OUT: Willkommen in der Unsterblichkeit - Rainer Korn - E-Book

OUT: Willkommen in der Unsterblichkeit E-Book

Rainer Korn

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Unsterblichkeit! Noch nie war die Menschheit diesem Traum so nah wie heute. In Hamburg forscht ein unabhängiges Institut, das Mind Networks United, an der Digitalisierung des menschlichen Gehirns. Es hat einen Chip entwickelt, mit dem sich unendlich viel Wissen in ein menschliches Gehirn transferieren lässt. Doch das MiNU ist schon weiter: Das ICH eines Menschen digital zu klonen und als MindClone in einen gewaltigen Speicher hochzuladen – in die MindCloud. Doch etwas läuft schief. Nicht nur in unserer Wirklichkeit beginnt die Suche nach einem skrupellosen Attentäter, der totale Kontrolle ausübt und sogar eine Cyber-Spezialabteilung des BKA vor größte Rätsel stellt. In Rainer Korns spannendem Thriller zeigt er auf, was heute oder in allernächster Zukunft digital möglich sein wird – und liefert gleich fundierte Argumente für eine Diskussion über Ethik und Grenzen der Digitalisierung mit – alles verpackt in einer mitreißenden Geschichte, die schneller Wirklichkeit werden könnte, als die meisten Menschen es sich heute vorstellen können. Der gelernte Journalist Rainer Korn hat knallharte wissenschaftliche Fakten in einer packenden, emotionalen Erzählung zu einem furiosen Thriller über die digitalen Möglichkeiten zusammengeführt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Prolog

Niemandsland

Marie

Mitch

Niemandsland

K.I.T.

Niemandsland

Mitch

Marie

MiNU

Niemandsland

Marie

MiNU

Niemandsland

Marie

MiNU

Niemandsland

MiNU

Marie

K.I.T.

Niemandsland

MiNU

K.I.T.

Marie

Niemandsland

Maybrit

Niemandsland

K.I.T.

Mitch

Niemandsland

Hannah

K.I.T.

MiNU

Marie

K.I.T.

Niemandsland

MiNU

Hannah

Maybrit

K.I.T.

Marie

MiNU

Niemandsland

MiNU

K.I.T.

Niemandsland

Fichtner

Marie

Fichtner

MiNU

Niemandsland

Mitch

Hannah

Niemandsland

K.I.T.

MiNU

Mitch

K.I.T.

Prometheus

Maybrit

Marie

Niemandsland

K.I.T.

Hannah

Niemandsland

Mitch

Maybrit

Prometheus

Niemandsland

Maybrit

K.I.T.

Niemandsland

K.I.T.

Maybrit

MiNU

K.I.T.

Marie

Prometheus

Niemandsland

Maybrit

K.I.T.

MiNU

Niemandsland

Hamburg

Niemandsland

K.I.T.

Prometheus

Niemandsland

MiNU

Niemandsland

Maybrit

K.I.T.

Hannah

Hamburg

MiNU

Fichtner

K.I.T.

Hannah

Niemandsland

K.I.T.

Niemandsland

MiNU

K.I.T.

Hamburg

Maybrit

Epilog

Rainer Korn

OUT

Willkommen in der Unsterblichkeit

Impressum

© 2021 Redaktionsbüro Rainer Korn

Wahlstedter Straße 31, D-24598 Heidmühlen

fon 04320-58 17 97; mail: [email protected]

www.rainerkorn.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk, Internet und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Hannes Dänekas

Lektorat: Frank Steinbrecher

für Stephi

Auf dem 17. Zukunftskongress eines Think Tanks, der 2018 in Wolfsburg stattfand, wurde zehn Teilnehmern in Aussicht gestellt, das Implantieren eines Computerchips in ihren Körper gewinnen zu können.

------------------------

Im Jahr 2018 ist es Forschern der Universität von Washington in Seattle und der Carnegie Mellon University in Pittsburgh gelungen, drei menschliche Gehirne per Internet und EEG-Aufzeichnung online zu verbinden, um ein Tetris-ähnliches Spiel zu spielen. Zwei Spieler senden Hirnsignale über das Internet direkt ans Gehirn eines Dritten, der sie interpretiert und umsetzt.

-----------------------

Eine US-Firma entwickelt 2018 eine neue Generation von Smartphones, die im Mund getragen werden. Das „Supersense“ benannte Produkt überträgt den Klang in Wellen über die Kieferknochen direkt ins Ohrinnere – für den „Empfänger“ fühlt es sich an, als ob sich die Stimme des Anrufenden in seinem Kopf manifestiert.

-----------------------

Zwei US-Sicherheitsforscher finden 2018 heraus, dass sich Herzschrittmacher eines US-Herstellers „hacken“ lassen. Sie konnten nach Belieben die Frequenz der Impulse des Herzschrittmachers verändern und ihn auch komplett anhalten.

-----------------------

Im Jahr 2012 gelang es dem Wissenschaftler Steve Ramirez, Mäusen mit Hilfe von Lasertechnik und einem genmanipuliertem Virus, das die Mäuse zu bestimmten Zeitpunkten lichtempfindlich machen sollte, künstliche Erinnerungen einzupflanzen.

-----------------------

Im Juli 2017 warnt Elon Musk, Gründer von Tesla, in einer Rede vor den Gouverneuren der USA vor den Gefahren Künstlicher Intelligenz. Musk: „Roboter können alles besser als wir Menschen. Ich selbst habe Zugang zu hochentwickelten KI-Systemen und kann nur versichern, dass die jedem Sorge bereiten sollten. Die Künstliche Intelligenz gefährdet die menschliche Zivilisation als Ganzes.“

-----------------------

Die Zukunft beginnt gestern.

Diese Welt wird nicht mehr durch Waffen bestimmt, oder Energie, oder Geld. Die kleinen Einsen und Nullen herrschen nun. Es dreht sich alles nur um Elektronen.

Prolog

Das Flugzeug beschrieb einen weiten Bogen 10.000 Meter über dem Boden. Unter der Maschine breitete sich ein lockerer, weißer Wolkenteppich aus. Michael D. Allhoven überflog die Recherchen zu seiner neuen Story. Es ging um die Veruntreuung von Beratergeldern in der EU-Kommission, in der Bundeswehr und um Einrichtungen, die sich mit Cyberwar und staatlichen digitalen Verbrechen beschäftigten. Während in Deutschland die Bundeskanzlerin und die Regierung einen „Digitalpakt für die Schulen“ auf den Weg brachten und damit meinten, mit der globalen Digitalisierung Schritt halten zu können, manipulierten andere Regimes sogar die US-Präsidentschaftswahlen. Eine neue Form von Krieg war entstanden, eine neue Form von Kriminalität: Cyberwar und Cybercrime. Während in Deutschland verzweifelt versucht wird, Anschluss an die rasend schnelle Digitalisierung zu finden, hangeln sich Handynutzer weiterhin im Land von Funkloch zu Funkloch.

Findige Kriminelle, Regierungen und staatliche Stellen weltweit hatten längst das Internet gekapert, um es für ihre finsteren Zwecke zu nutzen.

Waren die Menschen so schlecht?, dachte Michael. Oder machte das System die Menschen so schlecht? Diese Welt war so voller Ungereimtheiten, es passierten so merkwürdige Dinge. Ein egomanischer Vereinfacher wurde US-Präsident und nicht nur in Brasilien wählten sie ihren eigenen zukünftigen Diktator. Die Menschheit schwankte zwischen Konsum und Überleben – und entschied sich wahnwitzigerweise für den Konsum.

Es gab kein richtiges Leben im falschen – diesen Satz des Philosophen Theodor W. Adorno hätte Michael gern als sein Lebensmotto ausgegeben, wenn ihn jemand danach gefragt hätte. Doch: Was war das falsche Leben? Und: Welches war das richtige? Wer wusste das schon? Marie sagte oft, er machte sich zu viele Gedanken. Konnte man sich zu viele Gedanken machen? Machten sie sich nicht alle zu wenige?

Michael schaute aus dem Flugzeugfenster. Die kommt uns aber ganz schön nahe, dachte er noch, als eine andere kleinere, sehr schnelle Maschine sich von rechts vorn seinem Flugzeug näherte. Dann schrie jemand auf und das Schreien schwoll zu einem kreischendem Sturm an, aber nur ganz kurz. Die Maschinen krachten ineinander. Das war’s, war Michael D. Allhovens letzter Gedanke, dann wurde die Welt dunkel und still. Die Unendlichkeit breitete sich in 122 Menschen aus, die eben noch geatmet, gelacht, sich unterhalten, geschlafen und geträumt hatten. Sie wurden von einer Sekunde zur anderen aus dem Leben gerissen: Mütter, Väter, Singles, Kinder. Michael D. Allhoven bekam von alledem nichts mehr mit. Er war zurückgekehrt in die Weltendunkelheit, aus der er einst auf die Erde des Lichts gekommen war. Der Rest war Schweigen.

Niemandsland

Hallo?

Selber Hallo.

Wer ist da?

Ich.

Michael fühlte sich seltsam. Präsent, aber irgendwie auch unendlich leer. Irgendwas war passiert, aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Er sollte vielleicht die Augen öffnen, um dieser unglaublich tiefen Dunkelheit zu entkommen. Nur leider hatte er keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Normalerweise passierte das einfach. Da gab es keinen Befehl „Augen öffnen“ – es geschah fast wie von allein. Normalerweise. Entweder hatte er es verlernt, die Augen zu öffnen, oder er war gelähmt oder er hatte gar keine Augen mehr! Irgendwas war passiert. Etwas Elementares. Aber so sehr er sich auch anstrengte, kein Gedanke formte sich in ihm, der ihm in irgendeiner Art und Weise hilfreich erschien. Was hatte er zuletzt gemacht? Wo hatte er sich befunden? Mit jeder Frage, die er sich stellte, wuchs eine kalte Angst in ihm. Sie drohte ihn zu ersticken. Atmen, jetzt wieder atmen. Aber panisch musste er feststellen, dass auch das ihm nicht gelang. Aber wenn er nicht atmete, dann musste er sterben. Seltsamerweise fühlte er keinerlei Atemnot, kein Ringen nach Luft. Er atmete einfach nicht, fertig. Die erste Panikattacke verflog ein wenig, als er feststellte, dass er nicht gleich starb. Streng deinen Geist an, hämmerte er sich ein. Was ist passiert? Wo war er?

Nicht schön, so, die Dunkelheit, was?

Schon wieder die Stimme. Michael erschrak.

Und bevor du wieder fragst, ich bin hier. Ich kann dir leider momentan nicht mehr zu mir sagen, tut mir Leid. Aber ich, nun, laboriere noch herum, um mir Klarheit zu verschaffen. Ist allerdings nicht so einfach, wo alles so leer in und um einen herum scheint. Dir geht’s wohl ähnlich, wie?

Michael hörte die Stimme gar nicht, stellte er fest, sondern nahm sie in sich auf. Als ob sie sich in seinem Kopf manifestierte. Na ja, wenn er keine Augen hatte, um zu sehen, hatte er wohl auch keine Ohren, um zu hören. Das war immerhin schon mal logisch, wenn auch ein sehr schwacher Trost. Wer war der andere und wo war er?

Du kannst wohl auch nichts sehen, oder?, wollte Michael von ihm wissen.

Stille.

Hallo? Bist du noch da?

Stille.

Marie

Es war wie im Film. Sie waren zu zweit an die Tür ihres Reihenhauses gekommen und hatten geklingelt. Ein Mann, eine Frau. Marie hatte ihnen nur in die Augen sehen müssen und wusste, es war etwas Fürchterliches geschehen. Flugzeugunglück. Maschine in die Eifel gestürzt. Keine Überlebenden. Ihr Mann war eingecheckt gewesen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit tot. Suchtrupps sind am Flugzeugwrack, das über mehrere Quadratkilometer verteilt in zerbrochenen Stücken liegt. Marie wollte gar nicht wissen, was die Absturzursache war. Sie fühlte ihr Leben mit einem Mal genauso zerbrochen wie dieses Flugzeug. Hannah! Hämmerte es in ihrem Kopf. Sie musste noch bei einer Freundin sein. Ein Referat vorbereiten. Ihre 16-jährige Tochter, für die in diesem Moment noch alles heil wie immer sein würde – doch das Schicksal hatte bereits seine Flügel ausgebreitet, hockte da auf einem Ast wie ein Gespenst, bereit zum Abheben. Marie saß zwei Stunden auf dem Küchenstuhl, unfähig sich zu bewegen. Das Telefon klingelte.

„Marie? Hier ist Tom. Hast du das von dem Flugzeugunglück gehört? Saß Micha in der Maschine? Oh, mein Gott, bitte lass ihn einen anderen Flug genommen haben.“

„Tom? Nein, die Polizei war bereits hier. Er war auf diesem Flug eingecheckt. Sie sagen, es …, es gäbe keine Hoffnung auf Überlebende ...“

„Oh, Marie, Scheiße! Das tut mir so unendlich Leid!“

Tom war Michaels Ressortleiter Wirtschaft. Er hatte ihn quasi auf den Flug von Frankfurt nach Brüssel geschickt, um über die neuen Formen von Cyberkriminalität zu recherchieren. In Frankfurt hatte Michael sich mit verschiedenen Informanten getroffen, um Hintergrundmaterial zu sammeln. Außerdem war Tom Michaels bester Freund und auch oft bei ihnen zu Gast.

„Marie? Soll ich vorbeikommen? Ich kann in dreißig Minuten da sein.“

Sie wollte schon Ja sagen, zögerte dann. Wollte sie Tom jetzt hier haben, wo sie noch nicht mal mit Hannah gesprochen hatte?

„Danke, Tom, aber ich muss erstmal mit Hannah sprechen. Ich – ich brauche noch ein wenig Zeit für mich. Es ist so unwirklich. Ich habe Micha zehn Mal angerufen, aber immer heißt es, der Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar.“

„Mein Gott, Marie – ruf mich an, wenn Du mich brauchst. Ich versuche, über die Redaktionskanäle Neuigkeiten aufzutreiben.“

Sie legten auf.

Neuigkeiten? Welche sollten das denn sein? Das übliche Prozedere bei Abstürzen: die hektische Suche nach der Blackbox; wilde Theorien in den sozialen Medien; Terrorismus, menschliches Versagen. Es war eigentlich alles egal für sie. Michael lag zerfetzt in Einzelteilen in der Eifel. Nie wieder würde sie seine so vertraute Stimme hören, die „Kleines“ hauchte. Nie wieder seine Lippen auf ihrem Nacken spüren, auf den Lippen.

Mitch

Die Talkshow war okay gewesen. Der Moderator hatte ihn verschiedene Male versucht, aufs theoretische Glatteis zu führen, aber er war lächelnd darüber hinweg geschwebt. Mitch galt vielen als Superdenker, seit er vor drei Jahren sein bahnbrechendes Buch „Alles und nichts“ herausgebracht hatte. Darin webte er einen Zusammenhang aus 10.000 Jahren Religion, politischer Geschichte, Psychologie und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften – inklusive Irrungen und Wirrungen der Zeitgeschichte. Ein Wälzer in drei Bänden, zudem noch so spannend geschrieben, dass alle drei Bände Nummer-1-Bestseller wurden – weltweit. Das hatte ihm natürlich sofort den reflexartigen Vorwurf von Teilen der Wissenschaft eingebracht, er würde populärwissenschaftlich agieren und biege das Wissen so, wie es ihm in den Kram passt. Doch ein nicht unbedeutender Teil des Wissenschaftsbetriebs, vor allem der jüngere, war begeistert von seiner Analyse und vor allem von seinen Schlussfolgerungen, die letztendlich allen Entwicklungen, ob religiös, gesellschaftlich, politisch (was ja oft dasselbe war), aber auch familiär und sportlich, dieselben inneren Mechanismen nachwies. Eigentlich war es eine riesengroße Vereinfachung, die Mitch betrieben hatte. Allerdings so genial fundamental bewiesen, dass sich alle Kritiker bisher ihre neidischen Zähne daran ausgebissen hatten. Nicht wenige sprachen bereits von der „Neuen Weltenformel“, die Mitch gefunden hatte und die der Einstein’schen Relativitätstheorie in keiner Weise in ihrer Wirkung nachstehen würde. Dieser Erfolg hatte Mitch nicht nur steinreich gemacht, sondern spülte ihn auch in Talkshows und andere TV-Sendungen. Denn er war nicht nur ein extrem wacher Geist, sondern sah auch noch unverschämt gut aus, konnte unglaublich charmant sein und verfehlte selbst auf seine Kritiker nicht seine bezaubernde Wirkung. Dabei waren seine äußeren und inneren Attribute nur eine zufällige Mischung seiner Gene, wie Mitch gern erzählte – verursacht vom Lauf der Geschichte. Und damit brachte er seine eigene persönliche Entwicklung in schönsten Einklang mit seiner „Weltenformel“. Seine Mutter, eine Deutsche, deren Familie aus dem vormals deutschen Ostpommern am Ende des Zweiten Weltkriegs vor die Tore Hamburgs geflohen war, traf ihren späteren Mann, einen US-Amerikaner aus Florida, auf einer Hafenrundfahrt im Hamburger Hafen. Howard gehörte zu einer US-Wirtschaftsdelegation, die eine Woche in der Hansestadt zubrachte, um die „Geschichte des europäischen Handels“ kennenzulernen, wie sein Vorgesetzter das ausdrückte. Howard Winfield war wiederum zu einem kleinen Teil direkter Nachfahre der afrikanischen Sklaven, die auf den „neuen“ Kontinent geschafft worden waren. Ein weiterer Teil seiner Familie stammte aus Vancouver in Westkanada. Dort hatten sich sogar vor etwa 150 Jahren noch asiatische Gene in seinem Stammbaum verewigt. Und zwar in Form eines chinesischen Spezialisten in Sachen Fische filetieren. Die Chinesen galten in der Fischverarbeitung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen bedeutenden Anteil an der Wirtschaft in Südwest-Kanada hatte, als beste Filetierer der Welt. Schnell, effizient und gehorsam – das waren Werte, die die kanadischen Fischkonserven-Hersteller begeisterten. Diesen Teil seiner Geschichte kannte Mitch Kessler natürlich auch. Und er kokettierte gern damit, wenn irgendwer in seiner Nähe von Rasse zu faseln begann. Mit ein paar Fragen hatte er einen vermeintlich „reinrassigen“ blonden Arier in dessen Entstehungsgeschichte zumindest bis in den Irak oder gar bis nach Indien verortet. Das Dumme an Rassisten war nur ihre unglaubliche Blindheit – sie wurden wie kleine Jungs böse, wenn ihnen jemand die Wahrheit sagte und ihre kleine Scheinwelt in Stücke riss. Da half ihnen nur noch blinde Gewalt – getreu dem alten Motto, der Überbringer der schlechten Nachricht ist selbst schlecht und gehört weg. Zum Glück traf Mitch heute nur noch äußerst selten auf große, dumme Jungs. Seine Bucherfolge hatten ihn zu einem schwerreichen Mann gemacht. Er konnte manchmal immer noch nicht glauben, wie schnell das geschehen war. Aus dem Uni-Betrieb hatte er sich schon vor einem Dutzend Jahren frustriert verabschiedet. Seither schrieb er für eine erfolgreiche Food-Bloggerin die Texte. Josephine konnte zwar unglaublich gut und kreativ kochen, agierte vor der Kamera so herrlich erfrischend und ehrlich, war allerdings nicht in der Lage, zwei zusammenhängende Sätze zu schreiben. Jedenfalls keine, die miteinander einen Sinn ergaben. Josy war darüber furchtbar traurig, hatte schon einige Versuche gestartet, ihr persönliches Schreib-Handicap zu überwinden, war aber immer kläglich gescheitert. Mitch hatte sie (zufällig) in einer Hotelbar kennengelernt. Er schrieb bereits an seinem ersten Buch, das nicht so recht vorangehen wollte, und hatte ziemlich dringende finanzielle Probleme. Josy hatte ein Meeting gehabt mit Vertretern von Maggi, die sie sponsern wollten. Sie war ein aufsteigender Stern am Foodblogger-Himmel (bei ihr allerdings bisher nur via YouTube aus besagten Gründen). So saßen sie beide an der Bar zufällig nebeneinander und begannen ein leidenschaftloses Hotelbargespräch, das immer intensiver zu werden schien. „Maggi und Josephine? Niemals!“ Am Schluss nach einigen Caipis war Josy sich sicher: Sie würde unabhängig bleiben. Schluss. Punkt. Und Mitch hatte einen neuen Job, der ziemlich schnell ein einigermaßen sicheres Einkommen bedeutete. Der ihm aber dennoch ausreichend Zeit ließ, sich um sein Buch zu kümmern. Josy fand dieses Vorhaben fantastisch. Der Vorteil, für eine Foodbloggerin zu arbeiten, bestand auch darin, dass sich Mitch über kulinarische Unterversorgung keine Sorgen zu machen brauchte. Josy war eine fantastische Köchin. Und weil sie einen vegetarischen Blog betrieb, wurde auch Mitch selbst Vegetarier. Zuerst eben aus Zufall, dann aus Überzeugung. Obwohl, Zufall war auch schon wieder so ein Begriff, mit dem Mitch ernste Probleme hatte ...

Niemandsland

Er hörte mehrere Stimmen. Oder besser: Er nahm mehrere Stimmen wahr. Sie schienen zu diskutieren.

Ich hätte den Fehler mit den zwei Fronten niemals machen dürfen. Das weiß ich jetzt auch.

Nun, ich weiß nicht, von der Problematik weiß ich zu wenig, habe ja vorher gelebt.

Ach, es ist eine solche Schande, dieses ganze Unnütze, diese Aasgeier, die nur von meinen Innereien gelebt haben, dieser dicke Göring mit seinen Fantasie-Uniformen. Spätestens da hätte ich merken müssen, dass dieser Mann komplett dem Wahnsinn verfallen war. Oder dieser Speichellecker Göbbels. Wussten Sie, dass der im Glauben gewesen war, eigentlich der bessere Führer zu sein? Der klügere? Seine ganze Liebe zu mir war nichts weiter als der Wunsch, an meine Stelle zu treten, das Reich zu Füßen.

Michael glaubte sich in einem weiteren Traum. Da sprach Adolf Hitler. Diese Stimme kannte er, sie war so markant und wer hatte nicht schon einmal diesen Agitator auf Archivmaterial gehört? Eine absolut unverwechselbare Stimme und dazu die Themen. Michael war zutiefst verwirrt. Wie konnte das sein. War er wahnsinnig geworden? Aber was war denn überhaupt geschehen. Er versuchte sich zu erinnern. Maria kam ihm in den Sinn, seine Frau. Seine Tochter Hannah. Das Reihenhaus in Hamburg-Wandsbek. Sein Job. Er war Journalist. Das Nachrichtenmagazin. Tom, sein Kollege, Freund, Vorgesetzter. Er fuhr einen Smart, weil alles andere in dieser Stadt keinen Sinn machte. Er spielte jeden Mittwoch Badminton mit Tom und anderen Kollegen. Im Urlaub wanderten sie gern in den Bergen. Er löste Schachaufgaben, hatte aber schon lange keine echte Partie mehr gegen einen Menschen gespielt. Er war 44 Jahre alt, wog 82 Kilo und war einen Meter 74 groß. Seine Mutter lebte in Gießen, sein Vater war vor zwei Jahren gestorben. Maria war ein Jahr älter als er, arbeitete als Grundschulleiterin, war aber zurzeit krankgeschrieben. Sie hatten sich in einem Fußballstadion an einem Imbiss kennengelernt. Beide machten sich nichts aus Fußball, sie war von ihrem Bruder mitgeschleppt worden, er von Kollegen aus der Sportredaktion („Das musst du mal erleben, diese Atmosphäre! Dieses gemeinsame Gefühl!“). Doch weder bei Maria noch bei ihm wollte sich der Funken der Begeisterung einstellen. Sie mussten wohl beide etwas gequält ausgesehen haben, jedenfalls schauten sie sich nur an und mussten lachen. Sie verließen das Stadion noch während der ersten Halbzeit und redeten einen ganzen Nachmittag und Abend zusammen in einer kleinen Bar im Schanzenviertel in Hamburg. Hannah war ihre Tochter, sie war 16, ging aufs Gymnasium und war trotz ihres Alters relativ vernünftig, wie Micha fand. Er hatte von Kollegen wahre Horrorgeschichten gehört von ihren „wachsenden“ Mädchen. Er hatte immer darauf gewartet, dass der Horror auch in ihr hübsches Reihenhaus einziehen würde, aber da kam nichts. Probleme wurden beredet, nicht immer super-sachlich, aber stets mit Respekt vor dem anderen. Vielleicht war das das ganze Geheimnis, dachte Micha jetzt. Dem anderen mit Respekt zu begegnen, auf Augenhöhe. Er hatte keine Ahnung, warum er das jetzt alles gerade dachte, wo neben ihm Hitler vom Zweifrontenkrieg faselte.

K.I.T.

Maybrit starrte auf ihren Computer-Bildschirm. Zahllose Kolonnen an Zahlen zogen wie Heere bereit zur Schlacht über den Monitor. Ein dumpfer Schmerz erinnerte sie daran, dass sie ziemlich bald einen Zahnarzttermin verabreden sollte. Doch diese Zahlenkolonnen waren sogar in der Lage, ihren Zahn zu beruhigen. Sie warf ihrem Chef einen Blick zu. Magnus telefonierte. Eigentlich hörte er zu und jemand anders erzählte. Seiner Miene nach zu urteilen, war das ein vorgeschalteter Politiker, der ihm langwierig etwas darlegte. Magnus war nicht gänzlich uninteressiert, aber seine Miene verriet seine Ungeduld und von der Schwierigkeit, diese nicht am Telefon zu zeigen. Also doch ein Politiker – auf jeden Fall, da war sich Maybrit jetzt sicher. Endlich war das Telefonat vorüber und Magnus starrte durchs Fenster.

„Die haben keine Ahnung von Digitalisierung.“

Maybrit wusste, was er meinte.

„Die wollen alles kontrollieren, wissen aber nicht einmal, was sie eigentlich kontrollieren wollen und können.“

Magnus war für die verantwortlichen Politiker eine Art A.A.O. – alles ausführendes Organ. Also luden sie bei ihm, dem Chef der Arbeitsgruppe Künstliche Intelligenz/Intelligente Technik, kurz AG K.I.T., ihre ganzen Sorgen ab. Er sollte dann wohl eine Art digitalen Zauberstab schwingen und alles wurde gut. Neben Maybrit und ihm war noch Thilo mit an Bord ihrer Sondereinsatzgruppe, die innerhalb des Bundeskriminalamtes eine Sonderrolle einnahm. Die drei aus der digitalen Welt, wie Dr. Benz sie gern nannte – ihr einziger richtiger Vorgesetzter beim BKA. Es gab natürlich noch eine ganze Reihe weiterer Abteilungen, die sich mit Internet, Digitalem und den damit verbundenen Verbrechen beschäftigten. Doch die AG K.I.T. kümmerte sich um die ganz sonderbaren Fälle, um neue Erscheinungsformen der www-Kriminalität. Alle drei waren Spitzenleute in Sachen digitaler Welt und arbeiteten in dieser Konstellation jetzt zwei Jahre zusammen. Sie waren nicht diejenigen, die nach ausgiebiger Recherche die Pistolenhalfter umlegten und die überführten Bösen aus dem Dunkel des Darknet ins helle Licht der Wirklichkeit zerrten. Ihre Arbeit war zwar die Grundlage für weitere Ermittlungen, die aber von Kollegen aus anderen Abteilungen fortgeführt und wenn möglich abgeschlossen wurden.

Meine Digi-Precogs, beschrieb Dr. Benz gern die drei – womit er die hellseherischen Personen aus dem berühmten Zukunftsthriller „Minority Report“ von Steven Spielberg meinte. Sie können Morde schon vorher sehen, bevor sie ausgeführt werden. Die „Täter“ werden quasi bereits im Vorfeld ihrer Tat verhaftet und in Verwahrung gebracht. In einen Zustand ständiger Bewusstlosigkeit. Dr. Benz liebte den Film, in dem Tom Cruise die Hauptrolle spielte, und war nur darüber enttäuscht, dass das ganze Projekt leider am Schluss beendet wurde, weil es sich als fehlerhaft herausstellte. Für Dr. Benz war es eine fantastische Vorstellung, Verbrechen bereits vor ihrer Ausführung verhindern und die „Täter“ wegsperren zu können. Mit mutmaßlich angehenden Terroristen wurde ja schon seit einigen Jahren ähnlich verfahren. Wurden ihre Vorbereitungen entdeckt, gab’s eine Observation und möglicherweise Zugriff, bevor die Tat begangen wurde. Auch für die Vorbereitung eines terroristischen Akts konnte man für lange Zeit hinter Gitter wandern.

Als Hellseher empfanden sich die drei vom K.I.T. allerdings nicht gerade. Sie surften in den digitalen Weiten der Internets und kamen sich da eher manchmal wie die Pioniere aus Star Trek vor – nur dass sie nicht in einem Raumschiff materiell durch den Weltraum rasten, sondern eben digital in den ebenso unendlichen Weiten der Clouds und Netze.

„Magnus? Die Hackeraktivitäten, die wir seit einer Woche beobachten, steigen sprunghaft an. Ziel sind vor allem wissenschaftliche Einrichtungen der Unis und der technischen Hochschulen.“

Magnus drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr um.

„Irgendwelche Wurzeln? Verbindungen zu bekannten Aktivitäten?“

Maybrit schüttelte ihren Kopf.

„Nein, nichts zu erkennen. Das brandet immer wieder wie Wellen auf die Server. Aber es wirkt ein wenig ziellos, so, als ob die letzte Konsequenz zum Durchbrechen nicht vorhanden ist.“

„Okay, beobachte es weiter. Ich habe ein anderes Problem. Das Büro des Hamburger Innensenators hat merkwürdige digitale Sendungen erhalten. In ihnen wird vor Gottes Rache gewarnt, wenn der Mensch sich weiter seiner Hybris schuldig macht. Die menschliche Intelligenz sei von Gott gegeben – jeder Versuch, sich darüber zu erheben, sei ein Angriff auf Gott und seine Schöpfung. Das würde ernste Konsequenzen nach sich ziehen und so weiter ...“

Thilo Thielsen schaute nun das erste Mal von seinem Bildschirm auf.

„Klingt nach üblichem religiösem Eifertum, allerdings aus christlicher Richtung, vermute ich. Aber ehrlich, solche Dinge kursieren doch tausendfach im Netz. Wieso misst das IM dem denn eine Bedeutung zu?“

Magnus schaute seine beiden Mitarbeiter abwechselnd an:

„Es wurde in diesem Fall ein Video mitgeschickt, das den Innensenator spielend mit seinen beiden Töchtern zeigt – am Schluss färbt sich das Bild rot ein.“

Niemandsland

Irgendetwas war furchtbar schief gelaufen, da war sich Michael jetzt ziemlich sicher. Er, der so gern alles unter Kontrolle hatte, der Probleme als Schachspieler anging, analytisch, berechnend und kontrolliert, sah sich jetzt einer total unwirklichen, abstrakten und unmöglichen Situation gegenüber. Hitler schwieg jetzt zum Glück, aber er nahm eine andere Stimmen wahr.

Der Schwache kann nicht verzeihen. Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.

Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.

Michael nahm die Sätze in Englisch wahr, obwohl er sich da nicht so sicher war (wie konnte er bei irgendwas hier sicher sein?). Sie berührten sein Inneres, brachten es zum Schwingen. Sie kamen ihm sogar bekannt vor, auch wenn er sie gerade nicht einordnen konnte. Aber das schien zurzeit das eindeutigste Merkmal seiner Situation zu sein: die Unmöglichkeit des Einordnens. Obwohl, der zweite Satz: Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier – der passte ja irgendwie wunderbar zur aktuellen Diskussion um Ressourcen, die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich auf der gesamten Welt, zu Klimaveränderung und Migrationsbewegungen weltweit. Zu übermäßigem Fleischkonsum mit all seinen schädlichen Folgen, zu dem Abholzen des Regenwaldes, CO2 und Stickoxid und zum ganzen Rest.

Der Satz mit der Gier, sprach Michael, der stimmt natürlich, aber hilft auch nicht so richtig weiter im politischen Tagesgeschäft, wo es doch hauptsächlich um kurz- bis mittelfristige Problemlösungen geht. Die Menschheit ist so beschäftigt mit dem Verwalten der aktuellen Situation, dass sie sich viel zu wenig Zeit und Mühe gibt, um die zentralen Fragen zur Zukunft der Menschheit zu stellen. Es scheint, dass alles rein wirtschaftlichen Interessen untergeordnet wird – und den Aufsichtsrat interessiert das Wohl der Menschheit und der Erde nur in feierlichen Stiftungsreden, ansonsten weiter wie gehabt, Geld scheffeln.

Michael fand es auf eine sonderbare Weise komisch, dass er diese Gedanken hatte, wo doch ihm seine persönliche Situation komplett unbewusst und unklar war. Da vernahm er wieder die Stimme von vorhin:

Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.

Unzweifelhaft richtig, dachte Michael, sehr schön zugespitzt formuliert, aber welche Konsequenzen zieht man nun daraus?

Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für die Welt.

Okay, das erinnerte Michael stark an die Theorie des Schmetterlings-Effekts – nur in positivem Sinne. Geprägt hatte ihn der US-amerikanische Meteorologe Edward N. Lorenz in einem Vortrag 1972 mit dem Titel „Vorhersagbarkeit: Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?“ Lorenz wies in mathematischen und physikalischen Versuchen nach, dass sich in bestimmten Systemen nicht vorhersehen lasse, wie sich selbst kleine, beliebige Veränderungen am Anfang des Systems auf die gesamten Entwicklungen und Folgen auswirken. Das war die Geburt der populären Chaostheorie. Eigentlich hätte die korrekterweise „Dynamik nicht linearer Systeme“ heißen müssen, aber dann wäre sie sicherlich in der Öffentlichkeit niemals auf ein so großes Interesse gestoßen. Nicht wenige Wissenschaftler sehen in der Chaostheorie eine der drei wissenschaftlichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts – neben der Relativitätstheorie Albert Einsteins und der von Max Quandt begründeten Quantenphysik. Und auch persönlich hatte Michael seine eigenen Erlebnisse mit der Chaostheorie gehabt. Als er mit 14 Jahren seine erste „richtige“ Freundin kennenlernte, war dieses Zusammentreffen auch eine Verkettung glücklicher Umstände gewesen. Denn eigentlich – und dieses Wort eigentlich war eigentlich das Anfangswort zu jeder Chaostheorie – wollte er zum Fußball fahren. Doch neben der Straße fand er eine verletzte Krähe, die wohl in ein Auto geflogen war. Sie duckte sich ganz flach in einen kleinen Graben neben der Straße unter ein paar Zweige eines Gebüschs. Michael griff sie behutsam um den Körper und die Schwingen und steckte sie unter seine Jacke. Mit einer Hand schob er das Rad, mit der anderen hielt er den schwarzen Vogel. Erst hatte er ein wenig Furcht, dass die Krähe mit ihrem so aus der Nähe betrachtet ziemlich gewaltigen Schnabel nach ihm hacken würde. Aber das tat sie nicht. Er kannte eine Tierärztin im Ort, bei der sie auch mit ihrem Beagle hin und wieder waren. Sie untersuchte die Krähe, gab ihr eine Beruhigungsspritze, stellte fest, dass wohl nichts gebrochen sei und der Vogel einfach von dem Zusammenprall benommen war. Sie organisierte einen Karton, in den die Krähe verfrachtet wurde. Sollte sie die nächsten zwei Stunden überstehen, so die Ärztin, hätte sie wohl keine inneren Verletzungen und würde vielleicht überleben. So verbrachte Michael die nächsten zwei Stunden mit dem Karton auf dem Schoß im Wartezimmer der Praxis und wartete darauf, dass die Krähe starb oder überlebte. Ying oder Yang. Null oder Eins. Schwarz oder Weiß. Leben oder Tod. Bald kam ein Mädchen in seinem Alter mit ihrem Meerschweinchen ins Wartezimmer. Siegrid fand die Krähe natürlich super spannend – und so waren sie zusammen gekommen. Die Krähe überlebte, hieß dann Krax, weil sie ziemlich krächzende Töne von sich gab – eine Folge des Unfalls, wie die Ärztin vermutete. Fünf Jahre lebte sie bei den Allhovens, bis sie eines Tages von einem Ausflug nicht mehr zurückgekommen war. Michael war todtraurig und schaute jeden Tag in den Himmel, um Krax auf sich zufliegen zu sehen. Aber Krax blieb verschwunden. Michael zog bald darauf aus dem kleinen Ort weg nach Hamburg, wo er studieren wollte. Doch noch jahrelang blickte er immer wieder sehnsuchtsvoll in den Himmel, um ein Zeichen von Krax zu entdecken. Aber Krax tauchte nie wieder auf. Als hätte es die Krähe nie in Michaels Leben gegeben. Mit Siegrid war noch schneller Schluss gewesen. Nach einem Jahr trennten sie sich, wie sich halt Teenager voneinander trennen. Hätte das Auto damals vielleicht ausweichen können? Dann wäre Krax nie in seinen Armen gelandet, genauso wenig wie Siegrid. Alles wäre anders gekommen. Und so war es mit beinah allem im Leben. Zufälligkeiten bestimmten es. Oder wie hieß es so schön: Planung ist das Ersetzen des Zufalls durch Irrtum. Die Chaostheorie bewies nun, dass selbst kleinste Veränderungen zu großen Umwälzungen führen konnten. Selbst das Mit- und Gegeneinander der Planeten, Sterne und Kometen orientierte sich nach diesem Chaosprinzip. Ein abgebrochener Teil eines Asteroiden, der auf einem Planeten einschlägt und dort zu einer verdichteten Explosion führt, die Moleküle schafft, die es vorher auf dem Planeten nicht gegeben hat. Vielleicht der Anfang des biologischen Lebens auf diesem Planeten? Die Stimme meldete sich wieder, als hätte sie Michaels Gedanken gelesen:

Wo Liebe wächst, gedeiht Leben – wo Hass aufkommt, droht Untergang.

Mitch

Er lenkte seinen geliebten polarweißen Range Rover durch die Straßen Hamburgs. Sein Navi lotste ihn in eine kleine Seitenstraße Altonas. Er fluchte. Hier einen Parkplatz zu finden, dürfte keine leichte Aufgabe werden. Endlich fand er eine Lücke und versuchte, seinen Fünfmeter-Boliden hineinzuzwängen. Nächstes Mal nehme ich ein Taxi oder kaufe so eine verdammte Erbsenbüchse Smart, versprach Mitch sich und stieg aus. Das kleine Café hatte er schnell gefunden. Drinnen war es gemütlich mit viel Holz eingerichtet. Allerlei Kaffee- und Teekannen hingen von der Decke oder standen überall herum, wo Platz war. Es gab vielleicht ein Dutzend runde Tische, jetzt gegen Nachmittag an einem Montag zur Hälfte besetzt. Ein sehr gemischtes Publikum, stellte Mitch fest. Jüngere, ältere, freakige Leute und ganz normal gekleidete. Ein bunter Mix. Die Bedienung war eine junge, dunkelhaarige Frau, wahrscheinlich eine Studentin, mit blitzweißen Zähnen und einer lustigen kleinen Zahnlücke in der oberen Reihe. Von einem der vorderen Tische stand eine sehr schlanke Frau auf. Sie wirkte sportlich, fast drahtig, trug ihre schwarzen Haare sehr kurz. Auch ihre Augen waren dunkel. Auf Anfang 30 schätzte Mitch sie und sie gefiel ihm, ohne Frage. Sie wirkte auf den ersten Blick leicht unterkühlt, nein, eher distanziert, vielleicht auch einfach vorsichtig.

„Valery Bernstein, guten Tag!“

Sie sprach mit einem herrlichen amerikanischen Akzent und hielt ihm ihre schmale Hand zur Begrüßung hin. Sie setzten sich. Valery orderte einen grünen Tee, Mitch einen Milchkaffe, zubereitet aus Hafermilch. Dabei dachte er kurz, dass es „früher“ lediglich Milchkaffe gegeben hatte. Heute konnte man ihn mit Hafer- oder Soyamilch bestellen, mit laktosefreier Kuhmilch und den Kaffee ohne Koffein. Die Individualisierung des Menschen in der westlich geprägten Welt nahm immer stärkere Formen an. Wie weit konnte das gehen, bevor es im Getriebe zu knirschen begann? Und wie würde sich ein Gigant wie China dahingehend entwickeln? Noch stand dort die von oben verordnete Kollektivität an erster Stelle, obwohl eine starke Entwicklung hin zu individuellem Konsum und zur allgemeinen Individualisierung stattfand. Ein Land mit über einer Milliarde Menschen im Wechselbad der Systeme von Kommunismus und entfesseltem Kapitalismus. Mitch schob die Gedanken zur Seite. Manchmal war es problematisch, ein „Superdenker“ zu sein – diesen Beinamen hatten ihm die Medien nach seinem Bucherfolg verpasst. Einfach zu viele Gedanken, unablässig, nicht wie ein Strom, sondern wie ein großer, rauschender Gebirgsbach, dessen Wasser sich an Steinen und Felsen bricht, immer neue Wege sucht und doch die alten findet? Er seufzte und wandte sich Valery zu, die ihn aus ihren dunklen, tiefen Augen anschaute wie ein spannendes Insekt, das vor einem auf dem Tisch krabbelte. Nicht mit Ekel, sondern eher aus wissenschaftlicher Neugier – was haben wir denn da für ein seltsames Geschöpf?

„Wie Sie wissen, Dr. Kessler, arbeite ich für MiNU – Mind Networks United. Leif Trager, der Gründer des MiNU, beobachtet Ihre Arbeit genau. Er ist sehr daran interessiert, mit Ihnen zu kooperieren. Er ist von Ihren Büchern begeistert. Leider konnte er heute nicht kommen, weil er plötzlich für ein paar Tage nach Bangkok reisen musste. Nächste Woche wird er wieder hier sein und sich freuen, mit Ihnen zusammen zu treffen.“

Sie machte eine kleine Pause und wartete, ob er etwas erwidern wollte. Mitch fand, dass sie extrem kontrolliert sprach, ohne dabei kalt zu wirken. Im Gegenteil, ihre Stimme hatte eine leicht warme Farbe, die von ihrer geringen Lautstärke, mit der sie sprach, profitierte. Es war angenehm, mit Valery zu reden, fand Mitch, wollte, dass sie weiter sprach. Als sie merkte, dass von Mitch nichts kommen würde, fuhr sie leise fort.

„Das MiNU beschäftigt sich mit Künstlicher Intelligenz. Wir meinen einen Weg gefunden zu haben, Wissen für alle in bisher unbekannter Form bereit zu stellen. Wir möchten, dass Sie unsere Bemühungen untersuchen und bewerten.“

„Warum ich?“, fragte Mitch.

„Nun, Sie haben durch Ihre Bücher gezeigt, dass Sie in extremen Zusammenhängen denken, Geschehen von Jahrtausenden analysieren können. Vielleicht ist Ihr Gehirn etwas sehr Besonderes in dieser Zeit. Auch darüber würden wir gern mit Ihnen sprechen.“

„Also, soll nicht nur ich Ihre Arbeit untersuchen, sondern Sie wollen auch mich untersuchen, verstehe ich das richtig?“

Mitch schaute sie direkt an. Man konnte förmlich in diesen Augen versinken, dachte er. Wie zwei schwarze Löcher mit unendlicher Ausdehnung nach innen und unstillbarem Hunger nach Energie. Sie lächelte.

„Das haben Sie gut erkannt, Dr. Kessler. In der Tat, uns interessiert Ihr Wissen. Ihre Art zu denken. Sie könnten für unser Projekt enorm gewinnbringend sein – gewinnbringend im wissenschaftlichen Sinne. MiNU ist eine Stiftung, die nicht an Profit orientiert ist.“

Mitch schlürfte seinen Hafermilch-Kaffee.

„Sie wollen mein Gehirn.“

Er sagte es ohne Fragezeichen. Valery Bernstein lächelte ihn an.

Marie

Es klingelte. Marie seufzte und stand langsam auf. Sie horchte nach oben. Doch aus Hannahs Zimmer drang nicht einmal Musik. Kein gutes Zeichen. Ihre Tochter hatte die Nachricht vom Tod ihres Vaters schweigend aufgenommen. Wie in Trance, hatte Marie kurz gedacht. Dann hatte Hannah sich an sie gelehnt und lange geweint, immer wieder von Krämpfen geschüttelt. Marie wusste, wie sehr Hannah an ihrem Vater hing. Als sie vier Jahre gewesen war, hatte sie ihn immer wieder gefragt, ob sie ihn denn später heiraten könne. Er und Marie hatten darüber gelächelt und Michael hatte dann immer zu ihr gesagt:

„Meine kleine Blume, du bist hier für ewig in meinem Herzen“ – und er legte seine Handinnenfläche behutsam auf seine Brust.

„Wir brauchen gar nicht zu heiraten, weil ich immer für dich da sein werde. Und schau mal, ich bin ja mit Mama verheiratet, aber du bist mein ewiger Sonnenschein, der immer in meinem Herzen leuchtet, wohin ich auch gehe. Das ist viel besser als zu heiraten ...“

Hannah saß dann auf seinem Schoß, sah ihn mit diesem unglaublichen kindlichen Ernst an, umarmte ihn und flüsterte in sein Ohr:

„Ich werde immer dein Sonnenschein sein. Ich leuchte auch noch hell, wenn alles um uns herum total dunkel ist.“

Marie schluckte, als sie an diese Momente dachte. Und sie war sich sicher, dass es Hannah genauso ging. Bis Hannah ungefähr acht Jahre alt war, hatte sich diese Szene immer wieder zwischen ihr und Michael abgespielt. Es war ein Ritual geworden, etwa wenn Hannah sich schlecht fühlte – aber auch, wenn es Michael nicht gut ging. Er war zu der Zeit noch kein politischer Journalist, sondern beschäftigte sich viel mit krassen sozialen Themen wie Kindesmissbrauch, Pädophilie, mit Vernachlässigung von Kindern bis hin zu totaler Verwahrlosung, aber auch mit Bildung, sozialen Aufbauprojekten und Sozialpolitik. Über diese Schiene gelangte er schließlich zum politischen Journalismus. Da waren die Themen zwar oft genauso abstoßend und unglaublich wie vorher, aber die extreme psychische Belastung, die oft durch die kinder-spezifischen Geschichten an seinen Nerven und an seiner Seele teilweise wie verrückt gezerrt hatte, war von ihm gewichen. Das, was er in der Europa- und Wirtschaftspolitik zu sehen bekam, widerte ihn zum Teil an, diese Anti-Demokratisierung, dieser menschenfeindliche Lobbyismus, diese Egozentrik der mächtigen Frauen und Männer – sein Weltbild einer westlich geprägten demokratischen Politik, die den Menschen dient, war erst ins Wanken geraten und schließlich in Trümmer gefallen. Und je länger er sich in diesen Türmen der Macht bewegte, desto stärker spürte er den Sog, der auch ihn in dieses System der Gefälligkeiten, der Abhängigkeiten und der Korruption hineinziehen wollte. Wie eine unheimliche Kraft, die einen lockt, immer einen Schritt weiter in die Dunkelheit zu gehen. Er hatte Kollegen kennengelernt, die mittlerweile in diesem Strom, dieser Parallelwelt aus Geben und Nehmen, schwammen wie Fische im Wasser. Auf diese Weise wurden Entscheidungen getroffen, die sich gegen die Menschen wandten, aber Geld in die Taschen vieler Privilegierter schaufelten. Wer in diesem Strom seine Netze auswarf und die Silberfische und Goldlachse, die da heimlich und unerkannt herumschwammen, aufs Trockne warf, damit sie von allen öffentlich bestaunt und im besten Fall bestraft werden konnten, machte sich nicht gerade Freunde in Teilen der Politik, Wirtschaft und des Journalismus. Er und Marie hatten oft über diese Zusammenhänge gesprochen, wenn sich gerade wieder besonders finstere Machenschaften zusammenbrauten oder sie öffentlich wurden.

Als Hannah älter war, wurde ihr Ritual zu einem spielerischen. Sie schenkte Michael ein eindrucksvolles, selbst gemaltes Bild einer strahlenden Sonne.

„Wenn ich irgendwann in Australien bin, dann kann ich ja nicht mehr immer bei dir sein, dann schaust du dir dieses Bild an und dann bin ich doch bei dir!“

Seit Hannah zehn Jahre alt war, bedeutete ihr Australien die endgültige Verheißung. Für sie stand fest, dass sie irgendwann in dieses Land ziehen würde. Sie schaute Dokumentationen über Down Under, las Reportagen und wollte alles über das ferne Land wissen. Woher dieser Wunsch gekommen war, wussten Marie und Michael nicht. Er war einfach irgendwann da gewesen und nicht wieder gegangen. Michael musste versprechen, eines Tages mit Hannah nach Australien zu reisen. Nun, dachte Marie mit einem schmerzhaften Stich der Trauer, würde es dazu niemals mehr kommen. Es war alles noch zu frisch, um Michaels Tod in seiner Endgültigkeit zu begreifen, dass er nie wieder in die Tür treten würde mit seinem freudigen und lauten Ausruf: „Ich bin wieder da!“

Sie öffnete die Tür. Davor stand eine dunkelhaarige, schlanke Frau.

„Hülsenberg, Tatjana, enschuldigen Sie, Frau Allhoven?“

Marie nickte leicht.

„Erst einmal mein herzliches Beileid. Es muss furchtbar sein, eine solche Nachricht zu bekommen. Ich bin Wirtschafts-Spezialistin bei Europol“ – sie zückte ihren Dienstausweis und reichte ihn Marie – „ich möchte mich nicht aufdrängen und ich kann verstehen, dass Sie sich ersteinmal sammeln müssen, aber wir müssten auch dringend mit Ihnen reden.“

Sie blickte Marie aus freundlichen, dunklen Augen an, wartete Maries Reaktion ab.

Ihr erster Impuls war, die Frau zu vertrösten und zu verabschieden, zu bitten, sie möge in ein paar Tagen wieder kommen. Aber gleichzeitig war da eine tiefe Neugier in ihr drin. Die Nachricht über den Tod ihres Mannes war gerade ein paar Stunden alt und schon stand eine Frau von Europol vor ihrer Tür? Sie wusste, dass Michael mit Polizeibehörden zu tun gehabt hatte – das war Teil seins Jobs. Er hatte ihr auch mehr als einmal seine Meinung über BKA, Euro- und Interpol mitgeteilt. Der Sog, der auch an ihm zurrte und zerrte, machte vor Polizeibeamten jedwelchen Dienstranges keinen Halt. Als Michael über die Verstrickungen von Interpol mit der Industrie recherchierte – es ging 2013 um angebliche millionenschwere Kooperationsverträge mit dem Tabakkonzern Philip Morris sowie zahlreichen Pharmaunternehmen – hatte er sogar von Drohungen gesprochen, ohne jemals konkret geworden zu sein. Natürlich hatte sie wissen wollen, ob sie tatsächlich gefährdet waren. Ihr kam es damals wie ein Thriller im Fernsehen vor – alles schien heile Welt, sicher und frei – aber plötzlich wurden sie bedroht von einer dunklen Seite der Demokratie und des Kapitalismus? Von Korruption und Verbrechen? Michael hatte damals abgewunken, er bilde sich das vielleicht nur ein; wenn man erst einmal anfängt, im Schlamm zu wühlen, formen sich halt Figuren, vor denen man schon mal Angst bekommen kann. Er hatte danach nicht wieder davon erzählt und sie hatten auch nicht erneut darüber gesprochen. Es hatte zwar etwas Dunkles, Unausgesprochenes, aber ehrlicherweise war Marie auch nicht wirklich erpicht darauf, sich weiter Sorgen zu machen. Zu irreal erschien ihr eine etwaige Bedrohung durch staatliche Organisationen. Für Verschwörungstheoretiker hatte Marie noch nie viel übrig gehabt. Wenn man sich bestimmte Aspekte und Wissensteilchen aus dem gewaltigen Mega-Strom der Informationen herauspickte, ließ sich so gut wie alles theoretisch „beweisen“ oder man säte zumindest Skepsis und Misstrauen unter den Menschen. Dazu kommt noch eine Flut von Fälschungen in Bildern, Videos und Berichten, dass es mitunter schwer fällt, die Wirklichkeit noch zu erkennen – sofern es EINE Wirklichkeit, wie Michael immer mit einem Lächeln zu sagen pflegte, tatsächlich gibt. Nach zwei Gläsern Wein war er dann meist der Überzeugung, dass es keine eine, sondern wohl viele verschiedene Wirklichkeiten geben müsse – fast jeder Mensch, der nachdenkt, ja selbst, der nicht weiter nachdenkt, hat seine eigene Wirklichkeit. Bei einigen bildete die sich allerdings wahnhaft aus, führte zu religiösem Eifertum, einer übersteigerten Angst vor Fremdem oder sonstwelchen fanatischen Auswüchsen.

Es war nie irgendetwas passiert nach den „Drohungen“, die Michael erwähnt hatte. Marie fühlte sich weder verfolgt noch bedroht, es knackte nicht im Telefon, es gab keinerlei Hinweise darauf, dass sie zum Zielpunkt einer Observation geworden waren. Dass sie ins Fadenkreuz einer mächtigen Organisation geraten sein könnten. Nichts.

Tatjana Hülsenberg stand noch immer vor ihrer geöffneten Tür. Meine Güte, dachte Marie, wo bin ich mit meinen Gedanken. Sie hatte keinerlei Gespür dafür, wie lange sie hier schon so standen. Ohne weiter nachzudenken, signalisierte sie der Europol-Mitarbeiterin mit einer Handbewegung, sie könne eintreten. Marie bat sie in das Wohnzimmer.

„Einen Kaffee?“

„Gern. Schwarz, bitte.“

Wie ein Automat füllte sie den Wasserkocher mit Wasser und stellte ihn an. Sie füllte einige Löffel Kaffee in eine French Press Kanne und wartete darauf, dass das Wasser zu kochen begann. Von ihrer halboffenen Küche konnte sie die Frau beobachten, die sich noch nicht gesetzt hatte, sondern scheinbar interessiert das Bücherregal studierte. Plötzlich blieb sie stehen, zog ein Buch heraus und blätterte langsam durch die ersten Seiten. Marie konnte nicht erkennen, um welches Buch es sich handelte. Das Wasser kochte. Sie wand sich ab, füllte die Kanne auf. Langsam schritt sie in das Wohnzimmer. Tatjana Hülsenberg hatte kein Buch mehr in der Hand. Sie saß auf einem Sessel und schaute Marie aus ihren dunklen Augen an.

MiNU

Sie waren zu dritt zu der Veranstaltung des MiNU gekommen. Der ebenso schillernde wie anscheinend hoch intelligente Vorstandsvorsitzende der Stiftung, Leif Trager, war noch nicht auf der durch glitzernde Stahlträger gestützten Bühne zu sehen. Dort stand nur ein überdimensionaler Metallkopf mit geschlossenen Augen. Hinter der Bühne ragte eine riesige LED-Leinwand auf, die zurzeit allerdings nur das bekannte Matrix-Muster aus dem gleichnamigen Film abspielte. In einer Vorankündigung hatte das MiNU für heute die Vorstellung einer bahnbrechenden Entwicklung in Sachen Künstlicher Intelligenz bekannt gegeben. Das MiNU, so wusste Magnus Herzberger, war vor etwa fünf Jahren an diesem Standort in der Neuen Hafen-City im städtebaulich aktuell spannendsten Stadtteil Hamburgs errichtet worden. Das schimmernde Gebäude, dessen Außeneffekt durch eine raffiniert angebrachte Außenhaut-Kombination aus Glas und Metall erreicht wurde und das ein echter Hingucker war, wirkte ein wenig wie aus dem Weltraum im Hamburger Hafen gestrandet, fand Magnus. Trotzdem konnte sich wohl niemand seiner Faszination entziehen. Innen war dieser „fantastische“ Effekt konsequent fortgeführt worden. Viel Metall, noch mehr Glas, spiegelnde Flächen – man hatte zwar das Gefühl drinnen zu sein, aber auf eine verstörende Art und Weise auch wieder nicht. Natürlich war dieser Effekt gewollt.

Das MiNU beschäftigte sich mit der Welt von morgen, forschte zu Künstlicher Intelligenz, Cloud-basiertem Wissen und auch profanen Smartphone-Weiterentwicklungen. Erstaunlicherweise sollte das alles ohne den Gedanken an Wertschöpfung und Profitorientierung stattfinden. Die Stiftung „Welt von morgen“, die das MiNU unterhielt, unter der Leitung von Leif Trager, schien trotzdem über enorme finanzielle Mittel zu verfügen. Es gab anscheinend eine Reihe ziemlich vermögender Leute, die die Stiftung regelmäßig großzügig unterstützten, ohne sich in irgendeiner Form lenkend einzubringen. Namen von vermeintlichen Spendern wurden immer wieder mal ins Spiel gebracht, Mark Zuckerberg und Bill Gates waren natürlich darunter, aber auch viele andere. Die Stiftung selber hielt sich darüber bedeckt und da sie keinerlei öffentliche Mittel bezog, musste sie auch über ihre Spender keine Auskunft geben. Das MiNU war im besten Sinne international. Hier arbeiteten hunderte Menschen aus aller Welt. Deswegen war auch Englisch die Amtssprache des MiNU.

Endlich kam Bewegung in die Sache. Ein kleiner, schmaler Mann enterte mit jungenhaften Schritten die Bühne und postierte sich neben dem Metallkopf. Leif Trager sah neben dem Kopf, der mit seinem Sockel bestimmt 1 Meter 80 in die Höhe ragte, noch kleiner aus als er schon in Wirklichkeit war. Lediglich 1 Meter 65 maß der Deutsch-Schwede; seine schmale Figur ließ ihn neben dem Kopf wie ein Kind erscheinen. Doch als er zu sprechen begann, erfüllte eine dunkle, volle Stimme den gesamten Saal. Sie mussten über eine fantastische Audio-Anlage verfügen, dachte Magnus.

„Liebe Gäste, das Team des MiNU und ich heißen Sie herzlich willkommen in unserer Zentrale. Sie alle hier sind interessiert an Wissen und wie es vermittelt wird. Viele Journalistinnen und Journalisten sind anwesend, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Unternehmer-innen und Unternehmer. Das Internet, das Digitale, hat unser Leben in den vergangenen zwei Dekaden entscheidend verändert. Darüber muss ich nicht reden, Sie leben in der Jetztzeit, Sie wissen das so gut wie ich. Auf die industrielle Revolution folgte die digitale, die ohne die industrielle nicht denkbar ist.“

Leif Trager machte eine kurze Pause. Hinter ihm lief weiter die Matrix, Grün auf Schwarz. Es war bis auf einige Huster still in dem riesigen Foyer des MiNU.

„Doch nun stehen wir vor einem weiteren epochalen Schritt, der das Bewusstsein des Menschen, unser Leben radikal verändern wird. Und die Frage ist nicht, ob sich unser Leben radikal ändert, sondern wann. Das größte und unglaublichste Rätsel ist unser Gehirn. 86 Milliarden Nervenzellen bilden den Grundstock für die faszinierendste evolutionäre Entwicklung unserer Erdgeschichte. Der Ursprung für die Unverwechselbarkeit eines Menschen liegt in seinem Gehirn. Intelligenz, die Fähigkeit zu reflektieren und zu abstrahieren – nachzudenken, Empathie – all das ist ohne die Mega-Funktionalität des menschlichen Gehirns nicht denkbar. Dazu lernen wir im günstigsten Falle Zeit unseres Lebens, vor allem aber als junge Menschen, wenn der Körper am besten in der Lage ist, Wissen aufzunehmen und zu speichern. Wissen ist Macht, schrieb Francis Bacon bereits 1597 – also weit vor der Entwicklung des Smartphones. Sein Ausspruch und Anspruch, „den Menschen in einen höheren Stand seines Daseins“ zu erheben, erleben wir heute in revolutionärer Form. Noch nie war es möglich, so unmittelbar über Wissen zu verfügen wie heute – vorausgesetzt, das WLAN ist nicht abgestürzt oder Sie haben ausreichend Handy-Empfang.“

Einzelne leise Lacher waren zu hören; viele nutzten den kleinen Witz, um mal die Füße zu bewegen. Es raschelte und schabte. Leif Trager wartete kurz ab. Er war ein extrem guter Redner, musste Magnus ihm zugestehen. Seine Stimme war angenehm. Er sprach nicht zu schnell und nicht zu langsam; akzentuiert und konzentriert, ohne verkrampft zu wirken. Seine Lockerheit stand im Widerspruch zu seinen sehr kompakten Sätzen, die sich wie gemeißelt in die weite Runde der MiNU-Halle aussandten.

„Francis Bacon war seiner Zeit weit voraus. Im Grunde muss er aus heutiger Sicht als einer der Pioniere des Transhumanismus verstanden werden. Denn das Erheben in einen höheren Stand des Daseins ist ja das Zentrum des transhumanistischen Denkens. Sicherlich hatte Bacon im 16. Jahrhundert nicht an moderne Technologien gedacht – es gab noch nicht mal Elektrotechnik. Erst 1844 startete das Zeitalter der elektrischen Kommunikation – mit der ersten Telegrafenlinie, die zwischen Baltimore und Washington eingerichtet wurde – mit einem Morse-Telegraf, erfunden von Samuel F.B. Morse. Im selben Jahr erstrahlte in Paris auf dem Place de la Concorde das erste Mal auf der Welt elektrische Beleuchtung eines öffentlichen Platzes in Form von Kohlebogenlampen. Heute chatten 12-Jährige aus Hamburg wie selbstverständlich mit anderen 12-Jährigen in Echtzeit – ob sich diese in Hamburg befinden oder in Indien, spielt keine Rolle mehr.

In der Vergangenheit – vor dem Informationszeitalter, wie wir es heute kennen, war die Verbreitung eines seichten Halbwissens der Standard. Bei einer Diskussion schleppte niemand kiloschwere Lexika mit sich rum, um Fehler in der Argumentation des Gegenüber zu beweisen. Zudem das Wissen im geschriebenen Lexikon bereits bei seiner Drucklegung veraltet war. Auch waren viele gesellschaftliche Ereignisse und Tatsachen in diesen eher konservativ geführten Lexika gar nicht enthalten. Relativ kleine Redaktionen und Fachräte bestimmten über die Verbreitung von Wissen. Das Internet hat diese primitive, monopolistische Form der Wissenssammlung revolutioniert. Wikipedia und seine Satelliten sind eine der fantastischsten Errungenschaften des digitalen Zeitalters. Wissen für alle ist nicht nur möglich geworden, sondern es ist für jeden frei verfügbar, der ein Smartphone oder Computer besitzt oder eines davon nutzen kann. Er muss nicht einmal mehr seine Fragen schreiben, er kann sie sogar ins Telefon sprechen und erhält seine Antworten. Das, meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer, ist das Heute“ – Leif Trager machte eine lange Pause und blickte sich in den Zuschauerreihen um. Man hatte das Gefühl, er würde jedem einzelnen tief in die Gedanken schauen.

„Das Morgen“, hob er wieder an, „beginnt mit dem heutigen Tag: MiNU hat einen Weg gefunden, dem Menschen das Wissen von heute zu implantieren. Viele haben davon in den vergangenen Jahren geredet, haben daran geforscht, doch wir haben den Durchbruch erreicht. In Zukunft wird Schule nicht mehr notwendig sein – jedenfalls nicht zur Wissensvermittlung. Das Wissen der Welt wird zukünftig in unseren Köpfen stecken – abrufbar auf Wunsch. Die Überwindung des Homo sapiens wird Wirklichkeit – wir schaffen den Homo sapiens digitalis! Wir reden nicht von einem sabbernden Frankenstein-Monster, sondern von dem Menschen, wie wir ihn heute kennen, gepaart mit dem Wissen der Welt.“

Unruhe entstand unter der Zuhörerschaft, als die letzten Worte Tragers mit einem leichten Echo verhallten. Leises Gewisper setzte ein, verhaltene Diskussionen. Trager ließ es viele Sekunden gewähren. Magnus verspürte plötzlich ein flaues Gefühl in der Magengegend. Über diese Sachen wurde in der Wissenschaft in den vergangenen Jahren sehr viel gesprochen. Etliche Wissenschaftler tüftelten, testeten und forschten. An amerikanischen Instituten waren Querschnitt-gelähmte soweit gebracht worden, dass sie nur mit Hilfe ihrer Gedanken Roboterarme dirigieren konnten, um Aufgaben zu erledigen. Das Anzapfen des Gehirns war längst Realität, aber was Leif Trager da formulierte, war das Öffnen eines unheimlichen Tores, das eine Revolution in der Menschheit bedeuten konnte. Dummerweise wusste man bei Revolutionen nie so genau, wohin sie letztlich führten. Die Vergangenheit hatte gezeigt, nicht immer zum Wohle der Menschheit ...

Leif Trager stand noch immer unbewegt neben dem Metallkopf. Dann wurde das Licht gedämmt. Das Tuscheln und Gewisper verstummte. Der Kopf öffnete sich, indem die Schädelplatten rechts und links geräuschlos herunterfuhren. Sichtbar wurde ein dem Kopf entsprechend großes Gehirn, das bläulich leuchtete. Trager legte seine rechte Hand auf das Gehirn. Er zog einen rot leuchtenden Chip in der Größe einer Micro-SD-Karte heraus.

„Dieser Chip enthält das zurzeit bekannte und verifizierte Wissen der Menschheit, eine Art Common Sense der menschlichen Kenntnisse. Der Chip interagiert nicht bloß mit dem Gehirn, er ist Teil davon. Die Nutzung der unglaublichen Fähigkeiten unseres Gehirns, bisher limitiert durch die bio-evolutionäre Entwicklung, wird durch die digital-evolutionäre Aufstockung – ein Mechatroniker würde es wohl lapidar Chip-Tuning nennen – dieses Organ zu einem Superhirn umfunktionieren. Wissen für alle ist unser Credo – wer sich Eliteschulen wie Harvard nicht leisten kann – macht nichts: Auch er oder sie kann zukünftig das Wissen der Welt in sich speichern und abrufen, wann und wo immer es ihm beliebt. Übrigens unabhängig von WLAN- oder Handy-Netz.“

Es war jetzt sehr still in der funkelnden Halle, deren Glas- und Stahlfronten das blaue Licht des riesigen Gehirns flackernd reflektierten. Auf der Leinwand hinter Trager war die grüne Matrix schon längst verschwunden. Jetzt leuchtete langsam und immer heller werdend die Erdkugel auf – aufgenommen aus dem Weltall.

Es war, als müsste sich Leif Trager selbst wieder von seinem Rausch der Worte herunterbringen. Er blickte jetzt erneut in die Runde und lächelte.

„Liebe Gäste, ich verstehe, dass Sie eine Menge Fragen haben, die unsere Mitarbeiter und ich Ihnen gern in einer Pause so gut es geht beantworten. Nach einer halbstündigen Unterbrechung werden wir Ihnen noch eine kleine Demonstration am Menschen zeigen – ich denke, dass damit vieles klarer wird, was ich Ihnen heute bereits vorgetragen habe. Selbstverständlich haben wir einen kleinen Imbiss im Foyer vorbereitet – in einer halben Stunde geht es dann weiter – vielen Dank bis hier und guten Appetit!“

Das Licht ging wieder an, Trager verließ die Bühne über eine Treppe nach hinten. Magnus schaute Maybrit und Thilo an, die neben ihm standen. Alle holten erstmal tief Luft. Sie spürten, dass sie hier und heute Zeugen einer eventuell tiefgreifenden Richtungsänderung in der Menschheits-geschichte geworden waren. Die Ansätze waren dabei nicht neu, wie Trager ja selbst formuliert hatte. Aber die Konsequenz, mit der das MiNU seine Ergebnisse vortrug, ließ ahnen, dass diese ominöse Stiftung anscheinend den entscheidenden Schritt in die Praxis unternommen beziehungsweise genau das vor hatte.

Das Wissen der Welt! Das flaue Gefühl in der Magengegend von Magnus war noch immer da. Er wusste, dass das nichts Gutes bedeuten konnte.

Niemandsland

Guten Tag, ich bin Dein persönlicher Assistent, Murphy.

Hätte Michael zusammenzucken können, wäre er jetzt zusammengezuckt. Aber seine offensichtliche Körperlosigkeit verhinderte dies wirkungsvoll.

Wie? Was? Wer bist Du?

Murphy, Dein Assistent, Michael. Ich versuche, Dir hier zur Seite zu stehen. Wenn Du etwas wünschst, sag einfach Murphy und ich stehe Dir zu Diensten.

Tausend Fragen donnerten durch seine Gedankenwelt, dass es ihm verdammt schwerfiel, auch nur eine einzige vernünftige zu formulieren. Raubtiere und die Herde, Raubfische und der Schwarm, dachte er. Ein Hai kann nicht einen Schwarm angreifen, er muss versuchen, einzelne Fische zu isolieren, um diese dann zielgerichtet zu verfolgen und zu attackieren. Okay, tolle Sache, aber das half ihm nun auch nicht weiter.

Murphy?

Ja, Michael.

Wo befinden wir uns?

Wir befinden uns in der MindCloud, die MiNU eingerichtet hat.

Michael würde es gern kalt und heiß den Rücken herunterlaufen spüren, wenn er denn einen Rücken hätte.

Was ist mit mir passiert?

Du befindest Dich in der MindCloud, die MiNU eingerichtet hat.

Ja, ja, das weiß ich ja schon. Aber ... Michael wusste nicht weiter. Träumte er? Er versuchte sich zu erinnern. Was war vor seinem „Aufwachen“ geschehen? Er war in der Redaktion gewesen. Ein Taxi hatte ihn abgeholt. Wohin hatte es gehen sollen? Zum Flughafen? Zur Bahn? Nach Hause? Frustriert musste er feststellen, dass er es nicht mehr wusste.

Murphy?

Ja, Michael.

Wieso befinde ich mich in einer Cloud?

Er fand, das war eine ziemlich kluge Frage.

Bedaure, das kann ich Dir nicht beantworten.

So langsam wurde Michael etwas verärgerter.

Was heißt, Du kannst es nicht beantworten? Kannst Du nicht? Willst Du nicht oder darfst Du nicht?

Bedaure, das kann ich Dir nicht beantworten.

So kam er nicht weiter.

Murphy?

Ja, Michael.

Habe ich eine Chance, aus dieser Cloud wieder herauszukommen?

Aber natürlich besteht diese Möglichkeit, Michael.

Hoffnung keimte in ihm auf. Vielleicht konnte sein Bewusstsein die Ketten hier brechen und er würde wieder in der Wirklichkeit Platz nehmen – da, wo er hingehörte.

Wie kann ich die Cloud verlassen?

Bedaure, das kann ich Dir nicht beantworten.

Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hergibt.

Michael erschrak. Eine neue Stimme. Sie hatte einen weichen Klang, sehr angenehm.

Hallo, wer spricht da?

Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie frohe wäre ich, es würde schon brennen. Meint Ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen? Nein, ich sage Euch, nicht Frieden, sondern Spaltung. Denn von nun an wird es so sein: Wenn fünf Menschen im gleichen Haus leben, wird Zwietracht herrschen – drei werden gegen zwei stehen und zwei gegen drei; der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tocher ...

Was redete der Typ denn da für einen Blödsinn? Auch diese Sätze meinte Michael schonmal irgendwann gehört zu haben, aber auch diese konnte er nicht zuordnen.

Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland, bei seinen Verwandten und in seinem Hause!

Jesus! Das waren Zitate von Jesus, durchfuhr es Michael. Und nun fiel ihm auch der andere ein, der den Satz gesagt hatte „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier“. Gandhi, Mahatma Gandhi, der indische Freiheitskämpfer, der mit seinen Worten und passivem Widerstand das britische Empire in die Knie gezwungen hatte. Doch dann hörte er wieder die Stimme Jesus.

Es ist unvermeidlich, dass Verführungen kommen. Aber wehe dem, der sie verschuldet. Es wäre besser für ihn, man würde ihn mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer werfen, als dass er einen von diesen Kleinen zum Bösen verführt. Seht Euch vor!

Darauf wieder die Stimme Gandhis:

Die Ehrfurcht vor dem universalen und alles durchdringenden Geist der Wahrheit hat mich in die Politik geführt; und ich kann ohne Zögern und doch in aller Demut sagen, dass ein Mensch, der behauptet, Religion habe nichts mit Politik zu tun, nicht weiß, was Religion bedeutet.

Da war erneut die Stimme Jesus:

Niemand kann zwei Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den andern lieben oder er wird einem anhängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Reichtum!

Die Replik Gandhis folgte postwendend:

Dem Verstand Allwissenheit zuzuschreiben, ist die gleiche Art von Götzendienst, wie die Anbetung von Stock und Stein. Ich plädiere nicht für eine Abwertung der Vernunft, aber für die gebührende Anerkennung der Instanz in uns, die die Vernunft heiligt.

Mit einem Mal tauchte eine neue, etwas näselnde Stimme auf, die Michael noch nicht gehört hatte:

Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer genau herausfindet, wozu das Universum da ist und warum es da ist, dann verschwindet es auf der Stelle und wird durch noch etwas Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt. –- Es gibt eine andere Theorie, nach der das schon passiert ist.

Das war von Douglas Adams aus dem Anhalter durch die Galaxis. Das hatte er ewig nicht mehr gelesen. Dabei hatte er die vierbändige Trilogie in fünf Teilen immer geliebt. Jüngere Leute kannten die herrlich verrückten Bücher zum Teil gar nicht. Wenn er ihnen davon erzählte, glaubten viele, er wolle sie auf den Arm nehmen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass so etwas tatsächlich mal geschrieben worden ist und sogar ziemlich berühmt wurde. Tatsächlich starb Douglas Adams leider mit nur 49 Jahren an einem Herzinfarkt ausgerechnet in einem Fitnessstudio – Ford Prefect hätte an dieser Konstellation sicherlich seine Freude gehabt.

Aber wie kam Douglas Adams Stimme hierher? Ganz zu schweigen von Jesus, Gandhi und Hitler. Wieso redeten einige in bekannten Zitaten, aber Hitler in kommunikativen Sätzen?

Murphy?

Ja, Michael.

Was mache ich hier?

Diese Frage ist leider nicht eindeutig. Ihre verschiedenen Antworten würden Dich nicht befriedigen, weil ihre Aussagen sich zum Teil diametral gegenüberstehen. Deswegen macht eine Antwort von meiner Seite keinen Sinn.

Irgendwie erinnerte ihn dieser Murphy ein wenig an Siri von Apple oder Alexa von Amazon.

Kann ich mit außerhalb dieser Cloud kommunizieren?

Solche Möglichkeiten sind im Prinzip vorgesehen, weil ja nur durch die Kommunikation dem Ganzen ein Sinn gegeben wird.

Wie kann ich mit außerhalb kommunizieren?

Bedaure, das kann ich Dir noch nicht beantworten.

Marie