Outer Coast - Wolf-Peter Riedel - E-Book

Outer Coast E-Book

Wolf-Peter Riedel

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Beschreibung

In der brandungsumtosten Einöde der nordwestlichen Küste Vancouver Islands begegnen zwei erfahrene Seekajaker der unbarmherzigsten Zuspitzung ihres sportlichen Lebens. Die psychologisch versierten Gefährten stehen in einer fundamentalen Auseinandersetzung mit dem "woken" Zeitgeist, dessen frontbildende Wirkung zunächst zwischen ihnen zu stehen scheint. Die furchtbaren Ereignisse lassen indessen den Konflikt als belanglos erscheinen. Das "real life" schreibt eine andere Story: Packende Begegnungen mitten im Herzen der vernichteten indianischen Kultur zeugen von Leidenschaft und unangepasstem Eigensinn. Die dramatische Rückkehr in die Zivilisation führt an Lebensgeschichten vorbei, deren Protagonisten - jenseits von Schuld und Sühne - in die Freiheit finden konnten. Es sind die aufwühlenden Geschichten der Verzweiflung, des Mutes und der selbstwirksamen Lebenslust. Der Psychoanalytiker Dr. Wolf - Peter Riedel schreibt unverblümt, nachdenklich und spannend über die Risiken und den Gewinn des Daseins auf sehr speziellen Wegen.

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Nowhereland

Fears in the dark, inmidst a closed world

Craving for silence, hearing the curse

Murmuring forests, nearby the seas

down in the dumps, hating my nurse

Oh – come right out, out of those years

Body is aching in poisened surrounds

Unconscious twitches – no causes are found

What is this quivering nearby the beats

numinous veils between all those sheets

Mother get out here, out of my tears

Oh – I was born – inmidst of your fears

BRANWELT

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

1

Zittas Kopfschmerzen hatten während der Nacht zugenommen und das Aufwachen erschien ihr als eine Zumutung. Das Kribbeln in ihren Beinen hatte in den letzten Tagen eine wundersame Verwandlung erfahren: Als scharf lokalisierter Druckschmerz im linken kleinen Zeh war eine undefinierte, aber doch markante Missempfindung langsam das Bein hoch gewandert und dann plötzlich verschwunden.

»Da is’ was«, hatte sie gedacht – aber eigentlich ohne diese materialisierten Worte. Dann allerdings deutlicher und fast lesbar: »Fibromyalgie«.

Jetzt – beim Aufwachen – war das Schmerzempfinden zu jenem Kribbeln mutiert, welches sich nach zahllosen nächtlichen Panikattacken in ihr prozedurales Gedächtnis eingeschlichen hatte.

Die hyperventilationstitanisch gekrümmte Pfötchenhaltung der Hände schien wiederholt als gelähmte Grundverfassung ihren gesamten Körper erfasst zu haben.

Ihr Ausbruch aus dem Gefängnis ihrer psychosomatischen Beschwerden hatte sich in ihrem Leben bisher allenfalls als passagerer Freigang dargestellt und ihr coming back in die Welt der Lust, der Ausdauer und der Selbstwirksamkeit hatte jahrelang eines besonderen Mutes bedurft.

(Eines tierischen Mutes, welcher zu allerletzt den Impulsen einer Judith Butler geschuldet war.)

Zitta hatte schöne Hände. Zart gebaute Handgelenke, eine schlanke Mittelhand mit klarer Äderung auf einem feinen Sehnenbild. Und, sehr weiblich, diese zehn edlen schlanken langen Finger. Es war bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr das Einzige gewesen, was ihr an sich selbst gefallen hatte.

Sie war jetzt so um die fünfzig und es gelang ihr nun mitunter, im Auge der Begehrlichkeit mehr als nur sexuelle Geilheit, sondern auch die Wahrnehmung ihrer tieferen Schönheit zu erkennen. Ihre Fähigkeit, Xaviers Innenwelt ruhig und fast ohne Bewegung zum Glänzen zu bringen, war ein Mysterium: Sie lagen face to face aneinander – ihre Brüste an seiner Halsbeuge füllten diese Rundung ebenso vollständig aus, wie ihre rechte Hand seinen Penis umschloss. Die trotz seines fortgeschrittenen Alters erlösende Zunahme seiner Erektion schien bisweilen auch in ihr ein Gefühl der Anerkennung hervorzurufen, welche ihr in den Jahren ihrer verstörenden Kindheit verwehrt geblieben war.

Xavier musste sich aus ihrem wunderbaren Bett losreißen – der Wetterbericht – das »Scheißwetter« – war zu gut. Er hatte ihr angekündigt, mit seinem Paraglider früh zum hike and fly aufbrechen zu müssen. Er gab Zitta einen flüchtigen Kuss auf ihre gerunzelte, aber zart nach nassem Waldboden riechende Stirn (oder war es sein eigenes Gesicht, das so roch?) und schickte sich an, das Haus zu verlassen.

Eine leise Angst vor dem bedrohlich aufdämmernden Tag kroch durch ihre Seele zu ihrem Körper und von dort zurück in ihr noch schläfriges Bewusstsein, als Xavier die Haustür hinter sich zugezogen hatte und das Einrasten des Türschlosses so weich, aber bestimmt klang.

Die Routine seiner früheren terminlichen Gepflogenheiten hatte ihn robotern und ein rasches Frühstück bereiten lassen. War es nicht leichter gewesen, sich frühmorgens in diese psychoanalytische Praxis zu bewegen, als jetzt jene ihm wohlbekannte Angst vor dem ungewissen Tag aushalten zu müssen?:

Ein vermasselter Start im steilen Felsgelände hatte ihn vor drei Jahren um ein Haar das Leben gekostet. Der Schirm hatte sich nicht vollständig geöffnet. Er war in der Mitte zurückgeblieben und trug nicht mehr; dann das Krachen des Aufpralls auf den rasch steiler werdenden steindurchsetzten Abhang – der Hilfeschrei – und die heranstürmende Mauer eines hervorragenden Felsriegels, welcher den Absturz in den sicheren Tod verhindert hatte.

Die schon gebrochene Wirbelsäule hatte das Glück gehabt, aus nur noch geringer Höhe endgültig zur Ruhe kommen zu können. Rechter Hand ging es senkrecht runter – linker Hand rauf zum Startbereich. Aus einer bergenden kleinen Vertiefung des Steilgeländes war eine schützende Hand geworden, aus der heraus die dreißig Höhenmeter zum flachen Startplatz machbar waren. In gekrümmter Schonhaltung konnte er dorthin hochkriechen. Zwei Bergsteiger hatten den Unfall gesehen.

Die Hubschrauberrettung durch die Felslandschaft der Vorarlberger Berge war gekennzeichnet von einer gewissen euphorisch witzelnden Überdrehtheit, die ihm später jene wohlbekannten Schamgefühle einbrachte, welche die schwindende Verdrängung gemeinhin hinterlässt.

Die Sonne war eben im Begriff aufzugehen und die Bilder seines Startfehlers verblassten. Xavier saß jetzt in seinem 911er-Allradporsche Baujahr 2002 und fühlte unversehens die Schmeichelei dieses Fetischs.

Allein der Geruch der Lederausstattung …

Er roch an seine linke Hand – dachte flüchtig, aber aufgereizt an pornografische Bilder mächtiger Brüste und streifte mit seinem limbischen System Zittas orgiastische Vibrationen und ihre Säfte in seinem Gesicht. Xavier hatte sich – in seiner Träumerei versonnen – in den linken Unterarm gebissen und schließlich – autoerotisch verrückt geworden – lange an der Bissstelle geschnüffelt und geleckt.

Die 320 PS seines Carrera 911 hatten ihm die morgendliche Autobahn in ein sensorisches Mandala verwandelt.

Neuerdings hatte man seitens der »Care-Ethiker« von der erforderlichen »Flugscham« gesprochen. »Tja … lieber Eisenhans … Was für ein problematischer Anachronismus … ein Porsche!«

2

Die alten, weißen Männer konnten nicht mehr umerzogen werden. Sie sollten einfach aussterben.

»Atavismus, A t a v i smu s , Atav … « echolalierte es trotzig aus seinem Eigensinn und lautlos bewegten sich seine Lippen:

»… alle Lust will Ewigkeit … «

Es war einer jener Basissätze, welche der sogenannten 68er- Generation ins Stammbuch geschrieben schienen. Dazu Hermann Hesses Revival – Narziß und Goldmund – Herbert Marcuse – die legendäre Charakterisierung Reinhold Messners durch seine damalige Partnerin: »Der Narziß mit dem Goldmund« … ein Meister der gelungenen und leistungsfundier-ten Selbstdarstellung. Jenseits von Gut und Böse. Einfach nur spannend. Nietzsche hätte ihn beneidet.

Xaviers Unbehagen hatte sich schon damals an dem unsäglichen Spannungsfeld zwischen Dionysos und dem gestrengen Apoll festgemacht:

Einerseits wurde in der Kommune 1 die sexuelle Revolution ausgerufen und andererseits sollte man lautstark in der Mensa der maoistischen Propaganda gehorchen und dem Beispiel der roten Garden im fernen China folgen, um sich in täglicher Selbstkritik zu üben.

Es war aktuell wieder stramm polarisierend losgegangen:

Voltaire versus Konfuzius. Individuation versus Gemeinwohl.

Heiliger Strohsack: die Maobibel! Keiner der gut alimentierten Bürgersprösslinge hatte auf dem Schirm gehabt, dass eben zu jener Zeit 30 Millionen Chinesen Maos Landreform zum Opfer gefallen waren. Verhungert, umgesiedelt, umerzogen. Im Dienste der großen Sache. »Der große Sprung nach vorne.«

Jeder der »Studierenden« war sich seiner Sache ganz sicher. Jeder war moralisch der Größte. »Progressiv« war das Wort der Stunde. Oder eben jetzt: »woke«. Oder noch besser – Substanz behauptend: »wokeness«.

Xavier roch immer noch den prallen Duft seines 911/962ers und er genoss die Sensibilität dieser Legende ; sowohl in der Lenkung, als auch am Gaspedal.

»Die fanatischen Glaubensbrüder haben nix hinzugelernt«, brummelte es verkniffen aus seinem weiß gewordenen Bart.

Nur dass sie jetzt als obergescheite demokratisch Legitimierte samt ihrem Holzschnittdenken in der Regierung saßen. Geschichtsvergessen, dreist und ohne Maß.

Die gekauften Faktenchecker, die beiden Cops, welche in menschenleeren Klettergebieten mit 200 Euro Strafe drohen mussten, die Denunzianten, das lächerliche Bedauern in der kläglichen Hofberichterstattung, dass der Nobelpreis für Biochemie nicht dem Boss von Biontech verliehen worden war. Das völlige Ignorieren der Harvard-Studie.

Das geradezu protzige Verteilen von Milliarden, als ob man dieses Geld angesichts der eigenen verrottenden Infrastruktur übrig hätte.

Ein Potlatch der Eitelkeiten.

Das Vertuschen, Verleugnen, Sanktionieren differenzierter Kritik. Der Lauterbach. Der Beliebte.

Die Angst der Massen rund um den Globus. Die immer kürzer werdende Leine, mit der die Tierfreunde (und Tierfreundinnen) ihre Hunde von der Wiese wegzerrten.

Xavier war es entgangen, dass er inzwischen mit 190 Sachen über die nahezu leere Autobahn flog. Die ockerfarbenen Silhouetten des nördlichen Alpenrandes zeigten ihre Pracht im aufdämmernden Glanz des Morgenlichtes und Xaviers Seufzer war eingebettet in ein tiefes Ausatmen.

Careful With That Axe Eugene. Pink Floyds Mystik zog flüchtig an ihm vorbei und die Giftigkeit seines quälenden Ressentiments machte langsam einer anderen Aufmerksamkeit Platz.

Er fühlte keine Vorfreude, sondern eher Erleichterung, sich diesmal kein großes Flugabenteuer vorgenommen zu haben.

Die 950 Höhenmeter bis zur gipfelnahen Startwiese … keine große Sache.

Xavier spürte, dass es heute gut laufen würde. Er war allein und der Aufstieg durch den steilen Wald blieb ungestört und entsprach seinem Bedürfnis nach Stille. Der dunkle See unter ihm lag unbewegt und bleiern in seinen von Weiden begrenzten Ufersäumen. Sein Atem und Herzschlag waren tief mit seiner ganzen Seele verbunden und Eros und Thanatos kamen sich für einen Moment nahe.

Der befreiende Start und der Flug in den beginnenden Nachmittag hinein schmeichelte seiner verborgenen nordisch-melancholische Seite. Der langgestreckte See, die teilweise gemähten Wiesen und die langsam sich bewegenden Tiere, die locker verstreuten Höfe, das lautlose Gleiten über die heimatliche Landschaft. Kein »Flugauftrag«!

Vierhundert Meter vom Hang entfernt hatte eine erste flache Wolke die Thermikentwicklung angezeigt und er hatte das ermutigende Kreisen zweier Gabelweihen ausgemacht, deren Rufe – scharf und langgezogen – eine Mitteilung zu beinhalten schienen.

Ein fast unmerkliches Steigen hielt Xavier für lange Zeit bei ihnen. Er konnte 300 Meter überhöhen und ein nächster See tauchte aus dem Dunst auf. Er flog in diese Richtung und kurbelte geduldig über einer ausgeprägten Waldkuppe, bis in einer Höhe von 2 200 Metern die ferne Kette des Alpenhauptkamms sichtbar wurde.

Mit dem Erreichen der inzwischen gestiegenen Wolkenbasis hatte es ihm nach eineinhalb Stunden gereicht.

Der warme, frühsommerliche Wind kam aus nordöstlicher Richtung und 60 Meter über einer Baumreihe hatte er seine Landeeinteilung begonnen. Dann der Endanflug, einige Schritte und der rotweiße Schirm sank raschelnd zu Boden.

Xavier war überrascht, wie intensiv das trockene Heu nahe seiner Landewiese duftete.

Die roten Milane über ihm konnten in gut 200 Metern Höhe immer noch mühelos und ohne Flügelschlag kreisen. Waren die auf Futtersuche – oder fühlten diese beiden Schönheiten etwas Ähnliches wie er selbst?

Beim Betrachten dünkte ihm unversehens, er sei so jung, als liege das ganze Leben noch vor ihm.

3

Zitta saß lesend im Garten. Sie hatte den Sound des Porsche gehört und ging ihm entgegen.

»Wie war’s?«, fragte sie freundlich, jedoch mit abgewandtem Blick. Er roch jetzt nach so etwas wie Maggiwürze und es gefiel ihr, als er kurz, aber fest ihre rechte Brust drückte.

Unterschwellig hatte sie befürchtet, dass er weit ausholen würde, so wie das in früheren Jahren oft der Fall gewesen war.

»War wieder weitgehend alleine. Schön.« Sein bärtiges Knittergesicht schien glatter als sonst und in den Sekunden der Umarmung war wieder jene frappierende Passung da, welche in glücklichen Momenten ein merkliches Völlegefühl in seinem Kundalini Chakra triggern konnte:

Seine momentane Müdigkeit war im Verlauf ihres sanften Ineinandergleitens und Fühlens und Riechens verschwunden. Ihre festen Brüste berührten seine Brustwarzen und er fühlte sich in ihr und sie ihn in sich und dann war für beide ununterscheidbar, ob sie sich oder den anderen spürten. Ihr taste schmeckte zunächst leicht salzig, und als er weiter ihren Schoß küssend ihre ungeteilte Hingabe sah, begann sie jenen unbeschreiblichen Duft zu entwickeln, welcher wohl die Jahrmillionen überdauert hatte.

4

Es waren solche Lichtbögen zur Welt (»highlights«), welche Xaviers Unternehmungslust am Leben gehalten hatten. Noch in ihren Armen liegend hatte sich das Panorama der Walliser Berge in ihm aufgebaut und er sah die ganze Runde der schönsten 4 000er, allen voran die leuchtende Pyramide des Weisshorns – massig hervorgehoben und doch im Schatten der unglaublichen Prominenz des Matterhorns, dessen Zmuttgrat wie der Rücken einer Sphinx die ganze Skulptur zu stützen schien.

Zitta war not amused, als Xavier ihr beim Aufstehen gestanden hatte, mit Richard die Pazifikseite von Vancouver Island im Seekajak versuchen zu wollen.

Es war weniger die Sorge, dass ihm etwas zustoßen könnte. Dazu hätte es einer genaueren Vorstellung bedurft, was eine solche Unternehmung mit sich zu bringen in der Lage wäre.

Nein … Zitta fühlte sofort jene Rätselhaftigkeit eines unerforschbaren Niemandslandes, welche sie seit ihren Kindheitstagen immer wieder in eine Empfindung nebelhafter Selbstunsicherheit versetzt hatte. Lange vor dem Einsetzen jeglicher Bewusstheit hatte sich diese dunkle Wolke als pränatale Irritation in ihr limbisches System eingebrannt.

»Ich will das nicht … «, hatte sie leise geseufzt und sie sah jene ferne Angst näher rücken, welche ihr die Mutter physiologisch durch die Nabelschnur übertragen hatte, ohne den Transfer verhindern zu können.

»Wir sind nichts Besonderes«, hatte die Mutter gesagt.

»Nichts Besonderes« … Die Großmutter hatte nach dem frühen Tod des Vaters im eben fertiggestellten Haus das Regiment übernommen und sowohl ihre Schwiegertochter als auch deren beide Töchter handfest dominiert.

Carla – die um drei Jahre ältere Schwester – hatte sich spätestens fünfjährig mit allen Mitteln gegen diese Herrschaft aufgelehnt und galt im Gegensatz zu Zitta als »Terrorkind«, dem nichts recht zu machen war. Jedes Geschenk war »bescheuert«, jeder Ausflug von Gezeter begleitet, jede noch so freundliche Regung der jüngeren Rivalin war bekämpfenswert.

Im Alter von sieben Jahren betete das Kind in seinem Bett – neben der Mutter liegend – darum, am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen zu müssen.

Zittas rasende Erythrophobie kommentierte die ressentimentgeladene Giftspritze unbarmherzig: »Die Tomatenzeit ist vorbei.«

Beim Kellerfest mit ein paar Teenies war die kleine Schwester ausgesperrt. »Zu bescheuert«, »zu blöd«, »nee … will ich nicht«.

Im Laufe ihrer Leidensgeschichte hatte das Mädchen gelernt, dass es nichts brachte, irgendetwas Besonderes sein oder auch nur anstreben zu wollen. Der Negativmodus ihrer sich entwickelnden Anorexie bestand vor allem aus einem höchst aggressiven und autoaggressiven NICHTWOLLEN!

Die Flucht aus den katastrophalen selbsterfüllenden Prophezeiungen gelang ihr mit haarsträubender Tollkühnheit:

Sie hatte alles hingeschmissen, hatte ihren allzu gutmütigen Ehemann verlassen und sich 1 000 Kilometer weiter südlich nach ein paar Dutzend sehr markanten Treffen auf Xavier eingelassen.

Xavier war aus der Sicht ihrer Welt »etwas Besonderes«. Es war seine Mischung aus Eigenwilligkeit und Zähigkeit, welche ihn für sie begehrenswert machte. Es war jedoch keinesfalls so, dass er eine besonders starke sexuelle Ausstrahlung gehabt hätte. Es war eher jene katalytische Prise seiner pathophilen Zuwendungen, welche sie zum Blühen gebracht hatte:

Sein Verstehen, seine Umarmungen, seine provozierenden Worte. Das Loch in seinem verschwitzten T-Shirt. Seine durchaus selbstkritisch kommentierten narzisstischen Glanzparaden.

Zitta genoss seine Hingabe beim Lecken:

Never-ending – so schien es: Unzählige glockenklare serielle Höhepunkte setzten ihrem NICHTWOLLEN ein lokales Ende.

5

Xavier hatte schon seit einigen Tagen auf eine Gelegenheit gewartet, ihr die Sache mit Vancouver Island unterzujubeln. In der Tat hatte er Richard bereits – wenn auch halbherzig – zugesagt und schon einige detaillierte logistische Schritte mit ihm erörtert, ohne dass sie über seine Absichten informiert gewesen wäre.

Er hatte gedacht, sie nach der Erfüllung ihres lange gehegten und jetzt erfüllten Wunsches leichter gewinnen zu können: Sie hatte trotz seiner Bedenken einen Appenzeller Welpen ins Haus gebracht, was ihm insbesondere wegen der grassierenden und lächerlich tugendhaft befolgten Leinenpflicht als aus der Zeit gefallen erschienen war.

Jetzt, nach dem gelungenen Flug, hatte er die unfaire Chuzpe gehabt, sie zu überrumpeln.

»Warum musst du das riskieren? Ausgerechnet mit diesem Richard, der unlängst im Mittelmeer am Versaufen war. Lässt mich hier hocken.«

Xavier schaute zu Boden.

Er hatte – wie schon so oft – eigentlich keine gesteigerte Lust, erneut seinen Arsch zu riskieren. Er war jetzt 65 Jahre alt und kannte die Angst vor dem Untergang, welche viele seiner Weggefährten nicht zu haben schienen.

In der Schlucht des Verdon hatte es ihm im Frühsommer 1987 um ein Haar das Licht ausgeblasen.

Auf der »Totenkopfstrecke« (ja – die heißt tatsächlich so) trieb die Strömung das Kajak trotz seiner heftigen Gegenwehr quer gegen einen im Hauptwasser liegenden und unterspülten Felsen und er spürte, wie sich das Heck des Bootes rückwärts nach hinten unten bewegte und dem glatten Sog des abtauchenden Wassers folgen wollte.

Xavier war damals schon erfahren genug: Es hatte keines Gedankens bedurft, um rasend all seine Kräfte dem unausweichlichen Untergang entgegenzustemmen.

Er hatte sein Paddel im Bruchteil einer Sekunde auf der dem Felsen abgewandten Seite steil in Position gebracht und erwischte links unten Bodenkontakt. Die Hände kämpften sich zum oberen Paddelblatt und es gelang ihm unter irrsinniger Anstrengung, den Klimmzug seines Lebens zu vollführen, um jene 50 Zentimeter ruhigerer Strömung zu erreichen, welche an dem Felsen vorbeizog.

»Richard meint, die Pazifikaußenseite sei machbar.«

»Ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören … « Zitta wandte sich ab und verschwand in der Küche jenes Einfamilienhäuschens, welches sie nach dem – aus ihrer Sicht – nicht ganz unwillkommenen Tod seiner Ehefrau bezogen hatte. Die langjährige Gefährtin war nach einer Darmkrebserkrankung elend gestorben und er hatte sie vor allem in seinen Träumen nie wirklich beerdigt.

»Machst ja sowieso, was du willst.« Und – laut genug, sodass es Xavier gerade noch hören konnte: »Diese alten Säcke kommen sich immer noch als Helden vor.«

»Ja, da ist was dran«, dachte es in ihm und er verkniff sich einen Kommentar. Im Moment beschäftigte ihn vorrangig ein unübersehbares Schamgefühl: Sein feiges Zögern, die Lebensgefährtin nicht schon viel früher in sein Vorhaben eingeweiht zu haben, erschien ihm unter anderem als Zeichen seiner eigenen Zweifel. Es war, als müsse er nicht nur Zitta, sondern auch sich selbst vor vollendete Tatsachen stellen, um seiner angstgetönten Unlust Herr zu werden.

Xavier war diese Form des Selbstbetrugs wohlbekannt:

Beim Zustieg zum Klettern, bei den Startvorbereitungen zum Gleitschirmfliegen, beim Einsetzen ins Wildwasser hatte er seinen Körper einfach wie automatisiert weiterbewegt, als gäbe es kein Entrinnen vor dem selbstinduzierten … (ja was denn?) Drang.

Zumindest bei anspruchsvollen Vorhaben waren ihm die freundlich gemeinten Wünsche, »viel Spaß« zu haben, völlig rätselhaft.

Den »Einskommaeinskandidaten«, den coolen Socken, den YouTube-Protagonisten von GoPro und Red Bull schien es anders zu ergehen. Alles war »voll geil«, alles war »epic«, »super«, »mega«.

Man war so oft wie möglich »stoked«.

Der Tod der Bergsteigerlegende Ueli Steck in der Nuptse- Flanke war ein hinzunehmendes Übel angesichts eines »großartigen und erfüllten Lebens«.

Xavier kannte die Abgründe seines Neides. Trotzdem war ihm diese hochstehende, glanzvolle und medial wirksame Szenerie der »pin in his ass«.

»Musst du dir’s immer noch beweisen?«

Zitta schaute ihn ausdruckslos von der Seite an. Sie kannte ihn nun schon seit ein paar Jahren und hatte weitgehend die Nase voll von seinen halbernst vorgetragenen Selbstzweifeln, die zu trösten erst recht eine Dienstbarkeit an seiner narzisstischen Bedürftigkeit zu werden drohte.

»Ja … muss ich. Sei froh, dass Du’s nicht musst.« Er war diesmal nicht in die Falle erbettelter Bestätigung getappt.

Noch beim Aussprechen seiner Replik streifte ihn stattdessen die Erinnerung an einen Traum, welcher ihm mit eidetischer Genauigkeit zugeflogen war.

Es war wieder bezeichnend: Da war – wie so oft in seinen Träumen – viel Wasser.

Er sah sich am Ufer eines sehr mächtigen Flusses stehen. Ein riesiger kahler und abgestorbener Baum ragte da 30–40 Meter in die Höhe und es ging darum, auf diesen Baum raufzukommen. Es war für einen Moment Winter und man musste ihn mit Skiern erklimmen.

Jetzt war da ein Pferd in den höchsten Astgabeln dabei, sich um 180 Grad umzudrehen, was äußerst schwierig zu sein schien, denn das Pferd war mit diesen Skiern an den Vorderhufen ausgestattet. Die mühsam angestrebte Balance wollte nicht gelingen und das Pferd entschloss sich zum Sprung in die Tiefe – hinein in den reißenden Fluss.

Das Pferd trieb jetzt mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbei. Kämpfte um sein Leben. Er stürzte sich ohne Zögern in das eiskalte brodelnde Wasser. »Muss retten, muss retten.« Er näherte sich dem treibenden Pferd sehr langsam. Da vorne … rechts – ein kleines Kehrwasser. Sie erreichten es! Stiegen triefend aus dem trüben Wasserloch … Weinend … Es war plötzlich Hugo, den er weinend umarmte, und Hugo weinte ebenfalls.

Zitta hörte der Schilderung seines Traumes aufmerksam zu. Sie setzte sich auf seinen Schoß und schwieg einige Zeit. Dann kam der interpretatorische Blattschuss:

»Das ist die Geschichte vom hohen Ross.«

Xavier hatte zunächst nicht verstanden. Schließlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.: Es war nicht nur sein Thema. Es war das Thema der gesamten Sport- und Politcom-munity, welche ihn vor allem in der medialen Welt der »Positivdenker« seit Jahren so unendlich ankotzte und im wahrsten Sinne mitnahm.

Man konnte es überall sehen: Wer ist der Superstar? Hier ist die Very Important Person? Was sagt HERR WICHTIG? Es war offenbar unvermeidbar, nicht selbst ein Teil dieses Panoptikums zu werden. Sich nicht selbst unentwegt ins virtuelle Ranking einzuordnen.

Ekelerregend vor allem, wenn die jahrhunderteweise in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden »Moralstürmer« und politischen Eiferer ihre egomane Schlichtheit zum summum bonum erklärt hatten.

»Hast du den Traum Hugo erzählt?« Xavier verneinte.

Hugo war einst sein Trauzeuge gewesen. Sie hatten miteinander studiert und Hugo hatte sich stets als überaus korrekter und integrer Leistungsträger erwiesen, welcher nicht nur mit Spitzenleistungen beim Bergsteigen im Karakorum aufwarten konnte, sondern auch für sein konsequentes ökologisches Engagement bekannt war.

Hugo hatte nie eine Gelegenheit versäumt, das Richtige zu tun.

Zur Zeit der sogenannten Coronamaßnahmen war er allerdings in eine peinliche Ambiguität geraten:

Als mehrfach geimpfter Spitzengleitschirmflieger, Demeterbauer, früherer Ministrant und mRNA-Freund hatte er in gutem Vertrauen auf die eigene Rechtschaffenheit einen Fliegerkumpel besuchen wollen, dessen Frau die Sache der Demeterbewegung – auch in ihrer Funktion als Tierärztin – in Reinformat vertrat.

Hugo stand da – an der Haustüre: »Hey – wie geht’s?« Von hinten trat mit hellem Blick die Scharfrichterin heran:

»Bist du geimpft?«

»Ja selbstverständlich«, war sich Hugo seiner Sache sicher.

Und sie: »Gentechnisch Veränderte kommen uns nicht ins Haus … Wiedersehen.«

Bammm! Ahh … wie hatte Xavier gelacht, als Hugo ihm einigermaßen empört diese Story erzählt hatte.

»Tja … «, dachte er später immer wieder … »Die Enthusiasten … sie scheuen die Sünde wider den heiligen Geist keine Sekunde lang.«

Das war nicht neu in der Geschichte der Homo sapiense : Er dachte an die Schreckgespenster von 1793–94 und die Terrorherrschaft des »Wohlfahrtsausschusses«, welcher im Dienste von »Freiheit«, »Gerechtigkeit« und moderner »Aufklärung« mindestens 40 000 Franzosen den Tod gebracht hatte. DANTON und ROBESPIERRE – die moralischen Perfektionisten, die Himmelsstürmer des Guten – waren unbeirrt geblieben, bis auch ihre Köpfe vom Rest der lästigen Leiblichkeit getrennt wurden.

6

Zitta hatte sich eine halbe Stunde ins Bett gelegt und vor sich hingedöst.

Xaviers Traum beschäftigte sie ebenso untergründig wie hintergründig. Zwar hatten ihre Schulter-Nacken-Schmerzen sowie eine leichte Übelkeit kurzfristig zugenommen. Dennoch empfand sie die geschilderten Tränen der beiden Männer als bewegend und echt. Das Bild der hingebungsvollen Umarmung hatte ihr letztlich eine gewisse Erleichterung verschafft.

Ihr war klar, dass eine solche Echtheit in der gelebten Realität dieser »Holzköpfe« kaum zu erwarten war. Trotzdem fühlte sie Xaviers halbbewussten Wunsch, jenseits des egozentrischen Rivalisierens mehr freundschaftliche Bodenhaftung zu finden und dies eben auch mit einer männlichen Figur teilen zu können.

Sie begann sich vorzunehmen, die Vancouver-Geschichte nicht einfach als verrückt abzutun.

7

Es war unglaublich, wenn auch nicht gänzlich überraschend: Die überall in der westlichen Welt und insbesondere in Deutschland ausgerufene »Zeitenwende« hatte plötzlich Fahrt aufgenommen – wie ein 30 Tonnen schwerer Lkw, dem am Brennerpass die Bremsen versagten.

Das war schwer auszublenden. Es war, als könne der ungeheure Turmbau zu Babel der modernen Menschheit mit konstruktivistischen und gnostizistischen Ladenhütern vor dem Untergang bewahrt werden. »Positiv denken« – die schlichteste aller Psychologien war zum medialen Mainstream mutiert. Der undurchdringlichen Komplexität der Postmoderne sollte mit halbgaren Gedankenfetzen von halbgaren Moralisten die Stirn geboten werden. Größenwahnsinnig übertreibend mit der sprachlichen Dekonstruktion der Vorstellungen von Realität, wie sie sich in den Jahrtausenden entwickelt hatten.

Plötzlich sollte es in den überhitzten Gehirnen des wärmer werdenden Holozäns 72 Geschlechter geben. Die 1 000 wunderbaren Spielarten der Sexualität waren zu einem Prinzipienstreit im Dienste der Gerechtigkeit degeneriert.

Ohh … diese Sozialphilosophen mit ihrer Deutungshoheit … Was hätten Schrödinger, Dirac oder Wolfgang Pauli vergleichsweise an Aufmerksamkeit verdient …

Einstein hatte selbst noch angegeben, welcher falsifizierenden Beobachtungen es bedürfe, um seine Relativitätstheorie widerlegen zu können.

Xavier hatte mit Richard telefoniert. Eines jener schwer zu arrangierenden Telefonate, welche dem vielbeschäftigten Psychoanalytiker und Professor für angewandte Geistes- und Sozialwissenschaften abzuringen waren.

Richard war offenbar in größter Vorfreude. Der Plan, aus dem Quatsino Sound heraus Cape Scott erreichen und umrunden zu wollen, ließ etwas Großes erwarten. Im Seekajak in der Stille dieser unendlichen Weite. Die kilometerlangen Abschnitte mit einer brandungsumtosten Steilküste. Die eingestreuten Biwakplätze im westlichen Abendlicht. Die 75 Kilometer des West Coast Trails, welcher sich hinter dem Saum der riesigen Sitkafichten der Küste entlangzog.

Xavier hatte sich im Vorfeld belesen; trotzdem konnte er sich in seiner leicht gereizten Stimmung nur mit Mühe auf die Details der anstehenden Planung konzentrieren: