner Reise zu glauben. Nur in Glückstadt fühlte ich mich zunächst nicht ernst genommen. Ich war leider nur der Neue auf diesem Gelände der alten Hasen. Es war immer das Gleiche: Mit dem Auto fuhr ich aufs Werftgelände, unter dem großen Travellift hindurch, links um die Ecke, und vor der Werfthalle stand M neben einem großen Motorboot (auf dem niemals jemand zu sehen war) und einem skurrilen kleinen Motorboot mit dem Namen Crazy. Rasselnd und scheppernd zog ich die Kette um Lagerbock und Leiter, stellte die Alustiege auf und kletterte an Bord. Dann riskierte ich einen Blick in die Runde. Ich konnte nicht reden mit den anderen auf der Werft. Was sollte ich ihnen erzählen? Ich habe mir mein erstes Boot gekauft, habe kaum Erfahrung und möchte einmal Rund Atlantik? Als Antwort wären dann sicherlich Kommentare und Geschichten von wilden Stürmen auf der Ostsee, im Wasserglas und Hafenbecken, von Fasthavarien und Gerade-so-gerettet gekommen. Solche Geschichten höre ich gern, aber ich hätte nichts beisteuern können, und so beschloss ich, ruhig vor mich hin zu werkeln.
Stefan, Tobias und Jakob – allesamt dem Wasser so fern wie ich den Bergen – konnte ich mit Bratwurst und Bier nach Glückstadt locken, damit sie mir beim Neuanstrich des Unterwasserschiffs halfen. Dafür suchte ich den 1. Mai aus, den Tag der Arbeit. Wir bewaffneten uns mit Mundschutz und Spachteln, gingen dem alten Rot an den Kragen. Mühsam ist diese Arbeit, das weiß jeder, der ein Boot hat. Zunächst versuchten wir, die Farbe abzuschleifen, stellten aber fest, dass es mit dem Spachtel einfacher ging, die Farbe bis auf die Kunststoffversiegelung des Rumpfes abzutragen.
»Ich beobachte euch, ihr liegt gut in der Zeit«, lobte uns ein Werftnachbar.
Das fand ich nicht. Da ich ein grundsätzlich ungeduldiger Mensch bin, ging mir diese stumpfsinnige Arbeit gehörig auf die Nerven. Aber schlechte Laune konnte ich mir nicht leisten, musste ich doch meine Helfer bei Stimmung halten. Umso größer war die Freude, als die Bratwürstchen auf dem Grill schmorten und fast noch kühles Bier den Durst stillte. Die Farbe war ab. Also musste die neue drauf, und wir wären durch. Nach der Stärkung ging es ruck, zuck. Die Farbe sah krass aus! Im getrockneten Zustand war sie rosa. Erst später im Wasser erstrahlte sie in voller Schönheit: einem Knallrot, auch noch nach 8000 Seemeilen. Ich lud meine Helfer abends zu einem Drink ein. Und noch Tage nach der Malaktion hatte ich rote Flecken auf der Haut.
Stück für Stück ging es weiter mit M: Der Name ist dran, die Farbe ist schön, und so langsam kann ich mir vorstellen, mit M eine Runde zu segeln. Am Heck montiere ich eine Windselbststeueranlage vom Typ Windpilot Pacific, und plötzlich unterscheidet sich mein Boot von den anderen Pötten in Glückstadt. Während meiner Hafenrundgänge war mir noch keine Yacht aufgefallen, die ein solches Gerät am Heck trug. Bei einer dieser Schlendertouren, deren Motivation meistens aus einem Anfall von »ich habe keinen Bock mehr, was zu tun«, »das Wetter ist so schön« oder »was ist hier sonst noch los« erwuchs, sehe ich eine Flagge der ARC 2009, der Atlantic Rally for Cruisers, an Bord eines fischkutterähnlichen Bootes flattern. Diese Regatta führt alljährlich einen Tross aus Hunderten Yachten von Gran Canaria nach St. Lucia über den Atlantik. Wir verstehen uns gut, die blonde Frau an Bord und ich – meine erste Hochseeseglerbekanntschaft, und das in Glückstadt.
Die Wochen vergehen. Langsam und Stück für Stück wird M so hergerichtet, wie ich es mir vorstelle. Für eine Arbeitswoche lade ich meine Eltern nach Glückstadt ein. Zusammen wollen wir eine lange Liste abarbeiten, um M in ihren auslaufbereiten Zustand zu versetzen. Inzwischen ist der Mai schon fast wieder rum, und ich verbringe die Wochentage in Hamburg und stricke mit meinen Kollegen ein Sanierungsgutachten für einen Mandanten. Um acht Uhr morgens verlasse ich meine Wohnung, um viele Stunden später gegen 22 oder 23 Uhr die Tür wieder aufzuschließen. Zu Hause geht es dann noch an den Schreibtisch: E-Mails schreiben, Zwischenmieter für meine Wohnung suchen, mich um Sponsoren bemühen, Impfungen erledigen, eine Bordapotheke zusammenstellen (lassen), Details zu Ausrüstungen nachfragen und vieles mehr. Meist gegen ein oder zwei Uhr morgens liege ich im Bett, um sieben klingelt schon wieder der Wecker. Tag für Tag, Woche für Woche. Also freue ich mich auf die Arbeitswoche mit meinen Eltern. Mein Vater bringt das nötige technische Verständnis mit, um auch Ms Elektrik zum Laufen zu bringen, meine Mutter macht artig jede Arbeit, die ihr aufgetragen wird, ich spiele den Handlager für beide und habe einen strengen Blick auf die Liste unserer Aufgaben.
Aber es kommt anders. Am Freitag vor der Elternwoche streicht mein Chef mir den Urlaub. Vielen Dank. Doch mir bleibt keine Zeit, darüber erbost zu sein, zu viel ist zu tun, und meine Eltern sind Kummer gewöhnt. Als sie anreisen, wissen sie bereits, dass ich ihnen nicht