Die Chaos-Götter 3: Götter an Bord - Maz Evans - E-Book

Die Chaos-Götter 3: Götter an Bord E-Book

Maz Evans

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Beschreibung

Hintern hoch! Die Götter auf großer Odyssee.  Dass Elliot sein Zuhause mit jeder Menge griechischer Götter und der etwas nervigen Virgo teilt, ist kein Problem. Schließlich sind sie ein eingespieltes Team und müssen unbedingt den dritten Chaosstein finden, bevor Todesdämon Thanatos ihn in seine gierigen Finger bekommt. Die Welt zu retten ist eine echt wichtige Aufgabe! Doch Elliots Mum geht es immer schlechter und nur ein Elixier kann sie vor dem Schlimmsten bewahren. Also bricht Elliot zu einer gefährlichen Odyssee auf, die ihn bis ins Reich der Toten führt – und vor die schwerste Entscheidung seines Lebens stellt. Alle Bände der sagenhaft komischen Chaos-Götter-Serie: Die Götter sind los (Band 1) Götter allein zu Haus (Band 2) Götter an Bord (Band 3) Götter mit Schuss (Band 4)

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Maz Evans

Götter an Bord

Vorsicht auf den sieben Weltmeeren – die Götter kommen!

Elliots Dad ist zurück. Jetzt sollte eigentlich alles besser werden. Aber seiner Mum geht es immer schlechter, sein Dad verhält sich eigenartig und Elliot soll von der Schule suspendiert werden. Und während die Götter den dritten Chaos-Stein suchen, um Todesdämon Thanatos endlich wieder unter die Erde zu bringen, will Elliot nur Panazees sagenumwobenen Heiltrank finden. Eine gefährliche Odyssee beginnt, die Elliot schließlich vor die schwierigste Entscheidung seines Lebens stellen wird: Rettet er die Welt oder seine Mum?

Alle Bände der sagenhaft komischen Chaos-Götter-Serie:

Die Götter sind los (Band 1)

Götter allein zu Haus (Band 2)

Götter an Bord (Band 3)

(Der finale Band 4 erscheint im Frühjahr 2020)

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Danksagung

Vita

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Leseprobe

Für meine Lili,

die jeden einzelnen Tag zu einer Entdeckungsreise macht.Danke für eine magische Reise, mein kleines Mädchen.

»… und keiner schäumt hier die Cappuccinos mit einem Donnerkeil auf oder verwandelt andere Leute in Warzenschweine oder furzt die Nationalhymne. Ist das klar?« Elliot warf den griechischen Unsterblichen, die gerade seine Küche putzten, einen strengen Blick zu. Noch vor wenigen Wochen wäre ihm das alles völlig absurd vorgekommen, aber inzwischen waren solche Szenen der ganz normale Alltags-Wahnsinn für Elliot Hooper.

»Alles roger … Botschaft laut und deutlich rübergekommen, alter Junge«, sagte Zeus, der Göttervater, und kratzte mit der Spitze eines goldenen Donnerkeils das Fett vom Herd. »Bestes Benehmen. Kannst dich auf uns verlassen.«

»Wofür hältst du uns, Elly? Es würde uns im Traum nicht einfallen, dir das Leben noch schwerer zu machen, als es sowieso schon ist«, versicherte Aphrodite, die Göttin der Liebe, und versprühte ihr Spezial-Raumspray mit der Duftnote »ofenwarmes Brot« in der Küche. »Wir wissen doch, wie wichtig das hier für dich ist. Heute darf nichts schiefgehen. Wir werden so still sein wie Athenes Fanklub, versprochen.«

»Auf jeden Fall«, sagte Athene, die Göttin der Weisheit. Sie warf ihrer Schwester einen vernichtenden Blick zu, dann widmete sie sich wieder dem Spitzendeckchen, das sie aus übrig gebliebenen Spaghetti häkelte. »Wir lassen dich nicht im Stich.«

Elliot lächelte erleichtert. Er hatte sich vor diesem Tag gefürchtet, seit er den letzten »Zitterbrief der Extraklasse« erhalten hatte. Oder eigentlich schon viel länger …

»Also ich habe mir ein paar Notizen gemacht«, verkündete Virgo stolz und suchte in einem Stapel Karteikarten herum. »Erstens: Wenn du – ich zitiere – ›Riesenarschgesicht‹ zu mir sagst, ist das dann so eine Art Stichwort für mich, dass ich meine brillanten Kommentare zum Besten geben soll?«

»Nein«, sagte Elliot.

»Was dann? Soll ich vielleicht die Atmosphäre mit ein paar Kostproben meines berühmten Humors auflockern?«

»Bloß nicht.«

»Oder irgendwelche Erfrischungen vorbereiten?«

»Vergiss es – die Teppiche haben sich immer noch nicht von deiner letzten Catering-Aktion erholt.«

»Aber mein kalter Hund war doch höchst optimal!«, schnaubte Virgo entrüstet.

»Ja, nur war es leider ein echter Hund!«, schrie Elliot. »Und das auch noch tiefgekühlt! Also: Nein, okay?«

»Vielleicht sollte ich für ein bisschen Unterhaltung sorgen? Ich könnte zum Beispiel was singen …«

»Um Himmels willen – nein!«

Virgo runzelte die Stirn.

»Ich versteh dich nicht«, sagte sie. »Das hört sich ja fast so an, als ob ich heute überhaupt nichts sagen oder machen soll.«

»Nein, Virgo, das hast du komplett missverstanden«, sagte Elliot und verdrehte die Augen. »Kein ›fast‹, verstehst du? Du sagst und machst heute einfach gar nichts. Punkt. Sei bitte KEIN Riesenarschgesicht!«

»Aber ich …«

Zeus legte Virgo sanft eine Hand auf die Schulter und das Ex-Sternbild verstummte. Das funktionierte immer. Noch nie war Elliot über diese spezielle Gabe des Göttervaters so froh gewesen.

Er schloss die Augen und versuchte nicht daran zu denken, was alles schiefgehen konnte. Nein, er brauchte keine Angst zu haben. Alles war gut. Kein Problem. Er musste sie nur irgendwie überzeugen. Elliot seufzte. Aber dazu hätte er erst mal selber dran glauben müssen …

Er hakte ein paar Punkte auf seiner Liste ab und steckte den Stift in seine Hosentasche, wo er prompt durch das große Loch fiel.

»Wann lässt du mich endlich deine Hose flicken?«, fragte Athene ihn zum x-ten Mal in den letzten Wochen.

»Wenn ich sie in die Wäsche gebe«, antwortete Elliot wie immer.

»Morgen, mein Junge.« Elliots Vater kam verschlafen die Treppe herunter. Er gähnte ausgiebig.

Elliot lächelte ihn an und der ganze Druck fiel ein Stück weit von ihm ab. Überhaupt war alles besser, seit Dave Hooper vor zwei Monaten auf die Home Farm zurückgekehrt war. Er hatte Elliot jede Menge coole Geschichten aus der Zeit im Gefängnis erzählt, hatte ihm gezeigt, wie man Schlösser knackt, und ihm ein paar geniale Verstecke für Süßigkeiten verraten, die Elliot eigentlich nicht essen sollte. Aber vor allem hatte er jede einzelne Nacht auf Josie aufgepasst.

»Im Gefängnis schläft man nicht viel, verstehst du? Und außerdem war ich schon immer eine Nachteule. Du dagegen brauchst deinen Schlaf, Elliot. So viel du nur kriegen kannst«, hatte er augenzwinkernd zu ihm gesagt.

Elliot konnte sich kaum noch vorstellen, wie er das alles geschafft hatte, bevor sein Dad zurückgekommen war. Seit er wieder ungestört schlafen konnte, war alles viel einfacher geworden. Er war nicht mehr so niedergeschlagen und mutlos, er schrieb bessere Noten in der Schule und seine Mum …

Elliot kämpfte gegen den Angstknoten an, der ihm die Kehle zuschnürte. Schwer zu sagen, wie es seiner Mum jetzt ging. Josie hatte sich so weit von ihrem alten Ich entfernt, dass er sie kaum wiedererkannte. Die meiste Zeit saß sie nur da und starrte ins Leere. Sprechen wollte sie kaum noch. Und eigentlich auch sonst nichts.

Der Einzige, der es noch schaffte, Josie aus ihrem Wachschlaf aufzurütteln, war Dave.

Denn im Gegensatz zu Elliot, der sichtlich aufblühte, seit sein Vater wieder bei ihnen lebte, war Josie alles andere als begeistert von Dave.

»Du bist nicht mein Mann!«, schrie sie ihn an, sobald er in ihre Nähe kam. »Du bist ein Hochstapler! Verschwinde aus meinem Haus!«

Es war so traurig. Aber Elliot wusste ja, dass Josie nichts dafür konnte. Ihr Geist war jetzt meistens sehr verwirrt und sie hatte ihren Mann vor gut zehn Jahren zum letzten Mal gesehen. In der langen Zeit, die Dave im Gefängnis gesessen hatte, war ihr Zustand immer schlechter geworden. Aber irgendwann würde sie ihren Mann wiedererkennen und sich beruhigen, daran glaubte Elliot ganz fest. Was blieb ihm auch anderes übrig?

»Wie geht’s Mum?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Schläft«, sagte Dave. »Ist besser so. Hör mal, Elliot, ich mach mich dann heute mal rar. Du weißt schon – so wie wir es abgesprochen haben …«

Elliot nickte. Sein Dad musste es schließlich wissen. Er hatte ihm erklärt, was für ein Schock es für ihn gewesen sei, nach so langer Zeit hinter Gittern wieder in Freiheit zu sein, und dass er sich an dieses neue Leben erst gewöhnen müsse. Das war auch der Grund, warum er den Dorfbewohnern von Little Motbury aus dem Weg ging – sie würden einen Ex-Häftling, der einen bewaffneten Raubüberfall begangen hatte, sicher nicht mit offenen Armen aufnehmen. Elliot fand es okay, dass Dave sich vorläufig im Hintergrund hielt. Er selbst hatte ja auch kein Wort darüber verloren, dass sein Vater zurückgekommen war.

»Dann viel Glück heute, mein Junge«, sagte Dave und legte Elliot eine Hand auf die Schulter. »Du schaffst das schon.«

»Danke.« Elliot schnitt eine Grimasse. Er würde viel mehr brauchen als nur Glück. Und er hätte Dad so gern an seiner Seite gehabt. Aber Dave hatte recht: Es war keine gute Idee, ausgerechnet heute der Welt zu verkünden, dass sein Vater, der Ex-Knacki, wieder da war und bei ihnen zu Hause lebte.

Denn heute war der Tag, an dem zwei Sozialarbeiter vom Jugendamt auf die Home Farm kommen würden, um Elliots »häusliche Umgebung« in Augenschein zu nehmen.

Dem Brief nach war es ein »inoffizieller Besuch«, also nichts, weshalb Elliot sich »Sorgen machen« musste. Die beiden Sozialarbeiter wollten sich nur davon überzeugen, dass es ihm gut ging und dass er alles hatte, was ein Junge in seinem Alter brauchte, um sich »glücklich und geborgen« zu fühlen. Aber Dave hatte ihm gesagt, wenn das Jugendamt Wind davon bekäme, dass ein entlassener Strafgefangener auf der Home Farm lebte, würde der Besuch im Nullkommanichts »hochoffiziell« werden und dann hätten sie allen Grund, sich Sorgen zu machen. Und wenn Elliot in ein Heim oder eine Pflegefamilie kommen würde, könne von »glücklich und geborgen« erst recht keine Rede mehr sein. Deshalb wollte sein Dad irgendwo auf den Feldern hinter der Home Farm warten, bis der Besuch wieder fort war.

»Bis später, Leute«, rief Dave in die Runde und die Götter winkten ihm höflich zu.

Dave hatte die Nachricht von Elliots neuem Leben überraschend gut aufgenommen. Obwohl es ihm natürlich im ersten Moment die Sprache verschlug, als er hörte, dass sein Haus zum Zufluchtsort einer kleinen Schar von heimatlosen griechischen Göttern geworden war. Und dass Thanatos, der böse Todesdämon, die Erde auslöschen würde, wenn Elliot nicht die restlichen Chaossteine an sich brachte, die über die vier Elemente herrschten. Aber nachdem Dave den ersten Schock überwunden hatte, fügte er sich nahtlos in das Leben auf der Home Farm ein, und das in einem unglaublichen Tempo.

Elliot sah, wie den Göttern das Lächeln im Gesicht gefror, sobald die Tür hinter seinem Vater zufiel. Er wusste nicht genau, woran es lag, aber Zeus und seine Truppe schienen längst nicht so gut mit der neuen Situation zurechtzukommen wie Dave.

Seufzend nahm Elliot sich wieder seine Liste vor.

»Habt ihr alle Haushaltsgeräte gecheckt?«

»So gut wie«, knurrte es aus dem unteren Klo, aus dem zwei Füße herausragten. Elliot warf einen Blick hinein: Hephaistos, der Gott der Schmiede, hantierte mit einem Schraubenzieher an der Kloschüssel herum. »Geschirrspüler, Kühlschrank, Küchenschrank und Herd – alles deaktiviert«, raunzte Hephaistos. »Das obere Klo spielt nicht mehr Mozart, aber das hier schmettert noch ein bisschen Beethoven, wenn jemand sein großes Geschäft macht. Ich regle das, Kleiner, keine Sorge.«

»Ich habe mir den Stall vorgenommen, dort sieht jetzt alles wie auf einem ganz normalen Bauernhof aus«, sagte Athene. »Und Aphrodite hat ihr Denk-positiv-Elixier versprüht, damit die Leute vom Jugendamt alles in einem rosigen Licht sehen. Zum Glück muss sich das Spray nicht bei ihrem Outfit bewähren, sonst wären wir verratzt. Kein Elixier der Welt kann da noch was retten.«

Aphrodite rümpfte beleidigt die Nase. »Ich sehe mal nach Hermes«, verkündete sie. »Wenigstens einer, der meinen einzigartigen Style zu schätzen weiß!«

»Besonders jetzt, im Tiefschlaf«, brummte Athene und häkelte an ihrer Spaghetti-Decke weiter.

»Ich komme mit dir«, sagte Elliot. Er brauchte dringend mal frische Luft.

Langsam folgte er Aphrodite zum alten Stall hinüber, wo der Götterbote bewusstlos auf einem samtweichen Federbett ruhte.

Elliot kämpfte gegen die Traurigkeit an, wie immer, wenn er seinen alten Freund Hermes so daliegen sah. Tag für Tag hoffte er – und mit ihm alle anderen –, dass der Götterbote endlich wieder zu sich kam. Er lag im Koma, seit Nyx, die Göttin der Nacht, ihn in den Ruinen von Stonehenge mit einem vergifteten Pfeil durchbohrt hatte. Seit jener schrecklichen Nacht waren Nyx und ihre beiden Söhne – der Todesdämon Thanatos und Hypnos, der Dämon des Schlafes – spurlos verschwunden. Und Hermes schlief einfach weiter. Würde er jemals wieder aufwachen? Elliot vermisste den quirligen Götterboten, seinen »Brudi von ’ner andern Muddi«, wie Hermes manchmal gesagt hatte.

»Hi, Brudi«, wisperte Elliot und gab Hermes einen einseitigen Fauststoß. »Tut mir leid, dass ich heute noch nicht da war. Aber es war ein bisschen …«

Ey, Alter, hätte Hermes an dieser Stelle gesagt, wenn er gekonnt hätte. Jetzt mal ganz ohne Scheiß, Brudi, das ist doch ’n Klacks für dich. Du seifst die Typen vom Jugendamt ein, dass es schäumt – und dann Bumm-Zack!

Aber Hermes sagte nichts. So wie am Tag zuvor. Und am Tag danach. Und wahrscheinlich auch an allen kommenden Tagen.

»Hi, Süßer«, flüsterte Aphrodite ihrem Bruder zu. »Ich muss dich nur mal für ’ne Weile verstecken. Aber keine Angst, ich bin da. Und jetzt schlaf schön weiter.«

Die Göttin der Liebe küsste Hermes sanft auf die Wange, bevor sie die durchsichtige Sprayflasche aus ihrer Tasche nahm. Dann versprühte sie das Elixier behutsam um den Götterboten herum. Zarter Dunst senkte sich auf ihn herab, bis Hermes langsam vor ihren Augen verschwand.

»Unsichtbarkeits-Elixier.« Aphrodite zwinkerte Elliot zu. »Erinnere mich dran, dass ich dir auch mal eine Ladung davon zusammenbraue.«

Ehe Hermes ganz verschwunden war, gab Elliot ihm noch einen sanften Fauststoß, dann trottete er ins Wohnhaus zurück und versuchte seine traurigen Gedanken abzuschütteln. Er hatte heute wahrhaftig andere Sorgen.

»Virgo, hast du die Gorgonen aus dem unteren Klo ausquartiert?«, fragte er das Ex-Sternbild nach einem Blick auf sein Klemmbrett.

»Selbstverständlich«, erwiderte Virgo steif, griff sich ihre Schultasche und ging schnell zur Treppe. »Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigst …«

»Mach die Tasche auf«, seufzte Elliot.

»Nein«, sagte Virgo entschlossen. »Das ist privat. Mädchenkram und so.«

Normalerweise wäre Elliot bei diesem Stichwort sofort geflüchtet. Mädchenkram … ätzend. Aber heute fiel er nicht darauf herein.

»Privat, dass ich nicht lache! Du bist so privat wie ein überfülltes Fußballstadion. Mach die Tasche auf.«

»Nein, vergiss es, ich …«

»Virgo«, sagte Zeus sanft, aber bestimmt. »Mach, was er sagt. Bitte.«

Virgo stand reglos da, ohne zu wissen, was sie tun sollte. Elliot kam sie vor wie die Computer in der Schule, wenn sie sich aufhängten und der kleine Kreis in der Mitte des Bildschirms sinnlos herumwirbelte.

Endlich reichte Virgo ihm zähneknirschend die Tasche.

»Danke«, sagte Elliot und zog den Reißverschluss auf. »Also was haben wir denn …«

»Plllllopppp!«, quiekte ein dünnes Stimmchen. Und schwupp!, schnellte eine Art überdimensionaler grüner Kobold heraus und hüpfte wild in der Küche herum.

»Gorgy!«, sagte Virgo streng, als der Kobold über die Köpfe der Götter hinwegsprang, als wären sie Trittsteine in einem Gebirgsbach.

»Gorgy?« Elliot zuckte zusammen und schlug den hüpfenden Kobold von seinem Kopf herunter. »Soll das vielleicht heißen, du hast …«

»GORGY!«, brüllte Virgo, was den Kobold abrupt erstarren ließ. »Hierher. Sofort!«

Kleinlaut glitt Gorgy auf den Boden herunter und trottete zu Virgo zurück. Elliot schaute sich das seltsame Wesen genauer an. Gorgy war klein, nicht größer als ein Fußball, und fast ebenso rund. Ein grüner Kugelbauch wölbte sich über seiner zerfetzten Hose und wilde grüne Haare wehten um sein kleines Mondgesicht und seine Rüsselnase herum.

»Virgo!«, schimpfte Athene. »Das ist ein Gorgonen-Baby! Und Gorgonen sind gefährlich. Du kannst sie unmöglich als Haustiere halten.«

»Er ist kein Haustier«, sagte Virgo herablassend. »Gorgy …«

»Gorgy, der Gorgone?«, schnaubte Elliot. »Origineller Name für ein Haustier …«

»Er ist kein Haustier«, fauchte Virgo. »Ich studiere Gor…, also dieses Geschöpf doch nur, um Elementare besser verstehen zu lernen. Unsere Beziehung ist rein beruflich, nicht emotional. Er bedeutet mir nicht mehr als …«

»Mama!«, schrie Gorgy und streckte seine dicken Arme nach Virgo aus.

»Äh … also«, stotterte Virgo nervös, »ich bringe Gor… diesem Wesen die Grundbegriffe der menschlichen Sprache bei …«

Sie hielt einen Becher hoch.

»Gorgy, was ist das?«

»Plopp«, quiekte Gorgy.

»Seht ihr?«, triumphierte Virgo. »Er hat Becher gesagt.«

»Er hat ›Plopp‹ gesagt«, stellte Elliot klar. »›Plopp‹ und nicht Becher – oder ploppst du nicht mehr richtig, du Gorgonenglucke?«

»Komm schon, Gorgy, das haben wir doch geübt«, schimpfte Virgo und hielt eine Gabel hoch. »Wie nennen wir …«

»DASHIER!«, brüllte Hephaistos und ging mit seiner schweren Bronzeaxt auf das Gorgonenjunge los. »Komm her, du elender Wicht!«

»Gorgy! Nein!«, schrie Virgo und stellte sich schützend vor ihr Gorgonenbaby.

Aber Gorgy hatte andere Pläne. Er rollte sich blitzschnell wieder zu einer grünen Koboldkugel zusammen und hüpfte im Zickzack in der Küche herum, während Hephaistos mit erhobener Axt hinter ihm herjagte. In Sekundenschnelle war die frisch aufgeräumte und blank geputzte Küche komplett verwüstet. Essen, Teller, Wischlappen – alles, was Gorgy in die Finger bekam – landeten auf dem Schmied, der vergeblich mit seiner Axt herumfuchtelte.

»STOPP!«, brüllte Elliot, als Gorgy sich vor Hephaistos’ Axt auf den Schrank hinaufflüchtete, wo er fürs Erste in Sicherheit war.

Hephaistos erstarrte, die Axt über den Kopf erhoben, und schaute Elliot kleinlaut an. Alle blickten entgeistert auf das Schlachtfeld, in das sich die Küche binnen Sekunden verwandelt hatte.

»Tut mir leid, Junge«, brummte Hephaistos. »Ich räum das wieder auf. Ehrlich.«

»Gorgy!«, schrie Virgo. »Gorgy, komm sofort zu Mama!«

Aber Gorgy ignorierte sie. Sein Gesichtchen verzog sich zu einer winzigen Kugel, sodass er wie eine wütende Erbse aussah. Grüne Haarsträhnen wogten um die Erbse herum. Oder nein, das waren ja gar keine Haare, sondern dünne kleine Schlangen! Und diese Schlangen zischten Hephaistos drohend an.

»Böser Mann!«, quiekte Gorgy und zeigte auf Hephaistos’ Axt.

»Seht ihr?«, strahlte Virgo. »Das hab ich ihm beigebracht!«

»BÖSER PLOPPMANN!«, legte Gorgy nach. Die Schlangen bäumten sich zornig auf, bis sie nach allen Seiten von Gorgys Kopf abstanden und ein durchdringendes Zischen von sich gaben. Mit dem Zischen erhob sich ein gewaltiger Luftstrom und wirbelte um Hephaistos’ Axt herum, immer schneller und schneller, bis die Bronzeklinge zu schmelzen begann und das Metall vom Stiel tropfte wie Butter vom Grill. Der massive Axtgriff erschlaffte in Hephaistos’ Hand und seine Waffe war jetzt ungefähr so tödlich wie eine verwelkte Narzisse.

»WASZUMTEUFELHASTDUGEMACHT!?«, brüllte der Schmied das Gorgonenjunge an.

»Ähm, Gorgy, ich glaube, es wird Zeit, dass du in deinen Käfig zurückkommst«, murmelte Virgo, nahm ihr Gorgonenbaby in die Arme und stürzte mit ihm die Treppe hinauf.

»Du kannst froh sein, dass dir nicht mehr passiert ist, Hepher«, seufzte Athene kopfschüttelnd. »Eine erwachsene Gorgone kann alles um sich herum in Stein verwandeln, aber so ein Knirps wie Gorgy schafft natürlich nur weichere Materialien.«

»Ha! Gestern hat er eine Wespe in ein Stück Kreide verwandelt!«, brüllte Virgo stolz von der Treppe herunter.

»Da habt ihr es!«, schrie Elliot. »Genau das meine ich! So was darf heute einfach nicht passieren! Ihr müsst sofort damit aufhören – ich meine, seid EINMAL nicht so, wie ihr nun mal seid!«

Die Götter machten betroffene Gesichter. Eine Zeit lang sagte niemand etwas, bis schließlich der sanfte Klingelton von Hermes’ iGod die aufgeladene Stille durchbrach.

»Ähm, soll ich?«, fragte Athene leise.

»Ja, klar, warum nicht?«, seufzte Elliot und blickte sich in der verwüsteten Küche um. Wie sollte er das Jugendamt jemals davon überzeugen, dass hier alles normal lief? Normal war schon lange nichts mehr auf der Home Farm – er konnte sich ja kaum noch daran erinnern, dass es früher mal anders gewesen war.

»Hallo?«, sagte Athene ins Telefon. »Sie ist … ja, natürlich. Ja, ich werde sie sofort informieren.«

Alle starrten die Göttin der Weisheit an.

»Virgo, das war der Zodiakrat«, rief Athene die Treppe hi­nauf. »Sie brauchen dich sofort in Elysium.«

»Was? Jetzt?« Virgo kam aufgeregt in die Küche zurück. »Aber ich kann doch Elliot in dieser kritischen Lage nicht im Stich lassen. Meine Anwesenheit ist absolut notwendig. Er braucht mich jetzt. Er braucht mich als …«

»Geh! Sofort!«, kommandierte Elliot und schubste sie energisch zur Tür.

»Bist du sicher?«, fragte Virgo. »Ich hatte eigentlich vor dem Besuch ein paar leckere Törtchen zu servieren …«

»Nimm Pegasus«, sagte Zeus. Er öffnete die Tür und Elliot drängte Virgo hastig hinaus. »Bis später dann.«

»Na gut, wenn du glaubst, dass du ohne mich zurechtkommst, Elliot …«

»Ja, klar«, versicherte Elliot und knallte zur Bekräftigung die Tür hinter ihr zu.

»Ein Problem weniger«, knurrte er. Dann wandte er sich seufzend dem Chaos in der Küche zu, wo die Götter mit den Aufräumarbeiten begannen. Das würde heute ein sehr, sehr langer Tag werden …

»Virgo! Wie schön, dich zu sehen! Komm herein, Kind, komm nur herein!«

Virgo war gerade im Paradies eingetroffen, das sich hierzulande Elysium nannte, und betrat die Glaspyramide, die dem Zodiakrat als Sitzungssaal diente. Misstrauisch ließ sie ihre Blicke über die lächelnden Gesichter ihrer ehemaligen Kollegen wandern. Alle wirkten überaus erfreut über ihren Anblick. Das war höchst regelwidrig.

»Ähm, hallo«, sagte sie vorsichtig. »Ist alles optimal?«

»Super-optimal!«, brüllte Taurus, der Stier, der gegenwärtig den Vorsitz führte. Eilfertig kam er auf sie zu und schüttelte ihr die Hand. »Freut mich sehr, dich wiederzusehen. Hier, nimm dir ein Plätzchen.«

Jeder der zwölf Zodiakräte brachte seinen ganz persönlichen Führungsstil mit ein, wenn er einmal im Jahr für vier Wochen das Amt des Vorsitzenden übernahm. Taurus war für sein strenges, nüchternes Durchregieren bekannt; er hasste jeden Schnickschnack und alles Überflüssige. In seiner vorigen Amtszeit hatte er sogar Luftballons aus dem Elysium verbannt. Und jetzt bot er Virgo auf einmal Plätzchen an? Träumte sie etwa? Aber eigentlich ging es ihr jetzt immer so, seit sie ihr Kardia verloren hatte und somit sterblich war. Nie konnte sie sicher sein, ob sie wachte oder träumte. Vielleicht sollte sie unauffällig nach kleinen grünen Männchen Ausschau halten. Dann wäre die Sache jedenfalls klar.

»Ähm, und wo soll ich mich jetzt hinsetzen?«, fragte Virgo und schaute sich nach einem freien Platz um. Wurde sie etwa schon wieder vor Gericht gestellt?

»Na hier natürlich, Kind!«, blökte Aries, der Widder, und zog Virgos altes rotes Sofa unter dem goldenen Zodiaktisch hervor. »Wo du hingehörst.«

Virgo blickte sich verstohlen im Saal um. Keine kleinen grünen Männchen, soweit sie sehen konnte.

»Ich soll … bei euch sitzen?«, fragte sie vorsichtshalber.

»Ja«, erwiderte Aries lächelnd.

»An meinem angestammten Platz?«

»Nun, natürlich – wir werden dich ja wohl kaum in den Papierkorb setzen!«, lachte Pisces, der Fisch. »Nicht schon wieder …«

Aries klopfte einladend mit einem goldenen Huf auf das Sofa. Virgo setzte sich zögernd, während die anderen Räte ebenfalls Platz nahmen und ihr dabei aufmunternd zulächelten. Dem Ex-Sternbild wurde immer mulmiger.

»Nun, ist das nicht wunderbar?«, trompetete Taurus und ließ einen Huf durch seinen kleinen rotblonden Haarschopf gleiten. »Die ganze Truppe wieder zusammen. Ohne dich war es einfach nicht dasselbe, Virgo.«

»Hört, hört!«, murmelten alle anderen Räte zustimmend. Virgo warf einen verstohlenen Blick unter den Tisch – auch hier keine kleinen grünen Männchen.

»Es ist … ähm … höchst optimal, wieder hier zu sein«, sagte sie. »Hat vielleicht wieder jemand den Schreibwarenkatalog verlegt?«

Die anderen Räte brüllten vor Lachen.

»Aber nein, du Riesen-Dummerchen!«, kicherten die Gemini-Zwillinge. »Wir wollten dich einfach nur mal sehen.«

»Warum?«, fragte Virgo misstrauisch.

»Warum nicht?« Capricorn, der Steinbock, lachte.

Virgo hielt inne. War das nicht offensichtlich?

»Weil … weil es das noch nie gegeben hat«, sagte sie.

Ein kollektives Luftschnappen war die Antwort.

»Wie kannst du nur so was Schreckliches sagen?«, flüsterte Sagittarius, der Zentaur-Schütze, einen Huf an sein Herz gedrückt. »Weißt du nicht mehr, wie schön es war, als wir alle zusammen in Urlaub gefahren sind?«

»Oh, ja, ich erinnere mich nur zu gut daran«, sagte Virgo. »Ich musste nämlich zu Hause bleiben und das Telefon hüten.«

»Ja, aber wir haben dir doch so ein niedliches kleines Einhorn aus Stroh mitgebracht!«, brüllte Leo, der Löwe. »Und was ist mit der großen Party, die wir zu deinem 1021sten Geburtstag geschmissen haben? Wir haben sogar ein paar Künstler engagiert – Jongleure, Akrobaten, Magier …«

»Ja, und es hätte mir sicher gefallen, wenn ich dabei gewesen wäre«, gab Virgo zurück.

»Aber du warst doch für die Einladungen zuständig«, gluckste Aquarius, der Wassermann, und füllte sein Glas aus dem großen Wasserkrug in der Mitte. »Ist es etwa unsere Schuld, wenn du vergessen hast, dich selbst einzuladen?«

»Fakt ist, Virgo – du bist ein geschätztes Mitglied unseres Rates«, meldete Taurus sich wieder zu Wort. »Und das ist sehr wichtig. Wir sind ein Team. Und in einem Team gibt es kein ›Ich‹.«

»Ähm … technisch gesehen schon«, wisperte Cancer, der Krebs. »Sonst würde man ja nicht …«

»Ach, halt die Zange!«, brüllte Taurus. »Virgo, der springende Punkt ist doch, dass du immer noch zu unserem … ähm, Team gehörst, oder etwa nicht?«

»Also ja, ich glaube schon«, sagte Virgo. »Wenn man mal davon absieht, dass ihr mir mein Kardia weggenommen und mich aus dem Elysium verbannt habt. Und dass ich erst wieder zurückkommen darf, wenn ich mich als Heldin bewiesen habe. Ganz zu schweigen von den sub-optimalen Sachen, die dauernd im Golden Racebook über mich geschrieben werden …«

»Ausgezeichnet!«, brüllte Taurus.

Virgo zuckte zurück, als sich plötzlich alle verdächtig weit zu ihr vorbeugten. Oder war vielleicht ihre Wahrnehmung irgendwie sub-optimal?

»Schluss jetzt mit diesem sinnlosen Geplänkel«, befahl Taurus und brachte die Plätzchen vor Scorpios Zangen in Sicherheit. »Fakt ist, dass du nicht zu einem gemütlichen Kaffeekränzchen hier bist. Wir haben einen offiziellen Auftrag für dich.«

Virgo atmete auf. Na also. Offenbar hatten sie sich doch nicht unsterblich nach ihrer Gesellschaft gesehnt. Das war sehr beruhigend.

Cancer zog einen der zahlreichen ledergebundenen Wälzer heraus, die ringsum in den Regalen standen, und warf ihn auf den Tisch.

»Wir müssen ein paar kleine Änderungen am Heiligen Gesetzbuch vornehmen«, verkündete er. »Und wie du ja wohl wissen dürftest, Virgo, braucht es dazu ein einstimmiges Votum des Zodiakrats. Das heißt, alle müssen abstimmen, sogar du.«

»Aber ich bin doch suspendiert«, wandte Virgo ein. »Ihr habt mich …«

Aries schlang eines seiner wolligen goldenen Beine um Virgos Schulter. »Lass uns die Vergangenheit begraben und hoffnungsfroh in eine bessere Zukunft blicken.«

»Eine sicherere Zukunft«, donnerte Taurus. »Und das will doch jeder von uns!«

Alle Köpfe am Tisch nickten heftig, was Virgo daran erinnerte, wie Elliot einmal wegen einer Wette mit voller Wucht gegen die Wand gerannt war. Sie unterdrückte ein Grinsen bei dem Gedanken an so viel sterbliche Dummheit.

Taurus räusperte sich und schnaubte durch seine gewaltigen Nüstern.

»Es könnte sein, dass deine Erklärungen bezüglich der Flucht des Todesdämons Thanatos vielleicht doch nicht so … ähm … sup-optimal waren, wie wir zunächst dachten.«

»NABITTE, ICHHAB’S EUCHJAGLEICHGESAGT!«, kreischte Virgo und sprang triumphierend von ihrem Sofa auf. »Ich wusste es doch, ich wusste es, ich hab ja gleich gesagt …«

Dann brach sie ab und blickte in die missbilligenden Gesichter der Zodiakräte. Sie war gerade dabei, eine Riesendummheit zu begehen, wie Elliot sagen würde.

»Na gut … ist ja auch egal«, murmelte sie und setzte sich wieder. »Aber wie kommt es, dass ihr plötzlich eure Meinung geändert habt?«

»Unser Netzwerk von Undercover-Agenten hat uns mehrere unbestätigte Sichtungen von Thanatos und seiner Mutter Nyx, der Göttin der Nacht, übermittelt«, gab Taurus zu.

»Die Feen posten andauernd Bilder von ihm auf Flitter, unter dem Hashtag: ThanatosIstGesundUndMunterUndWirSehenIhnStändig«, fügten die Gemini-Zwillinge hinzu.

»Haltet den Mund!«, brüllte Taurus. »Wie auch immer, es ist wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass …«

»… wir nichts darüber wissen«, warf Capricorn schnell ein.

Virgo blieb förmlich die Zunge zwischen den Zähnen stecken.

»Aber angesichts dieser unbegründeten Berichte halten wir es für ratsam … zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen zu treffen«, fuhr Taurus fort. »Wir haben hier eine Beobachtungsliste von unsterblichen Gefährdern, die sich, wie wir befürchten, mit Thanatos verbünden könnten, falls es – was höchst unwahrscheinlich ist – zu einem Konflikt kommen sollte. Wir sind der Meinung, dass es im öffentlichen Interesse ist, die fraglichen Personen – sowie alle anderen Gefährder auf unserem Bildschirm – im Tartarus einzusperren.«

»Das ist sehr weise«, nickte Virgo. »Wir müssen sie zum Verhör einbestellen, und wenn eure Informationen sich als zutreffend erweisen, unverzüglich vor Gericht bringen.«

Taurus wechselte einen nervösen Blick mit den anderen Zodiakräten. Schließlich erhob sich Pisces und watschelte um den Tisch zu Virgos Sofa herum.

»Siehst du, Kindchen – genau das ist das Problem«, sagte er und setzte sich so dicht neben Virgo, dass ihr halbes Hinterteil über die Sofakante rutschte. »Verhöre … Gerichtsverhandlungen … Anwälte … All das braucht Zeit und Geldmittel, die wir unserer Meinung nach sinnvoller investieren könnten. Und du weißt doch, wie sehr wir unnötige Verfahren hassen.«

»Ganz recht!«, brüllte Leo unter zustimmendem Gemurmel. »Ich habe sieben Wochenendkurse, dreizehn Betriebsausflüge und sechsundzwanzig Webinare zu dem Thema ›Wie vermeide ich unnötige Verfahren?‹ hinter mir. Ich kann dir meine Mindmap zeigen, wenn du willst.«

»Und was schlagt ihr vor?«, fragte Virgo mit zusammengezogenen Brauen.

»Schön, dass du fragst«, bellte Taurus. »Wir wollen nur eine kleine Verbesserung im Heiligen Gesetzbuch vornehmen. Unter der Bezeichnung Essigundöl-Erlass.«

»Es ist praktisch nichts …«, sagte Cancer.

»Sie werden es kaum merken …«, stimmte Aries zu.

»Und alle werden den Essigundöl-Erlass lieben …«, zwitscherten die Gemini-Zwillinge.

»Wir wollen den Rat lediglich dazu ermächtigen, bekannte unsterbliche Gefährder dingfest zu machen und aus dem Weg zu räumen, damit sie keinen Schaden anrichten können«, erläuterte Taurus. »Und zwar ab sofort.«

»Verstehe«, sagte Virgo. »Und darf ich fragen, wer diese unsterblichen Gefährder sind, um die es hier geht? Gibt es noch mehr gefangene Dämonen, von denen ihr angeblich nichts wisst?«

»Nicht direkt«, sagte Sagittarius, während er den Filmprojektor anknipste und einen Lichtstrahl auf die Wand warf. »Die, von denen hier die Rede ist, sind alle mitten unter uns – versteckt natürlich. Wir wissen, dass Werwölfe sehr aggressiv sein können …«

»Und mir sind auch schon sehr schlecht erzogene Vampire begegnet«, klagte Aquarius.

»Diese Elementargeister sind auf Flitter manchmal sooo gehässig«, seufzten die Gemini-Zwillinge.

»Und einmal hat ein Gnom vor mir an der Käsetheke gerülpst«, schnaubte Capricorn. »So was Unappetitliches!«

»Du siehst also«, fasste Sagittarius die Lage zusammen, »woher die Bedrohung kommt, lässt sich nur schwer abschätzen. Aber ich habe gründliche Nachforschungen angestellt und bin zu dem Schluss gekommen, dass die schlimmsten Gefährder in einem bestimmten Sektor der unsterblichen Gemeinschaft zu finden sind.«

Er knipste einen Schalter an und an der Wand erschien ein Kreisdiagramm. Darüber stand in großen roten Buchstaben nur das eine Wort: »Elementare«.

»Das versteh ich nicht«, wandte Virgo kopfschüttelnd ein. »Was denn für Elementare? Das ist doch eine riesige Kategorie. Und meines Wissens umfasst sie alle Unsterblichen, die weder Sternbilder noch Götter noch Helden, Neutrale oder Dämonen sind. Und das zeigt ja …«

»Genau«, knurrte Taurus und schaute ihr grimmig in die Augen. »Es könnte jeder von ihnen sein. Darum erhöhen wir die Alarmstufe. Wir glauben nicht, dass wir bereits Stufe Schwarz, also den Katastrophenfall, erreicht haben. Aber wir sind auf jeden Fall bei Stufe Braun …«

»Zur Toilette geht’s da lang«, kicherten die Gemini-Zwillinge anzüglich.

»Dann wollt ihr den Rat also dazu ermächtigen, jeden x-beliebigen Elementaren festzuhalten, selbst wenn er gar nichts Böses getan hat?«

»Noch nicht«, verbesserte Aries sie.

»Und ihr wollt sie einsperren, ohne sie anzuhören?«, fragte Virgo.

Die Räte nickten.

»Ohne Verhandlung?«

Erneutes Nicken.

»Ihr wollt sie einfach in den … den Tartarus werfen, ohne ihnen die Chance zu geben, sich vor einem unabhängigen Gericht zu verteidigen?« Virgo war fassungslos.

»Die Räte sind der Meinung, dass dieses neue Gesetz unverzichtbar ist«, sagte Taurus grimmig. »Die Ausmerzung der Dämonen hat uns allen jahrtausendelang Frieden und Sicherheit gebracht …«

»Nicht dass wir irgendwas darüber wüssten«, warf Pisces schnell ein.

»Und jetzt ist es an der Zeit, diese neue Bedrohung einzudämmen«, fuhr Taurus fort. »Wir hoffen sehr, dass du uns darin zustimmst.«

Virgo wälzte das alles in ihrem Kopf herum. Das Recht auf eine faire Verhandlung vor unparteiischen Richtern war einer der Eckpfeiler des Heiligen Gesetzbuchs. Virgo konnte den Paragrafen auswendig zitieren: »Regel Aiv7Socken: Jeder Unsterbliche hat das Recht auf eine faire Verhandlung. Der Passus stand zwischen zwei ebenso wichtigen Gesetzen: C49tGurke: Kein Unsterblicher darf beim Zähneputzen den Wasserhahn laufen lassen, und F4Bromley): Des Weiteren ist es Unsterblichen untersagt, einen einvernehmlich getätigten Tauschhandel wieder rückgängig zu machen. Das war fair. Und gerecht. Es war einfach richtig.

Auch gegenüber Elementaren.

»Kann ich euch mal was fragen?«, sagte Virgo ruhig.

»Ja, natürlich.« Taurus schaute sie aufmunternd an.

»Was immer du willst.« Pisces lächelte – ein bisschen zu eilfertig.

»Aber gerne doch«, säuselte Scorpio.

Virgo erhob sich langsam von ihrem Platz. Ihr war jetzt sonnenklar, was hier vorging.

»WOSINDDIEKLEINENGRÜNENMÄNNCHEN?«, schrie sie aus vollem Hals. »Ich weiß genau, dass ihr euch irgendwo versteckt. Zeigt euch gefälligst!«

Aber es kam keine Antwort. Kein einziges grünes Männchen war zu sehen.

»Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?«, fragte Aries kopfschüttelnd. »Wir verhandeln hier ein wichtiges Sicherheitsproblem! Das ist keine Lappalie wie diese neue Regel, dass man fünf Händevoll Obst am Tag essen soll!«

Virgo sank langsam auf ihr Sofa zurück. Nein, das war kein Albtraum – es passierte wirklich.

»Und wenn sie nicht damit einverstanden sind?«, fragte sie schwach. »Ihr könnt sie doch nicht zwingen!«

»Natürlich nicht«, sagte Taurus lachend und schubste einen kleinen goldenen Knopf auf dem Tisch herum. »Daran haben wir auch schon gedacht. Und wir haben uns entschlossen ein paar … ähm … Ordnungskräfte einzustellen.«

»Aber doch hoffentlich keine Satyr-Truppe«, seufzte Virgo. »Ich hab euch schon tausendmal gesagt, dass das keine echte Security ist – die ziehen sich nur für den Junggesellenabschied so an.«

»Nein, keine Satyre«, sagte Aries.

»Was dann?«, fragte Virgo.

Taurus schaute seine Kollegen Hilfe suchend an. Alle nickten ihm aufmunternd zu.

»Titanen«, sagte er entschlossen.

Virgo steckte sich einen Finger ins Ohr. Elliot hatte ihr mal gesagt, dass er ihr im Schlaf einen Käfer ins Ohr gesetzt habe, der jetzt langsam ihr Gehirn auffresse. Vielleicht war ihr Gehör irgendwie defekt?

»Ich weiß nicht, was mit meinen Ohren ist«, sagte sie und lachte ein bisschen zu laut. »Aber ich habe gerade ›Titanen‹ verstanden!«

Niemand lachte mit.

»D-das kann nicht euer Ernst sein«, stammelte Virgo entsetzt. »Die Titanen haben die Olympier von ihrem Thron gestürzt! Sie sind seit Jahrtausenden im untersten Höllenschacht des Tartarus eingesperrt. Sie stellen ein extremes Sicherheitsrisiko dar und wurden daher tief unter die Erde verbannt – so tief, dass ein Hammer, der vom Olymp aus hinuntergeschleudert wird, neun Tage braucht, bis er dort unten auftrifft. Wie wollt ihr überhaupt an sie herankommen?«

Hinter ihr ertönte ein leises Pling!

»Wir haben einen Lift installiert«, sagte Taurus.

Virgo drehte sich um und starrte auf eine riesige goldene Doppeltür. Ein kalter Luftzug fegte durch den Saal, als der Lift anhielt, und sie erschauerte.

Taurus ging langsam durch den Saal, um seine Gäste zu begrüßen. Totenstille senkte sich herab, während die Doppeltür aufglitt und … vier riesige goldene Fesseln zum Vorschein kamen. Virgo schluckte.

»Meine Herren!«, brüllte Taurus die Knöchel an. »Bitte tretet doch näher!«

Das erste Kniepaar knickte leicht ein, um ein gewaltiges Beinpaar preiszugeben, das nach oben hin in einen massigen Rumpf überging. Die zerfetzte schwarze Weste, in die dieser Rumpf gehüllt war, reichte an einen gewaltigen Hals mit einer kunstvollen blutroten Tätowierung. Als der riesige Kopf in Sicht kam, verzwirbelten die Tattoos sich zu Bockshörnern, und diese bogen sich über die großen Ohren hinauf und um die riesigen schwarzen Augen in der Mitte des mächtigen Glatzkopfs herum.

»Crius!«, schrie Taurus, der dieser Riesengestalt kaum bis zu den Knien reichte. »Danke, hab vielen herzlichen Dank, dass du gekommen bist. Ach, und bitte auch deinen Bruder herein.«

Crius drehte langsam den Kopf hin und her, um den lichtdurchfluteten Saal zu begutachten, und warf dabei einen riesigen Schatten auf den Boden. Sein Blick fiel auf Virgo, die verlegen zurückzuckte, denn sie hatte ganz unverhohlen auf die Tattoos gestarrt. Der Titan beugte sich herunter, bis sein gewaltiger Kopf auf gleicher Höhe mit dem des Ex-Sternbilds war. Virgo schluckte.

»Die sind mit Blut eingeritzt«, sagte der Titan und zeigte grinsend seine krummen gelben Zähne.

»D-d-das muss a-aber w-wehgetan haben«, stotterte Virgo.

Der Titan rückte so nahe an sie heran, dass sein Auge jetzt praktisch ihren ganzen Körper umfasste.

»Es war nicht mein Blut«, wisperte er vielsagend.

Ein leises Wimmern drang aus Virgos Kehle. All ihre Muskeln schalteten in den Fluchtmodus.

Der Titan richtete sich langsam zu seiner vollen Größe auf.

»Bruder!«, rief er mit einer so tiefen Stimme, dass Virgos Angst ins Unermessliche stieg. »Komm!«

Daraufhin bewegte sich ein kolossaler Fuß einen Schritt vorwärts. Aber dieser zweite Titan ging nicht in die Knie und ein gewaltiges Scheppern hallte durch den Saal, als er mit dem Kopf an die Decke des Lifts prallte.

»Autsch!«, grunzte es aus dem Lift.

»Bück dich. Blödmann!«, knurrte Crius und verdrehte die Augen.

Der zweite Titan hievte sich schwerfällig heraus. Seine Gestalt wirkte weniger einschüchternd als die seines Bruders: Zwar hatte er den gleichen massigen Rumpf, aber er war nicht ganz so groß wie Crius. Auch er war mit blutroten Mustern tätowiert und auf seinem Glatzkopf prangte ein roter Totenschädel. Zusammen boten die beiden einen wahrhaft grausigen Anblick.

»Willkommen!«, sagte Taurus nervös. »Vielleicht könntet ihr euch dem Zodiakrat einmal kurz vorstellen?«

Crius blickte sich erneut im Saal um.

»In Ordnung«, knurrte er. »Ich bin Crius – aber alle nennen mich Der Bock.«

»Und ich bin Coeus«, sagte sein Bruder. »Aber alle nennen mich … nennen mich … nennen mich …«

Er hielt inne und kratzte sich am Kopf.

»Ähm, wie nennen sie mich noch mal?«

»Das Gehirn. Schwachkopf«, fauchte Der Bock und versetzte seinem Bruder einen gewaltigen Stoß.

»Ich bin Coeus«, wiederholte der kleinere Titan. »Und alle nennen mich … Das Gehirn. Schwachkopf.«

Der Bock starrte seinen Bruder fassungslos an, dann richtete er seinen dunklen Blick wieder auf den Zodiakrat.

»Warum sind wir hier?«, fragte er.

»Wir haben festgestellt, dass ihr eine ungewöhnlich lange Haftstrafe verbüßen musstet«, sagte Aries. »Ihr hattet also Zeit genug, über eure Verbrechen nachzudenken, und wir sind überzeugt, dass euch alles von Herzen leidtut.«

»Das kannste laut sagen«, stimmte Das Gehirn zu. »Es tut uns verdammt leid, dass wir erwischt worden sind.«

Daraufhin kassierte er den nächsten Rippenstoß von seinem Bruder.

»Aufrichtige Reue … ausgezeichnet«, sagte Cancer hastig. »Wir möchten euch die Gelegenheit geben, eure Lage zu verbessern. Wenn ihr uns helft, sind wir im Gegenzug bereit eure Isolationshaft im Hochsicherheitstrakt zu überdenken. Möglicherweise könnten wir erwirken, dass ihr euch künftig frei im Tartarus bewegen dürft.«

»Super!«, brüllte Das Gehirn begeistert. »Dann ist es ja viel einfacher für uns, endlich die Flatter zu machen.«

Eine schallende Ohrfeige vom Bock brachte ihn zum Schweigen.

»Und was ist damit?«, fragte Der Bock und zeigte auf die goldenen Fesseln an seinem linken Knöchel.

Die Zodiakräte wechselten nervöse Blicke miteinander.

»Die würden wegfallen«, versprach Leo. »Vorausgesetzt, wir sind mit eurer Arbeit zufrieden.«

»Was ist das?«, flüsterte Virgo Libra, der Waage, zu.

»Muskelhemmer«, flüsterte Libra zurück, während sie zwei Scones in ihren beiden Schalen abwog. »Setzen ihre Kräfte herab. Sonst wären sie nicht mehr aufzuhalten.«

»Und wir nehmen ihnen … diese Dinger ab?«, fragte Virgo ungläubig.

»Erst wenn sie uns versichert haben, dass wir ihnen vertrauen können.« Libra tippte sich an die Nase. »Narrensicher, verstehst du?«

Virgo bezweifelte, dass ihre Zodiakkollegen überhaupt wussten, was Narren waren. Sie schaute zum Bock auf, der seinen Bruder angrinste.

»Stets zu Diensten«, schleimte er.

»Ausgezeichnet«, brummte Taurus erleichtert und bedeutete Cancer, mit ihren Ausführungen fortzufahren.

»Das Gesetz ist eindeutig«, dozierte Cancer, der Krebs, und balancierte seine Brille über dem Kopf. »Ohne das einstimmige Votum aller Zodiakräte, selbst der suspendierten – das schließt also dich mit ein, Virgo –, können wir keine Änderungen im Heiligen Gesetzbuch beschließen. Wir anderen sind uns alle einig. Wir brauchen nur noch deine Stimme.«

»Also«, sagte Taurus mit einem finsteren Blick zu Virgo. »Bist du auf unserer Seite?«

Virgo sank auf ihr Sofa zurück und atmete langsam aus. Das war eine echte Zwickmühle. Wenn sie zustimmte, konnte künftig jeder Elementare ohne Verhör in den Tartarus gesperrt werden. Von Titanen. Das war nicht nur sub-optimal. Das war schlicht falsch.

»Es tut mir leid«, sagte sie schließlich leise. »Ich kann nicht.«

Taurus schnaubte ärgerlich. Er nickte Aries zu, der ein kleines goldenes Kästchen vor Virgo hinstellte.

»Wir haben schon befürchtet, dass du das sagen würdest«, raunzte er. »Dürfen wir dich also daran erinnern, dass wir immer noch das hier haben?«

Taurus ließ den Deckel aufschnappen. Das Kästchen enthielt eine Halskette mit einem Kristallanhänger, einem Herzen in einer Flamme. Ein Kardia. Virgos Kardia – der Garant ihrer Unsterblichkeit. Virgos Herz schwoll an vor Sehnsucht. Nichts auf der Welt wünschte sie sich mehr, als endlich ihr Kardia zurückzubekommen – nicht einmal diese überteuerten Duft-Schreibmäppchen, die sie bei den anderen Mädchen in der Schule gesehen hatte und auf die sie so versessen war.

Es schien eine Ewigkeit her, seit sie das Kardia zum letzten Mal um ihren Hals gespürt hatte. Und jetzt lag es vor ihr, in greifbarer Nähe. Virgo konnte es bereits dort sehen, wo es hingehörte. Und sich selbst konnte sie auch dort sehen, wo sie hingehörte.

Sie hob die Finger, um das kostbare Kardia zu berühren …

SCHNAPP!

Der Deckel des Kästchens knallte zu. Als Virgo aufschaute, ragte Taurus über ihr auf. Seine Nüstern blähten sich wie zwei Segel auf stürmischer See.

»Also«, sagte er drohend. »Was ist jetzt? Gehörst du zu unserem Team? Oder nicht?«

Virgo duckte sich in ihren Sitz. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie riesig Taurus war. Und sein roter Haarschopf war vielleicht doch keine billige Perücke.

»I-ihr habt gesagt, ich muss mich erst als Heldin erweisen«, stotterte sie, »… um mein Kardia zurückzugewinnen. Erst muss ich eine Heldin werden, das habt ihr gesagt.«

»Aber verstehst du denn nicht, Kind?« Aries kam herüber und setzte sich neben sie auf das Sofa. »Es gibt viele Möglichkeiten, ein Held zu werden. Was wir hier tun, ist auch heldenhaft. Wir retten die Welt vor unsterblichen Gefährdern – was, bitte, könnte heroischer sein?«

»Nicht alle Helden haben Schwerter«, fügte Pisces hinzu und ließ sich auf Virgos anderer Seite nieder. »Manche haben auch Aktenordner.«

»Wenn du für diesen Beschluss stimmst, sodass wir alle unsterblichen Gefährder aus dem Weg räumen können – nun, dann bleibt uns gar nichts anderes übrig, als dir dein Kardia zurückzugeben«, flötete Cancer.

Virgo überdachte ihre Lage. Ihr Kardia zurückbekommen! Und damit ihre Unsterblichkeit! Ganz zu schweigen von ihrer einzigartigen silbernen Haarpracht! Und nie wieder Broccoli essen müssen!

Sie versuchte zu schlucken, aber ihr Mund war seltsam trocken.

Taurus kehrte an seinen Platz am Kopfende des Tisches zurück.

»Also, dann lasst uns jetzt zur Abstimmung schreiten«, sagte er grimmig. »Wer für unseren Beschluss stimmt – den sogenannten Essigundöl-Erlass –, erhebe die Hand.«

Benommen schaute Virgo zu, wie zwölf Hände in die Luft schnellten.

Einen Augenblick saß sie reglos da, doch dann, mit einem Herzen so schwer, als wäre es gerade von einer ausgewachsenen Gorgone in Stein verwandelt worden, hob Virgo langsam ihren Arm.

Elliot schaute auf die Zeiger der Küchenuhr, die ihren Weg bis 11:00 Uhr vormittags aufreizend langsam fortsetzten. Sein Herz flatterte und ein unangenehmer Angstgeschmack würgte ihn ganz hinten in der Kehle.

Er warf einen Blick auf Josie, die in ihrem Lieblingssessel am Kamin saß und in die Flammen starrte. Das machte sie jetzt immer öfter. Einfach nur … starren. Athene und Aphrodite hatten ihr geholfen sich so hübsch wie möglich zu machen: Sie hatten ihr die Haare gestylt, etwas Make-up aufgetragen und sie in ihr rotes Lieblingskleid gesteckt. Aber die Schminke sah irgendwie falsch an Josie aus – als hätte jemand ein verblichenes Porträt nachkoloriert. Elliot schloss die Augen und sah seine Mum vor sich, wie sie in diesem Kleid auf einer seiner Geburtstagspartys getanzt hatte – sie hatte kaum den Boden berührt und der Rock war um sie herumgewirbelt, als führte er ein Eigenleben. Aber heute tanzte das Kleid nicht. Es sah sehr, sehr müde aus.

»Alles okay, Mum?« Elliot lächelte ihr zu und nahm ihre Hand.

Josie hob den Kopf, als lauschte sie auf ein längst vergessenes Lied. Langsam drehte sie sich zu Elliot um, sagte aber nichts. Sie hatte heute ihren stummen Tag. Elliot küsste sie sanft. Still ist gut, dachte er seufzend. Also jedenfalls besser als verwirrt, weinerlich oder aggressiv.

Die Götter hatten sich bei Hermes im Stall versteckt und sein Dad war auf den Feldern draußen. Nur Elliot und Josie waren da. Er konnte sich kaum noch vorstellen, dass das früher immer so gewesen war – ihr ganz normaler Alltag.

Das Klopfen an der Tür hallte durch seinen ganzen Körper. Hephaistos hatte den magischen Zaun deaktiviert, der sonst die Home Farm beschützte, und Elliot hatte vergessen, dass der Besuch also direkt an die Haustür kommen würde. Auf einmal fühlte er sich sehr verletzlich. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, die Götter wegzuschicken?

Dann ertönte ein zweites, sanfteres Klopfen. Egal, jetzt war es sowieso zu spät.

Er holte langsam Luft, setzte sein bestes Lächeln auf und öffnete die Haustür.

»Hi, Elliot«, begrüßte ihn Ms Givings, die Schulsozialarbeiterin, freundlich. »Das ist mein Kollege, Mr Trick.«

Elliot kannte die zierliche rothaarige Ms Givings bereits von dem Treffen im Büro des Schulleiters. Mr Trick dagegen war neu – genau wie seine Designer-Jeans, sein T-Shirt und seine Jacke. Elliot unterdrückte ein Grinsen, als er sich vorstellte, wie seine Granny den Besucher von Kopf bis Fuß taxiert hätte. »Geschmack kann man nicht mit Geld kaufen«, hätte sie gebrummt.

»Hallo, Elliot«, sagte der Mann in diesem gekünstelten Tonfall, den Erwachsene annehmen, wenn sie keine Ahnung haben, wie man mit Kindern oder Jugendlichen spricht. »Können wir ’ne Weile bei dir abhängen?«

»Ja, klar«, sagte Elliot und klatschte Mr Tricks aus­gestreckte Hand ab. »Ähm … hängen Sie ab, so viel Sie wollen.«

Dann führte er die Besucher ins Wohnzimmer.

»Hallo, Mrs Hooper.« Ms Givings streckte ihre Hand zur Begrüßung aus. »Schön, Sie kennenzulernen.«

Elliot hielt den Atem an, als Josie auf Ms Givings’ Hand starrte. Zögernd hob seine Mum ihre eigene Hand und nahm die von Miss Givings. Elliot atmete auf. Hatte das zu lange gedauert? Hatte Ms Givings etwas gemerkt?

»Hey, Elliot – coole Hütte ist das hier«, sagte Mr Trick und ließ seine Finger vorschnellen wie eine Pistole. »Wie wär’s denn mit ’nem kleinen Rundgang? Das volle Programm?«

»Ja, gleich«, wehrte Elliot ab. Er hatte nicht die Absicht, seine Mum auch nur eine Sekunde länger als unbedingt nötig mit diesen Leuten allein zu lassen. »Ich mach nur schnell Tee.«

»Oh, supi.« Mr Trick hielt beide Daumen hoch. »Milch, kein Zucker, bitte. Bin auch so schon süß genug.«

Elliot zwang sich zu einem Lachen. Mit mäßigem Erfolg.

»Ihr Zuhause ist wunderschön, Mrs Hooper«, sagte Ms Givings zu Josie und setzte sich auf die Couch. »Haben Sie immer hier gelebt?«

»Ja, unsere Familie lebt schon sehr lange hier«, rief Elliot aus der Küche heraus, während er den Wasserkessel beschwor endlich zu kochen, damit er ins Wohnzimmer zurückkonnte. »Generationen von Hoopers.«

Josie lächelte, sagte aber nichts.

»Also – wie wir in unserem Brief erklärt haben«, fuhr Ms Givings fort und zog ein Notizbuch hervor, »sind wir heute zu einem inoffiziellen Besuch hier, damit wir Ihren Sohn und Sie besser kennenlernen und uns davon überzeugen können, dass Sie alles haben, was Sie brauchen. Ist das okay?«

Josie starrte stumm vor sich hin.

»Super«, sagte Ms Givings.

Elliot hielt es nicht mehr aus und raste ins Wohnzimmer zurück. Der Wasserkessel brauchte einfach zu lange. Verstohlen beobachtete er Ms Givings. Falls ihr aufgefallen war, dass hier etwas nicht stimmte, ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken.

»Ey, El – was ist jetzt mit unserem Rundgang?«, tönte Mr Trick mit einem Lächeln, bei dem sich die ungekochten Spaghetti in der Packung krümmten. »Willst du mir vielleicht mal deine Junggesellenbude zeigen?«

»Ja, sehr gerne«, log Elliot und öffnete die Keksdose. »Möchten Sie vielleicht ein Plätz… Aaaaah!«

»Mann, Alter«, sagte Mr Trick – wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben. »Alles okay mit dir?«

Elliot knallte den Deckel der Keksdose wieder zu.