Over My Dead Body - Maz Evans - E-Book
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Over My Dead Body E-Book

Maz Evans

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Beschreibung

Nur über meine Leiche | britischer Kriminalroman mit Witz und Charme Die geniale Autorin Maz Evans schreibt exzentrisch, witzig und charmant über eine Frau, die ihren eigenen Tod aufklären muss! »Hallo? Können Sie mich hören? Wahrscheinlich nicht. Ich bin Dr. Miriam Price ... und ich bin tot.« Dr. Miriam Price kann ihr Pech nicht fassen: Als die etwas unwirsche Ärztin aufwacht, muss sie nämlich entsetzt feststellen, dass sie tot ist! Irrtümlicherweise scheinen alle davon überzeugt zu sein, dass Miriam sich das Leben genommen hat. Dabei weiß sie ganz genau, dass sie ermordet wurde. Um nicht für ein halbes Jahrhundert in die langweilige Vorhölle zu kommen, muss Miriam irgendwie beweisen, dass sie getötet wurde. Gar nicht so einfach, wenn man ein Geist ist! Und ausgerechnet ihre Nachbarin Winnie, mit der sie eine leidenschaftliche Feindschaft pflegt, ist die Einzige, die ihr helfen kann … Perfekt für Fans von »How to kill your family« und »Achtsam morden«. »Urkomisch!« The Guardian »Eine ganz andere Art von Krimi. Warm, abgedreht und witzig. Ich habe ihn geliebt!« SALLY PAGE »Zum Totlachen komisch, bewegend und lebensbejahend. Ich konnte dieses fabelhafte Buch nicht aus der Hand legen.« JANICE HALLETT »Klug, weise und richtig witzig.« LUCY MANGAN »Manchmal kommt ein Buch daher, das einen daran erinnert, warum man sich in das Lesen verliebt hat. Fantasievoll, witzig und originell ... eine absolute Freude!« WOMAN & HOME »Dieses Buch ist Der Donnerstagsmordclub ... in verkatert!« TAKE A BEAK Die perfekte Spannungslektüre mit dem besonderen britischen Charme – für den Urlaub, fürs Sofa oder als Geschenk! »So bedauerlich es sein mag, dass ich meinen Nächsten und Liebsten Unannehmlichkeiten bereiten muss – es war auch für mich keine gute Woche, um das mal zu erwähnen. Was mich daran erinnert, dass ich mich vorstellen sollte. Hallo. Ich bin Dr. Miriam Price. Schön, dass wir uns beinahe noch begegnet wären.«

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

© Maz Evans 2023

Titel der englischen Originalausgabe:

»Over My Dead Body«, Headline Publishing Group Limited, London 2023

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Caroline Young

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Redaktion: Beatrice Renauer

Aus dem Englischen von Helmut Krausser und Beatrice Renauer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

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Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Lisa T.

Danke, dass du an dieses Buch geglaubt hast

– und an dessen Autorin –,

als ich es noch nicht tat.

Von den Tantiemen bekommst du trotzdem nichts ab.

Gimme Five, Süße.

1

Sag niemals sorry.

Ein simples Mantra, das mir gute Dienste erwiesen hat. Hat alles, was man von einem philosophischen Leitsatz erwartet: Er ist griffig, finanziell machbar und klingt auch auf Latein gut:

Numquam deprecaris.

Meine Mutter glaubte, die Neigung der Frauen, sich fortwährend zu entschuldigen, würde uns unserer Macht berauben. »Eine Entschuldigung ist fantasielos und nichtssagend«, betonte sie. »Wenn dir wirklich was am Herzen liegt, kannst du einen Präsentkorb schicken.«

Ich tendiere dazu, ihr beizupflichten. Und in vierundvierzig Jahren habe ich mich nie wirklich gezwungen gefühlt, eines von beiden zu tun.

Aber diese Woche wollte jeder eine Entschuldigung von mir.

Am Montag bin ich nicht erschienen, um auf die Kinder meines Bruders aufzupassen, damit er zu seiner Astralprojektionsmeditation gehen konnte. Christian war so wütend, wie es ihm sein selbst auferlegtes Zen je erlauben würde. Warte ein Weilchen, Bruderherz, dann guck dir an, welche außerkörperliche Erfahrung ich diese Woche auf Lager habe.

Am Dienstag erhielt meine ältere Nachbarin einen anonymen Umschlag mit Glitzer Ultrafein, der auf ihrem Flurteppich explodierte. Wohin ist es mit der Welt gekommen? Verdammte Royal Mail – ich habe den Umschlag letzten Donnerstag (!) zur Post gebracht! Dieses Zeug geht nicht einfach wieder mit dem Staubsauger raus, und das hast du verdient, Winnie Campbell. Eher erlebt die Hölle einen frostigen Tag, bevor du von mir eine Entschuldigung bekommst. Und laut Wettervorhersage bleibt es mollig warm.

Am Mittwoch bin ich nicht zu einem verabredeten Drink mit meiner besten (weil einzig verbliebenen) Freundin Jane erschienen. Das letzte Mal, als wir uns trafen, haben wir gestritten, aber sie würde deswegen nie eine Entschuldigung erwarten – wir kennen uns seit über dreißig Jahren, sie weiß, wie der Hase läuft. Jane saß eine Stunde lang da, nuckelte an einem einzigen Prosecco, bevor sie nach Hause ging. Sie ist es gewohnt, von mir versetzt zu werden. Nun, ich kann dir ehrlich versprechen, Janey, dass es nie wieder passieren wird.

Am ehesten sollte ich mich wohl bei meinem Mann entschuldigen, Nav. Eigentlich wäre das an den meisten Tagen der Fall. Heute aber ganz besonders. Es ist jetzt Samstag, und da kommt er, bahnt sich einen Weg entlang an den (unschmeichelhaft wenigen) Kameras, die man meinetwegen aufgestellt hat. Nav hat einen schlechten Tag, obwohl er verstörende Telefonanrufe gewöhnt ist.

Normalerweise bekommt er die von mir.

Nav ignoriert den Journalisten, der ihn um einen Kommentar bittet. Sie haben wahrscheinlich die Nachrichten gesehen? Dr. Miriam Price – die brillante, leider nicht ganz unproblematische Leiterin der Notaufnahme – wurde gestern als vermisst gemeldet.

Den Gedanken an eine Entführung verwarf man rasch. Jeder wusste, dass ein mental gesunder Entführer sie voller Reue innerhalb einer Stunde zurückgebracht hätte. Dr. Price ist als Drachen berüchtigt. Wie die Besten von uns.

Diskutiert wurde, ob sie, ohne sich abzumelden, auf einem Saufgelage versackt sein könnte. Wäre nicht das erste Mal gewesen. Doch dieses Mal nicht. Die Journalisten werden keine simple Erklärung bekommen, die Öffentlichkeit kein Happy End. Dabei wartet auf alle eine verdammt gute Geschichte.

Ich bin einer von nur zwei Menschen, die genau wissen, wo sich Dr. Miriam Price aufgehalten hat, seit sie vor acht Tagen zuletzt gesehen wurde.

Nämlich hier.

In meiner Wohnung.

Vom Fenster aus beobachte ich, wie Nav das Polizeiabsperrband zerreißt und die Vordertür des Wohnblocks aufstemmt. Ich kann hören, wie der Concierge ihn auffordert, sich ins Besucherbuch einzutragen. Ich weiß, dass Nav kurz zögert, darüber nachdenkt. Er legt grundsätzlich Wert darauf, stets das Richtige zu tun – einer der vielen Gründe, warum unsere Ehe nie wirklich einen Sinn ergeben hat.

Nein, mein Mann prescht geradewegs die Treppe hinauf zur Nummer 7, der Wohnung, die ihm seit zwanzig Jahren vertraut ist. Ein Polizeibeamter versucht noch, ihn zurückzuhalten, aber Nav setzt sich durch. So sehr kann ich ihn nicht mehr beunruhigt haben, seit … seit … meine Güte … es muss etliche Tage her sein. Er stürmt in die Wohnung, ignoriert die Bitten all derer, die schon drinnen sind, sich lieber rauszuhalten. Denn die haben Masken, er hat keine, was ihm sofort leidtut – es ist ein warmer April, und selbst mein eigener Geruchssinn fühlt sich heftigst beleidigt.

Nav taumelt durch das Apartment, die Panik verwirrt seinen inneren Kompass, verwandelt die Szene in fremdes Terrain. Schließlich findet er doch den Weg zum vorderen Zimmer. Und bleibt stehen.

Dort, ausgestreckt auf dem Boden, liegt die Leiche von Miriam Price.

Seine Knie geben nach. Ein Polizist fängt ihn auf. Eine für meinen Mann untypisch dramatische Geste – ich nehm es als Kompliment.

Hastig wird ein Laken über das aufgedunsene Gesicht der Leiche geworfen.

Ich habe sie in den letzten Tagen oft betrachtet, und es fühlt sich eigenartig an, zu wissen, dass ich sie von nun an nie mehr wiedersehen werde.

Beinahe klischeehaft liegen Utensilien im Raum herum, mit denen man etwas Fatales aufgrund einer Überdosis inszenieren würde – leere Wodkaflaschen, weggeworfene Pillendöschen, unverständliche Notizzettel. Aber das ist alles nur Show. Miriam Price hat sich nicht umgebracht.

Sie wurde ermordet.

Ich sollte es wissen.

Ich war hier.

Nav wird Tee angeboten, doch er wird was viel Stärkeres brauchen. Könnte ich auch vertragen. Es ist über eine Woche her, seit ich meinen letzten Drink hatte. Und zum ersten Mal war dieser Drink wirklich mein letzter.

Hältst du durch, Nav? Wird nicht leicht. Ich hatte zu kämpfen, und normalerweise bin ich die toughste Person im Raum. Das eine Mal, als ich über den Tisch gezogen wurde, hat uns witzigerweise hierhergebracht. In eine Wohnung am Meer im verschlafenen Westmouth. Wo ich nun beobachte, wie ein mir nahestehender Körper in einen Leichensack gepackt wird. Ein Körper, den ich nie sonderlich respektiert habe. Ein Körper, den ich nie wirklich mochte. Dessen Verlust mich stärker trifft, als ich es zu Lebzeiten für möglich gehalten hätte.

Mein Körper.

So bedauerlich es sein mag, dass ich meinen Nächsten und Liebsten Unannehmlichkeiten bereiten muss – es war auch für mich keine gute Woche, um das mal zu erwähnen.

Numquam deprecaris.

Was mich daran erinnert, dass ich mich vorstellen sollte.

Hallo.

Ich bin Dr. Miriam Price.

Schön, dass wir uns beinahe noch begegnet wären.

2

Heute ist Montag, der 14. September, der Tag meiner Trauerfeier. Seit Entdeckung meiner Leiche sind fast fünf Monate vergangen, was den heutigen Tag zu einem Höhepunkt in meinem zusammengeschrumpften sozialen Kalender macht. Seit April bin ich nur noch ratlos und frustriert umhergeirrt, ohne Ahnung von Sinn und Zweck meines Nachlebens.

Der Tod, so scheint es, gleicht einem ewigen Besuch bei IKEA. Wenn es einen Himmel gibt, hab ich’s wohl nicht hineingeschafft. Und gibt es eine Hölle, scheine ich sie noch nicht verlassen zu haben.

Da ich auf dem Höhepunkt des Lockdowns starb, durften nur enge Familienangehörige zur Bestattung kommen. Nur Nav und Christian waren an jenem Tag im Krematorium anwesend, wobei beide meinen einzigen Wunsch bezüglich der Beseitigung meiner sterblichen Überreste geflissentlich ignoriert haben. Ja, es waren schwierige Zeiten. Aber ich habe immer noch das Gefühl, dass man sich etwas mehr Mühe hätte geben können, einen Dudelsackspieler zu finden, der »Shaddap You Face« draufhat.

Bisher ist das Jahr 2020 unerbittlich düster gewesen. Covid. Trump. Selbst gebackener Sauerteig. Ich wurde unbestreitbar zur Frau mittleren Alters. Dann ermordet. Ach ja – 2020: das Jahr, in dem ich zweimal gestorben bin.

Die Lebensmitte schleicht sich an und packt einen wie ein Kollege auf einer Büroparty in den Neunzigern. Mich erwischte es im Januar bei einem Gebärmutterhalsscreening – ein Begriff, der übrigens immer an Open-Air-Kino erinnert. Beim letzten Mal wurde ich noch gefragt, ob die Möglichkeit besteht, dass ich schwanger sein könnte. Dieses Mal wurde ich gefragt, ob ich in den Wechseljahren sei. Bumm! Das war’s! Meine Jugend – ausgelöscht mit einem Klick auf der Tastatur. Und dieser ungeschickte Arzt-Azubi suchte nach dem Hals meiner Gebärmutter, als würde er eine fehlende Socke im Wäschetrockner suchen.

Mit dem Tod verhielt es sich ähnlich. In der einen Minute war ich so unverzichtbar wie ein Korkenzieher, in der nächsten – weg! Verschwunden! Puff! Nichts! Ähnlich wie eine Frau in der Menopause. Anfangs habe ich die Anonymität genossen, mich an Gesprächen erfreut, von denen niemand wusste, dass ich sie mithören konnte, und mich an Orten aufgehalten, an denen mich niemand erwartete. Aber im Laufe der Wochen langweilte ich mich bis zur Psychose. Es wurde so schlimm, ich besuchte sogar die Tate Modern! Meine Interaktionen mit anderen Menschen reichten, als ich noch am Leben war, von unerquicklich bis unerträglich. Aber wenigstens haben sie mir die Zeit vertrieben.

Ich gehe die Stufen zur St. John’s Church hinauf und schlüpfe durch die halb geöffnete Tür. Von allen Unannehmlichkeiten, die die letzten Monate mit sich gebracht haben, ist die Tatsache, dass ich immer noch eine offene Tür brauche, um einen Raum zu betreten oder zu verlassen, eine der ärgerlichsten. Ich hatte erwartet, dass mich niemand sehen, hören oder berühren würde – schließlich bin ich eine Frau in den Vierzigern. Aber auch mein ätherisches Selbst kommt nicht gegen feste Materie an – eine Freude, die ich schon früh entdecken durfte, gefangen in der düsteren Enge eines nächtlichen Tesco-Marktes, eine echt schwarze Stunde meiner Seele.

Ich betrete die St. John’s, erschaudere unwillkürlich. In Kirchen ist mir nie was Gutes widerfahren. Ich wurde getauft, war eine Braut, hab meinen besten Freund Dan beerdigt, und jetzt – komme ich als Eingeäscherte. Wenigstens freu ich mich darauf, die Legionen von Trauernden zu sehen. Als Dan letztes Jahr starb, gab es nur Stehplätze. Meine Mutter hat immer darauf bestanden, dass das, was du erreicht hast, dich überdauern wird.

»So funktioniert unsere Spezies«, predigte sie. »Tu was dafür!«

Ich habe es auf jeden Fall zu was gebracht, selbst in meinem arg verkürzten Leben. So ich es objektiv von mir selbst sagen kann, war ich eine außergewöhnliche Ärztin. Allein in der näheren Umgebung habe ich Hunderte von Leben gerettet, von denen viele es fast schon hinter sich hatten.

Zweifelsohne wird der Laden bis unter die Decke mit dankbaren Patienten und ihren Familien gefüllt sein.

Oh.

Meine Mutter sagte auch, dass Dankbarkeit ein kurzes Gedächtnis hat.

Höchstens ein Dutzend Menschen haben sich in der überschaubaren Pracht des größten christlichen Gotteshauses ringsum versammelt. Selbst meine Vorlesungsreihe für Medizinstudierende am UCL, Undoctored, hat mehr Publikum angezogen – sogar nachdem die Freud’schen Philister vom Pi Magazine in ihrer Ein-Sterne-Rezension erklärt hatten, Price würde »… über den natürlichen Charme einer Sprechstundenhilfe verfügen«.

Sehr optimistisch hat man ein Kondolenzbuch ausgelegt. Ehrlich gesagt, hätte bei diesem Andrang auch ein querformatiger Post-it-Zettel gereicht. Ich sehe mir die einzige Seite mit Eintragungen an. Ein paar meiner Medizinstudentinnen haben pflichtbewusst unterschrieben.

(Du warst eine Inspiration – Lexie M; Du hast mein Leben verändert – Lottie P; Deine Arbeit lebt weiter – Maya S)

Ich konnte mir die Namen meiner Studenten nie merken – es gab so viele davon, und ich hatte mächtig zu tun. Zahlen, fand ich, funktionierten genauso. Somit beobachte ich gerade, wie sich Nr. 2, Nr. 1 und Nr. 3 miteinander unterhalten.

In weitem, von einem Gericht verfügten Mindestabstand zu diesem Trio hockt Paul.

Er war nie ein richtiger Freund, war mal mein Kollege, mal mein Mieter, mal mein persönlicher Apotheker. Das Kondolenzbuch hat er mit seinem üblichen antiquierten Schwachsinn vollgemüllt

Unsere Gespräche – und deine Beine – hab ich geliebt. Ruhe in Frieden, Mim – dein Power-Paul …

Er war immer schon ein Widerling – ich habe ihn nur ab und an toleriert, wenn er von Nutzen war. Andere zeigen sich zur Zeit weniger nachsichtig, momentan ist er vom Westmouth General suspendiert, gegen ihn läuft ein Verfahren wegen sexueller Belästigung, angestrengt übrigens von mindestens einer jener durchnummerierten Medizinstudentinnen, die gerade am anderen Ende der Kirche sitzen.

Im Rückraum entdecke ich jemanden, der mich schaudern macht. Meine böse Nachbarin Winnie lauert dort und starrt mit feindseligen Augen auf die Stelle, an der ich gerade stehe. Selbst jetzt sieht sie unangemessen genervt drein, wie damals, als ich ihr rohe Garnelen in die Dachrinne legte.

Ich strecke ihr die Zunge raus, dieser Xanthippe. Prompt, als würde sie drauf reagieren, rollt sie mit den Augen – diese Frau ist eine unverbesserliche Hexe.

Inzwischen haben die hochkarätigen unter den Trauergästen ihre Plätze eingenommen. Meine Eltern sind beide tot, was ihnen viel emotionale Zermürbung erspart, die Grausamkeit, die es bedeutet, ein eigenes Kind zu überleben. Nav sitzt ordnungsgemäß in der ersten Reihe, neben ihm Jane. Sie haben sich ihre privilegierten Plätze verdient. Wir sind alle seit unserer Kindheit befreundet, und sie sehen richtig erschüttert aus – eine gute Performance, von beiden. Jane schluchzt leise, und Nav legt ihr unbeholfen eine Hand auf den Rücken. Sie bricht neben ihm beinahe zusammen, er sieht verlegen drein. Die Beerdigung seiner Frau scheint ihm kein passender Ort zu sein für die öffentliche Zurschaustellung ununterdrückter Gefühle. Den Ort, an dem ihm das möglich wäre, muss Nav erst noch finden.

Angestrengt starrt er auf das Foto von mir, das auf einer Staffelei neben meiner Urne steht. Ein ganz anständiger Schnappschuss von vor etwa acht Jahren. Er zeigt meine damals besten Seiten: zerzaustes schwarzes Haar, große blaue Manga-Puppenaugen, Lippen, die die Sünde versprechen, und einen Körper, der in Erinnerung bleibt. Ich war ziemlich süß. Nicht, dass ich das zu jener Zeit von mir gedacht hätte. Frauen lernen sich immer nur rückwirkend zu schätzen.

Mein Bruder Christian betritt mit seinem Gatten und den Kindern lautstark die Kirche. Sein Stiefsohn Jake stürmt wie ein Wirbelsturm herein, bewegt seinen neun Jahre alten Hintern geradewegs den Gang hinauf und führt vor meiner Asche sofort ein albernes Tänzchen auf. Er ist sehr lustig – und er mochte mich, wir haben immer gelacht. Ich werde es vermissen, mit dem kleinen Kerl rumzuhängen.

»Jake!«, zischt Christian.

»Lass ihn, ihm geht es gut«, flüstert sein anderer Vater Neil, der die entsetzten Blicke der kleinen Gemeinde nicht bemerken will.

Viele Leute sind schnell angepisst, was das Verhalten meines Neffen angeht. Und sie haben recht – er ist eine absolute Nervensäge. Dennoch verdammt lustig. Christian läuft herbei, schnappt sich Jake und grinst die kleine Gemeinde beschwichtigend an, bevor er seinen Stiefsohn in die Kirchenbank drängt. Dessen unpassendes Verhalten wird von Neil sofort mit einem Kinder-Überraschungsei belohnt.

»Warum gibst du ihm das?«, flüstert Christian. »All der unraffinierte Zucker …«

»Der Weg des geringsten Widerstandes«, knurrt Neil.

»Eher eine Autobahn«, seufzt Christian.

Chris und Neil wechseln noch ein paar leise Worte. Geht es um Jake, verfallen sie oft ins Flüstern. Manchmal auch ins Gegenteil.

Das Leben meines Bruders ist irgendwie nie ganz zum Abheben freigegeben worden. Ich bin mir nicht sicher, warum. Chris war in der Schule klug genug, aber als Teenager rutschte ihm alles weg, er musste sein Abi wiederholen, dann brach er sein Jurastudium ab, nachdem er es endlich auf die Uni geschafft hatte. Irgendwann schlug er sich ganz redlich mit Wohltätigkeitsarbeit in London durch, bevor er vor sieben Jahren diesen Mit-irgendwas-in-der-Technik-gut-verdienenden Neil geheiratet hat. Im letzten Jahr hat Chris unbegreiflicherweise seinen Job gekündigt und ist zurück nach Westmouth gezogen, wo er sich nun als Stay-at-home-Daddy um die Bälger kümmert – und ich muss sagen, er ist ein ausgezeichneter Vater.

Chris und Neil versuchen gerade, die Zwillinge in ihren Buggys unterzubringen. Sehr zum Leidwesen meines Bruders habe ich sie immer »Ding 1« und »Ding 2« genannt. Ich kann mir Namen nicht gut merken, vor allem nicht, wenn es sich um irgendeinen Navajo-Unsinn handelt. Yanaha ist das Mädchen, das gerade in ihrem Kinderwagen sitzt und eine Vollkornreiswaffel mampft. Offenbar bedeutet ihr Name »mutig«. Das ist auch gut so. Die arme Kleine muss irgendwann mit diesem Namen in der Westmouth Primary bestehen, deren lateinisches Motto in etwa »Everyone’s Called Kevin« bedeutet.

Ihr Brüderchen Atsi (so viel wie »Adler«) taucht seine Karotte in Hummus-Pampe. Auf der Namensgebungszeremonie der beiden sagte ich Chris nach ein paar Gläsern Champagner, dass »Atsi« wie eine Aufsichtsbehörde für Schadensregulierer klingen würde. Sofort wurde mir der Titel »Guiding Parent« entzogen, ebenso die symbolische »Flamme des Wachstums« (eine Wilko-Kerze), die ich eben erst zu hüten versprochen hatte.

Während Jake als Dreingabe mit Neil in die Beziehung kam, wurden die Zwillinge von einer Leihmutter ausgetragen, hergestellt aus dem Samencocktail der Jungs und einigen Eizellen, die sie im Internet erworben hatten, bei einer Art Eierstock-Aldi, sozusagen. Zwei Embryonen pflanzten sich erfolgreich ein – und voilà! Eine neue Familie war geboren. Die Medizin ermöglicht, was bestimmte religiöse Kreise und ein Großteil der Rechten nicht zulassen wollen. Das ist einer der vielen Gründe, warum ich sie liebe. Die Medizin.

»O Gott – Jake!«, versucht Christian zu flüstern.

Beide starren auf den Jungen, der aus der Kirchenbank geflohen ist und eine Expedition an der Außenseite der Kanzel unternimmt.

»Papa! Daddy!«, ruft er. »Ich wette mit euch um fünfzig Pence, dass ich über diese Wanne klettern kann. Schaut mal …«

Gott segne dich, Jake, ich nehme deine Wette an. Langsam musst du anfangen, was für deine Kaution zurückzulegen.

»Jake!«, zischt Chris erneut und drängt sich an Neil vorbei. »Runter! Runter! Sofort!«

Alle Köpfe drehen sich zu Chris. Er muss inzwischen wie ein Tennisspieler in Wimbledon daran gewöhnt sein, dass die Blicke auf ihn schwenken.

»Ich kann es schaffen, ich schwöre es!«, beharrt Jake und macht sich bereit für seinen Sprung. Das muss man dem Jungen lassen, er ist ein tolles Warm-up für die Show hier.

»Zähl mich runter! Drei, zwei, eins …«

Die sanfte Hand des Vikars erreicht Jake, bevor das meinem Bruder gelingt.

»Ich glaube, wir sollten deiner Tante etwas Ruhe gönnen«, sagt der Vikar ruhig und hilft Jake mit einem Lächeln wieder auf den Boden. »Sie hat einen großen Tag vor sich.«

Mach dir da mal keinen Kopf, Reverend. Seit man vor fünf Monaten meine sterblichen Überreste auf dem Gemeindegrill getoastet hat, war mein Terminkalender ziemlich leer.

Ich höre, wie die Tür noch einmal aufgeht. Mal sehen, wer sich noch die Mühe gemacht hat, aufzutauchen …

O mein Gott.

Das ist er.

Na endlich.

Er hat mich gefunden.

3

Seit Monaten habe ich wenig gefühlt. Der Tod hat die meisten meiner fünf Sinne abgestumpft.

Aber einen sechsten hat er geweckt.

Diejenigen, die von der Liebe verwöhnt wurden, sind sich oft nicht bewusst, dass es möglich sein kann, durchs Leben zu schlittern, ohne sie jemals wirklich zu erfahren. Man kann alles gewesen sein – Tochter, Schwester, Ehefrau, Freundin –, und doch ist es möglich, nie diese alles verzehrende, giftige Mischung aus Angst und Euphorie gespürt zu haben. Dreiundvierzig Jahre lang habe ich ohne sie gelebt.

Dann kam Tom.

Ich gehe auf ihn zu. Vielleicht kann er mich spüren, so wie ich ihn spüre, so wie wir einander immer gespürt haben, es muss doch über die Belanglosigkeiten des irdischen Fleisches hinaus etwas geben …

Aber er latscht direkt durch mich hindurch.

Schon wieder.

Mich schaudert, als ich sehe, wie mein Lover sich in einem schattigen Winkel versteckt, wo ihn niemand entdecken kann. So war es ja immer bei uns.

Der Vikar blickt auf die erste Reihe.

»Sollen wir beginnen?«, sagt er sanft und ignoriert höflich die frustrierende Überschaubarkeit der Trauergemeinde.

Nav und Jane starren ihn ausdruckslos an. Sie trauern.

»Ja«, keucht mein Bruder unter Tränen. Er ist ein Wrack. Kein Wunder, der arme Kerl. Ich bin das dritte seiner einzigen drei Familienmitglieder, die er alle vor der Zeit verloren hat. Wenn ein Erwachsener stirbt, gilt das größte Mitgefühl der Hinterbliebenen in der Regel dem Partner. Aber, um es mal ganz offen zu sagen: Partner sind die einzigen Angehörigen, für die der Verstorbene einigermaßen ersetzbar ist. Ersatz kann beschafft werden. Bei Kindern, Geschwistern oder Eltern ist das weniger der Fall. Und Chris ist von zwei dieser Verlustmöglichkeiten betroffen.

Partner werden Witwer, Partnerinnen Witwen. Kinder werden Waisen. Gibt es überhaupt einen Namen für jemanden, der seine Schwester verloren hat?

Jake greift in seine Tasche und gibt meinem Bruder ein mindestens einmal gebrauchtes Taschentuch.

»Sei nicht traurig, Dad«, sagt Jake.

»Danke, Schätzchen«, schnieft Christian und nimmt den zerknüllten Lappen an.

»Tante Miriams Seele ist dort, wo sie nach ihrem persönlichen Glauben am besten aufgehoben ist«, plappert Jake, während Neil Christians Hand ergreift. »Das hast du mir gesagt. Sie ist an einem besseren Ort.«

Darfst noch mal raten, Kleiner. Elegant klingt der Spruch aber schon. Gut gemacht, Jakey!

»Warum?« Christian schluchzt. »Miriam … Warum hast du das getan …?«

Ich wünschte, ich könnte dir helfen, Chris.

Aber ich habe gar nichts getan, weder mit Absicht noch sonst wie.

So viel muss ich meinem Mörder lassen – er (oder sie) hat es geschickt angestellt. Ich war viel zu besoffen, um mitzukriegen, was vor sich ging, und das Überdosis-Tableau scheint die Behörden überzeugt zu haben. In den Tagen nach der Entdeckung meiner Leiche wurde ich Zeuge, wie die Polizei routiniert ein paar Leute befragt hat. Alle bestätigten bereitwillig deren Verdacht, ich sei eine leistungsfähige Trinkerin gewesen. Jeder hatte eine Meinung, einen flapsigen Spruch.

Winnie sagte ihnen, ich sei »besessen« gewesen – und das von der Frau, die mit Unkrautvernichter »Beelzebub« auf meinen Rasen gesprüht hat! Paul sagte, ich war »pflegeintensiv« (das ist ein Lamborghini auch, Arschloch). Sogar Medizinstudentin Nr. 1 diagnostizierte mich als »depressiv«. Auf welcher Grundlage, Liebes? Den drei Anläufen zur Abiturprüfung, die du auf der Chance of Pregnancy High gebraucht hast? Die Wahrheit ist: Zu glauben, ich hätte mich umgebracht, machte es für alle Beteiligten einfacher.

Mein Mörder hätte sogar mich beinahe überzeugt – als ich tot aufgewacht bin, war das auch mein erster Gedanke. Aber etwas Entscheidendes wurde übersehen. Die Notiz. Ein paar gekritzelte Zeichen auf der Lasche einer Dim-Sum-Box, Fast-Food-Lieferung vom Asiaten.

I o u

I owe you? Ja, das ist meine Handschrift. Doch so was würde ich nie sagen – ich bin und war niemandem etwas schuldig. Außerdem käme das einer Entschuldigung viel zu nahe.

Numquam deprecaris.

Aber wer, in aller Welt, hätte mich umbringen wollen?

Der Gottesdienst beginnt. Mit schwachbrüstig gesummten Kirchenliedern, ein paar halbherzig mitgesprochenen Gebeten und der Bibellesung, durch die sich Christian tapfer hindurchrotzt. Jane schnieft laut, mein Schwager Neil sitzt still da, hält Jake so fest an sich gepresst, dass er ihn stillen könnte, während Chris den fünfzehn Monate alten Zwillingen zuflüstert, dass dies nur eine Variante religiösen Glaubens ist und es noch andere nicht existierende Götter gibt.

Schließlich wendet sich der Pfarrer mit einem Lächeln an die Trauergäste.

»Wir empfehlen Miriam Rebecca Price der Barmherzigkeit Gottes. Das Licht, das sie aussandte, wird für immer leuchten. Und so lade ich jeden ein, mit uns seine besonderen Erinnerungen an seine spezielle Miriam zu teilen.«

Er tritt zur Seite. Seien Sie gesegnet, Rev, aber von diesem Häuflein werden Sie nichts Erbauliches erfahren. Ich habe nicht viele Erinnerungen hinterlassen, die man in einem religiösen Rahmen teilen könnte …

»Hier, ich!«, kommt eine dünne, doch enthusiastische Stimme. Es ist Jake.

»Ähmm, vielleicht ist das nicht so gut …«, meint Neil und drückt seinen Sohn noch fester an sich.

»Ich denke, es kann nicht schaden, wenn man ihm erlaubt, sich selbst auszudrücken«, sagt Christian und befreit Jake aus dem Klammergriff seines Gatten. »Mach hin, Junge! Wir würden gerne hören, was du zu sagen hast.«

»Deine Entscheidung«, seufzt Neil, als Jake fröhlich den Gang hinaufhüpft, um sich neben den lächelnden Pfarrer zu stellen. Mein Neffe zupft sich höflich einen Popel aus dem linken Nasenloch, bevor er spricht, wischt seinen Finger am Hemd ab und wendet sich an die Gemeinde.

»Tante M. war wirklich cool«, beginnt er, zum tränenreichen Entzücken seines Vaters. »Sie war nicht wie ein Erwachsener, sie war wirklich lustig. An jedem Geburtstag hat sie mir ein neues fieses Schimpfwort beigebracht. An meinem neunten Geburtstag war es …«

»Jake!« Christian unterbricht ihn laut, während Neil schnaubt. »Vielleicht kannst du uns eine andere besondere Erinnerung an Tante Miriam erzählen?«

Jake scannt seine kleine Erinnerungsbank, bis ihm etwas Neues einfällt. Ich kann mir nicht vorstellen, was.

»Okay, also«, fängt er an, »nach Weihnachten mussten wir zum Mittagessen in dieses wirklich miese Restaurant gehen, in dem es nicht einmal Ausmalblätter gab, weil Tante M und Onkel Nav mal geheiratet haben und wir sie jedes Jahr an ihrem Jahrestag daran erinnern müssen. Ich wollte nicht hingehen, aber Papa hat gesagt, ich muss, weil wir nicht wissen, wie viele Jahrestage Tante M und Onkel Nav noch haben werden, also sollten wir jeden einzelnen feiern …«

Christian zuckt sichtlich zusammen. Navs Lippen kräuseln sich. Neil verschluckt sich fast.

»Wie auch immer, es war meeega langweilig«, fährt Jake fort. »Alle Erwachsenen haben nur über das blöde Covid geredet – mein Daddy sagte, es sei ›nur eine verdammte Erkältung‹, mein Dad sagte, wir sollten einfach mehr Vitamine nehmen, dann sind wir auf der sicheren Seite. Tante M sagte zu Dad, er solle sich seine Vitamine in den Hintern stecken, wenn er glaubt, das würde eine Pandemie aufhalten. Onkel Nav hat nicht viel gesagt, und ich weiß nicht mehr, was Tante Jane gesagt hat. Aber ich habe gehört, wie Dad zu Daddy gesagt hat, dass sie nur eingeladen wurde, weil sie keinen Freund hat, also … ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich wichtig ist.«

Christian schließt die Augen und formt mit den Lippen ein lautloses »sorry« in Richtung Jane, die mit einem Lächeln behauptet, alles sei gut.

Ist es nicht.

»Jedenfalls stritten sich Dad und Tante M, und als es Zeit war, zu mir nach Hause zu fahren – zum Nachmittagstee, der eigentlich mehr aus Wein bestand –, mussten wir mit zwei Taxis zurückfahren«, sagt Jake und sucht in seinem rechten Nasenloch nach weiteren Leckerbissen. »Ich wollte mit Tante M gehen, weil sie lustiger war und weil ich wusste, dass Dad und Daddy sich wahrscheinlich über sie streiten würden, wie sie es immer taten.«

Beide bringen den Anstand auf, ein wenig verlegen zu schauen. Mach weiter, Jakey, dieses Material ist pures Gold …

»Also … wir warten auf unser Taxi, als Tante M diese … obdachlose Person sieht – Papa sagt, wir dürfen sie nicht mehr ›obdachlos‹ nennen, weil das ein problematisches Wort ist, aber ich glaube, das Problem ist, dass sie kein Haus haben. Jedenfalls sah der Obdachlose nicht sehr gut aus, also hat Tante M ihn sich angesehen, weil sie Ärztin ist. Das Taxi kam, und Tante M kümmerte sich immer noch um den Mann. Der Fahrer schrie sie an, sie solle einsteigen, und sie benutzte das fiese Schimpfwort, das sie mir an meinem siebten Geburtstag beigebracht hat.«

Christian schüttelt den Kopf, während Neil schnaubt. Aufgeblasener Arsch. (Das habe ich Jake beigebracht, als er fünf war.)

»Tante M sagte etwas zu dem Obdachlosen und half ihm aufstehen. Sie sagte mir, ich soll in das Taxi steigen, und sie begann, dem Obdachlosen zu helfen – ich erinnere mich! Er hieß Jeff und fuhr früher einen Lastwagen – aber der Taxifahrer wollte Jeff nicht in seinem Taxi haben. Also sagte Tante M etwas über Jeffs Menschenrechte und etwas über den Pimmel des Taxifahrers und setzte Jeff trotzdem in das Taxi.«

Christian spitzt die Ohren. Offenbar hört er diese Geschichte zum ersten Mal, und Jake hat seinen Teil der Abmachung eingehalten. Guter Junge.

»Als wir bei mir zu Hause ankamen, ließ mich Tante M aussteigen, weil sie Jeff ins Krankenhaus bringen wollte«, erzählt Jake. »Aber ich musste ihr per Kleinfinger-Schwur schwören, dass ich es niemandem erzählen würde, und sie gab mir zwanzig Pfund und versprach mir eine große Tüte Percy Pigs – und nicht die blöden veganen, die Dad mich nur zu Weihnachten essen lässt –, wenn ich verspreche, es niemandem zu erzählen.«

Christian seufzt, und die Tränen fangen wieder an zu fließen.

»Papa war sehr wütend, dass Tante M nicht zum Tee – oder zum Wein – gekommen ist, und sagte, es sei typisch für sie, so kindisch zu sein. Ich habe es niemandem erzählt, weil es gegen das Gesetz verstößt, einen Kleinfinger-Schwur zu brechen, und ich wollte unbedingt die Percy Pigs haben, und ich musste die zwanzig Pfund verstecken, damit ich den NERF-Blaster kaufen konnte, von dem Papa sagt, er sei zu gewalttätig, obwohl man mit Schaumstoffammo eigentlich niemanden töten kann. Jetzt ist Tante Miriam tot, also denke ich, es ist erlaubt. Sie hat gesagt, dass Dad und Daddy böse mit ihr sein würden, weil sie mich zu Jeff ins Taxi gesetzt hat, weil es Hippo Kraten sind. Aber Tante Miriam hat nur versucht, Jeff zu helfen. Und das tat sie auch, er wurde gesund und bekam sein eigenes Haus. Und ich hab die Percy Pigs gegessen.«

Mit einem kleinen Schulterzucken läuft Jake den Gang zurück in die wartenden Arme seines Vaters. Du bist ein Idiot, Jakey, aber ich liebe dich. Und es tut mir leid, dass ich wegen Jeff gelogen habe. Der arme Kerl starb später in der Nacht an einer leicht heilbaren Lungenentzündung – hätte er nur früher Zugang zu Antibiotika gehabt. Du hast noch genug Zeit, um herauszufinden, dass die Würfel des Lebens gezinkt sind, mein Sohn. Du musst es nicht von mir hören.

»Vielen Dank, Jake, das war wirklich schön«, lächelt der Vikar. »Jetzt lasst uns beten. Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme …«

Die Türen am hinteren Ende der Kirche öffnen sich mit einem Knall. Eine einsame Gestalt stürmt den Gang hinunter. Christian schaut instinktiv nach Jake, aber der ist jetzt wieder an Neils Brust geklammert.

Oh, verdammt.

Das ist nicht mein Neffe.

Es ist Danielle King.

Und sie wird sich nicht mit einem Überraschungsei abspeisen lassen.

Mrs King stürmt durch die Kirche und schreit aus Leibeskräften.

»SIE WERDEN IN DER HÖLLE NACH DIR SPUCKEN, PRICE, DU MÖRDERISCHE, BÖSE SCHLAMPE!!!«

Na ja, wenigstens eine Erwachsene, die ein paar Worte gesagt hat. Meine Familie erstarrt. Sie alle wissen Bescheid über Danielle King. Aber falls Sie es nicht wissen … Also – ehrlich gesagt, bereue ich nur wenig in meinem Leben. Die Ponyfrisur von 2002 war eine Katastrophe. Und, wow – ich hätte in Handdesinfektionsmittel investieren sollen. Aber im Großen und Ganzen habe ich alles erreicht, was ich erreichen wollte, und zwar schneller, als ich es geplant hatte. Ich war erfolgreich, talentiert und, wenn auch nicht überall beliebt, so doch weitgehend respektiert. Oder gefürchtet. Beides funktionierte für mich.

Aber die letzten Stunden von Jayden King werden mich ewig verfolgen. Er war Danielles Sohn. Er war mein letzter Patient.

Er war der kleine Junge, der während meiner letzten Schicht starb.

Danielle King rennt zum Altar und spuckt zum Entsetzen der Gemeinde auf meine Urne. Nun ja, zum Entsetzen der meisten. Meine Medizinstudentinnen grinsen entzückt, mit offenem Mund, es juckt sie in den Fingern, das Ganze für Instagram festzuhalten.

Winnie scheint mich zweifelnd zu mustern – ich muss mich selbst dran erinnern, dass die blöde alte Schachtel in einen leeren Raum starrt. Und Jake begrüßt den spät kommenden Gast mit einem militärischen Gruß.

»Weltklasse!«, kreischt er, bevor er wieder in Neils Dekolleté gebettet werden kann.

»Madam! Bitte!«, ruft der Vikar und wedelt mit seinem Gebetbuch in ihre Richtung, als wäre es ein Elektroschocker. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt …«

»Ich konnte es ihr nie in ihre mörderische Fresse sagen!«, schreit sie wieder. »Dann soll sie es jetzt hören! Sie hat mein Leben ruiniert! Du hast meinen kleinen Jungen umgebracht! Ich hoffe, du verrottest in der Hölle, Schlampe!«

Sie tritt gegen den Sockel, auf dem meine Asche ruht, und wankt leicht. Sie ist betrunken. Ich kann’s ihr nicht verdenken. Wenn ich nur den Bruchteil einer Chance dazu hätte, wäre ich es auch.

Ihr Mann, Darren, geht leise den Gang entlang und murmelt meiner Familie Entschuldigungen zu. Nav hebt den Kopf und starrt ihn teilnahmslos an. Ihre Blicke treffen sich für einen Moment. Wird Nav eine Szene machen?

Nein, natürlich nicht. Das tut er nie. Das ist ein Teil von Navs Problem.

»Danni«, sagt Darren sanft und fasst seine inzwischen schluchzende Frau an den Schultern. »Komm schon, Babe. Lass uns gehen.«

»ICH HASSE SIE!«, schreit Danielle. »Ich hasse sie! Ich hoffe, sie brennt für immer in der Hölle! Sie hat unseren Jay getötet! Diese üble Schlampe hat unseren KLEINEN JUNGEN UMGEBRACHT!«

Okay.

Also gab es vielleicht doch jemanden, der mich umbringen wollte.

Darren führt sie weg, zurück zu dem blassen kleinen blonden Mädchen, das unbeholfen im Hintergrund steht und eine schmuddelige Puppe hält. Ich erinnere mich an sie. Sie ist die Schwester … hab ihren Namen vergessen …

»Komm schon, Bella, Liebling«, sagt Darren King und füllt so meine Gedächtnislücke.

Aber Bella bewegt sich nicht. Sie ist bleich, sie zittert, und sie starrt in meine Richtung.

Sie starrt mich an.

Ich sehe mich um, um zu sehen, was sie sonst noch fesseln könnte. Kann sie …? Nein. Niemand kann das. Sie ist nur ein Kind. Ein verängstigtes, trauerndes Kind mit einer wütenden Mutter. Armes kleines Ding. Ich kenne das nur zu gut.

»Komm, Baby«, sagt ihr Vater und legt den Arm um sie. »Lass uns nach Hause gehen.«

Er führt Bella aus der Kirche, aber sie sieht mich immer noch an.

Nicht durch mich hindurch.

Sondern richtig auf mich drauf.

Kann sie wirklich …? Aber wie …?

»Geht es Ihnen gut?«, fragt der Pfarrer meine Familie. Nav nickt langsam, während Jane seine Hand nimmt. Sie sind seit Langem befreundet. Das sind wir alle. Sie haben viel zusammen durchgemacht. Das haben wir alle. Dafür hab ich gesorgt.

Der Gottesdienst wird unter der besonnenen Leitung des Pfarrers fortgesetzt. Als die Formalitäten erledigt sind, verlassen meine Lieben die Kirche und geben allen Nicht-Familienmitgliedern die Gelegenheit, das Drama zu diskutieren, in amüsiertem, pseudo-empörtem Geflüster.

Man kann über mich sagen, was man will, aber ich weiß immer noch, wie man eine Show abzieht. Mein Memorial hatte alles: Lachen, Tränen, Drama …

Gib mir einen Stern dafür, Pi Magazin.

4

Die Totenwache findet in meinem Haus in Ocean Chine statt, dem vergleichsweise noblen Teil von Westmouth. Falls Sie nie dort waren: Es ist ein typisches südwestenglisches Küstenstädtchen: Die Londoner flüchten hierher, um zu leben, die alten Leute bleiben hier, um zu sterben. Früher war es ein Kuhkaff, aber jetzt vermietet die Kuh ihren Stall per Airbnb während der Hochsaison schon für zweihundertfünfzig Pfund pro Nacht, also diese Art von Ort. Die Zahl der Einwohner ist gering, aber alle sind irgendwie verbunden, und jeder kennt jeden. Westmouth ist in ständiger Inzestgefahr.

In das Haus zu investieren war eine meiner besseren Lebensentscheidungen. Meine Mutter – die sich aus der Armut ihres Vaters herausgekämpft hatte, um dann von meinem Vater wieder dort abgeliefert zu werden – predigte ständig, wie wichtig es für eine Frau sei, eigenes Wohneigentum zu besitzen, wenn sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollte. Als sie in meinen Zwanzigern starb – ich absolvierte noch mein Medizinstudium –, ehrte ich Mamas Klugheit, indem ich mein bescheidenes Erbe nutzte, um eine Londoner Wohnung zu erwerben. Damals ging das tatsächlich noch. In den frühen Nullerjahren konnte man mit ein paar Riesen auf der Bank, einem lasziven Zwinkern beim Hypothekenmakler und einer nicht weiter überprüften Selbst-Zertifizierung eine Immobilie kaufen.

Als mein Stern aufging, stiegen gleichermaßen die Preise auf dem Wohnungsmarkt. Als ich London nach dem Immobilienboom verließ, machte ich meine Zweizimmerwohnung in Richmond zu Geld, was mir hier unten ein frei stehendes Haus mit vier Zimmern einbrachte – sowie die Mietwohnung, die für meinen Ruhestand gedacht war, jedoch zu meinem Sarg werden sollte. Ich hatte nie vorgehabt, je wieder nach Westmouth zurückzugehen – ich bin von hier abgehauen, sobald ich mein Abitur in der Tasche hatte, in die Metropole, nach London, zum Studium, aber … nun, am Ende schwamm der Lachs dann doch zurück und ließ sich in der bequemen Mittelmäßigkeit der Vorstadt nieder.

Der Trauerzug schlängelt sich langsam von der Kirche durch die verschlungenen Küstenstraßen zu meinem Haus in der Castle Avenue. Seit meinem Tod bin ich nicht mehr hier gewesen. Ich habe an jenem Tag geschworen, dass ich nicht zurückkommen würde, und das war ernst gemeint.

Nav begrüßt die Leute vom Catering-Service leise und betrachtet die Berge von Essen, die letztlich für den Mülleimer bestimmt sind. Ich nehme diese Verpflegungsmassen als Kompliment. Offensichtlich hat er unterschätzt, wie viele Leute mich nicht ausstehen konnten. Oder hat er damit gerechnet, dass sie nach meinem Tod eine Entschädigung fordern würden, in Form von Blätterteigpastetchen?

Mein Bruder stürmt mit den Kindern herein und presst einen traurigen Seufzer hervor.

»So eine Verschwendung.« Meint er damit den vorzeitigen Verlust seiner jüngeren Schwester? Nein, eher die zweihundertfünfzig Cocktailwürstchen, die übrig bleiben werden. Bestimmt hat Chris Tupperware mitgebracht. Mein Bruder gehört zu den Menschen, die es vorziehen, Lebensmittel in den eigenen Kühlschrank hinein zu entsorgen.

»Richtige Chips! Ja!«, ruft Jake mit einer Becker-Faust und stürzt sich wie ausgehungert auf das Büfett.

Christian mustert das Angebot. Ich spüre, wie es ihn juckt, die Herkunft des Chardonnay auf Fairtrade hin zu überprüfen. Aber aus Respekt vor Navs Gastfreundschaft schweigt er und lenkt seine Kinder behutsam zu den Rohkostsalaten. Während er Jake dabei beobachtet, wie der mehrere Handvoll Cheese&Onion-Chips in den Backen verstaut, dann zum Hindernisparcours im Stil von Ninja Warrior durch die dreiteilige Sitzgruppe antritt, schaltet Neil den Fernseher ein, um ihn zu bändigen. Die Wirkung ist unmittelbar und absolut, was mich an damals erinnert, als Dan wegen einer Wette Pferdetranquilizer geschluckt hat. Der Junge fällt mit offenem Mund zu Boden, Brösel bröckeln aus seinem Mund, er gerät in einen katatonischen Zustand, während ein altkluges amerikanisches Starlet vor ihm steht, eines jener unglücklichen Teenagergirls, denen die Berühmtheit aufgezwungen wurde, wie man eine Gans für Foie gras mästet. Sie trällert von ihren Hoffnungen und Träumen. Ich bete, dass sie für ihre erste Entziehungskur ein anständiges Zimmer bekommt.

»Da«, brummt Neil und ignoriert Christians missbilligenden Blick, während er sich ein Glas Weißwein einschenkt, das ein Nashorn umhauen würde. »Frieden.«

»Äh … hältst du das für eine gute Idee?«, fragt Christian seinen Mann, wobei er mit den Augenbrauen die eigene Position deutlich macht. »Heute geht es darum, zu trauern, Jake seinen Verlust ausdrücken zu lassen.«

»Heute geht es darum, uns ins Koma zu trinken«, antwortet Neil, nimmt einen großen Schluck und schenkt seinem Mann noch einen ein. »Deine Schwester ist gestorben. Das Leben ist kurz. Netflix wird ein doppelt so guter Vater sein, als wir es heute sein könnten.«

»So viel zur Begrenzung der Bildschirmzeit«, murmelt Chris und schiebt die Zwillinge weg von Where’s My Childhood? oder welchen Schund auch immer Jake gerade guckt. Mein Bruder kann unfassbar selbstgerecht sein. Ich habe keine Ahnung, wie wir miteinander verwandt sind.

»Blut ist nicht dicker als Wasser«, pflegte Dan zu sagen, »es hinterlässt nur mehr Flecken auf dem Teppich.« Dan war ein Seher. Ich vermisse ihn.

Neil umarmt Nav. Solidarität unter Witwern, das will sein Blick wohl sagen. Neils erster Mann starb, kurz nachdem sie Jake mit Neils ehemaliger Schwägerin gezeugt hatten. Christian stößt jetzt ebenfalls dazu. Tröstlich zu sehen, dass und wie sie sich um Nav kümmern. Er wird es brauchen.

»Weißt du«, murmelt Christian, »was mir wirklich geholfen hat, nachdem wir Mama verloren hatten? Meditation. Ich weiß, es klingt seltsam, aber wenn ich meine Astralebene erreiche, kann ich immer noch mit Mum und Dad kommunizieren. Ich versuche gerade, Miriam zu erreichen. Das hilft wirklich.«

Ich knurre, als mein Mann höflich nickt. Nav ist ungefähr so spirituell wie ein alkoholfreier Cocktail.

»Und … äh … wie kommst du auf diese … Astralebene?«, fragt er unbeholfen.

»Bezahl irgendeiner gelangweilten Hausfrau, pardon, Familienmanagerin«, wirft Neil ein und nimmt sich ein paar Erdnüsse, »sorry, Darling – bezahl ihr zwanzig Pfund die Stunde, damit sie dich mit Schwachsinn vollsülzt, bis du halb bewusstlos bist. Eine anständige Flasche Weißwein von Majestic erzielt im übrigen den gleichen Effekt – für ein Drittel des Preises.«

Nav grinst. Christian nicht. Beide sind unterhaltsam heute.

Ich beobachte die etwa ein Dutzend Trauergäste, die sich in meinem ziemlich riesigen Erdgeschoss ausbreiten. Das Verhältnis von Caterern zu Gästen ist derart, dass kaum jemand einen Schluck Wein trinken kann, bevor sein Glas sofort wieder aufgefüllt wird. In einer Stunde werden sie alle total besoffen sein. Dann könnte endlich jemand wahrheitsgemäß kommentieren: Das ist, was Miriam gewollt hätte.

Jane kommt weinend herein und übergibt Nav leise die Urne mit meiner Asche, als würde sie eine Flasche Lambrusco zu einer Dinnerparty mitbringen. Mein Mann steht unbeholfen da, mit meinem Post-mortem-Potpourri in der rechten und einem panierten Hähnchenstreifen in der linken Hand. Er und Jane tauschen ein unbehagliches Lächeln aus. Nav stellt mich auf den Tisch, direkt neben sein Glas Wein. Na los, Lieber – sei ein Schätzchen, und gieß was in die Urne. Ich bin sicher, irgendwo darin gibt es ein Lebermolekül, das dir danken wird.

Alle stehen herum, wissen nicht, was sie sagen sollen.

»Miriam war immer gut bei Beerdigungen«, meldet sich Jane schließlich. »Bei der meines Vaters hat sie mir erzählt, dass sie, statt eine Spende an sein Veteranenheim zu schicken, den Jungs eine Kiste Scotch und ein Abonnement für Mayfair geschickt hat. Sie sagte, das wäre dem Andenken meines Vaters angemessener und würde seinen Freunden viel mehr Spaß machen. Mit beidem hatte sie völlig recht.«

Alle schniefen. Gott segne Jim, er war ein guter Mensch. Hat sich wirklich um mich gekümmert, als mein Vater … als er starb.

»Sie hatte wirklich ein Händchen für Geschenke«, sagt Nav leise. »Als meine Tante Nisha im Westmouth General auf eine Operation wartete, bei der ihr ein Teil des Beins entfernt werden sollte wegen Typ-1-Diabetes, besuchte Miriam sie mit einem Plüschpapagei. Sie sagte, wenn Nisha schon wie ein Pirat aussehe, könne sie sich auch wie ein Pirat kleiden. Nisha fand das witzig und nahm den Papagei nach der Operation überall mit hin …«

Das erntet Lacher. Armer Nav. Hätte die Natur ihren Lauf genommen, wäre er jetzt ein geschiedener Mann. Stattdessen ist er für immer mit dem Wort »Witwer« gebrandmarkt, das meine Existenz zu einem nie abwaschbaren Fleck auf seiner romantischen Tanzkarte macht. Und, was ihm gegenüber am unfairsten ist: Die Anstandsregeln gegenüber der toten Gattin machen es Nav unmöglich, zu enthüllen, dass seine untreue Frau ihn bereits vor ihrem gedankenlosen Tod verlassen hatte.

Ich schaue mir genauer an, wer sich die Mühe gemacht hat, zu erscheinen. Die Medizinstudentinnen sind da, um sich offenbar mit Schinkensandwiches an meiner Tyrannei zu rächen.

»Ich will auf keinen Fall das Patriarchat stärken«, sagt Nr. 2 in dem von der Generation Z so geliebten aufsteigenden Glissando, »Und ich gebe zu, dass es äußerst problematisch ist, wenn Frauen sich gegenseitig runtermachen. Aber ich bin einfach so enttäuscht, dass eine starke Frau wie Dr. Price eine Überdosis nehmen konnte. Das ist super-verstörend …«

»Ich kann es immer noch nicht glauben«, flüstert Nr. 1. »Anscheinend Alk und Benzos.«

»Das ist so tragisch«, seufzt Nr. 3. »Offenbar war es ganz anständiger Schnaps …«

Sie versuchen alle, ihr Kichern zu unterdrücken.

Schön, Mädels. Geht und macht ein TikTok-Video.

Paul, mein ehemaliger Kollege, ist auch hier und macht sich an die jungen Kellnerinnen ran – er ist so ein Ekel. Zu Beginn meiner Zeit im Westmouth General hat er einmal versucht, mich zu verführen. Ich habe seine Avancen strikt und ausdrücklich zurückgewiesen, mit einer Geburtszange in Nähe seiner Hoden.

Das ist eine schreckliche Party. Mit mir hätte sie viel mehr Spaß gemacht. So war es immer. Jedenfalls für mich.

Ich gehe den Flur entlang zur Küche im hinteren Teil meines Hauses. Sie ist absurd groß für ein kinderloses Paar mit einer ausgeprägten Abneigung gegen das Kochen, aber die Caterer scheinen sie zu genießen. Und wer hätte gedacht, dass ich einen Dampfgarer besitze? Ich überlasse ihnen meine Sachen und trete durch die offene Hintertür in meinen Garten hinaus.

Das ist es also. Das ist mein Los. Willkommen in der Ewigkeit. Obwohl, wenn es das ist, wofür wir bestimmt sind, in Ewigkeit hier rumzulaufen, dann sollte man meinen, die Welt wäre übersät mit noch anderen … solchen … was immer ich bin … die ebenfalls hier herumirren? Anscheinend nicht. Nur ich. Ich bin der einzige Geist im Dorf.

Ein Lichtblitz am Rande meines Blickfeldes lässt mich aufblicken. Es ist ein Fernsehbildschirm, der meiner Nachbarin. Ich lächle. Wenn es jemanden gibt, den ich gerne bis in alle Ewigkeit verfolgen würde, ist es Winnie. Ich klettere über ihren Zaun, nicht zum ersten Mal – obwohl ich schwöre, dass es nach einer Flasche Chenin leichter geht. Igitt … Ihr Garten ist ein Dschungel, ich dachte, Gartenarbeit sei ihr Ding? Außer natürlich damals, als ich ihn mit einer amüsanten Edition obszöner Gartenzwerge füllte, Internetfund …

Erlauben Sie mir, das zu erklären.

Ich hatte mal ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu meiner Nachbarin, Winnie Campbell. Wir brachten uns gegenseitig die Mülltonnen raus, tauschten Weihnachtskarten aus – und tranken sogar gelegentlich einen Kaffee zusammen.

Doch dann hat sie meine Katze getötet.

Campbell hat sich immer geweigert, zuzugeben, dass sie für den Tod meines Leviathans vor vier Jahren verantwortlich war, obwohl seine zusammengepressten Überreste unter einem Vorderreifen ihres Autos gefunden wurden. Ich schwor an diesem Tag, dass sie keinen Frieden finden würde, bevor sie nicht geständig wäre, seitdem herrscht zwischen uns Krieg mit immer weiter eskalierenden Feindseligkeiten.

Vor fünfhundert Jahren hätte sie kein hohes Alter erreichen können, dafür hätten eine brennende Fackel und ein Scheiterhaufen gesorgt, aber in diesen sensibleren Zeiten hat sie es unbeschadet bis in ihre Achtziger geschafft. Über Jamaika, London und den siebten Kreis der Hölle landete sie vor fünf Jahren mit ihrem Mann George in Westmouth. George war ein Gaudibursche – ich war wirklich betrübt, als er ein frühes Opfer von Covid wurde. Keine Ahnung, wie ein witziger, belesener, entspannter Kerl wie er bei einer Frau landen konnte, die so wenig dicht ist wie ein Spaghetti-Sieb.

Sie hat das Fenster ihres Wintergartens in der Septemberwärme offen gelassen, und ich klettere hindurch.

Seit unserem Streit bin ich nur noch selten in Winnies Haus gewesen – es sei denn, man zählt das eine Mal mit, als sie letzten August versehentlich ihren Schlüssel in der Haustür stecken ließ. Es ist genau so, wie man es erwarten würde. Muffig, veraltet, schmucklos – das perfekte Spiegelbild seiner Bewohnerin. Aber ich erinnere mich, dass es während jenes kurzen Sommereinbruchs etwas ordentlicher und aufgeräumter aussah. Bin mir sicher, dass die Anrichte viel weniger staubig war, als ich die Reihe heißer Kaffeetassen darauf abgestellt hab.

Ich gehe in ihr Wohnzimmer, und da sitzt sie, die Katzenmörderin, in einem Sessel, der wie sie schon bessere Tage gesehen hat. Ihr Stock liegt neben ihr – sie ist nie ohne ihn, vermutlich, um damit zu laufen, zu fliegen oder ihn je nach Situation zurück in ihren Hintern zu stecken. Sie sieht sich gerade Diagnosis: Murder an, die kitschige Krimiserie mit Dick van Dyke und dem Toupet seines Sohnes in der Hauptrolle. Ihr Mann George war Polizeidetektiv und hat mir einmal erzählt, dass Winnie sich selbst für etwas Ähnliches hält. In der Couch-Potato-Version.

»Lass dich von mir nicht stören«, sage ich, während sie eine Gabel voll Mikrowellenfraß zwischen ihre Kiefer schaufelt. »Du bist schon gestört genug. Wer klebt denn Vogelfutter an ein Auto …?«

Winnie rückt näher an den Fernseher heran. Van Dyke junior hat gerade einen Geistesblitz gehabt, und Dick ist dabei, das »Rätsel des vergrößerten Haaransatzes« zu lösen.

»Sieht so dein Leben aus?«, seufze ich und betrachte die Ansammlung geschmacklosen Krempels auf ihrer staubigen Kommode. »Nichts zu tun. Außer Katzen zu töten …«

Sie starrt angestrengt auf den Bildschirm. Dick und sein Sohn ertappen den Verbrecher auf frischer Tat. Vermutlich einen Perückenmacher.

»Nett übrigens, dass du zu meiner Totenwache gekommen bist«, sage ich, als mir ein besonders krudes Stück Tinnef ins Auge beißt. Welcher künstlerische Schaffensdrang hat jemanden dazu gebracht, einen Tennis spielenden Hund zu modellieren? Diese Frau würde Geschmack nicht erkennen, wenn er sie …

»Ich habe dich nie gemocht.«

Ihre abgehackten Konsonanten durchbrechen die muffige Stille.

Warum hat sie das gesagt? Doch sicher nicht, um den großen Dick van Dyke zu beleidigen? Oder hat sie endlich das mit dem Toupet geschnallt? Ich dreh mich um und sehe sie an. Sie starrt immer noch auf den kleinen Bildschirm. Hat sie …?

Nein. Natürlich hat sie nicht. Sie ist einfach nur kauzig. Absonderlich und böse und …

»Ich sagte, dass ich dich nie mochte«, wiederholt sie, offensichtlich in Richtung Diagnosis: Murder.

»Obwohl ich sehen musste, dass das andere nicht abgehalten hat. Ich hoffe inständig, sie mögen die Quiche.«

Ich seh mich um, aber es ist sonst niemand hier. Natürlich nicht, die Frau hat die Ausstrahlung eines Norovirus. Führt sie Selbstgespräche? Das muss es sein. Sie hat nicht mehr alle Murmeln zusammen. Unmöglich, dass sie mit mir spricht …

Ihre glasigen Augen reißen sich von Dick van Dyke los und heben sich langsam, bis sie direkt in meine starren. Wie eine blanchierte Makrele, die ihrem Koch Vorwürfe macht.

»Und zum letzten Mal, du unbeirrbare Harpyie: Ich HABE deine Katze nicht getötet.«

Was zum …?

Das kann nicht sein …

Sie kann nicht …

Ping!

Wie aus dem Nichts tauchen plötzlich zwei durchsichtige Türen auf, die sofort vor mir zuschlagen. Ich versuche, rückwärtszugehen, stoße aber an eine klare Wand. Ich strecke meine Hände zur Seite aus, aber da geht es auch nicht weiter. Ich bin … in einer Art … Glaskasten gefangen.

»Campbell?«, rufe ich und hämmere gegen die Türen. »Campbell – kannst du mich hören?«

Sie lächelt und zieht ihre rechte Augenbraue hoch. Die konveniert mit ihrem Schnurrbart.

»Winnie, redest du mit mir?«, schreie ich angesichts ihres albernen Grinsens. »Und, tust du’s? O mein Gott, du hässliche Hexe, kannst du mich tatsächlich hören …?«

Doch bevor sie antworten kann, bimmelt eine kleine Glocke, und irgendeine verborgene Kraft saugt mich und die Kiste nach oben, in absolute Dunkelheit.