Out of the Box - Mathias Morgenthaler - E-Book

Out of the Box E-Book

Mathias Morgenthaler

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Beschreibung

Beruf aus Berufung • Die Essenz aus 1000 Interviews mit Menschen, die etwas Unverwechselbares tun • Eintauchen in inspirierende Berufungsgeschichten • Die eigene Berufung finden und gestalten Der Grundstein für eine ‹Anpassungskarriere› wird früh gelegt. In der Schule lernen wir, keine Fehler zu machen und durch korrekte Antworten gute Noten zu erhalten. Dieses Muster setzt sich in Ausbildung und ersten Jobs fort: Wir bringen unsere Leistung und kommen voran, indem wir Erwartungen erfüllen. Eines Tages sind wir Experten in unserem Fachgebiet, fragen uns aber gleichzeitig, was das alles mit uns zu tun hat, wie gross unser Spielraum ist bei dem, was wir tun, und ob wir damit wirklich etwas bewegen können. Muss das so sein? Oder gibt es eine andere Art zu arbeiten, die nicht nur Erfolg, sondern auch Erfüllung verspricht? Je unberechenbarer die Arbeitswelt wird, desto wichtiger ist es, dass wir uns selber treu bleiben und aus innerem Antrieb heraus agieren. Das Buch macht Lust auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Berufung. Es zeigt anschaulich die Vielfalt möglicher Arbeitsformen und erinnert daran, dass der Beruf nicht einfach ein Job ist, sondern die Entscheidung für eine Lebensform.

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MATHIAS MORGENTHALER

OUT OF THE BOX

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2017 Zytglogge Verlag AG, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Thomas Gierl

Coverbild: Matthias Winkler

Umschlaggestaltung: Dent-de-Lion du Midi

Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel

ISBN: 978-3-7296-0968-6

eISBN (ePUB): 978-3-7296-2208-1

eISBN (mobi): 978-3-7296-2209-8

E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch

www.zytglogge.ch

Für meinen Vater, der nun hoffentlich all die Freiheit erfährt, die ihm zu Lebzeiten verwehrt geblieben ist. Ich hätte gerne den Künstler kennengelernt, der in ihm angelegt war.

Für meine Mutter in Dankbarkeit und voller Bewunderung für ihre Kraft, sich mit über 80 Jahren noch einmal ein neues Leben aufzubauen.

Für meine Tochter, deren Neugier und Hingabe mich immer wieder neu beeindrucken.

Und für Hera, in Liebe.

Inhalt

Vorwort von Marcel Bernet

Einleitung

Teil 1: Die Anpassungskarriere

Teil 2: Interviews

Bas van Abel

Hermann Arnold

Manuel Bauer

Frithjof Bergmann

Marcel Bernet

Olivier Bernhard

Horst Bohnet

Liliane Boltshauser

Catharina Bruns

Urs Casty

Alain Chuard

Evelyne Coën

Martin Cordsmeier

Barbara Flückiger

Nicola Forster

Felix Frei

Marc Gassert

Ille Gebeshuber

Iwan Hauck

Freddy Hunziker und Alice Fauconnet

Gerald Hüther

Christoph Inauen

Martina Issler

Bodo Janssen

Andy Keel

Joel Keller

Sam Keller

Werner Kieser

Peter Koenig

Christine Kranz

Ekkehard Kuppel

Umberto Leonetti

Uwe Lübbermann

Viktor Meier

Ivo Moosberger

Markus C. Müller

Sophie Pacini

Felix Plötz

Richard Reed

Philipp Riederle

Sabine Rieker

Dara Sadun

Giovanni Sammarco

Nathalie Sassine

Doris Schefer

Karl Schefer

Klaus Siefert

Reinhard Sprenger

Ueli Steck

Christian Stocker

Tej Tadi

Regula Tanner

Christoph Trummer

Jacqueline Urbach

Matthias Winkler

Cordelia Zafiropulo

Thomas Zurbuchen

Teil 3: 10 Thesen aus 1000 Interviews

Epilog: Interview Peer Teuwsen mit Mathias Morgenthaler

Über das Buch

Über den Autor

Vorwort

«Ouf of the box», also «raus aus der Schachtel», möchten wir immer dann, wenn’s da drin zu eng wird. Dann stellen wir uns auf die Zehenspitzen, heben den Deckel an, äugen über den Rand hinaus. Da lockt immer Neues. Denn das Alte kennen wir ja bereits.

Bloss: Darf man es wagen? Auch ohne den perfekten Plan dazu in der Tasche zu haben? Was genau soll es sein? Wird es das bringen, was ich mir wirklich wünsche?

Die Schachtel hat ja auch ihr Gutes. Da ist Sicherheit. Wo wir länger dran sind, wachsen wir in die Tiefe, bauen Expertise auf. Und so lange dieses Pendeln zwischen Sicherheit und Wachstum möglich ist, bleiben wir gerne. Zu viel Sicherheit lähmt. Wo kein inneres Wachstum mehr möglich ist, legt sich langsam ein gefühlter Deckel auf die Schachtel.

Mathias Morgenthaler macht mit seinen Porträts Mut zum Aufbruch. Er zeigt Männer und Frauen, die ihrem inneren Drang gefolgt sind. Dabei bleibt er nicht an der Oberfläche, seine Fragen sind direkt und auch kritisch. Im Gespräch zu meinem Porträt habe ich neue Sichtweisen des eigenen Schritts ‹out of the box› entdeckt.

Nehmen Sie keine der Geschichten als Vorlage. Lesen Sie sie mit innerer Leichtigkeit – als Ermunterung für Ihren Weg zwischen Sicherheit und Wachstum, Suchen und Finden, Fragen und Wissen. Und wenn die Suche mal zu mühselig wird, lauschen Sie Nietzsche: «Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, ausser dir: wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn.»

Marcel Bernet, Coach und Künstler

Einleitung

Wie findet man seine Berufung?

Seit 20 Jahren befasse ich mich Woche für Woche mit dieser Frage, indem ich Menschen befrage und porträtiere, die etwas Eigenständiges tun, die nicht einfach ein Jobprofil ausfüllen, sondern ihre Arbeit prägen und Spuren hinterlassen.

Um es gleich vorwegzunehmen: Trotz den über 1000 Gesprächen habe ich bis heute keine allgemeingültige Antwort gefunden auf die Frage, wie Menschen zu ihrer Berufung finden. Deshalb ist das vorliegende Buch kein Ratgeber geworden. Die Versuchung, einen solchen zu schreiben, war nicht klein, denn Ratgeber verkaufen sich gut, weil sie den Leser an der Hand nehmen, ihn von der schwierigen Aufgabe befreien, seinen ganz eigenen Weg zu suchen. «Wenn du diese Schritte befolgst, kannst du gar nicht scheitern», rufen uns die Ratgeber zu. Das klingt ähnlich attraktiv wie die rentable Geldanlage mit absolutem Kapitalschutz oder die Mitteilung der Lotteriegesellschaft, man sei schon als Gewinner gezogen worden und brauche den Hauptgewinn nur noch anzufordern. Doch wie diese Versprechen aus der Finanzwelt haben auch die Selbstverwirklichungs-Ratgeber einen Haken: Sie führen in der Regel nicht zur Berufung, sondern in die Abhängigkeit. Denn sie ignorieren die Tatsache, dass ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Berufung gerade darin besteht, nicht auf Ratschläge zu hören, sich von Methoden und Konzepten zu befreien, sich ganz auf sich selber zu besinnen – ‹out of the box› zu treten und die Ungewissheit auszuhalten. Wer seiner Berufung näherkommen will, tut gut daran, keinen fremden Spuren zu folgen und zu akzeptieren, dass der Weg immer wieder mitten durch das Chaos und die Angst führt.

Wozu also ein Buch lesen, wenn man den Weg doch selber gehen muss, ohne das Ziel zu kennen?

Die einfachsten Fragen sind bekanntlich die schwierigsten, und die Auseinandersetzung mit ihnen fällt leichter im Dialog. Die Frage nach der eigenen Berufung rührt an noch elementarere Fragen wie jene, wer wir sind, wie wir unsere Zeit hier nutzen und was andere davon haben, dass es uns gibt. Solche Fragen sind ungleich schwerer zu beantworten als die nach dem nächsten Urlaubsziel, den Lieblingsschuhen oder dem besten Vorsorgeplan. Erschwerend kommt hinzu, dass die Frage nach der eigenen Berufung zwar wichtig, aber nie dringlich ist – manche verschieben die Suche nach Antworten deshalb auf die Zeit nach der Pensionierung. Im schlimmsten Fall verdrängen wir die Frage so lange, bis wir am Ende unseres Lebens, wenn wir alle Zeit, aber keine Optionen mehr haben, wehmütig feststellen, dass wir nicht mutig genug waren, unser eigenes Leben zu leben.

«Wenn Menschen realisieren, dass sich ihr Leben dem Ende zuneigt, ist es einfach zu sehen, wie viele Träume unerfüllt verpufft sind», schreibt die australische Palliativpflegerin Bronnie Ware in ihrem Bestseller ‹5 Dinge, die Sterbende bereuen›. Und sie fährt fort: «Die meisten der Sterbenden, die ich begleitet habe, hatten nicht einmal die Hälfte ihrer Träume verwirklicht und mussten mit der Gewissheit sterben, dass sie selber dafür verantwortlich waren: Weil sie gewisse Entscheidungen gefällt oder eben nicht gefällt hatten.»

Die meisten Menschen bereuen am Ende ihres Lebens nicht, was ihnen misslungen ist, sondern was sie nie gewagt haben, obwohl es ihnen wichtig gewesen wäre, kurz: dass sie ihre Träume weniger ernst genommen haben als die Erwartungen anderer und die Pflichten des Alltags.

Wie aber erlangt man die Freiheit, zu Lebzeiten das zu tun, was einem wichtig ist? Die Antwort war in der Antike beim Eingang zum Apollon-Tempel in Delphi zu lesen: «γνῶθι σεαυτόν», hiess es dort: «Erkenne dich selbst!» Wer sich in der Innenwelt auskannte, hatte eine gute Grundlage, um sich in der Aussenwelt zu bewähren, so die Botschaft von Apollon an der bedeutendsten Orakelstätte der Antike. Und Apollon wusste, was es heisst, mutig zu sein, hatte er doch Riesen und Drachen zur Strecke gebracht in seinem Götterleben.

Der Mensch ist nur frei – so kann man die Inschrift deuten –, wenn er zuerst einmal sich selber erforscht und erkannt hat. Dies erst versetzt ihn in die Lage zu wissen, was er wirklich will und was er zu leisten imstande ist, was er wagen darf in Übereinstimmung mit seinem Charakter und seinen Talenten.

Sich selber zu erkennen, ist allerdings ein schwieriges Unterfangen. Oft gelingt es am leichtesten, wenn wir uns in anderen spiegeln und in ihnen Eigenes erkennen. Deswegen besteht dieses Buch im Wesentlichen aus Interviews mit Menschen, die mutig ihren Weg gegangen sind und sich dabei mehr an der inneren Stimme orientiert haben als an den Erwartungen ihres Umfelds. Denn eines steht für mich nach all den Gesprächen ausser Frage: Der sicherste Weg, seine Berufung zu verfehlen, ist, es allen recht machen zu wollen. Oder anders: Wer alle Erwartungen erfüllt, sollte keine Erfüllung erwarten.

Der erste Teil des Buches steht deshalb unter dem Motto «Die Anpassungskarriere». Hier soll aufgezeigt werden, warum die Kreativität schon in der Schulzeit auf der Strecke zu bleiben droht und wie leicht wir später in der Arbeitswelt Anerkennung durch Anpassung erkaufen und so möglicherweise erfolgreich werden, aber einen hohen Preis dafür zahlen und uns selber fremd werden. Wenn Menschen sich verbiegen und ihr Potenzial verkümmern lassen, ist das nicht nur für den Einzelnen bedauerlich, sondern auch für die Gesellschaft. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich die Arbeitswelt in den nächsten zehn Jahren radikal verändern wird. Wer bisher einfach Dienst nach Vorschrift gemacht hat, wird Mühe haben, damit weiterhin ein Auskommen zu finden. Und Unternehmen, die am liebsten Musterschüler und brave ‹Pflichterfüller› angestellt haben, werden mangels Innovationskraft rasch überholt und vom Markt verdrängt werden. Für die Arbeitgeber stellt sich immer dringlicher die Frage, was sie Arbeitnehmern oder Projektpartnern zu bieten haben, die sich nicht verbiegen wollen für einen Job, sondern Verantwortung übernehmen und mitgestalten wollen.

Der zweite, umfangreichste Teil des Buches besteht aus Interviews mit Menschen, die als Unternehmer in eigener Sache unterwegs sind. Viele davon sind selbständig, andere angestellt, aber mit grossem Einfluss auf ihren Arbeitsalltag. Wesentlicher als die juristische Form der Arbeit ist das Gefühl, eigenverantwortlich etwas bewegen zu können und ganz im Element zu sein bei dem, was man tut. Die Interviews zeigen, wie vielfältig die Wege zur Berufung sind und dass es kein richtiges Alter gibt, um Träume zu verwirklichen: Man kann mit 15 Jahren zum Unternehmensberater werden oder mit über 80 Jahren die interessantesten Entdeckungen der Unternehmerlaufbahn machen. Einige Interviews fokussieren weniger auf die Laufbahn des Porträtierten, sondern beschäftigen sich mit der Frage, wie die Schule und die Arbeitswelt dahingehend verändert werden könnten, dass die Potenzialentfaltung besser gefördert würde.

Im dritten Teil kommen wir nochmals auf die Frage zurück, wie Menschen zu ihrer Berufung finden. Anstelle einer Antwort oder eines Rezepts habe ich zehn Thesen aus über 1000 Interviews herausdestilliert. Sie taugen nicht als Anleitung, aber als Orientierungshilfe und zur Hinterfragung eigener Glaubenssätze.

Bleibt zum Schluss der Dank: an Matthias Winkler, der die Illustration für das Titelblatt dieses Buches buchstäblich aus dem Ärmel geschüttelt hat. Er schafft es wie kein Zweiter, mit wenigen Pinselstrichen ein Gefühl einzufangen. Wer erfahren möchte, wie Winkler zum Zeichnen fand und warum er als Künstler heute hauptsächlich in Unternehmen tätig ist und abends seinen Blumengarten pflegt, kann das im Interview im zweiten Teil nachlesen. Weiter danke ich Marcel Bernet für sein Vorwort. Er hat sich aus einer Box befreit, indem er mit 55 Jahren seine PR-Agentur verkaufte und sich der Bildhauerei und dem Coaching verschrieb. Er ist ein Meister darin, das Wesentliche herauszuarbeiten – ob er mit der Kettensäge an Baumstämmen hantiert, als Coach Kunden begleitet oder Texte schreibt. Auch ihn lernen Sie in einem Interview noch besser kennen. Und schliesslich fand ich, es sei nach 20 Jahren an der Zeit, mich selber einmal einem Interviewer zu stellen, um im Gespräch mehr über mich herauszufinden. Ich bin dankbar, dass sich Peer Teuwsen, ein Meister des Genres ‹Interview›, dieser Aufgabe angenommen hat. Er hat wie erwartet nicht nur bequeme Fragen gestellt – Sie finden das Resultat ganz am Ende des Buchs.

Mein grösster Dank gilt aber all den Interview-Partnerinnen und -Partnern, die mir Einblicke gewährt haben in ihr Schaffen inklusive der Zweifel, Ängste und Krisen. Ihre Bereitschaft, sich über die Erfolge und die Expertise hinaus zu exponieren, gibt uns die Gelegenheit, in viele Lebensgeschichten einzutauchen und in der einen oder anderen Teile von uns selber zu entdecken. Wenn dadurch Leserinnen und Leser dazu inspiriert werden, noch mutiger als bisher das eigene Leben zu leben, hat dieses Buch seinen Zweck erfüllt.

Mathias Morgenthaler

Bern, im Juni 2017

 

Teil 1

Die Anpassungskarriere

«Wie viel Geld bleibt dir nach der Pensionierung zum Leben?», fragt ein grosser Schweizer Lebensversicherungskonzern in seiner Kampagne. Den Ernst der Lage unterstreicht eine zweite, noch eindringlichere Frage: «Bist du darauf vorbereitet, über 90 zu werden?» Die Kampagne dürfte in der Schweiz gut ankommen. Nichts liege den Schweizern mehr im Blut, als sich frühzeitig gegen alle möglichen und unmöglichen Risiken zu versichern, sagen böse Zungen, und die Statistik untermauert dies: Jahr für Jahr gewinnen die Schweizer den inoffiziellen Titel der Versicherungsweltmeister, weil die Menschen in keinem Land so viel für freiwillige Versicherungen ausgeben wie hierzulande. Deutschland und Österreich schaffen es in dieser Rangliste nicht unter die ersten 20.

Man kann also getrost davon ausgehen, dass den Schweizern nach der Pensionierung eine anständige Summe Geld zum Leben bleibt. Eine Frage, die hingegen kaum je gestellt wird, ist jene, wie viel Lebensqualität vor der Pensionierung übrigbleibt, wenn man es hauptsächlich darauf anlegt, möglichst viel Geld zu verdienen und sich möglichst umfassend abzusichern. Wenn wir den Kalenderspruch ernst nehmen, der besagt, es komme nicht darauf an, dem Leben mehr Stunden zu geben, wichtiger sei, den Stunden mehr Leben einzuhauchen, könnten wir uns auch fragen: Was machen wir aus dem Privileg, im Wohlstand geboren zu sein? Wie mutig gestalten wir unser Leben?

Das ‹ZEIT-Magazin› hat in der Ausgabe 34/2016 zum Thema ‹Jugend› prominente Erwachsene gefragt, was sie gerne schon als Jugendliche gewusst hätten, aber erst als Erwachsene verstanden haben. Schriftsteller Benedict Wells gab darauf eine Antwort, die sich wie die Antithese zum Werbeslogan des Lebensversicherers liest:

«Mit 15 begannen auch die Fragen danach, was man später mal werden will. Ob Verwandte, Freunde, Bekannte, fast nie hat einer gesagt: ‹Sei mutig, ich vertrau dir!› Es hat auch keiner gesagt: ‹Scheiß drauf, was die anderen sagen. Denk dir einfach dein 80-jähriges Ich, das aufs Leben zurückblickt: Was hättest du gern getan als junger Mensch? Was waren deine Träume? Und dann mach einfach, und lass dich davon von niemandem abbringen. Denn du bist nach der Schule so frei wie nie wieder in deinem Leben.› Stattdessen haben einem alle eingeredet, man solle erst einmal ‹etwas Sicheres› machen. Aber so entsteht nichts. So werden keine Bilder gemalt, keine Songs geschrieben, keine Abenteuer erlebt, keine Erinnerungen geschaffen. Was man immer wieder aufschiebt, macht man oft nie mehr, und nichts ist schlimmer, als mit 40 dazusitzen und sich voller Bitterkeit zu fragen: ‹Warum hab ich es damals nicht wenigstens versucht?›»

Wells schildert in der Folge, es sei unfassbar, wie viele Menschen ihn von seinem Vorsatz, Schriftsteller zu werden, hätten abbringen wollen. Der Druck, sich anzupassen, einen sicheren Job anzunehmen oder ein Studium zu beginnen, keine Lücke im Lebenslauf zu haben, sei gross gewesen. Und die vielen Ermahnungen und Ratschläge der Erwachsenen hätten dazu geführt, dass sich die eigenen Träume und Ziele nach der Schule auf einmal wahnsinnig vermessen angefühlt hätten. Es braucht also eine grosse Portion Mut und Energie, als junger Mensch seinen Träumen zu folgen und seine Talente zu erproben. Statt Unterstützung und Ermutigung erhalten viele Ermahnungen und Warnungen, was sie leicht dazu verleitet, ‹realistisch› zu werden und sich den scheinbaren Zwängen der Arbeitswelt unterzuordnen.

Gut, wenn die Kinder nicht auffallen

Was Wells für die Zeit nach dem Schulabschluss und vor der Berufswahl so treffend beschreibt, erleben viele schon früher beim Heranwachsen. Die Zeit, in der wir bedingungslos geliebt werden, tun und lassen können, was wir wollen, ist knapp bemessen. Bald entwickelt sich das Bewusstsein, dass wir nicht der Nabel der Welt sind, sondern in einem Umfeld leben, das Erwartungen an uns hat und Anpassung erfordert. Wir werden für das richtige Verhalten gelobt, für Ungehorsam und Widerspenstigkeit getadelt, und spätestens mit dem Schuleintritt lernen wir, möglichst wenig Fehler zu machen und uns durch korrekte Antworten gute Noten zu verdienen. Das liegt einerseits in der Natur des Erwachsenwerdens, denn es ist klar, dass wir nicht ein Leben lang in kindlicher Selbstvergessenheit verharren können. Andererseits hat diese Sozialisierungsleistung einen Preis: Die Gefahr ist gross, dass durch Konformitätsdruck und Anpassung unsere Träume und unsere Kreativität auf der Strecke bleiben.

«Viele Eltern sind schon stolz, wenn ihr Kind nicht auffällt, wenn es sich anstandslos anpasst», warnt etwa der österreichische Genetikprofessor Markus Hengstschläger im Interview mit der Zeitung ‹Der Bund› und fährt fort: «So tappen wir immer wieder in die Durchschnittsfalle. Das Schulsystem unterstützt dieses Denken. Alles ist auf das Ausmerzen von Fehlern angelegt, nichts auf die Entdeckung von Talenten. [...] Aber Durchschnittsmenschen bringen eine Gesellschaft nicht weiter. Wir brauchen Peaks und Freaks, um künftigen Herausforderungen gewachsen zu sein.»

Der Neurobiologe Gerald Hüther moniert, die Schule funktioniere über weite Strecken noch immer wie eine «Erbsensortieranlage» (vgl. Interview im 2. Teil dieses Buchs). Zudem werde die Schule von jeder Gesellschaft «so betrieben, wie es zur Erhaltung dieser Gesellschaft erforderlich» sei. Im Fabrikzeitalter habe es Pflichterfüller gebraucht, die auf Belohnung und Strafe reagiert hätten. «Heute braucht es Menschen, die ihr Potenzial nicht entfalten konnten und deshalb zum bedürftigen Konsumenten taugen.» Hüther beklagt, das heutige Schulsystem mache viele unserer Kinder «zu Optimierern und Schnäppchenjägern, deren Expertise darin besteht, mit wenig Aufwand gut über die Runden zu kommen».

Er argumentiert damit ähnlich wie der Philosoph Frithjof Bergmann, der in seinem Buch ‹Neue Arbeit, neue Kultur› schreibt, die Schule unterstütze uns nicht bei der Entfaltung unseres Potenzials, sondern sie bereite uns primär auf den sogenannten ‹Ernst des Lebens› vor, der darin bestehe, dass wir uns einer weitgehend sinnlosen Arbeit unterwerfen – «wie ein Ochse, der sich vor einen Karren spannen lässt». Das Lohnarbeitssystem, schreibt Bergmann, «stumpft die Menschen ab, es entmutigt sie, es gewöhnt sie an Langeweile und Passivität, es macht sie abhängig und unterwürfig». Im Klassenzimmer werden die Schüler, so Bergmann, gründlich darauf vorbereitet: «Die Langeweile, die den Kindern in der Schule zugemutet wird, verstümmelt und entstellt sie irreparabel.»

Laut Genetikprofessor Markus Hengstschläger ist vor allem die Erwartung von Lehrern und Eltern problematisch, Kinder müssten Defizite in gewissen Fächern unbedingt ausmerzen. Diese Haltung trübte den Blick für die individuellen Stärken, wie der oft zitierte Cartoon aus unbekannter Feder vor Augen führt:

Hier wird offensichtlich, dass Konformität und Standardisierung kontraproduktiv sein können. Wenn alle die gleiche Aufgabe vorgesetzt bekommen (in diesem Fall: auf den Baum zu klettern), von allen gleiches Verhalten erwartet wird, werden individuelle Talente nicht gefördert, sondern sie verkommen zur Hypothek und gelten in einem Schulsystem, das reproduzierbares Wissen vermittelt und prüft, als Systemfehler.

Auch der von Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagene Pädagoge und Bestsellerautor Sir Ken Robinson kritisiert, die Mehrheit der Schulen trage «wenig bei zum Wachstum der Persönlichkeit und zur Fähigkeit, kreativ mit Herausforderungen umzugehen», wie er im Interview mit dem ‹Bund› sagte. An den meisten Schulen herrsche nach wie vor die Fliessbandmentalität des Fabrikzeitalters vor, was sich an der Architektur, der Pausenklingel und der strikten Unterteilung in Fächer und nach Alter zeige. Robinsons Fazit: «Alles läuft auf Konformität und Standardisierung hinaus. Die Schüler werden mit Wissen versorgt und lernen, dass es jeweils genau eine richtige Antwort gibt auf jede Frage.»

Und Remo Largo, der bekannte Schweizer Kinderarzt, bemängelte im Interview mit der ‹Sonntags-Zeitung›, das Bildungswesen stelle sich viel zu sehr in den Dienst der Wirtschaft, was zulasten der Entwicklung der Kinder gehe:

«In einer Planwirtschaft werden Anforderungen oben festgelegt und nach unten durchgesetzt – ohne Rücksicht auf die Menschen. Genau das passiert im Bildungswesen. Von den Bildungspolitikern, vor allem von der Konferenz der Erziehungsdirektoren, wurden Lernziele im Lehrplan 21 formuliert, die sich hauptsächlich an der Wirtschaft und kaum an den Kindern und Lehrern orientieren. Von den Lehrern wird verlangt, dafür zu sorgen, dass ihre Schüler die vorgegebenen Leistungen erbringen. Schliesslich wird ein Kontrollsystem installiert, um den Erfolg sicherzustellen.»

Wir wollen hier nicht zu lange bei der Schule verweilen – man kann die Situation in den Klassenzimmern mit Blick auf die vielen Reformbemühungen und variableren Unterrichtsformen auch weniger kritisch beurteilen, als es die zitierten Experten tun. Auf eine wissenschaftliche Arbeit zum Thema sei hier aber noch hingewiesen. Sie stammt aus dem Buch ‹Breakpoint and Beyond: Mastering the Future Today› der Autoren George Land und Beth Jarman; Sir Ken Robinson hat sie in einem seiner millionenfach angeklickten ‹TED Talks› bekannt gemacht: In einer Längsschnittstudie wurde untersucht, welche Auswirkungen die Schule auf die Kreativität Heranwachsender hat. Dafür wurden 1600 Kinder im Kindergarten gefragt, wie viele Verwendungszwecke es für eine bestimmte Sache gebe. Getestet wurde damit ihre Fähigkeit zu divergentem Denken, einer der wichtigsten Voraussetzungen für Kreativität.

Das ernüchternde Ergebnis: Im Kindergartenalter zeigten 98 Prozent der Kinder so viel Phantasie, dass man sie als Genies in divergentem Denken bezeichnen kann. Fünf Jahre später fielen gerade noch 32 Prozent in diese Kategorie. Im Alter von 14 Jahren waren es nur noch 10 Prozent, der grosse Rest antwortete sehr uniform. Bei den Erwachsenen antworteten 98 Prozent einheitlich phantasielos, nur 2 Prozent hatten sich die kindliche Kreativität bewahrt. Die Phantasie und Kreativität sind den Kindern im Verlauf der Schulzeit also gründlich abtrainiert worden.

Daraus kann man zusammenfassend folgern: Wir durchlaufen in der Schule eine Anpassungskarriere und lernen, dass es für eine Frage genau eine richtige Antwort gibt. Diese Anpassungskarriere setzt sich oft in der Arbeitswelt nahtlos fort. Bei der Berufswahl stellen sich viele nicht die Frage, was durch sie in die Welt kommen könnte, was sie bewegen und bewirken möchten, oder auch nur, was ihre Neugier weckt und sie interessiert, sondern eher Fragen wie: Wo komme ich unter? Was ist ein sicherer Job? Welche Arbeit hat eine hohe Akzeptanz? Wo kann ich Karriere machen? Wo verdiene ich gut? Und sei’s nur, um die Eltern zu beruhigen und sich nicht rechtfertigen zu müssen, wie das Benedict Wells so eindrücklich geschildert hat.

Der tägliche Ärger bei der Arbeit

Wozu das führt, zeigt sich in den jährlichen Umfragen des Beratungsunternehmens Gallup, die jeweils aufzeigen, dass nur etwa 2 von 10 Angestellten mit Herzblut ans Werk gehen und die anderen entweder Dienst nach Vorschrift leisten oder innerlich gekündigt haben, also bloss noch ausharren, um den Lohn abzuholen.

Es zeigt sich ferner in Studien wie jener des Schweizer Staatssekretariats für Wirtschaft Seco, die besagt, dass fast jeder dritte Arbeitnehmer chronisch gestresst ist und dass das Kosten von mindestens 4 Milliarden Franken pro Jahr nach sich zieht. (Es wäre sicherlich unfair, diesen Stress nur der falschen Berufswahl anzulasten, hat er doch wesentlich auch mit der Kultur und Arbeitsorganisation in den einzelnen Unternehmen zu tun. Allerdings sind Unterforderung, Langeweile und Entfremdung von der Arbeit mindestens so gewichtige Stressoren wie Überforderung oder eine zu hohe Arbeitsbelastung.)

Und es zeigt sich schliesslich auch ganz konkret in den Gesichtern der Menschen, denen man auf dem Weg zur Arbeit begegnet, denen die Unzufriedenheit und der Anpassungsdruck in die Mimik eingraviert sind, die sich Tag für Tag abmühen ohne unmittelbaren Sinn und sichtbares Resultat, die über unfähige Chefs schimpfen oder mühsame Mitarbeiter und Kunden.

Wenn man die Leute so schimpfen hört bei der und über die Arbeit, stellt sich unweigerlich die Frage: Haben die es wirklich alle so schlimm getroffen, dass sie furchtbar langweilige Arbeit verrichten müssen oder es mit schrecklichen Vorgesetzten zu tun haben? Oder geht es vielleicht um Grundsätzlicheres und sie schimpfen eigentlich über sich selber? Ärgern sie sich vielleicht im Grunde darüber, dass sie nicht mutig und konsequent genug waren, etwas Sinnvolles und Persönliches zu tun? Dass sie ihre Träume weniger ernst genommen haben als die Erwartungen ihres Umfelds, dass ihre Angst und ihr Sicherheitsbedürfnis grösser waren als ihre Neugier? Ärgern sie sich vielleicht am Ende darüber, dass sie ein menschliches Grundbedürfnis missachtet haben, nämlich jenes, einen persönlichen Beitrag zu leisten, sich einbringen und entfalten zu können, etwas mit Begeisterung zu tun?

Ärgern sie sich – bildhaft gesprochen – darüber, dass sie als Elefant dauernd auf Bäume klettern müssen und sich das freiwillig gefallen lassen?

«Wir werden ohne ein Ich geboren und müssen im Laufe unseres Lebens erst ein Ich aufbauen und erwerben», schreibt der Philosoph Frithjof Bergmann in seinem Buch ‹Neue Arbeit, neue Kultur› in Anlehnung an Hegel. Und weiter: «In der Regel [...] erkennen andere Menschen uns schneller und besser als wir selber.» Wie diese Erkenntnis bei der Suche nach der eigenen Berufung genutzt werden kann, wird im dritten Teil dieses Buchs weiter ausgeführt. Hier soll es nochmals um die schon weiter oben erwähnte Tatsache gehen, dass viele Menschen zwar eine grosse Expertise erwerben und mit Fleiss und Ehrgeiz beruflich ans Werk gehen, aber keine grosse Ahnung haben, wer sie sind und was ihre Arbeit mit ihnen zu tun hat. Das betrifft nicht nur die Resignierten, die Dienst nach Vorschrift leisten, sondern auch jene, die sich als Musterschüler auszeichneten und als Manager und Führungskräfte einflussreiche Positionen innehaben. Stellvertretend für viele soll hier der Manager Ekkehard Kuppel zu Wort kommen, der im Interview sagt:

«Ich habe überall hart gearbeitet, war nach landläufigen Massstäben erfolgreich, aber tendenziell schlecht gelaunt. Das war mir gar nicht richtig klar. Ich hielt es für normal – schliesslich ist Business keine Spassveranstaltung. Ich definierte mich stark über meine Position; wenn mich jemand fragte, wer ich sei, antwortete ich typischerweise mit dem Titel auf meiner Visitenkarte. Das klang zwar erfolgreich, aber erfüllt war ich nicht.»

Der frühere Adecco-Manager begriff mit 45 Jahren, wie ungesund und gefährlich es ist, sich täglich mit Strukturen, Zahlen und Problemen zu beschäftigen, Firmen zu kaufen, Personal zu führen, Deals einzufädeln, ohne ein Gefühl dafür zu haben, wer man ist und warum man das tut. Ein Gespräch mit einem Universitätsprofessor aus Cambridge habe ihm die Augen geöffnet, sagt Kuppel. Dieser habe ihm gesagt, es gebe neben der Sachebene, auf der er ständig aktiv sei, noch eine Beziehungsebene und die Ebene der eigenen Persönlichkeit. Ihm sei schlagartig klar geworden, dass er in den vergangenen 25 Jahren als leistungsorientierter Manager gut 95 Prozent seiner Zeit und Energie in die Sachebene gesteckt hatte; und dass er mangels Selbsterkenntnis blind war für seinen eigenen Beitrag zu den Problemen, die er täglich in harter Arbeit aus dem Feld räumte. Kuppel bestätigte damit die pointierte Feststellung des Unternehmensberaters Reinhard Sprenger, der sagt:

«Manager beschäftigen sich zu 90 Prozent ihrer Zeit mit Problemen, die sie selber erzeugt haben.»

In den Aussagen des Managers Kuppel zeigt sich, dass es einen eklatanten Unterschied gibt zwischen Erfolg und Erfüllung. Er war 25 Jahre sehr erfolgreich, aber mehrheitlich schlecht gelaunt, weil er sich für Dinge abrackerte, zu denen er keinen inneren Bezug hatte und die ihm kein Gefühl der Zufriedenheit oder gar Erfüllung brachten. Er war wie viele andere in fremder Sache erfolgreich, erfüllte die Erwartungen Dritter, war permanent unter Druck und erst noch ziemlich austauschbar in dem, was er tat.

Ekkehard Kuppel ist keine Ausnahme. Viele erleben ihren Beruf als eine Rolle, die sie mit mehr oder weniger Aufwand spielen, eine Maske, die sie tragen. Und fragt man sie, wer sie sind, verweisen sie auf den Jobtitel auf ihrer Visitenkarte oder in der Mail-Signatur, auf den Status und den Wohlstand, den sie sich erarbeitet haben. Gerade weil viele dieser Musterschüler gut bezahlte Erfolge feiern, können sie meist nicht auf Anhieb sagen, woher die schlechte Laune kommt, was ihnen fehlt. Ausser dass sich seltsamerweise kein Gefühl der Erfüllung einstellt, dass der Druck steigt, dass es nie genug ist, sie immer weiter Probleme lösen und sich ab und zu fragen, wozu das eigentlich gut ist und was das mit ihnen zu tun hat.

Die Tun-Haben-Sein-Falle

Ich staune immer wieder, wenn ich in Coaching-Gesprächen mit meinen Kunden höre, wie gross der Konformitätsdruck in vielen Unternehmen ist und wie gross die Bereitschaft oft ist, seine eigenen Talente und Gefühle zu verleugnen zugunsten der Jobtauglichkeit oder der Bestätigung unbewusster Glaubenssätze. Hier ein paar anonymisierte Beispiele, stellvertretend für Dutzende ähnliche Fälle:

– Ein 30-jähriger Kadermann aus der Marketingabteilung eines Konzerns meldet sich fürs Coaching an wegen wiederkehrender Konflikte mit seinem Vorgesetzten, dem Abteilungsleiter. Er sagt, etwas stimme nicht mit ihm, er sei zu ungestüm, habe zu viele Ideen und stosse damit die anderen vor den Kopf. Er möchte lernen, weniger anzuecken. Sein Vorgesetzter habe ihm gesagt, er sei halt noch jung und unerfahren und werde sich «schon noch daran gewöhnen, wie die Dinge laufen». Im Coaching-Gespräch zeigt sich, dass der junge Mann alle Eigenschaften mitbringt, die sich Arbeitgeber wünschen müssten: Eigeninitiative, Ideen, Motivation, pragmatisches Handeln. Nachdem er damit immer wieder angeeckt ist, sucht er den Fehler bei sich, möchte lernen, sich adäquater zu verhalten. Die Frage, ob es vielleicht der falsche Arbeitgeber sei und ob der Schritt in die Selbständigkeit eine Alternative wäre, blockt er zunächst ab mit Verweis auf den guten Lohn, die Perspektiven, die Erwartungen seiner Partnerin.

– Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Bundesamts kommt ins Coaching, weil er unter der schwierigen Beziehung zu seinem Chef leidet und sich daran stört, dass taktisches Verhalten wichtiger ist als die Leistung. Im Gespräch zeigt sich, dass er in der Freizeit mit einem Kollegen ein Projekt aufgebaut hat, das möglicherweise zu einem selbständigen Standbein ausgebaut werden könnte. Er verwirft diese Möglichkeit im ersten Anlauf kategorisch mit der doppelten Begründung, er müsse dem Chef, der relativ neu im Amt sei, doch zuerst mindestens ein Jahr lang eine Chance geben, und im Übrigen sei das Leben ja kein Wunschkonzert.

– Der Finanzchef eines internationalen Unternehmens muss sich neu orientieren und möchte im Coaching die Möglichkeiten einer Selbständigkeit ausloten. So sehr er darunter gelitten hat, auf Zahlen reduziert und als Persönlichkeit kaum wahrgenommen zu werden, so gross ist die Versuchung, nochmals eine gut dotierte Stelle in gleicher Funktion anzunehmen, damit es der Frau und den Kindern auch künftig an nichts fehlen wird und der Lebensstandard generell gehalten werden kann.

– Die Marketingleiterin einer Maschinenbaufirma legt im Coaching ihr CV vor und zeigt stolz, dass sie als Mutter dreier Kinder Karriere, Haushalt und Erziehung unter einen Hut gebracht hat. Sie mag ihr Team, hat aber wenig Bezug zur Branche und fragt sich immer öfter, welchen Sinn ihre Tätigkeit eigentlich hat. Privat beschäftigt sie sich leidenschaftlich mit gesunder Ernährung, Fitness- und Pädagogikfragen – alles Themen, die auch für eine selbständige Tätigkeit in Frage kämen. Ihren Job aufzugeben scheint ihr aber unvernünftig, weil sie so viel investiert hat, um eine solche Position zu erreichen.

– Der 55-jährige Abteilungsleiter eines Chemiekonzerns kommt ins Coaching, weil er beruflich zwar einen guten Leistungsausweis hat und allseits geschätzt wird, sich aber jeden Morgen mehr überwinden muss, zur Arbeit zu fahren. Er fühle sich auf eine seltsame Weise «fehl am Platz» und habe das schmerzhafte Gefühl, sein Leben zu verpassen, nur an der Oberfläche zu kratzen. Privat experimentiere er ab und zu mit Kunstinstallationen, aber er habe selbstverständlich nicht die Illusion, auf die alten Tage noch ein Künstler zu werden. Er habe diesen Wunschberuf schon in jungen Jahren aufgegeben aus Angst, sich als gescheiterter Künstler zu blamieren.

– Eine Designerin feiert im Ausland immer grössere Erfolge, stellt aber nach der letzten triumphalen Ausstellung fest, dass sie innerlich leer ist und keinen Bezug mehr hat zu dem, was sie tut. Sie kehrt in die Schweiz zurück, gönnt sich eine Auszeit und kommt ins Coaching, weil sie sich innert Wochenfrist entscheiden müsse, ob sie nun Volkswirtschaft oder Psychologie studieren werde. Im Gespräch stellt sich heraus, dass sie für beides keine innere Motivation hat, sondern lieber draussen in der Natur mit den Händen arbeiten würde. Da dies aber eine brotlose Sache wäre, will sie sich für ein Studium einschreiben.

– Eine Psychologin kommt ins Coaching, weil sie angeblich nicht die richtige Einstellung zu ihrem Job im Backoffice einer Unternehmensberatung findet. Sie fühlt sich «emotional gelangweilt», versucht, mit Meditation ihre Einstellung zu verändern, und fragt sich, ob die immer neuen Affären etwas mit ihrer Arbeitssituation zu tun haben. Ihre Haltung ist klar: Sie erwartet von sich, mit dem zufrieden zu werden, was sie hat, immerhin verdiene sie gut und sei privilegiert. Die Option Selbständigkeit schliesst sie aus, weil das bedeuten würde, für Angestellte Lohn zahlen zu müssen, was sie belasten würde. Das sei schon bei ihrem Grossvater schiefgegangen.

– Ein 52-jähriger Aussendienstmitarbeiter eines Elektrofachhändlers klagt im Coaching über Stresssymptome, Kopfschmerzen und Motivationsschwierigkeiten. Die Terminpläne würden immer kurzfristiger geändert, der Verkaufsdruck sei enorm, er fühle sich in dieser Aufgabe nicht mehr wohl. Alternativen liegen zwar vor, aber er verfolgt sie nicht ernsthaft mit der Begründung, er könne seinen Chef, der ihn damals eingestellt habe, nicht im Stich lassen, zumal ihm dieser signalisiert habe, dass er in sechs Jahren seine Nachfolge werde antreten können.

– Ein Unternehmer kommt ins Coaching, weil er zwar erst 35-jährig ist, aber Anzeichen von Erschöpfung bei sich erkennt und sich innerlich leer fühlt. Wie sich herausstellt, arbeitet er pausenlos, bis zu 100 Stunden pro Woche. Obwohl er 30 Angestellte hat, kümmert er sich um die meisten Dinge selber. Wenn es ihm gelinge, durch noch härtere Arbeit den Umsatz zu verdoppeln, könne er endlich den Traum vom Auswandern verwirklichen und in einer sonnigen Gegend mehr entspannen, argumentiert er.

Diese wenigen Beispiele zeigen, wie wenig geübt viele Berufstätige darin sind, ihre eigenen Talente und Bedürfnisse zu erkennen, ernst zu nehmen und bei Entscheidungen zu berücksichtigen. Sie identifizieren sich stärker mit ihrer Rolle, mit den (oft nur vermuteten) Erwartungen anderer und mit Glaubenssätzen wie jenem, das Leben sei kein Wunschkonzert oder Selbständigkeit sei riskant, weil man dann für viele Angestellte sorgen müsse. «Die grosse Gefahr besteht darin, dass wir uns zu stark von den Erwartungen anderer und von unserer Angst, zu scheitern und jemanden zu enttäuschen, leiten lassen», diagnostiziert Sir Ken Robinson.

Gerade für jene, die Karriere machen, ist der Aufstieg oft verbunden mit einem Prozess der Entfremdung, der Selbstverleugnung. «Ich wusste alles über Marketing, aber nichts über mich selber», resümierte einer meiner Interviewpartner, der nach steiler Karriere in einem US-Konzern ausgestiegen war. Ein anderer Senkrechtstarter bilanzierte: «Ich war recht naiv in diesen Karrieresog geraten, stieg aufgrund meiner Leistungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit in die Wirtschaftselite auf und merkte, dass ich permanent gegen meine Werte verstiess.» Und ein Dritter kam zum Schluss: «Als ich ganz oben auf der Karriereleiter angekommen war, spürte ich zunächst eine grosse Leere. Dann beschlich mich der Verdacht, dass ich die Leiter ans falsche Haus gestellt hatte.»

Was all diese Geschichten verbindet, ist das zugrundeliegende Motivationsmuster: Es lautet:

TUN   →   HABEN   →   SEIN

Oder etwas ausführlicher: Wer nach diesem Muster lebt, tut jene Dinge, die Erfolg versprechen und einen ‹Return on Investment› in Form von hohem Lohn, Sicherheit, Status oder Anerkennung einbringen. Man kann nach dieser Logik studieren, um danach einen anerkannten Abschluss vorweisen, einen höheren Einstiegslohn erzielen zu können, bessere Karriereoptionen zu haben. Man kann 60, 70 oder 80 Stunden pro Woche arbeiten, um den Chef zufriedenzustellen, den Umsatz zu erhöhen. Uhrenmanager Jean-Claude Biver steht sogar jeden Morgen um 3 Uhr auf mit der Begründung, er könne so jeden Tag zwei Stunden länger arbeiten als die Konkurrenz, was im Jahr einen Vorsprung von 600 Stunden oder 15 Wochen ergebe. Wer mehr tut, sich mehr anstrengt, besser ‹performt› als die anderen, ist erfolgreicher und dadurch glücklicher, so lautet die Hoffnung.

Das Problem ist, dass diese Rechnung oft nicht aufgeht; dass sich trotz allem Erfolg, aller Anerkennung und allem Geld die Zufriedenheit nicht einstellen will. Dass der Versuch, die eigenen Selbstzweifel, die Frage nach dem Sinn all dieses Tuns mit noch mehr Erfolg zum Verstummen zu bringen, auf Dauer in der Regel misslingt; dass weder Prominenz noch Reichtum noch Macht einen Mangel an Selbstbewusstsein und Erfüllung kompensieren können. Denn die Gefahr bei der verführerisch einfachen Formel «Ich bin, was ich leiste» ist, dass es letztlich nie genug ist. Es wäre immer noch besser möglich, und wenn man für einen Moment zufrieden ist, kommt ein anderer und führt einem vor Augen, dass man sich zu wenig angestrengt hat – abzulesen am schöneren Auto, der teureren Villa oder der höheren Gesamtentschädigung des Konkurrenten. So geraten jene, die über das Tun und Haben zum glücklichen Sein finden wollen, oft in eine ungesunde Abhängigkeit von Erfolg und Geld und empfinden selbst dann, wenn sich beides in hohem Ausmass einstellt, eine seltsame Leere und Unzufriedenheit.

Der amerikanische Psychologe und Glücksforscher Shawn Achor, der an der Harvard-Universität lehrte, beschreibt in seinen Arbeiten, dass die weitverbreitete Annahme, der messbare Erfolg eines Menschen sage etwas über seine Zufriedenheit respektive sein Glückslevel aus, falsch ist. 90 Prozent der Zufriedenheit hänge nicht vom Erfolg ab, sondern von unserer Wahrnehmung der Welt, speziell: unserer Fähigkeit zur Dankbarkeit. Glück wäre demnach kein Resultat unserer Anstrengungen und unseres daraus resultierenden Erfolgs und Wohlstands, sondern eine Einstellungssache oder, wie Achor sagt, eine Wahlmöglichkeit. Vereinfacht könnte man sagen: Statt immer noch mehr zu wollen und uns davon Glücksgefühle zu erhoffen, sollten wir uns in Dankbarkeit üben und uns darauf besinnen, wann wir in unserem Element sind und einen sinnvollen Beitrag leisten können.

Das heisst: Es lohnt sich, das Lebensprinzip umzudrehen und beim Sein anzusetzen statt beim Tun:

SEIN   →   TUN   →   HABEN

Wer nach diesem Prinzip verfährt, beginnt bei seinen Talenten, Träumen und Werten. Er studiert nicht, was einen hohen Lohn und einen sicheren Job verspricht, sondern, was ihn interessiert, sucht nicht in erster Linie einen gut dotierten Job, sondern eine ihm entsprechende Tätigkeit, in der er sich voll einbringen und etwas bewegen kann. Die wichtigsten Kriterien hier sind Stimmigkeit, Lebendigkeit, Authentizität. Entscheidend ist nicht primär, was sich auf der Haben-Seite auszahlt, sondern was mit Begeisterung und in innerer Freiheit jetzt getan werden kann – im Vertrauen darauf, dass sich auf diesem Weg auch materieller Wohlstand erzielen lässt, was dann allerdings mehr ein Nebeneffekt als das Ziel der Anstrengungen ist.

Während also die erste Gruppe, die nach dem Motto ‹Tun – Haben – Sein› verfährt, permanent darauf achtet, ob sie genug leistet und ein Maximum dafür bekommt, fragt die zweite Gruppe zunächst einmal, ob das folgerichtig ist, was sie da tut, und in Übereinstimmung mit der eigenen Person. Sir Ken Robinson bringt es auf den Punkt, wenn er im Interview mit dem ‹Bund› sagt: «Bei manchen Menschen kann man von aussen beobachten, wie sie sich mehr und mehr von ihrem Kern entfernen, während sie den Pflichten hinterherlaufen. So verlieren sie erst das Interesse und dann die Hoffnung auf ein erfülltes Leben. Viele versuchen diese schmerzhafte Entfremdung mit materiellem Erfolg und Status zu kompensieren, aber diese Dinge schützen nicht vor Ernüchterung und depressiver Verstimmung.»

Neue Arbeit, neue Freiheit, neue Aufgaben

Erschwerend kommt hinzu, dass die traditionellen Karriereversprechen unzuverlässig geworden sind. Vor 20 Jahren garantierten eine gute Ausbildung und hoher Einsatz im Beruf noch weitgehend ein anständiges berufliches Fortkommen. Karriereverläufe waren vorgezeichnet, und wer sich anstrengte und sich nichts zuschulden kommen liess, durfte damit rechnen, dafür belohnt zu werden. Heute ist die Arbeitswelt so schnelllebig geworden, dass verdienstvolle Mitarbeiter, die vor Jahresfrist noch befördert wurden, bei der nächsten Reorganisation ihre Stelle verlieren, ohne dass das im Geringsten etwas mit ihrer Leistung oder Person zu tun hätte. Wer sich also über seine Funktion oder seinen Status definiert, muss damit rechnen, von einem Tag auf den anderen nichts und niemand mehr zu sein.

Wer sich selber aber treu geblieben ist in dem, was er tat, und sich darüber hinaus der eigenen Kompetenzen und Werte bewusst ist, für den ergeben sich ganz neue Möglichkeiten. Musste man sich bis vor einiger Zeit noch grundsätzlich zwischen einer Angestelltenkarriere und dem Schritt in die Selbständigkeit entscheiden, lösen sich diese Grenzen zunehmend auf. Teilzeitarbeit ist inzwischen in den meisten Branchen akzeptiert, ebenso der Wunsch vieler Berufstätiger, mehrere Tätigkeiten zu kombinieren. Unternehmen, die noch vor 10 Jahren absolute Identifikation erwartet haben, öffnen sich nun vermehrt, weil ihnen bewusst geworden ist, dass die Innovationskraft im eigenen Haus zu gering ist ohne Impulse von aussen. Die Impact Hubs und andere Vernetzungsplattformen, die in den letzten Jahren entstanden sind und an Bedeutung gewonnen haben, illustrieren diesen Wandel. Vermehrt finden Menschen zusammen, die gemeinsam ein Problem bearbeiten oder ein Projekt realisieren wollen. Wo früher Firmengrenzen, Hierarchien und Organigramme heilig waren, schliessen sich Interessierte heute für befristete Projekte physisch oder auf virtuellen Plattformen zusammen, wobei Konzernmanager ebenso von Studenten lernen wie umgekehrt.

Es ist hier nicht der Ort, die Transformation der Arbeitswelt im Detail zu beschreiben, das wäre ein buchfüllendes Thema. Wichtig ist mir das Folgende:

Wir haben gesehen, dass jene, die eine Anpassungskarriere durchlaufen, um einen sicheren Job, guten Lohn und hohen Status zu erlangen, dafür oft einen hohen Preis zahlen. Nun verschärft sich die Situation durch ein zweites Problem, nämlich jenes, dass sich all die Opfer möglicherweise gar nicht mehr lohnen, weil die Arbeitswelt vor dramatischen Veränderungen steht und niemand weiss, ob es jene Jobs, die als wichtig und sicher galten, in 5 oder 10 Jahren überhaupt noch geben wird. Thomas Friedman, Journalist bei der ‹New York Times›, hat diese Veränderung in einem Satz zusammengefasst:

«Nach dem College habe ich mich auf eine Stelle beworben – meine Tochter wird nach dem College ihren Job erst noch erfinden.»

Was also tun, wenn es keine Ausbildung und keinen Arbeitgeber mehr gibt, die eine Karriere garantieren? Es bringt in diesem Fall wenig, die Anstrengungen zu verdoppeln oder zu verdreifachen. Erfolgversprechender ist es, den Fokus stärker auf die individuelle Neugier, Begeisterung und das Selbstbewusstsein zu richten. Das ist nicht zu verwechseln mit der egoistischen Selbstverwirklichung, sondern es geht um die lebenslange «Annäherung an sein eigenes Wesen», wie Remo Largo es nennt, die uns erlaubt, unsere individuellen Stärken zu erkennen und uns für ihre Entfaltung mit den passenden Partnern zusammenzutun. Das können Arbeitgeber, Projektpartner oder Angestellte sein, es betrifft die Erwerbsarbeit ebenso wie die sozialen, ehrenamtlichen Tätigkeiten; die Fülle der Optionen ist immens, und wir sind aufgefordert, uns hier immer wieder neu zu entscheiden. Das ist nicht immer ein Vergnügen, oft sogar anstrengend wie jede Form von Freiheit. Die Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen, unter seinen Möglichkeiten zu bleiben und womöglich zu scheitern, lähmt viele und lässt sie im bekannten Job verharren, auch wenn sie ihn noch so sehr hassen – immerhin kennen sie sich aus damit. So sehr man sich auch über den Vorgesetzten ärgert, schlimmer wäre doch, niemanden mehr für den eigenen Frust verantwortlich machen zu können und selber alles entscheiden zu müssen.

Wir sind also aus zwei Gründen aufgefordert, ‹out of the box› zu treten: zum einen, weil viele sich durch ihre Anpassungskarriere in eine Box hineinmanövriert haben, die ihnen zum Gefängnis geworden ist und ihre Lebendigkeit erstickt – wie feudal auch immer die Wände in diesem Gefängnis ausstaffiert sein mögen –, zum anderen, weil sich die Boxen der Arbeitswelt zunehmend auflösen und jene, die bis zum Schluss darin verharren, am gefährlichsten leben.

Bei allen offenen Fragen dazu, was Automatisierung, Digitalisierung und Globalisierung für die Arbeit des Einzelnen und den Stellenwert der Erwerbsarbeit in der Gesellschaft bedeuten, hat die hier skizzierte Entwicklung unbestreitbar ihr Gutes: Je mehr beispielsweise die Maschinen dem Menschen die Routine- und Rechenarbeiten abnehmen, desto mehr können sich letztere um die Aufgabe kümmern, ihr volles Potenzial zu entfalten. Es wird Energie frei für kreative Tätigkeiten, die nicht dem Effizienzgebot unterstehen, sondern einen Mehrwert stiften und Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen liefern sollen, kurz gesagt: für Unternehmertum im umfassenden Sinn dieses Wortes.

Der Publizist Wolf Lotter schreibt in seinem Editorial zur ‹Brand Eins›-Ausgabe über ‹Neue Arbeit›: «Wenn Systeme und Maschinen erledigen, wozu man bisher Menschen brauchte, dann bleibt denen mehr Zeit für Tätigkeiten, die nicht vorwiegend in eintöniger, stupider Wiederholung bestehen: für kreative Denkarbeit, Innovation, Tätigkeiten, die bisher nicht bezahlt wurden – etwa im sozialen und kulturellen Bereich – oder einfach für mehr Freizeit und Müßiggang.»

Er weist an gleicher Stelle aber auch darauf hin, dass weder die Arbeitgeber noch die Arbeitnehmer richtig auf diese Veränderung vorbereitet sind: «Dass man Eigensinn, Originalität, Individualität nicht in Organisationen lernen kann, die für das Fließband und die Gleichmacherei geschaffen wurden, ist das eigentliche Problem. Da hilft keine wirre Sinnhuberei, kein Motivationsgerede, kein Beschwören der Erfolge von gestern. Da hilft nur Einsicht, Nüchternheit, Veränderung. Das Akzeptieren von Unterschieden. Das Aushalten des Eigen-Sinns der anderen.»

Nicht überall, wo ‹New Work› draufsteht, geht es den Involvierten wirklich um eine Veränderung der Arbeit in Richtung von mehr Eigenverantwortung, Vielfalt und Kooperation. Das hat auch der Philosoph Frithjof Bergmann, der die ‹New Work›-Bewegung 1984 lanciert hatte, festgestellt, als er im Frühling 2017 an einer vom Businessnetzwerk Xing organisierten Tagung auftrat. Er, der in den Achtzigerjahren in Flint bei Detroit ein erstes Zentrum für Neue Arbeit gegründet und damit verhindert hatte, dass die Fliessbandarbeiter der Automobilindustrie ohne Perspektiven in die Massenarbeitslosigkeit geschickt wurden, traf beim Xing-Event ein ziemlich homogenes Publikum an. «Es waren vor allem gut bezahlte Führungskräfte auf der Bühne, die zu Führungskräften im Plenum darüber sprachen, wie flexibel und kreativ die Arbeit in Zukunft organisiert sein wird», schildert er im Interview, das im zweiten Teil des Buches abgedruckt ist. So sei es nicht in erster Linie darum gegangen, über Alternativen zum heutigen unpersönlichen Lohnarbeitssystem nachzudenken, sondern es sei hauptsächlich «über Führungstechniken und Organisationsfragen» gesprochen worden, «also darum, wie Unternehmen ihre Angestellten noch raffinierter domestizieren und ausbeuten können».

Auch Theo Wehner, emeritierter Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der ETH Zürich, stellt fest, dass viele Unternehmen von den Umwälzungen in der Arbeitswelt überfordert sind und versuchen, mit mehr Detailregelungen, Bürokratie, Spezialisierung und höherer Kontrolldichte die Komplexität in den Griff zu bekommen. Er sagt, die Versuchung für den Arbeitnehmer liege nahe, mit Verweis auf solche Zwänge sich in Berufsdingen mit einer Notlösung zufriedenzugeben und sich darauf zu beschränken, ohne allzu grossen Schaden durchzukommen. Und doch beobachtet er auch eine «Kompensationsbewegung zur Rationalisierungs- und Spezialisierungstendenz in der Arbeitswelt», wie er im ‹Bund›-Interview sagt. «Es gibt wieder mehr Menschen, die das Handwerk schätzen, die Arbeit mit Holz, im Garten, an einem mechanischen Problem. Ich sehe einen Trend in Richtung Selbstversorgung und Tauschgemeinschaften, Naturnähe und ausdrücklichem Miteinander. Das ist kein Zufall, denn als soziale Wesen leben wir hauptsächlich von Anerkennung und Resonanz – und Resonanz bedeutet eben auch, dass wir das Resultat unseres Tuns sehen und dieses für schön und sinnvoll halten.»

Man könnte noch anfügen: Wir sind aufgrund unseres Wohlstandes so privilegiert, dass wir uns trauen dürften, etwas anderes zu wagen, als das halbe Leben lang fremdbestimmt einen Job zu machen, der uns weit unter unseren Möglichkeiten bleiben und zynisch werden lässt. Wir dürften durchaus versuchen, etwas Eigenes zu tun auch bei der Arbeit und durch sie näher zu uns und tiefer ins Leben zu finden, um vielleicht eines Tages mit dem Lausanner Bildhauer Yves Dana ausrufen zu können: «Die Arbeit ist für mich wie eine Versöhnung mit der Welt.» Auch wenn wir uns nicht wie Dana von jungen Jahren an zum Künstler berufen fühlten, ist es nicht zu spät, uns noch einmal grundlegend zu fragen, mit welchen Träumen, Talenten und Ideen wir einst angetreten sind und was da noch schlummert, das nach Verwirklichung ruft. Unsere Arbeitswelt ist durchlässiger geworden für Aus- und Umstiege, vieles ist möglich, wenn da nicht die eigenen Glaubenssätze wären, die Warnungen von Kollegen und die Barrieren im Kopf, die dazu führen, dass wir lieber im bekannten Unglück verharren als uns auf den Weg zu machen zum unbekannten Glück.

Umso wichtiger erscheint es mir, diesen Stimmen, die uns glauben machen wollen, das Leben sei eine Prüfung, bei der es vor allem darauf ankomme, fehlerfrei über die Runden zu kommen, etwas entgegenzusetzen. Das Leben ist mindestens so sehr eine Entdeckungsreise – und zwar im doppelten Sinne, gilt es doch, die Welt und die Innenwelt zu entdecken. Ich möchte Sie deshalb einladen, im zweiten Teil dieses Buches Lebens- und Berufungsgeschichten kennenzulernen, die Ihnen nicht nur neue Horizonte eröffnen, sondern in denen Sie vielleicht auch etwas über sich selber erfahren.

Das Privileg, etwas Unvernünftiges zu tun

Viele dieser Geschichten wären nie geschrieben worden, wenn die Protagonisten stets vernünftig entschieden und auf die Ratschläge besonnener Experten gehört hätten. So hätte vermutlich jeder Berufsberater die Hände verworfen, wenn Sabine Rieker ihm von ihrem Berufswunsch erzählt hätte: Postkartenschreiberin – dafür gab es weder Bundesordner mit einem Berufsbeschrieb noch Vorbilder noch eine günstige Prognose. Zum Glück hat die junge Frau niemanden gefragt und einfach losgelegt. Durchs Schreiben fand sie nicht nur näher zu sich, sondern sie löste mit den handschriftlichen Texten berührende Reaktionen aus. Manche der Adressaten beschenkten die Postkartenschreiberin, andere zahlten sie dafür, dass sie Dritten Postkarten schrieb, wieder andere offerierten ihr Schreibaufenthalte in ihren Ferienhäusern. So erfüllte sich ihr Kindheitstraum, Schriftstellerin zu werden, zumindest teilweise. Weit über 1000 Postkarten hat die 30-Jährige in den letzten zwei Jahren geschrieben. Sie lebt heute vom Schreiben und fürs Schreiben, ergänzend gibt sie während einiger Wochen pro Jahr Segelunterricht in Hamburg. Nach mehr Jobsicherheit sehnt sie sich nicht, im Gegenteil: «Ich habe mich im letzten Jahr sehr in die Freiheit verliebt und könnte vermutlich nicht mehr zurück in einen Angestelltenjob», bilanzierte sie im Interview.

Das Gespräch mit Sabine Rieker ist eines von 57 Interviews, die Sie im zweiten Teil dieses Buchs finden. So verschieden die Lebensgeschichten der Porträtierten sind, gibt es doch einen gemeinsamen Nenner: Alle üben sie einen Beruf aus, den es ohne sie so nicht gäbe. Sie füllen nicht nur ein Jobprofil aus, sondern schaffen etwas Persönliches, schreiben ihre eigene Geschichte. Das ist nicht jederzeit von Erfolg gekrönt, aber weitaus erfüllender, als nur in fremder Mission unterwegs zu sein.

Auch Regula Tanner träumte in der Schulzeit davon, Schriftstellerin zu werden. In einem Haus in Italien sitzen und einen Roman schreiben – dieses Bild beseelte und berauschte sie in jungen Jahren. Noch hat sich der Traum nicht erfüllt, folgenlos blieb er aber nicht. Über das journalistische Schreiben fand die gelernte Kindergärtnerin zu ihrer heutigen Passion. Im Büchercafé ‹Das Leseglück› in Steffisburg bietet sie nicht nur literarische Entdeckungen an, sondern auch Kaffee, Kuchen und Kurse in kreativem Schreiben. Auch Regula Tanners Geschichte von der Annäherung an die eigene Berufung hat viele Leserinnen und Leser bewegt. Nicht nur strömten nach Publikation des Interviews Neugierige aus der halben Schweiz ins ‹Leseglück›, sondern es meldeten sich auch zwei Verleger bei ihr. Sie signalisierten ihr Interesse, den noch ungeschriebenen Roman frühzeitig zu lesen.

Viele meiner Interviewpartner, die bei ihrer Arbeit ganz in ihrem Element sind, leisten sich den Luxus, etwas Unvernünftiges oder gar Unproduktives zu tun: Der Bildhauer Horst Bohnet etwa erfand das ‹iStone›, das erste Smartphone, das ohne Strom auskommt, strahlungsfrei und komplett abhörsicher ist. Sein Objekt aus schwarzem Granit sieht dem iPhone zum Verwechseln ähnlich, kennt aber nur den Offlinemodus. 25 000 Exemplare seines iStones hat der Bildhauer innerhalb von zwei Jahren verkauft. Bohnet sieht sich als «Hofnarr in unserer durch und durch digitalen Kultur», der uns zum Innehalten und Nachdenken bringen will. Ausser dem iStone besitzt Bohnet kein Mobiltelefon. Als die Nachfrage nach seinen iStones den Höhepunkt erreichte, stellte er die Produktion ein und wendete sich wieder der klassischen Bildhauerei zu. Auch der Typograf Ivo Moosberger ist regelmässig in unvernünftiger Mission unterwegs: Er wandert monatelang ziellos durch die Schweiz, schafft aus Blättern, Ästen, Steinen und Schnee vergängliche Kunstwerke, hält sie mit der Kamera fest und zieht weiter. Seine Vortragstournee, die er Anfang 2017 in Angriff nahm, musste auf 30 Abende ausgebaut werden, so gross war das Publikumsinteresse.

Warum wollen so viele einem eher introvertierten Landart-Künstler zuhören? Vielleicht ist es die Sehnsucht nach Langsamkeit, Überschaubarkeit, Selbstbestimmung und Naturnähe, welche die Leute in die Säle treibt. Und der Kontrast zum eigenen Arbeitsalltag. Viele Angestellte werden da nämlich «pausenlos befragt, vermessen, gesteuert, optimiert und fürsorglich belagert», wie Reinhard Sprenger im Interview diagnostizierte. Der Unternehmensberater kritisierte, die Firmen seien «dermassen zugepackt mit Erniedrigungsbürokratie, dass die Mitarbeiter kaum mehr atmen, geschweige denn etwas Eigenständiges schaffen können». Ähnlich sieht es Arbeitspsychologe Felix Frei: «Die Chefs oben versuchen, mit immer grösserer Regeldichte, Mikromanagement und ausgebautem Controlling die Mitarbeiter zu steuern. Aber wenn Mitarbeiter sich nur noch in einem Korsett bewegen können, beginnen sie, das System zu unterlaufen.» Oft müssten sich Angestellte entscheiden, ob sie «das System befriedigen» oder etwas Sinnvolles tun wollten.

Was also tun? Leiden im Angestelltenjob oder in die Selbständigkeit flüchten? Manche Unternehmer zeigen, dass es einen dritten Weg gibt. Christian Stocker, Mitgründer der Software-Firma Liip, war als Chef der rasch wachsenden Firma eine Art hoch dotierter Bremsklotz. Als er nicht nur seine Cheffunktion, sondern auch die Budgets und fast alle Regeln abschaffte, übernahmen die Mitarbeiter mehr Verantwortung. Heute organisieren sich die 140 Angestellten weitgehend selbständig und agieren in kleinen Teams. Ähnlich radikal ging auch Hermann Arnold vor, langjähriger Chef der Firma Haufe-Umantis. Mit 37 Jahren gab er die Leitung der Firma ab, blieb aber im Unternehmen. Der demokratisch gewählte neue Chef hatte einst als Praktikant angefangen und durfte nun dem Gründer Weisungen erteilen. «Temporäres Zurücktreten bringt die Führungskraft und die Firma voran», bilanzierte Arnold. Haufe-Umantis wählt inzwischen die gesamte Geschäftsleitung demokratisch. Und bei Premium Cola verdient der Chef Uwe Lübbermann, der sich «zentraler Moderator» nennt, nur 18 Euro in der Stunde, alle Entscheidungen werden konsensdemokratisch gefällt, selbst die Kunden werden einbezogen.

Und wenn wir schon beim Geld sind: Ein hoher Lohn mag angenehm sein, aber viele zahlen – wie wir gesehen haben – einen sehr hohen Preis dafür in Form von Anpassung und Entfremdung. Kein Wunder also, hatten zwei Interviews mit Aussteigern die grösste Resonanz in den letzten Jahren: jenes mit dem früheren UBS-Direktor Andy Keel, der nur noch einen Viertel seines früheren Gehalts verdient, im Jahr 2016 hauptsächlich auf einem Campingplatz lebte, als Unternehmer Badewannen aus Beton herstellte und als Vater viel Zeit mit seinem Sohn verbrachte. Keels Motto lautet seit Jahren: «Lieber weniger verdienen und viel bewegen als umgekehrt.»

Und dann gibt es noch die Geschichte von Christoph Inauen, der für ein Jahr ganz auf einen Lohn verzichtete, um eine Schokoladenrevolution anzuzetteln. Sein Ziel war es, Kakaobauern in Peru von schlecht bezahlten Rohstofflieferanten zu Unternehmern zu machen. Er gründete zu diesem Zweck die Firma Choba Choba, welche die Schokolade ohne Zwischenhandel vertreibt und die Kakaobauern direkt beteiligt. Keine zwei Tage nach Publikation des Interviews mit Inauen war die gesamte Produktion ausverkauft, Inauen erhielt zahlreiche Bewerbungen von hoch Qualifizierten, die sich in seiner Firma engagieren wollten, viele davon unentgeltlich. Sie empfanden wohl ähnlich wie Augustinerpater Hermann-Josef Zoche, der im ‹Bund›-Interview bilanzierte: «Eine Welt, die nur dem kapitalistischen Imperativ gehorcht, ist ein kalter Ort. Erst wenn Qualitäten wie Gemeinsinn, Vertrauen und Liebe dazukommen, lohnt sich die ganze Anstrengung.»

 

Teil 2

Interviews

Foto: zVg

Wie verändert man die Elektronikindustrie, die für Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen bei ihren Zulieferern bekannt ist? «Indem wir selber ein faires Mobiltelefon produzieren!», lautet die Antwort des Holländers Bas van Abel. Dem 36-Jährigen gelang es, 21 000 Kunden für sein ‹Fairphone› zu finden, bevor dieses gebaut war.

«Wir hatten 10 000 Kunden, aber noch kein Produkt»

2. und 9. November 2013

Herr van Abel, wie kamen Sie auf die verrückte Idee, mit einer Handvoll Mitarbeitern ein Smartphone herzustellen und damit in Konkurrenz zu Milliardenkonzernen wie Apple, Samsung oder Nokia zu treten?

BAS VAN ABEL: Ich hatte schon immer eine Schwäche für unmögliche Aufgaben ... Aber so verrückt, den grossen Anbietern Marktanteile abjagen zu wollen, bin ich dann doch nicht. Unsere ‹Fairphone›-Produktion ist nicht in erster Linie ein kommerzielles Unterfangen, sondern ein Statement, eine Bewegung, ein Experiment. Ich habe mich als Mitarbeiter bei der gemeinnützigen Waag Society intensiv mit der Thematik der ‹blutigen Mineralien› befasst und mehrmals Minen im Ostkongo besucht. Als Industrie-designer beschäftigte mich zuvor längere Zeit die Frage, wie wir die Technologie sinnvoll in unserem Alltag nutzen können und wie man über moderne Medien die Gesellschaft verändern kann.

Aber warum wurden Sie zum Mobiltelefon-Produzenten?

Als Vertreter einer Non-Profit-Organisation versucht man, die Welt zu verbessern. Dabei gibt es zwei Gefahren: dass man zu wenig versteht von den Dingen, die man kritisiert, und dass man wenig bewegen kann, weil man von aussen kritisiert. Irgendwann sagte ich mir: «Wenn wir die Herausforderungen der Elektronikindustrie wirklich verstehen wollen, müssen wir selber in dieses Business einsteigen.» Das war ziemlich naiv und ziemlich verrückt, aber man muss im Prinzip kein grosser Experte sein, um ein Smartphone zu produzieren. Die Manager von Nokia, Samsung und Apple kennen sich in Detailfragen auch nicht aus, die lagern alles aus, sogar das Design. Sie kümmern sich nur um die Markenführung und das Management der Prozesse. Das trauten wir uns auch zu. Ganz unerfahren war ich ja nicht, ich brachte zwei Studienabschlüsse mit, einen in Kunst und einen in Ingenieurswissenschaften.

Wie haben Sie die Finanzierung geschafft?

Wir kannten uns aus mit Crowdsourcing, der Mittelbeschaffung beim Kunden via Internet. Klar war, dass wir uns durch Transparenz von allem Bisherigen abheben wollten. Unser Smartphone sollte so fair wie möglich produziert werden. Wir legten von Anfang an alle Details offen. Anfang 2013 gründeten wir das Unternehmen und suchten Käufer für das ‹Fairphone› – nach drei Wochen hatten bereits über 10 000 Menschen in ganz Europa 325 Euro überwiesen für ein Produkt, das es noch gar nicht gab. Mich hat das einerseits erfreut, andererseits aber auch sehr nervös gemacht. Durch den enormen Zuspruch war klar: Das ist längst nicht mehr nur eine Kampagne, das ist jetzt ein ernsthaftes Business, und wir stehen in der Verantwortung.

Die Auslieferung war ursprünglich für Oktober geplant, nun wird es Dezember. War es komplizierter, als Sie dachten, Dutzende von Zulieferern zu managen?

(Lacht) Dutzende? Das wäre schön. Es sind Hunderte, denn jeder Zulieferer hat selber Dutzende von Lieferanten. Wenn einer in dieser Lieferkette auch nur ein kleines Problem hat, gerät der Fahrplan durcheinander. (Pause) Wenn ich ehrlich bin, lief aber alles ziemlich reibungslos. Der Bremsfaktor war ich. Als die ersten 10 000 Stück verkauft waren, stand ich ein wenig unter Schock. Wir haben ja keinen Finanzchef, der Finanzchef ist meine Bankkarte; und als ich über diese Karte eine Million Euro an unseren Produktionsbetrieb in China hätte überweisen müssen, da bekam ich kalte Füsse. Ich brauchte sechs zusätzliche Wochen und einige China-Reisen, um mich davon zu überzeugen, dass alles in guten Händen war. Wir machen das ja alle zum ersten Mal; es machte uns allen ein wenig Angst, dass wir als Unternehmen ohne Produkt schon in den ersten drei Quartalen acht Millionen Euro Umsatz machten.

Wären Sie in diesem Moment lieber wieder ein NGO-Mitarbeiter gewesen?

Nein, ich liebe dieses Abenteuer. Der unternehmerische Ansatz gibt uns einen anderen Freiheitsgrad und eine höhere Glaubwürdigkeit.

Kritische Stimmen bemängeln, Ihr ‹Fairphone› sei eine Mogelpackung. Sie produzieren wie die Konkurrenz in China, Sie wissen wenig über die Herkunft wichtiger Rohstoffe wie Kobalt, Wolfram und Gold, die in Ihren Telefongeräten verbaut sind. Ist es wirklich ein faires Produkt?

Eines vorweg: In jedes Smartphone werden 30 bis 60 Mineralien verbaut. Kein Anbieter der Welt weiss derzeit im Detail, woher diese Baustoffe stammen und wer sie unter welchen Bedingungen gefördert hat. Insofern muss die Antwort lauten: Es gibt kein wirklich faires Smartphone. Wir haben aber sehr viel Aufwand betrieben, um ein Optimum an Fairness zu erreichen. Der Hauptunterschied zur Konkurrenz ist ein ganz grundsätzlicher: Unsere Daseinsberechtigung ist nicht, einen möglichst hohen Profit zu erwirtschaften, sondern für uns ist das ‹Fairphone› ein Vehikel, um einen sozialen Impact zu generieren. Wir wollen die Konsumenten wachrütteln und dadurch die Branche verändern. Keiner der bis heute 21 000 Kunden kauft unser ‹Fairphone›, weil es mehr bietet als die Geräte der Konkurrenz. Im Zentrum steht unser Versprechen, dass wir damit die Welt ein klein wenig verbessern.

Wie lösen Sie den Fairness-Anspruch ein?