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»Großes Actionkino.« Börsenblatt Der Gejagte schlägt zurück: Niels Oxen begibt sich auf einen gnadenlosen Rachefeldzug Teil drei der erfolgreichen OXEN-Serie Niels Oxen und Margrethe Franck sind »gefrorene Flammen«: Um seinen Verfolgern zu entkommen, flieht der traumatisierte Elitesoldat auf die schwedischen Schären. Seine Mitstreiterin, die ehemalige Geheimdienstmitarbeiterin Margrethe Franck, hält sich mit Aushilfsjobs über Wasser. Beide wurden vom Geheimbund Danehof zur Tatenlosigkeit verurteilt – doch innerlich brennen sie weiter. Und schließlich schlägt der Gejagte zurück: Oxen begibt sich auf einen gnadenlosen Rachefeldzug gegen die Killer des Danehof. Denn er will sein altes Leben zurück. Um jeden Preis. Für Leser:innen von Jussi Adler-Olsen, Stieg Larsson und Fans von skandinavischen Krimis und Thrillern. »Alles, was ein Thriller braucht: Mord, Hinterhalte, Verfolgungen und Verschwörungen.« Reinhard Oldeweme, Freie Presse »Jens Henrik Jensen hat sich mit dem dritten Teil der Serie um den hochdekorierten Elitesoldaten Niels Oxen selbst übertroffen. ›Gefrorenen Flammen‹ lodert vor Spannung, brodelt vor Action und wimmelt nur so von schillernden Figuren – erzählt auf eine Weise, für die es nur ein einziges Wort gibt: Klasse.« Arne Mariager in ›Jyske Medier‹ »Dieses Buch steckt voller Raffinesse und trotz aller Brutalität voller Menschlichkeit. Alles hängt miteinander zusammen und verschmilzt am Ende zu einer großen Einheit. Schlicht und einfach ein großartiger Krimi. Unglaublich gut geschrieben und fesselnd bis zum allerletzten Punkt.« Litteratursiden.dk Alle Bände der Niels-Oxen-Reihe: Band 1: OXEN. Das erste Opfer Band 2: OXEN. Der dunkle Mann Band 3: OXEN. Gefrorene Flammen Band 4: OXEN. Lupus Band 5: OXEN. Noctis Band 6: OXEN. Pilgrim Von Jens Henrik Jensen sind bei dtv außerdem die skandinavischen Thriller-Serien SØG und EAST erschienen.
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Seitenzahl: 798
Jens Henrik Jensen
Oxen
Gefrorene Flammen
Thriller
Aus dem Dänischen von Friederike Buchinger
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für Hugo, Victor und Mai
Die Gestalt saß reglos auf dem Felsen, um in der Sonne Kraft zu tanken wie ein ausgehungertes, wechselwarmes Reptil.
Zwischen kleinen Kiefern und Mooskissen standen trostlose Inseln aus braunem Heidekraut, und die Schneereste im Dauerschatten der Felsspalten ließen erahnen, dass der Winter noch nicht zu Ende war.
Das Einzige, was sich in Sichtweite bewegte, war eine Krähe, die in einer Senke an etwas herumpickte, das nur noch vage an den Kadaver eines Hasen erinnerte.
So früh im Jahr war alles hier karg und mager.
Die Gestalt auf dem Felsen schien im Schneidersitz erstarrt zu sein. Der Rücken war aufrecht, die Füße nackt, die Hände ruhten auf den Oberschenkeln.
Es war ein Mann.
In dem harten Märzlicht traten die zahlreichen Narben auf seinem nackten Oberkörper deutlich sichtbar hervor. Manche waren alt und blass, andere noch frisch und dunkellila. Geschwungene und gezackte Linien, die sich überall auf dem blassen, sehnigen Körper abzeichneten, mit Hunderten von Stichen zusammengeflickt.
Seine langen Haare trug der Mann in einem kleinen Pferdeschwanz im Nacken, und an Hals, Kinn und Wangen wuchs ein spärlicher, widerspenstiger Bart. Er sah aus wie ein Schiffbrüchiger, der in einem Archipel aus Felsen, Heide und Nadelbäumen gestrandet war.
Er hatte die Augen geschlossen, das Gesicht zur Sonne gewandt. Es war eine strategisch günstige Stelle zwischen zwei großen Felsblöcken, wo die Luft wärmer war und der Wind ihn nicht erreichen konnte.
Seit einer halben Stunde hatte er sich nicht mehr bewegt. Keine Hand gehoben. Nicht mit dem Finger gezuckt. Keine Augenbraue hochgezogen oder die Nase gerümpft. Das Ganze wirkte wie ein konzentrierter Energieaustausch – zwischen dem unbedeutenden Organismus auf dem Felsen und dem Leben spendenden Stern in 149 600 000 Kilometern Entfernung.
Links neben dem Mann standen alte Gummistiefel, seine Strümpfe hatte er in den Schaft gestopft. Rechts von ihm lagen ein T-Shirt, ein Holzfällerhemd und ein Strickpullover. Ganz oben auf dem Kleiderhaufen blitzte etwas in der Sonne. Ein Messer. Auf der Klinge waren Rostflecken, und auch der Griff hatte schon bessere Zeiten gesehen. Er war repariert und mit fester Schnur umwickelt.
Als der Mann sich irgendwann wieder bewegte, tat er es unendlich langsam, als wäre die Sonne noch nicht fertig damit, seine Muskeln mit neuer Kraft zu füllen.
Er streckte seine Arme nach vorn und hob sie bis in die Senkrechte. Dann atmete er tief ein und langsam wieder aus, während er die Arme wie in Zeitlupe seitlich sinken ließ, zurück in die Ausgangsposition, um die Übung von Neuem zu beginnen.
Er war gerade mitten in der sechsten Wiederholung, die Arme nach oben gestreckt, als er sie plötzlich fallen ließ und wachsam den Kopf drehte. Er hatte etwas gehört. Fremde Stimmen drangen von dem Fußweg zu ihm herauf, der an seinem Sonnenplatz auf der kleinen Felsformation vorbeiführte.
Der Mann verschwendete keine Zeit darauf, sich anzuziehen. Er klemmte sich rasch das Messer zwischen die Zähne. So hatte er beide Hände frei und konnte sich abstützen. Geschmeidig wie eine Raubkatze glitt er lautlos nach unten und ging hinter einem riesigen frei stehenden Findling am Wegrand in die Hocke.
Vorsichtig spähte er hinter dem Stein hervor. Die Stimmen wurden lauter, dann tauchten zwei Männer auf. Sie spazierten gemächlich nebeneinanderher und unterhielten sich. Er presste sich an den Fels und prägte sich blitzschnell alle Details ein.
Die Männer waren beide um die siebzig, aber davon ließ er sich nicht einlullen. Feinde gab es in jeder Altersklasse.
Sie trugen Wanderstiefel, der eine hatte einen kleinen Rucksack dabei. Ihre Kleidung war gepflegt und zweckmäßig, perfekt geeignet für einen Ausflug in die Natur, in Jägergrün und Grau, eine lockere Jacke und eine Weste mit einem Fleecepullover darunter. Er suchte nach einer kleinen Wölbung im Stoff, die darauf hindeuten könnte, dass die Männer bewaffnet waren, und achtete genau auf ihre Blicke, um herauszufinden, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richteten.
Es kam äußerst selten vor, dass sich Fremde in diese abgelegene Gegend verirrten, die seit ein paar Monaten sein Zuhause war. Schon die Jahreszeit machte ihn misstrauisch. Mitte März … Eigentlich zu früh für Wanderer, aber nichts an den beiden älteren Herren löste Alarm bei ihm aus.
Als sie schließlich an dem Findling vorbeigingen, konnte er hören, dass sie gerade diskutierten, wie man das Geld aus der Altersvorsorge am besten anlegen sollte. Ihr Gesprächsthema beruhigte ihn endgültig. Er blieb in seinem Versteck, bis die Männer außer Sicht waren.
Das kleine weiße Holzhaus mit dem gewellten roten Stahlblech auf dem Dach leuchtete förmlich in der Sonne. Es stand auf einem flachen Hügel über der kleinen Bucht mit dem Boot am Anleger, und dahinter waren nur noch Felsen. In diesem Licht sah es aus, als hätte jemand das Haus frisch gewaschen und zum Trocknen in den blauen Himmel gehängt.
Zum ersten Mal im neuen Jahr, in dieser neuen Welt des Mannes, hatte die Sonne wirklich Kraft. Ein herrlicher Tag.
Er hatte auch an anderen Tagen schon auf seinem flachen Felsen gesessen, mit nacktem Oberkörper die Sonne genossen und sich dabei tief in das eigene Sein versenkt, aber dieser Tag heute war der schönste von allen, unvergleichlich. Bald würde der Frühling das Regiment übernehmen.
Er verließ den Fußweg und folgte dem schmalen Trampelpfad zum Haus. Als er um die Hausecke in den Garten bog, sah er sie, noch bevor sie ihn bemerkte. Sie saß auf ihrem üblichen Platz, mit dem Rücken zum Feuerholz, die Staffelei leicht schräg ausgerichtet, um das Licht im richtigen Winkel einzufangen. Ihre grauen Haare waren unter einem breitkrempigen Strohhut versteckt.
Sie malte wieder Blumen. Er hatte sie noch nie etwas anderes malen sehen. Als sie ihn entdeckte, winkte sie ihm mit dem Pinsel und rief ihm auf Englisch zu:
»Hello, Dragos! Warst du wieder spazieren? Immer in Bewegung, was? Du bist wirklich eine rastlose Seele.«
»Rosen?«, fragte er.
Die Frau lächelte und schüttelte den Kopf.
»Tulpen. Jede Menge Tulpen …«
Der Ruf gellte durch die Werkstatt, eher eine Feststellung als eine Frage: »Lars Thøger Fritsen?«
Der Postbote war hereingekommen, während er gerade mit der Flex an dem Auto gearbeitet hatte, das auf der Hebebühne stand. Der Mann hatte einen derart militärischen Ton am Leib, dass Fritsen fast die Hacken zusammengeknallt und sich zum Rapport gemeldet hätte. Doch dann begnügte er sich damit, misstrauisch hinter dem Vorderrad des Toyota hervorzuspähen.
»Hier«, sagte er.
»Einschreiben«, polterte der Postbote weiter. »Ich brauche eine Unterschrift, danke.«
Fritsen legte den Winkelschleifer beiseite und kam unter dem alten Kombi hervor.
»Einschreiben?«
»Ja, hier, bitte«, sagte der Postbote und reichte ihm einen großen, gefütterten Umschlag. »Und hier unterschreiben.«
Fritsen kritzelte seinen Namen auf das elektronische Unterschriftsfeld.
»Danke«, sagte der Postbote und wünschte ihm im selben Atemzug einen schönen Tag, ehe er aus der Werkstatt marschierte.
Fritsen blieb stehen und musterte verwundert den Umschlag. Er erwartete nichts, schon gar kein Einschreiben.
»L. T. Fritsens Autowerkstatt, Amagerbrogade 108, 2300 Kopenhagen, z. Hd. Lars Thøger Fritsen persönlich«. Auf der Rückseite stand der Absender, eine Kopenhagener Anwaltskanzlei, Sjørsleb, Blaufeldt & Juel. Der Name sagte ihm gar nichts.
Er wog das Kuvert in der Hand und tastete es mit den Daumen ab. Es war erstaunlich schwer und enthielt offenbar einen länglichen Gegenstand aus irgendeinem harten Material.
»Und? Klappt es?«
Er schaute seinen Lehrling fragend an, der mit dem kaputten Scheinwerfer eines getunten schwarzen BMW kämpfte. Im Augenblick sah die Karre wie ein Wrack aus. Die gesamte Kühlerhaube war zusammengefaltet, nachdem der Fahrer nähere Bekanntschaft mit einem Baum gemacht hatte. Nach Absprache mit der Versicherung sollte der ganze Schrott ausgetauscht werden.
Der Lehrling nickte nur kurz. Fritsen zögerte einen Moment, ehe er beschloss, die mysteriöse Post in seinem Büro zu öffnen.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schob einen Stapel Papier beiseite, um Platz zu machen. Dann riss er das Kuvert mit dem Daumen auf. Er rieb sich die Hände vorsorglich am Hosenbein ab und zog schließlich eine schwarze Plastikschachtel und einen Brief aus dem Umschlag. Er nahm seine Lesebrille aus der Brusttasche.
»Sehr geehrter Herr Lars Thøger Fritsen, unsere Kanzlei wurde damit beauftragt, den Nachlass von Frau Gudrun Oxen zu verwalten, zuletzt wohnhaft im Pflegeheim Solbakken, Ringsted. Bei der Sichtung der Hinterlassenschaften sind wir auf die beiliegende Kassette gestoßen, die mit einer schriftlichen Anweisung des Sohnes der Verstorbenen, Herrn Niels Oxen, versehen war. Er bittet darum, die Kassette an Sie zu übersenden, sofern er nicht über den Tod seiner Mutter informiert werden kann.«
Was zur Hölle wollten die ihm damit sagen? Er überflog den ersten Abschnitt ein zweites Mal, dann las er weiter.
»Wir sind ferner über die unklare Situation des rechtmäßigen Besitzers der Kassette, Niels Oxen, informiert. Da die Umstände seines mutmaßlichen Todes nicht geklärt sind, ist es den Angehörigen frühestens in fünf Jahren möglich, ihn für tot erklären zu lassen. Wir haben die Tochter der Verstorbenen, Frau Susanne Oxen Viig, über diese Problematik in Kenntnis gesetzt. Sie hat sich damit einverstanden erklärt, den Anweisungen ihres Bruders zu entsprechen. Wir bestimmen Sie somit zum rechtmäßigen Verwalter der Anlage dieser Postsendung (s. beigelegte Kopie der Zustimmung von Frau Oxen Viig samt einer genauen Auflistung des Inhalts der Kassette) und erlauben uns, den Vorgang hiermit als abgeschlossen zu betrachten.«
Oxen? Gudrun Oxen, Susanne Oxen – und Niels.
Vorsichtig öffnete er die Kassette. Sie war mit rotem Samt ausgeschlagen – und mit Herz und Mut gefüllt. Niels Oxen auf dem Totenbett, in absentia. Sein Leben erzählt in vier Orden.
Der erste war ein Orden für Tapferkeit. An die Geschichte dahinter erinnerte er sich nicht mehr. Und auch den zweiten hatte Oxen für seine Tapferkeit erhalten, ergänzt um silbernes Eichenlaub. An diese Geschichte erinnerte er sich besser als an jede andere. N. O. hatte den Orden bekommen, weil er, ohne zu zögern, bei Kostajnica in die Una gesprungen war, um einen Kameraden der Bravo-Kompanie zu retten, der von einem serbischen Heckenschützen getroffen worden war.
Dieser Kamerad war er selbst gewesen, L. T. Fritsen.
Manchmal juckte die Narbe in seinem Brustkorb noch. Und manchmal spürte er, wie sich das kalte, schwarze Wasser um ihn schloss, an der Schleuse zum Tod. Und jedes Mal wachte er nass geschwitzt auf, nachdem ihn starke Arme ins Leben zurückgezerrt hatten.
Der dritte Orden war die Tapferkeitsmedaille mit goldenem Eichenlaub. Wenn ihn die Erinnerung nicht täuschte, dann hatte N. O. sie nach einem Einsatz erhalten, als die dänischen Jägersoldaten an der Operation Enduring Freedom in Afghanistan beteiligt gewesen waren. N. O. war einer Helikopterbesatzung zu Hilfe gekommen, die unter heftigen Beschuss geraten war.
Vorsichtig öffnete er die Sicherheitsnadel, mit der die vierte und letzte Auszeichnung an dem Samt befestigt war. Ehrfürchtig legte er sich den Orden auf die ausgestreckte Handfläche.
Es war die höchste Auszeichnung von allen. Die nur in ganz besonderen Fällen verliehen wurde. Niels Oxen war der Einzige, der das Tapferkeitskreuz je erhalten hatte. 2009, als Soldaten des Jägerkorps in der afghanischen Helmand-Provinz stationiert waren, hatte N. O. sich hinter die feindlichen Linien gepirscht und eigenhändig acht Talibankrieger niedergekämpft, um seine Kameraden zu retten, die in einen Hinterhalt geraten waren.
Vorsichtig legte er das dekorative schwarze Kreuz zurück. Die vier Orden verschwammen vor seinen Augen.
Nein, nicht jetzt, nicht bei der Arbeit, an einem ganz normalen Vormittag. Er würde jetzt nicht … Verärgert wischte er sich mit dem ölverschmierten Handrücken eine Träne weg.
Er musste sich um den Toyota auf der Hebebühne kümmern. Der musste schließlich bis morgen fertig werden.
Doch dann übermannte ihn das alles mit ungeahnter Wucht. Er konnte nichts dagegen tun. Die Tränen liefen einfach und hörten nicht auf. Über sein Gesicht, die Lippen, den Hals und direkt in das Loch, das Oxens Tod gerissen hatte.
»Chef, ich bräuchte mal …« Der Lehrling platzte herein und blieb wie vom Donner gerührt stehen. »Äh … ist alles in Ordnung?«
Er blickte hoch und nickte.
»Jaja, kein Problem …«
»Äh, okay, es eilt nicht.«
Der Junge verdrückte sich rückwärts aus dem Büro und zog die Tür hinter sich zu.
Fritsen stellte die Kassette auf den Schreibtisch. Die Orden funkelten im Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel. Am meisten quälte ihn die Ungewissheit. Würde Oxens Leiche jemals gefunden werden, sodass er beerdigt werden konnte? Hatten sich Krebse und Aale über ihn hergemacht? Gab es im Meer überhaupt so etwas wie Totenruhe? Oder hatte ihn eine Schiffsschraube zerfetzt und das Fleisch von seinen Knochen gerissen? Und sollte er eines Tages an eine fremde Küste gespült werden … würde sich dann jemand um ihn kümmern? Dafür Sorge tragen, dass man ihm den Respekt erwies, den er mehr als jeder andere verdient hatte?
Fritsen blieb reglos auf dem Schreibtischstuhl sitzen, während alles noch einmal an seinem inneren Auge vorbeizog.
Der Tag, als Oxen ihn aus der Una gefischt hatte. Die Zeit im Krankenhaus. Die wachsende Freundschaft, die sich zu einem starken Band entwickelte. Die Jahre, in denen Oxen immer wieder in seiner Werkstatt aufgetaucht war – nur um ein bisschen zu quatschen, nur um ein wenig Dampf abzulassen. Dann das langsame Abrutschen, das in einem Kellerzimmer im Nordwestquartier geendet hatte, als sich die Dunkelheit um seinen alten Kameraden schloss.
Er hatte versucht, ihn zu unterstützen, und ihm seinen wohlmeinenden Rat gegeben. Aber Niels Oxen war ein Mensch, der seine eigenen Wege ging und Entscheidungen allein traf. Das war seine Stärke. Und seine Schwäche.
Auch wenn sie sich nur noch selten gesehen hatten, hatte er immer wieder etwas für Oxen repariert. »Reparieren«, das konnte er gut. Oder notfalls kannte er jemanden, der es konnte.
Das alles war jetzt vorbei. Und die Orden lagen auf seinem Schreibtisch. Wie diese Frau vom polizeilichen Nachrichtendienst es ihm damals prophezeit hatte. Franck hieß sie, und sie hatte die Orden und den Brief mit Oxens Anweisung in einer Schublade entdeckt, als sie seine demente Mutter in dem Pflegeheim in Ringsted besucht hatte.
Wie hatte es bloß so enden können? In den letzten zwei Jahren hatte er nur Bruchstücke aus Oxens Leben mitbekommen, aber er kannte den Anfang. Und das Ende.
Man hatte es ihm, genau wie dem Rest des Landes, in den Medien serviert: Der Kriegsveteran, der verdächtigt wurde, einen alten Fischzüchter ermordet zu haben, hatte in einem kleinen nordjütischen Hafen ein Boot gestohlen. Damit war er nachts in Richtung Schweden aufgebrochen, aber dann war es kurz vor dem Ziel angeblich zu einer Explosion an Bord gekommen. Schwedische Zeugen hatten einen Lichtschein auf dem Meer gesehen, und später hatte man Wrackteile des dänischen Bootes gefunden. Aber keine Spur von Niels Oxen.
Seine Augen brannten immer noch, als er schließlich die Nummer seiner Frau wählte. Zum Glück ging sie sofort ans Telefon.
»Ich bin’s. Ich habe eben seine Orden mit der Post bekommen. Auch das Tapferkeitskreuz. Ich bin ziemlich durch den Wind, Schatz …«
Er erzählte ihr, was passiert war, und er erzählte ihr, wie es ihm damit ging, so wie er es immer tat. Sie war der Dreh- und Angelpunkt seines Lebens. Sie kannte ihren Soldaten. Sie hörte ihm zu und gab ihm Rat. Er hatte sich Luft verschafft. Er legte auf. Beim Abendessen würden sie alles noch einmal besprechen.
Diese ganze Geschichte mit Niels stank zum Himmel …
Der Niels Oxen, den er kannte, hätte niemals einen wehrlosen alten Mann umgebracht. Er hätte nie jemanden umgebracht, der kein echter Feind war. Es war unglaublich traurig. Eine große, schmutzige Lüge, der ein kleiner Mann wie er machtlos gegenüberstand. Und das ganze Land glaubte das Märchen vom gefallenen Kriegshelden. Der Gedanke war unerträglich.
Oxens wahres Vermächtnis lag hier vor ihm auf dem Schreibtisch, auf roten Samt gebettet.
Langsam stand er auf. Er hatte einen Toyota fertig zu machen.
Die Bürolandschaft des Importunternehmens für Landmaschinen lag menschenleer vor ihr. Es war ihre zweite Woche bei der Reinigungsfirma, und jetzt startete ihre Spätschicht hier in Ballerup.
Es war kurz nach neun. Draußen war es dunkel, und die Plackerei hatte gerade erst begonnen, als sie, bewaffnet mit Lappen und Seifenlauge, den Putzwagen den Flur hinunterschob.
Sie hörte, wie hinter ihr eine Tür zufiel. Das war ihr Chef, der in die entgegengesetzte Richtung loszog, um die kleineren Büros zu übernehmen. Er war, ohne zu zögern, eingesprungen, als ihre Kollegin, eine junge Litauerin, die er für diesen Abend eingeteilt hatte, nicht aufgetaucht war.
Bis heute hatte sie ausschließlich mit polnischen, litauischen oder lettischen Frauen und Männern zusammengearbeitet. Und vor fünf Minuten hatte der Chef ihr in der Putzkammer bestätigt, dass sie die einzige dänische Mitarbeiterin der gesamten Firma war.
»Willkommen in der Unterschicht. Dänen bewerben sich sonst nie auf meine Anzeigen. Die leben alle lieber von der Sozialhilfe, als ihren Hintern zu bewegen und zu putzen. Was denkst du, wer in den Hotels den Abwasch erledigt oder die Betten macht? Dänen sind das nicht. Also bei mir braucht keiner über Arbeitslosigkeit zu jammern.«
Sie hatte nur genickt. Auf eine Diskussion mit ihrem Chef, einem Muskelprotz Anfang dreißig, konnte sie gut verzichten. Der Typ war vollgepumpt mit Anabolika, hatte sich in ein ultraenges schwarzes T-Shirt mit goldenem Aufdruck gezwängt und trug weite Cargohosen im Armylook und weiße Sneakers.
Beide Begegnungen zusammengerechnet, hatte sie bisher etwa eine knappe halbe Stunde mit ihm verbracht. Zunächst bei ihrem Einstellungsgespräch und gerade eben, während sie alles für die Arbeit vorbereitet hatten. Mehr Zeit war nicht nötig gewesen, um herauszufinden, dass Bo Bremer schon mit den beiden Buchstaben seines Vornamens überfordert war. An einer Stelle hatte dieser Mann nämlich leider überhaupt keine Masse – zwischen den Ohren.
Der Putzjob war körperlich anstrengend, und der Zeitplan, den der Idiot erstellt hatte, straff und gnadenlos ausbeuterisch.
Ihr Oberschenkelstumpf, der eigentlich perfekt in der Prothese saß, tat weh, und ihr Rücken ließ sie spüren, dass sie viel zu viel über ihn kompensierte. Der Job hier war eine Notlösung, bis sie etwas anderes gefunden hatte. Aber im Augenblick führte kein Weg daran vorbei. Sie hatte schon durchgerechnet, was ein Verkauf ihrer Wohnung einbringen würde, die sie seinerzeit teuer erstanden hatte, als die Immobilienpreise noch astronomisch gewesen waren. Vermutlich war das der nächste Schritt, um ihren Abstieg zu bremsen.
Sie steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und drehte die Lautstärke hoch. Das Metallica-Album »Load« aus den Neunzigern pustete ihr zuverlässig den Kopf frei.
Es fehlte nur noch der letzte große Schreibtisch, dann konnte sie staubsaugen.
Sie hatte den Computerbildschirm mit einem trockenen Tuch abgewischt und beugte sich gerade weit nach vorn, um mit dem feuchten Lappen bis zur hinteren Tischkante zu kommen, als zwei kräftige Arme sie von hinten packten. Sie saß fest wie in einem Schraubstock.
»Na, Süße, wie sieht’s aus? Gleich hier auf dem Schreibtisch? Fünfzehnhundert bar auf die Hand …«
Ihr Chef hatte sich angeschlichen und stöhnte ihr ins Ohr.
»Lass mich los, du Wichser!«
Für eine kurze Sekunde ließ er locker, aber nur, um sofort nach ihren Brüsten zu grapschen.
»Ich hab noch nie eine Behinderte gefickt, aber mit deinen Titten scheint ja alles in Ordnung zu sein. Also okay, sagen wir zweitausend, du vorlaute kleine Bitch …«
»Lass mich los!«
»Und wild bist du auch, was? Das gefällt mir …«
Sie holte aus und knallte ihm den Hinterkopf in seine widerliche Visage. Nicht fest genug, um ihn loszuwerden, aber immerhin brachte es ihn aus dem Konzept. Sie presste das Knie ihres gesunden Beins gegen den Schreibtisch und drückte sich damit weg. Er machte einen Schritt zurück, und sie nutzte den Moment, um ihren Fuß an die Tischkante zu stemmen und sich mit aller Kraft abzustoßen. Sie stürzten beide nach hinten. Im Fallen musste er sie loslassen.
Franck war schnell wieder auf den Beinen. Er grinste schmierig.
»Okay, dann eben auf die harte Tour. Ist mir auch recht«, sagte er, rappelte sich auf und machte einen Schritt auf sie zu.
In den guten alten Zeiten hätte sie jetzt einfach ihre Dienstwaffe gezogen und ihm eine Kugel ins Bein oder an irgendeine andere harmlose Stelle gejagt. Aber die alten Zeiten waren vorbei, und sich mit ihm zu prügeln kam nicht infrage. Er war viel zu kräftig. Also musste sie ihn beim ersten Versuch erledigen.
Eine Grundregel jeder Selbstverteidigung und jedes Kampfsports besagt, dass man die Trägheit zum eigenen Vorteil nutzen soll. Auf diese Weise lassen sich selbst gravierende Unterschiede in der Kräfteverteilung ausgleichen. Als er auf sie losging, schleuderte sie ihm den nassen Lappen ins Gesicht, was ihn nur noch mehr in Rage brachte. Er holte aus, aber bevor er zuschlagen konnte, packte sie sein Handgelenk, zog ihn zu sich, wich mit einer halben Drehung aus und krallte sich mit der anderen Hand in seinen Haaren fest.
Er lief buchstäblich gegen die Wand, und sie half noch etwas nach, indem sie seinen Kopf mit aller Kraft an den nackten Beton schmetterte. Als er in die Knie ging, zog sie seinen Kopf zurück und rammte ihn ein zweites Mal gegen die Mauer. Der Mann sackte zu Boden.
»In Zukunft benimmst du dich hoffentlich besser, du widerlicher Mistkerl!«
Ihr Chef rollte sich ächzend auf den Rücken und sah sie an. Zwischen dem Blut, das aus einer aufgeplatzten Augenbraue und seiner vermutlich gebrochenen Nase rann, grinste er höhnisch.
Sie verpasste ihm einen kräftigen Tritt zwischen die Beine. Er schrie auf und wand sich wimmernd auf dem Boden.
»Glaub nicht, dass du auch nur eine Krone von mir bekommst, du verfluchte Schlampe«, keuchte er und richtete sich stöhnend auf. »Ich bringe dich um!«
Erstaunlicherweise hatte er schon wieder genug Kraft gesammelt, um einen neuen sinnlosen Angriff zu starten, und stürzte sich auf sie. Franck griff nach dem erstbesten Gegenstand, einer Schreibtischlampe mit solidem Fuß, und schwang sie gegen sein Kinn.
Der Mann kippte um wie ein nasser Sack. Ein drittes Mal würde er nicht so schnell wieder aufstehen. Sie drehte ihn auf den Bauch und zog ein auffallend dickes Portemonnaie aus seiner Hosentasche. Sein Gesicht glich inzwischen einer unförmigen, blutverschmierten Masse, aber er hatte es nicht besser verdient. Mühsam öffnete er die Augen, während sie ein ganzes Bündel Tausendkronenscheine herausangelte. Das hatte sie sich schon gedacht. Er war ein Bargeld-Typ. Sie zählte die Scheine und kam auf stolze siebzehn. Vermutlich rechnete er mit einigen Mitarbeitern schwarz ab.
»Okay, du Arsch! Die ersten zehn sind der Lohn, den du mir schuldest. Zwei nehme ich mir für die sexuelle Belästigung, drei für den gewalttätigen Angriff und den Rest als Wiedergutmachung, weil ich mit einem so unfassbar miesen Schwein wie dir zusammenarbeiten musste. Und sollte ich dich je wiedersehen, dann zeige ich dich an. Verstanden?«
Sie steckte das Geld ein und ließ die leere Brieftasche neben ihm auf den Boden fallen. Dann drehte sie sich um und verließ den Raum.
Als sie sich auf den Heimweg machte, goss es in Strömen. Der Regen war so heftig, dass der Verkehr fast zum Erliegen kam. Ihre Gedanken kreisten im selben Tempo, wie die Scheibenwischer hin- und herfegten.
Gleich morgen musste sie sich um einen neuen Job kümmern. Oder am besten um zwei. Aber nicht wieder Putzen. Da hatte sie sich wirklich überschätzt. Vielleicht fand sich ja etwas in einem Kiosk oder einer Cafeteria oder in einem Supermarkt? Sie könnte auch Taxi fahren. Oder eine Kombination aus allem?
Kurz vor Herlev fing ihr Suzuki an zu mucken. Der kleine Alto, der schon vierzehn Jahre auf dem Buckel hatte, war ein Symbol für ihren steilen Absturz. Sie war gezwungen gewesen, sich von ihrem geliebten Mini Cooper zu trennen, als ihr klar wurde, dass sie nicht damit rechnen konnte, jemals wieder einen guten Job zu finden.
Der Wagen stotterte einen letzten Kilometer die Herlev Hovedgade hinunter, und sie schaffte es gerade noch, ihn an den Straßenrand zu lenken, bevor der Motor verreckte. Wahrscheinlich war der Regen schuld, vielleicht Feuchtigkeit in der Zündung?
Es schüttete immer noch wie aus Kübeln. Wütend knallte sie die Hände auf das Lenkrad. Sie konnte nicht mal den Pannendienst rufen, denn auch der war ihren Sparmaßnahmen zum Opfer gefallen.
Es war exakt so, wie Villum Grund-Löwenberg es ihr angekündigt hatte. Die dunklen Männer des Danehof hatten sie in kürzester Zeit vernichtet, weil sie gemeinsam mit Niels Oxen, dem PET-Chef Axel Mossman und dessen Neffen Christian Sonne versucht hatte, ins Zentrum des geheimen Netzwerks vorzudringen – und es zu zerschlagen. Sie hatten ihr bis dahin so komfortables Leben auf Eis gelegt. Das war die bittere Wahrheit. Ihre komplette Existenz war eingefroren worden. Das war der Preis, den sie bezahlen musste.
Die drei schwarzen Umhänge hingen sorgfältig gefaltet über den Stuhllehnen. Mit einer Handbewegung bat der ältere Herr seine beiden Gäste, ihre Plätze unter dem weiß gekalkten Gewölbe einzunehmen.
Zwischen dem Gastgeber und seinen Gästen lag eine ganze Generation. Der Herr mit der Brille, der hohen Stirn und den grauen Haaren ging sicher auf die siebzig zu. Er nahm ein Streichholz und entzündete die Kerzen, die in dem siebenarmigen Leuchter steckten.
Seine Gäste, eine Frau und ein Mann, wirkten in etwa gleich alt, Mitte vierzig vermutlich. Die Frau stellte sich hinter den Stuhl, der im Norden stand, wenn man den Tisch wie eine Kompassrose betrachtete. Der Mann stellte sich ihr gegenüber – in den Süden.
Der ältere Herr nahm seine übliche Position im Osten ein und legte dann seine Brille und einen Stapel Papiere vor sich ab. Wie seine Gäste hängte er sich den Umhang um, schloss ihn mit einer goldenen Schnalle und versicherte sich, dass alle bereit waren. Dann sprach er das Vaterunser. Nach dem Gebet folgte eine Minute der Stille.
Er behielt seine Armbanduhr diskret im Blick. Die zeremonielle Schweigeminute sollte all jene ehren, die seit der letzten Versammlung von ihnen gegangen waren. Er selbst hatte die Stille immer als wohltuend empfunden. Sie schärfte die Konzentration für die Arbeit, die vor ihnen lag, sobald die sechzig Sekunden vorbei waren und der Übergang in die andere Welt vollzogen war.
Zu seiner Rechten stand die Leiterin des Danehof Nord, Karin »Kajsa« Corfitzen, die Tochter des verstorbenen Botschafters und Schlossherren von Nørlund Slot – den Rufnamen hatte sie ihrer schwedischen Mutter zu verdanken. Kajsa Corfitzen war eine elegante, attraktive Frau. Sie hatte Internationale Wirtschaftswissenschaften studiert und ihr ganzes Erwachsenenleben in London verbracht. Nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters hatte sie das jahrhundertelange Triumvirat des Danehof durchbrochen – was ihn nicht im Geringsten störte. Nichts auf dieser Welt war für immer. Und … wäre er ein, zwei Jahrzehnte jünger gewesen, hätte er sich zweifellos um die Gunst dieser Frau bemüht.
Links von ihm stand Villum Grund-Löwenberg, stets wie aus dem Ei gepellt und so akkurat rasiert, dass der getrimmte Vollbart sich messerscharf von der sonnengebräunten Haut abhob. Sein Aftershave verströmte einen diskreten Hauch von Sandelholz. Es war immer das gleiche, wie er einmal in einer geselligen Minute erzählt hatte, von Taylor of Old Bond Street aus London. Dieselbe Sorgfalt verwendete er auf seine ebenso dezenten Anzüge, alle vom selben Schneider in der Savile Row.
Der große, schlanke Mann, der das Schloss in Gram von seinen Eltern übernommen hatte, aber hauptsächlich in Kopenhagen und Zürich wohnte, stellte seinen Reichtum nicht zur Schau. Er hatte genau wie Kajsa viele Jahre in England gelebt und dort Informatik studiert. Heute war er sechsundvierzig und Miteigentümer und Mitbegründer der Firma Castle & Unicorn Corp., die digitale Plattformen und Software für Finanzunternehmen entwickelte. Die Gesellschaft war mit großem Erfolg in der Schweiz an die Börse gegangen.
Villum Grund-Löwenberg war eine Ikone der dänischen Wirtschaft. Er war ein Milliardär mit Visionen und einem imponierenden internationalen Netzwerk und gleichzeitig ein geradezu scheuer Mensch. Er war einer, den jeder zum Freund haben wollte – aber nur den wenigsten war es gelungen, dieses Ziel zu erreichen.
Und hier stand er selbst, zwischen diesen beiden erfolgreichen jungen Menschen, und genau wie sie wurde er in dem Moment, in dem er über diese Türschwelle trat, auf eine Himmelsrichtung reduziert: Sie waren Nord, Süd und Ost – die Oberste Versammlung.
Das Fehlen eines westlichen Repräsentanten lag im Ursprung ihres Parlaments begründet, dem mittelalterlichen Nyborg, dem einstigen Königssitz und Machtzentrum des Landes. Damals gab es in Dänemark ein Hauptland, nämlich Jütland, das in Nord und Süd unterteilt war, und daneben die Inseln im Osten, wobei Kopenhagen noch keine große Rolle spielte. Im Westen hingegen gab es buchstäblich nichts. Und aus diesem Grund umfasste der Danehof auch nur drei Bereiche.
Er nickte seinen Gästen zu, zog den Stuhl mit der prachtvoll geschnitzten hohen Lehne zurück, nahm Platz und setzte seine Brille wieder auf.
»Das Treffen ist eröffnet. Dies ist der Danehof. Die zweite Versammlung des Jahres.«
In seiner Eigenschaft als Leiter von Ost hatte er unzählige Treffen mit diesen Worten eröffnet, so wie die Tradition es vorschrieb. Dieses Jahr im Herbst wurde er neunundsechzig. Die Pensionierung rückte näher, sowohl was seine berufliche Tätigkeit betraf als auch bezüglich dieser erhabenen Aufgabe. Aus diesem Grund hatte er schon vor geraumer Zeit mit der langwierigen Arbeit begonnen, einen geeigneten Nachfolger zu suchen. Ein Prozess, der Jahre dauern konnte.
Man musste sein Alter annehmen und akzeptieren, dass es einen nach und nach an die eigenen Grenzen brachte. Einige seiner Vorgänger hatten es leider versäumt, an diesem Punkt die nötige Sorgfalt walten zu lassen.
»Wünscht jemand, vorab das Wort zu ergreifen?«
Nord und Süd gaben ihm mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass das nicht der Fall war.
»Gut. Dann lassen Sie mich zunächst ein paar Sätze zur aktuellen Situation sagen: Punkt eins, der neue Oberbefehlshaber der dänischen Armee steht fest, auch wenn die offizielle Ernennung sich noch ein wenig verzögern wird. Yssing wird es werden. Wir haben es geschafft. Es war die richtige Entscheidung, als wir seinerzeit beschlossen, derart massiv in genau diese Personalie zu investieren. Es ist ganze neununddreißig Jahre her, dass der Danehof diesen wichtigen Posten zum letzten Mal besetzt hat. Es handelt sich also um ein wirklich großes Ereignis für uns.«
Seine Kollegen sahen zufrieden aus. Er fuhr fort, ohne einen Blick auf seine Unterlagen zu werfen.
»Punkt zwei ist die natürliche Folge aus Punkt eins, könnte man wohl sagen … Jegliche Aktivität im Zusammenhang mit dem ehemaligen Jägersoldaten Niels Oxen wurde eingestellt. Es ist über ein halbes Jahr her, dass er zum letzten Mal lebend gesehen wurde – der genaue Sachverhalt liegt Ihnen vor –, und daher habe ich entschieden, unsere aktive Suche nach ihm zu beenden. In der ersten Zeit haben wir sämtliche kleinen Krankenhäuser sowie alle großen Einrichtungen in einem entsprechenden Radius minutiös überprüft und auch sämtliche Polizeiberichte gesichtet. Im weiteren Verlauf hat sich unser Einsatz darauf konzentriert, alle Meldungen über Leichenfunde im Kattegat, in der Ostsee und Teilen der Nordsee systematisch zu überwachen, was mit hohen Ausgaben verbunden war. Auch aus diesem Grund habe ich beschlossen, die Suche einzustellen. Niemand hat ernsthaft Zweifel daran, dass Oxen tot ist. Wir müssen uns nur damit abfinden, dass der endgültige Beweis – seine Leiche – vermutlich nie gefunden werden wird, was bekanntlich für viele gilt, die im Meer verschwinden.«
Süd meldete sich. Er verstummte und nickte.
»Leichenfunde überwacht? Wie geht das?«, fragte sein Kollege.
»Hauptsächlich mithilfe unserer Kontakte bei der Polizei in Schweden und Norwegen, aber in den Ostseeanrainerstaaten ist ebenfalls unter der Hand Geld geflossen. Wir haben dafür bezahlt, dass wir bei Funden benachrichtigt und über die Identität der jeweiligen Leiche informiert werden. Ist das Erklärung genug?«
Süd nickte, und Ost fuhr fort.
»Kommen wir schließlich zu Punkt drei. Seit dem letzten Treffen sind vier Mitglieder von uns gegangen, die auf unserer Passivliste standen. Einer in Nord, einer in Süd und zwei in Ost. Nur in einem Fall gibt es eine Witwe. Bei den drei anderen enden somit unsere Verpflichtungen.«
»Wir könnten große Summen sparen, wenn wir in Zukunft auf diese Alimentationen verzichten würden«, warf Nord ein und hob noch in derselben Sekunde entschuldigend die Hände. Eine spontane Bemerkung war gegen die Regeln des Protokolls.
»Der Unterhalt für die Pensionierten und ihre Ehepartner ist, wie Sie wissen, historisch begründet«, antwortete Ost. »Und damit wäre das Briefing abgeschlossen. Können wir fortfahren?«
Seine Kollegen nickten. Er nahm zwei Mappen von dem Stapel, der vor ihm lag, und hielt sie hoch.
»Diese beiden Berichte sind der erste Punkt auf unserer Tagesordnung. Sie müssten die Unterlagen vor sechs Tagen per Kurier erhalten haben.«
Er blickte über den Rand seiner Brille, erst nach links, dann nach rechts. Beide bestätigten das mit einem erneuten Nicken.
Der Fall fiel in seinen Bezirk, und er war es auch, der die Berichte angefordert hatte. Die Informationen waren ausgesprochen detailliert. Sie waren über einen Zeitraum von zwei Wochen gesammelt worden, unter anderem durch Wanzen in den jeweiligen Wohnungen. Das Ganze war eine ziemlich kostspielige Angelegenheit gewesen.
»Lassen Sie mich kurz den Hintergrund skizzieren: Ende August beginnt der größte Prozess, den es hierzulande im Zusammenhang mit Kartellbildung im Bausektor je gegeben hat. Angeklagt ist Kresten Hildmand, der, wie Sie wissen, Mitglied des Zweiten Rings Ost ist. Der Staatsanwalt hält Hildmand für die zentrale Figur in dieser Sache. Sigurd Back aus dem Dritten Ring Nord ist ebenfalls in diesen komplexen Fall verstrickt. Ich bin überzeugt davon, dass Hildmand durch seine Mitgliedschaft im Danehof und seine Teilnahme an verschiedenen Aktivitäten unseres Thinktanks Consilium in der Lage war, sich ein eigenes Netzwerk aufzubauen und wichtige Bereiche der Baubranche zu kontrollieren. Hildmand könnte – wenn er vor Gericht einknickt – eine Tür zu gewissen Bereichen des Danehof öffnen. Und wenn die Staatsanwaltschaft erst auf seine Verbindung zu Nord und Nørlund Slot aufmerksam geworden ist, werden sie sehr schnell auch über den Fall der gehängten Hunde stolpern und sich alle Beteiligten von damals genauer vornehmen. Mit anderen Worten: Aufgrund Kresten Hildmands unverzeihlicher Gesetzesbrüche droht unsere Organisation in ungeahntem Ausmaß kompromittiert zu werden.«
Er räusperte sich und legte die beiden Mappen zurück auf den Stapel.
»Diese Überwachung war wirklich gründlich. Ich denke, damit liegen uns jetzt alle relevanten Informationen vor, sowohl über Hildmand als auch über den Staatsanwalt Per Eilertsen. Beide Analysen ergeben ausreichend Angriffspunkte, um eine Lösung für unser Problem zu finden.«
Sein Auftrag war Punkt für Punkt ausgeführt worden. Das Material in den beiden Mappen zeichnete klare Profile.
Hildmand, der alternde Unternehmer, führte ein chaotisches Leben mit einem beträchtlichen Alkoholkonsum. Seine Ehe war zerrüttet. Seine Frau verbrachte die meiste Zeit im Urlaub oder vertrieb sich die Wochenenden mit Freundinnen in irgendwelchen Großstädten, während Hildmand auf die Jagd ging, seine kleine Oldtimer-Sammlung polierte oder vor dem Fernseher saß und sich Essen liefern ließ. Und dabei viel zu viel trank. Buchstäblich bis zum Umkippen. Zu seinen erwachsenen Kindern hatte das Paar nur sporadischen Kontakt. Aber zumindest die finanziellen Verhältnisse waren gesichert.
Auf einer der Tonaufnahmen, die eins der verstecken Mikrofone in der Küche des Ehepaars geliefert hatte, weihte Kresten Hildmand seine Frau gerade in seine Pläne ein: Er zog es in Erwägung, einen Deal mit dem Staatsanwalt einzugehen und alles auf den Tisch zu legen – und im Gegenzug für seine Kooperationsbereitschaft einen gewissen Strafnachlass zu fordern. Seine Frau hatte trocken erwidert, dass ihr das völlig egal sei. Hauptsache, die Firmengeschäfte konnten weiterlaufen.
Staatsanwalt Per Eilertsen, der seit siebzehn Jahren mit der Anwältin Line Eilertsen verheiratet war und zwei Töchter im Teenageralter hatte, war das komplette Gegenteil von Hildmand. Immer korrekt und unangreifbar. Er war ein maßvoller und vernunftgesteuerter Mensch, ganz gleich ob es um Aktien ging oder die Wahl seines Schuhwerks.
Vieles von dem war schon lange bekannt, aber es gab auch ein paar neue und interessante Details über die beiden Herren. Der Staatsanwalt beispielsweise drehte gern mal die Stereoanlage bis zum Anschlag auf, wenn er allein zu Hause war, und pfiff und sang bei »Wind of Change« begeistert mit. Und Hildmand hatte eine Bibel in der Nachttischschublade. Nicht dass das etwas zu bedeuten hatte, aber trotzdem …
Solche Erkenntnisse waren unverzichtbar. Man musste alles wissen, nicht nur über potenzielle Widersacher, sondern auch über die eigenen Leute. Und nicht zuletzt galt die feste Vorgabe, dass wirklich valide, umfassende Informationen vorliegen mussten, bevor die Oberste Versammlung eine so wichtige Entscheidung treffen konnte.
Es war eine Frage von Leben und Tod.
»Bevor ich Ihnen mitteile, wie ich dazu stehe, würde ich gern Ihre Einschätzung hören.« Er klopfte mit der flachen Hand auf die beiden Mappen und sah seine Kollegen nacheinander an.
»Wie wehren wir diese Bedrohung ab?«
Ein Ruck in der Tiefe, dann ein langes, ausdauerndes Ziehen an der Angelschnur. Der vierte Fang des Vormittags. Dem Widerstand nach zu urteilen ein größeres Kaliber als die anderen, die bereits auf dem Boden des kleinen Motorboots lagen.
Kabeljau … Den sollte es heute geben, denn Tessa hatte Geburtstag, und er hatte ihr versprochen, ausreichend Fisch für das Abendessen und die Tiefkühltruhe mitzubringen, die sich über den Winter ziemlich geleert hatte.
Das Boot lag an einer Stelle, die ihm schon oft gute Fänge beschert hatte, über der tiefen Rinne zwischen Växholmen und Ängholmen.
Er hob die kurze Angelrute, senkte sie wieder und holte die Schnur ein. So bekam man einen Riesen an die Oberfläche, aber damit allein war es noch lange nicht getan.
Es war ein kalter Tag. Das milde Frühjahr ließ noch auf sich warten, auch wenn es sich vorhin in der warmen Sonne auf dem Felsen schon anders angefühlt hatte.
Er ließ die Rute wieder sinken und hob den Blick. Das Wasser war ruhig. Der Wind kam aus Nordwest, und er befand sich im Windschatten der Schäreninsel Klöverö. Von hier aus konnte er bis Korsvik sehen, aber Tessas Haus lag versteckt hinter einer Landzunge.
Jetzt tauchte seine Beute unter der Wasseroberfläche auf. Ein prächtiger Kabeljau von mindestens fünf Kilo. Der Fisch hatte nicht den gelben Pilker erwischt, sondern sich stattdessen den Beifänger geschnappt, dieses tintenfischartige Ding aus weichem Plastik, das er sich nach Weihnachten in Marstrand besorgt hatte.
Er zog den Fisch mit dem kleinen Bootshaken an Bord. Das perfekte Geburtstagsessen. Theresa Lövgren wurde heute dreiundsechzig. Er hatte sich hundert Kronen von ihr geliehen und in dem Coop-Supermarkt im Hafen für den Gummifisch und ein Geschenk ausgegeben – eine Schachtel Pralinen.
Er verdankte dieser Frau alles.
Tessa hatte ihn vor einigen Monaten auf einer Schäre am Koddholmen entdeckt, als sie frühmorgens zum Angeln rausgefahren war. Sie hatte ihn in ihr Boot verfrachtet, in ihr kleines weißes Haus gebracht, ihn zusammengeflickt und gesund gepflegt.
Dass er überhaupt noch lebte, war einer Reihe glücklicher Umstände geschuldet, wie dem Wind und den Strömungsverhältnissen in jener Nacht in den schwedischen Schären. Aber vor allem lebte er noch, weil die ehemalige Ärztin, Dr. med. Theresa Lövgren, nicht vergessen hatte, wie man eine Naht setzte und eine Wunde versorgte.
»So wie du zugerichtet bist, gibt es nur einen, dem du für dein Leben danken solltest – unserem Herrn und Schöpfer.«
Er erinnerte sich an ihre Worte bei dem ersten richtigen Gespräch, das sie auf Englisch geführt hatten. Er glaubte nicht an Gott. Er glaubte an Tatsachen.
Aber er war mehr als dankbar dafür, dass seine Retterin sich auf die nahezu menschenleere Schäreninsel Klöverö in die selbst gewählte Isolation zurückgezogen hatte.
Hätte ihn irgendjemand anders gefunden, wäre er zweifellos ins Krankenhaus gebracht worden, wo die ihn mit Sicherheit gefunden hätten, denn natürlich hatten sie sämtliche Krankenhäuser entlang der Küste überprüft. Und dann hätten sie ihn auf der Stelle umgebracht. Ganz einfach.
Als sein Leben am seidenen Faden hing, war Dr. med. Theresa Lövgren zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Sie hatte ihm das Leben gerettet.
Und genau deshalb hatte er ein schlechtes Gewissen. Denn er betrog sie. In jeder Minute, in jeder Stunde, an jedem Tag und in jeder Woche, seit er zum ersten Mal die Augen aufgeschlagen und seinen Namen gesagt hatte: Dragos.
Tatsächlich war diese Lüge das Erste, woran er sich erinnerte. Was in dem Zeitraum passiert war, nachdem sein Boot auf der Flucht nach Schweden von einem Hubschrauber aus angegriffen und versenkt worden war und bevor Tessa ihn aus dem Wasser gezogen hatte … Er wusste es nicht. Hatte er sich an Wrackteile geklammert? Das kam ihm wahrscheinlich vor. In seinem Zustand hätte er sich aus eigener Kraft niemals über Wasser halten können.
Er war zum zweiten Mal zu »Dragos« geworden, weil ihm nichts Besseres eingefallen war. Das erste Mal lag inzwischen über ein Jahr zurück. In der Silvesternacht hatte er in einem Schuppen auf dem abgelegenen Gelände einer Fischzucht in der Nähe von Brande Unterschlupf gefunden, als der alte Fischzüchter das Opfer von Einbrechern geworden war. Zwei Rumänen waren in den ersten Stunden des noch unschuldigen Jahres in das Haus des Alten eingebrochen. Sie hatten den armen Kerl überwältigt und auf ihn eingeprügelt. Also hatte er sich in den Kampf gestürzt, hatte die Räuber unschädlich gemacht und sie mit einem kräftigen Tritt zurück nach Bukarest befördert, aber erst nachdem er sich ihre Pässe geschnappt hatte.
Genau dort, auf dem zerschlissenen Sofa beim alten Johannes Fisch, der mit seinem Retter anstoßen wollte, genau dort hatte er seine eigene erbärmliche Identität geschützt und den Namen im ersten Pass als seinen eigenen ausgegeben:
Dragos. Adrian Dragos.
Dann war der Alte brutal ermordet worden – und er selbst unter Verdacht geraten, der Mörder zu sein. Und jetzt gingen alle davon aus, dass er mittlerweile im Meer ertrunken war.
Niels Oxen war tot, und Adrian Dragos schwindelte sich in gebrochenem Englisch weiter durchs Leben, was ihm inzwischen völlig natürlich erschien.
Als sie an diesem Morgen zusammen beim Frühstück saßen, war er kurz davor gewesen, Tessa alles zu erzählen. Sie hatte die Wahrheit verdient. Vielleicht wäre es passend gewesen, sie ihr zum Geburtstag zu schenken, aber stattdessen war der Morgen schweigsam geblieben, mit Pralinen, ihren selbst gebackenen Brötchen und der kleinen schwedischen Flagge, die zwischen ihnen auf dem Frühstückstisch stand.
Er war immer noch Dragos. Ein harmloser, kleinkrimineller Rumäne, der sein Glück in Dänemark gesucht hatte und dort an die falschen, die großen Jungs geraten war. Sie hatten ihn gezwungen, Schmuggelware übers Meer nach Schweden zu bringen, Alkohol und Zigaretten. Sie hatten ihm gedroht, seiner Familie zu Hause etwas anzutun, sollte er sich weigern. Kurz vor der schwedischen Küste war sein Boot in Brand geraten, und irgendetwas an Bord war explodiert. Vielleicht die Gasflasche des Kochers?
Diese Geschichte enthielt durchaus Elemente der Wirklichkeit. Und genau diese Geschichte hatte er Tessa aufgetischt, als er während seines Krankenlagers endlich dazu fähig gewesen war, ein Gespräch zu führen.
Er hatte die fürsorgliche Frau betrogen, die ihn ins Leben zurückgeholt hatte, und ihr direkt in das sanfte Gesicht gelogen. Er hatte es getan, um sie zu schützen. Und sich selbst. Aber die Monate auf Klöverö waren ohne jeglichen Anlass zu Besorgnis oder Misstrauen verstrichen. Auf der kleinen Insel stand im Winter die Zeit still.
Doch jetzt kam der Frühling und würde Besucher anlocken. Wanderer und andere Naturfreunde. Fremde Blicke. Und später, hatte Tessa ihn gewarnt und dabei die Augen verdreht, würden Heerscharen von Seglern einfallen, die Seite an Seite in einer Bucht namens Utkäften anlegten, einem Naturhafen nicht weit von Korsvik entfernt. So viele, dass man es kaum fassen konnte.
Alles, was ein Segel hatte oder mit einem Motor ausgerüstet war, würde sich in diesem Teil der Schären tummeln. In Marstrand wurde jedes Jahr der Match Cup Sweden ausgerichtet, und dann gab es noch die Marstrand Regatta. So etwas zog natürlich Publikum an. Und Aufmerksamkeit.
Er dagegen wollte am liebsten unsichtbar sein. Deshalb konnte er nicht bleiben, und sie hatten auch schon darüber geredet. Tessa konnte ihm vielleicht einen Job in einem Sägewerk vermitteln, das irgendeinem Familienmitglied gehörte. Es befand sich am nördlichen Ende des Bottnischen Meerbusens, in Haparanda. Einen besseren, abgelegeneren Ort konnte man sich nicht wünschen. Die Schmuggler dachten, er wäre tot. Und wenn er genug Geld verdient hatte, dann würde er nach Hause reisen – nach Rumänien. Und sich nie mehr auf irgendwelche krummen Geschäfte einlassen.
Aber heute Abend würde er sein schwarzes Gewissen auf den runden Wohnzimmertisch des Geburtstagskinds legen und endlich alles in Ordnung bringen.
Tessa wusste, was es bedeutete, zu lügen, sogar im großen Stil. Sie hatte eine Forschungskooperation mit einem Pharmaunternehmen geleitet und in der entscheidenden Phase wissentlich kritische Daten über ein Präparat zurückgehalten. Der Druck war zu groß gewesen. Viele Millionen hatten auf dem Spiel gestanden. Für das Unternehmen war es um alles oder nichts gegangen. Sie hätte sich wehren müssen.
Die falschen Zahlen waren aufgeflogen, und die Firma hatte Konkurs angemeldet. Man hatte sie gefeuert – und sie hatte sich voller Reue selbst auferlegt, auf unbestimmte Zeit in der Einsamkeit auf Klöverö Buße zu tun.
Vielleicht würde sie gar nicht übermäßig auf seinen Betrug reagieren. Nur kaum merklich lächeln und nicken, sein Geständnis schweigend akzeptieren, wie es ihre Art war, statt große Worte zu machen. Und wenn sie nicht allzu wütend oder enttäuscht von ihm war und ihr Angebot immer noch galt, dann würde er es annehmen.
Haparanda klang perfekt. Nicht nur für Dragos. Auch für Oxen.
Der Baulöwe? Oder der Staatsanwalt? Oder keiner von beiden? Die Diskussion, die buchstäblich um Leben und Tod ging, dauerte nun schon über eine Stunde. Jetzt war sie langsam zu Ende.
Wie immer war es ein zivilisierter Meinungsaustausch gewesen, aber der Ton war spürbar schärfer als sonst. Die Dreieinigkeit, die die oberste Führung des uralten Parlaments bildete, konnte nicht durch eine simple Mehrheit aufgelöst werden. Entweder alle oder keiner.
Er trank einen Schluck Wasser und bereitete sich darauf vor, den umfangreichen Punkt ihrer Tagesordnung abzuschließen.
»Ich denke, wir haben die verschiedenen Aspekte ausführlich besprochen. Können wir zur Abstimmung kommen?«
Seine Kollegen nickten.
»Der Danehof stimmt über eine ›endgültige Lösung‹ im Zusammenhang mit dem Unternehmer Kresten Hildmand oder dem Staatsanwalt Per Eilertsen ab. Da Hildmand einer der meinen ist, mache ich den Anfang. Ich habe zwei Analysen ausarbeiten lassen, um herauszufinden, ob es eine Alternative gibt, aber leider hat sich keine sinnvolle Option ergeben. Unter Berücksichtigung aller gängigen Faktoren scheint Staatsanwalt Per Eilertsen ungewöhnlich wenig Angriffspunkte zu bieten, weder privat noch beruflich. Ihn zu stoppen würde außerdem nicht bedeuten, den Fall zu stoppen, wenngleich die Staatsanwaltschaft ohne ihn deutlich geschwächt wäre. Hildmand hingegen hat uns hintergangen. Er stellt ein Sicherheitsrisiko dar. Nicht nur jetzt, in dieser Kartellgeschichte, sondern grundsätzlich. Ich stimme deshalb für eine endgültige Lösung bei Kresten Hildmand.«
Mehr hatte er dazu nicht zu sagen. Während ihrer Debatte war alles angesprochen worden. Er konnte das Wort weitergeben.
»Süd, fahren Sie fort. Ich bitte um eine kurze Begründung.«
Der Leiter des Danehof Süd machte sich eine letzte Notiz auf seinem Block und legte dann den Kugelschreiber deutlich hörbar auf den Tisch.
»Ich stimme ebenfalls für eine endgültige Lösung im Hinblick auf das Problem Kresten Hildmand. Er hat unser Vertrauen missbraucht und auch das Netzwerk, dem er angehört. Er hat schon seit Jahren keinen konstruktiven Beitrag mehr geleistet. Er ist – und das ist mein deutlicher Eindruck – zu einem alten, versoffenen Dummschwätzer verkommen. Ich frage Sie, würde seine Abwesenheit unsere Organisation schwächen? Nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Außerdem erklärt sich von selbst, dass es überaus gewichtige Gründe geben müsste, um einen Staatsanwalt zu liquidieren, was nur noch größere Verärgerung und Aufmerksamkeit auf uns ziehen würde. Ein solches Vorgehen wäre völlig unsinnig.«
Liquidieren? Das war ein Ausdruck, der Ost gar nicht gefiel. Und er wurde hier auch nicht verwendet. Gemäß der Danehof-Konvention war immer von einer »endgültigen Lösung« die Rede. Aber seine hochgezogene Augenbraue rief keinerlei sichtbare Reaktion bei Süd hervor, der nach einer kleinen Kunstpause fortfuhr.
»Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass wir erst vor einem knappen halben Jahr hier beisammensaßen und die endgültige Lösung für Justizminister Ulrik Rosborg und den ehemaligen Jägersoldaten Niels Oxen beschlossen haben. An Neujahr blickten wir noch voller Zuversicht ruhigeren Zeiten entgegen, in denen wir ungestört arbeiten wollten. Es ist nicht der Sinn unserer Organisation, über Leben und Tod zu verfügen. Das alles lenkt uns von unserem eigentlichen Ziel ab: nämlich für das Wohl aller zu arbeiten. Den Dänen und Dänemark zu dienen und unseren Einfluss dort geltend zu machen, wo Beschlüsse reifen und letztlich auch getroffen werden. Das ist der Grund, warum ich hier bin. Und ich hoffe, dass Ihre Motive dieselben sind …«
Süd hielt inne und ließ seine Worte nachklingen.
Ost war sprachlos, aber er ließ es sich nicht anmerken, sondern beobachtete konzentriert seinen Kollegen, der gerade etwas in seinen Unterlagen suchte. Dann hob Süd den Kopf, sah zu Nord und von dort zu ihm … Ihre Blicke trafen sich. Es war ein kurzer, unangenehmer Moment, doch sie entschieden sich beide für den Rückzug. Er richtete das Wort an Süd.
»Das waren überaus deutliche Worte. Abschließend …«
Süd schüttelte den Kopf.
»Nein, nein, ich bin noch nicht fertig. Wir sind gerade an einem zentralen Punkt angelangt, den wir meines Erachtens nicht einfach übergehen dürfen. Die eigentliche Ursache dafür, dass wir erneut vor diesem Dilemma stehen … Die eigentliche Ursache dafür, dass wir erneut von unserer ursprünglichen Aufgabe abgelenkt werden, ist der Struktur des Danehof geschuldet. Die Struktur unserer Organisation ist hoffnungslos veraltet und führt dazu, dass wir konstant mit dem Risiko leben müssen, kompromittiert zu werden. Nord, Süd und Ost – wir leiten jeweils drei Ringe mit je fünf auserwählten Mitgliedern. Die fünf Mitglieder eines Rings sind isoliert und sollten nur ihren eigenen Kreis kennen. Aber das ist in der Praxis längst nicht mehr zu realisieren. Wir sprechen hier von fünfundvierzig Personen, die alle eine Verbindung zu einem speziellen Ort haben, den sie benennen können. Im Bezirk Ost ist es hier bei Ihnen, in Nord ist es Nørlund Slot, und Gram Slot bei mir. Schon allein das stellt ein Problem dar. Darüber hinaus sind viele dieser fünfundvierzig Menschen auch noch an öffentlichen und internen Aktivitäten des Consiliums beteiligt. Und sie sind alle einflussreich – sonst wären sie nicht ausgewählt worden – und bewegen sich schon deshalb in denselben Kreisen. Ihre Wege kreuzen sich beispielsweise auch im landesweiten Netzwerk des Wirtschaftsforums. Wir können niemandem verbieten, daran teilzunehmen. Aber das ist noch lange nicht alles. Einige dieser fünfundvierzig Menschen begegnen sich in diversen Vorstandsetagen, was angesichts ihrer Positionen natürlich zu erwarten ist. Herrgott, wir haben Mitglieder, die gleich in mehreren Vorständen auf einmal sitzen. Und jedes Mal, wenn sie sich treffen, sind wir dem Risiko ausgesetzt, dass sie reden. Oder etwas ausplaudern. Jedes Mal, wenn sich zwei Danehof-Mitglieder gegenüberstehen, schweben wir theoretisch in Gefahr. Auf diese Weise bewirkt unsere Struktur, dass wir uns selbst de facto der schlimmste Feind sind. Deshalb möchte ich heute darum bitten, unter dem Punkt ›Sonstiges‹ eine Debatte über unsere Struktur auf die Tagesordnung zu setzen. Das war alles. Danke.«
Süd nickte ihnen beiden zu.
In dem kleinen Raum wurde es still. Die sieben Flammen zitterten. Das, was Süd eben gewagt hatte, war … mehr als ungewöhnlich. Hatte er in seinen vielen Jahren als Vorsitzender je etwas Vergleichbares erlebt? Hatte er das? Nein. Nie.
Er spürte, wie der Ärger in ihm aufstieg. Aber er durfte sich nicht davon beeinflussen lassen. Seine Aufgabe war es, dieses Treffen zu leiten.
»Vielen Dank, Süd«, sagte er und versuchte, im Ritual seine Gelassenheit wiederzufinden.
»Nord«, fuhr er fort. »Ich bitte um eine Entscheidung und die Begründung.«
Nord räusperte sich.
»Die Analyse gibt uns leider Anlass dazu, das Schlimmste zu befürchten, nämlich dass Kresten Hildmand im Verlauf seines Prozesses alle Karten auf den Tisch legen wird. Ich bin davon überzeugt, dass darin die eigentliche Gefahr liegt. Aber ich bin nicht bereit, dieses Risiko einzugehen. Hildmand stellt keinen erkennbaren Wert für unsere Organisation dar. Daher stimme ich für eine endgültige Lösung im Hinblick auf Kresten Hildmand. Die Alternative, dies für den Staatsanwalt in Betracht zu ziehen, ist völlig indiskutabel. Wir können nicht losmarschieren und den Justizbehörden den Krieg erklären. Wir müssen unsichtbar bleiben. Und da es nun schon angesprochen wurde: Ich kann mich den Bedenken von Süd nur anschließen … voll und ganz.«
Also auch von Nord ein Angriff? Damit hatte er nicht gerechnet. Wieso hatte keiner der beiden das Thema während der informellen Diskussion im Vorfeld angesprochen? Aber darüber durfte er nicht nachdenken – jetzt musste er konzentriert zuhören.
»Es ist höchste Zeit, dass wir den Blick nach innen richten«, sagte Nord. »Es ist untragbar, dass wir ständig nur von einem Zwischenfall zum nächsten springen. Wenn ich unsere jüngste Geschichte richtig in Erinnerung habe, stellten auch der alte Industrielle Karl-Erik Ryttinger und der Sozialdemokrat Gunnar Gregersen ein Sicherheitsrisiko dar. Nicht zu vergessen Gregersens Frau. Mein Vater war an den Beschlüssen einer endgültigen Lösung für sie alle beteiligt – gemeinsam mit Ihnen, nicht wahr?«
Die direkte Frage kam unerwartet. Aber Nord hatte recht.
»Korrekt«, erwiderte er mit einem kurzen Nicken.
»Es gab auch davor schon derartige Entscheidungen, und es folgten andere danach. Zuletzt die Abstimmung in diesem Kreis über den Justizminister. Unsere zentrale und teuer erkaufte Position in der Regierung. Und wäre Vitus Sander im letzten Jahr nicht verstorben, dann hätten wir auch für ihn eine endgültige Lösung in die Wege leiten müssen. Das geht einfach nicht. Unsere Struktur muss geändert werden, wir müssen verhindern, dass einzelne Personen sich Wissen aneignen können und somit zu einem Risiko für uns werden. Ganz zu schweigen von den vielen Mitgliedern, die nach ihrem aktiven Dienst in die Passivliste übergehen. Sie könnten uns genauso kompromittieren wie die Aktiven. Obendrein geben wir hohe Summen für den Unterhalt der Passiven aus. Mittel, die an anderer Stelle weit sinnvoller eingesetzt werden könnten. Ich schließe mich dem Wunsch nach einer Strukturdebatte an. Danke, das war alles.«
Ost nickte nachdenklich. Nord hatte diesen abschließenden Beitrag mit Sicherheit zu Hause vorbereitet. Saß er mitten in einer geplanten Meuterei der jungen Kräfte? In einer keimenden Revolution?
Als Leiter der Versammlung gehörte ihm das letzte Wort, die Konklusion.
»Der Danehof beschließt hiermit die endgültige Lösung, was unser Mitglied Kresten Hildmand betrifft. Die Umsetzung des Beschlusses kann ohne große Verzögerung erfolgen. Ich habe bereits einen Vorvertrag abgeschlossen, und die entsprechenden Leute stehen auf Abruf bereit, um die Aufgabe zu übernehmen. Je schneller er exekutiert wird, desto geringer ist die Gefahr eines Geheimnisverrats. Was Ihren Wunsch nach einer Diskussion unserer Struktur betrifft, möchte ich dem selbstverständlich nicht im Wege stehen. Ich setze sie als letzten Punkt auf die heutige Tagesordnung. Da ich davon ausgehe, dass unsere Sitzung bis weit in die Nacht dauern wird, erlauben Sie mir, alles für Ihre Übernachtung vorzubereiten. Es wird zu spät werden, um Sie zurück aufs Festland zu bringen.«
Der Alto lief zwar nicht ganz rund, aber wenigstens war er noch einmal von den Toten auferstanden. Nachdem er gestern Abend in dem sintflutartigen Regen an der Herlev Hovedgade mit einem theatralischen Huster liegen geblieben war, hätte sie das nicht erwartet.
Nach dem Frühstück war sie mit dem Bus zurück zu ihrem Auto gefahren, aber der kleine Japaner hatte immer noch jede Zusammenarbeit verweigert, als sie den Zündschlüssel drehte. Also hatte sie die Motorhaube aufgeklappt und eine Stunde zum Trocknen offen stehen lassen, während sie sich die Schaufenster des Einkaufszentrums am Bangs Torv angesehen hatte. Zum Abschluss der Rettungsaktion hatte sie noch eine ordentliche Ladung Starthilfespray in den Ansaugstutzen des Motors gesprüht. Und tatsächlich fing der Alto mürrisch an zu brummen.
Jetzt war sie auf dem Weg zu der kleinen Werkstatt in der Amagerbrogade, wo sie um Rat fragen wollte. Sie war schon ein paarmal dort gewesen, bisher immer dienstlich. Um den Besitzer, L. T. Fritsen, über seinen alten Soldatenkameraden Niels Oxen zu befragen und nach irgendeinem Hinweis im Blick des Mechanikers zu forschen. Nur nicht beim letzten Mal.
Sie hatte Fritsen in der Woche nach Oxens Tod aufgesucht. Da war sie schon hochkant beim PET rausgeflogen. Sie hatte nichts Konkretes von ihm gewollt. Nur jemanden gesucht, der ihren Schmerz teilte.
Unter der dünnen Ölschicht an der Oberfläche hatte sie gesehen, wie sehr Oxens Tod ihn getroffen hatte. Sie hatten in seinem Büro Kaffee getrunken, und als sie ging, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, sein Vertrauen gewonnen zu haben. Vielleicht war das für eine Arbeitslose auch leichter als für eine PET-lerin.
Damals war sie noch ihren Mini gefahren. Und ihr war auch noch nicht bewusst gewesen, welche weitreichenden Konsequenzen es für sie haben würde, dass sie die Männer der Macht herausgefordert hatte.
Seitdem hatte eine neue Zeitrechnung begonnen: Sie befand sich im Jahr null nach dem Mini Cooper und war in jedem Bereich ihres Lebens auf »Start« zurückgeworfen worden.
Die Bremsen des Alto jammerten, und der ganze Wagen schaukelte, als sie auf den Hof der Werkstatt fuhr. Das Tor stand offen. Drinnen kniete L. T. Fritsen vor einem Transporter. Er beachtete weder sie noch ihren Wagen, sondern werkelte ungerührt weiter.
»Tag«, sagte sie und betrat den ölverschmierten Betonboden.
»Tag«, sagte Fritsen, ohne hochzuschauen. Er war gerade damit beschäftigt, irgendetwas festzuschrauben. Sie blieb schweigend stehen. Erst als er den Schraubenschlüssel aus der Hand legte, hob er den Kopf.
»Ja? Was kann ich …?«
Sie spürte diesen kleinen Augenblick, den er länger brauchte und der alles sagte.
»Ich fasse es nicht! Margrethe? Ich habe dich erst gar nicht …«
Es lag natürlich an ihren Haaren. Und am Rest. Bei ihrer letzten Begegnung war ihr Look noch ziemlich der alte gewesen. Jetzt war sie komplett au naturel. Für ihren Geschmack etwas zu naturel, aber ihre momentane Lage ließ nichts anderes zu.
Fritsen äußerte sich mit keinem Wort zu ihrem trostlosen Erscheinungsbild. Stattdessen nickte er in Richtung des Alto.
»Was zur Hölle ist denn mit dir passiert? Wo ist der Mini?«
Die Frage erwischte ihren wundesten Punkt.
»Der Mini ist weg, ich muss sparen, also …«
Fritsen sah ihr in die Augen und schwieg.
»Der Alto will nicht mehr. Im Regen. Gestern Abend, als es so geschüttet hat, ist er mir draußen in Herlev verreckt. Könntest du vielleicht einen Blick darauf werfen?«
»Wie ist es denn passiert?«
»Er hat gestottert, einen Satz gemacht – und dann ging gar nichts mehr.«
»Aber jetzt läuft er wieder?«
»Ich habe ihn mit offener Motorhaube stehen lassen, damit er ein bisschen trocknet. Und mit einer ordentlichen Ladung Starthilfespray ist er wieder angesprungen.«
»Dann versuchen wir es erst mal mit Silikon. Das versiegelt und dichtet ab. Sonst ist alles okay? Also abgesehen vom Wagen?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ja, geht schon. Viel Arbeit, aber alles okay.«
»Dann hast du was Neues gefunden, seit du nicht mehr beim PET bist?«
»Ich hatte schon diverse Jobs. Und ich würde auch gern für deine Hilfe bezahlen.«
»Herrje – die paar Spritzer Silikon? Kommt gar nicht infrage. Komm mit. Ich will dir was zeigen.«
Fritsen marschierte zum Büro am Ende der Werkstatt und winkte sie zu sich. Über der Werkbank hing ein riesiger Kalender. Miss März hatte offensichtlich auch ein paar Spritzer Silikon abbekommen.
Margrethe folgte Fritsen ins Büro, wo ein Tisch und ein paar Stühle standen.
»Setz dich. Kaffee?«
Sie nickte. Ihre letzte Begegnung hatte wohl wirklich eine Art Freundschaft besiegelt.
»Das habe ich neulich zugeschickt bekommen. Genau wie du mir angekündigt hattest.«
Fritsen nahm eine längliche Kassette aus der Schreibtischschublade und legte sie vor ihr auf den Tisch.
»Die Orden?«
Fritsen nickte ernst.
»Dann … ist sie gestorben? Niels’ Mutter?«
»Ja. Es war ein Brief dabei. Irgendwelche Anwälte, die den Nachlass regeln. Es war genau, wie du gesagt hast. Niels wollte, dass ich die Orden bekomme.«
Sie öffnete vorsichtig die Kassette.
Das war alles, was von ihm übrig war. Die stummen Zeugen eines außergewöhnlichen Menschen. Sie waren schön, vor allem das schwarze Tapferkeitskreuz mit dem goldenen Rand. Sofort fingen ihre Gedanken an zu kreisen, verklumpten und schnürten ihr den Hals zu. Schnell stellte sie das Kästchen wieder ab.
»Er hat … ein Grab verdient … einen Ort, der an ihn erinnert. An dem man ihn ehren kann. Den größten Soldaten, den wir je hatten«, sagte Fritsen und drehte sich weg.
»Na ja, andererseits, wer würde schon dort hingehen? Du. Und ich. Und vielleicht seine Schwester. In den Augen der Öffentlichkeit ist er ein mieser Kerl. In der Zeitung haben sie neulich die ganze Geschichte wieder aufgerollt. Hast du den Artikel gelesen?«
Fritsen nickte.
»Niemand hat Zweifel daran«, fuhr sie fort. »Sie haben ihm ein nachhaltiges Denkmal gesetzt. Das ist die Art von Geschichten, die die niederen Instinkte anspricht: ›Der tapferste Soldat des Königreichs – wer hoch steigt, fällt auch tief – das Monster in uns allen – er hat die Strafe bekommen, die er verdient hat.‹ Glaub mir, Fritsen … Niemand vermisst seine Grabstätte. Dänemark würde Niels Oxen am liebsten vergessen.«
»Ja, kann sein. Aber das alles ist so unglaublich ungerecht.«
»Gerechtigkeit? Come on …«
»Niels war überhaupt nicht der Typ für diesen ganzen Vorbild-Scheiß. In Wirklichkeit hätte er gern auf das Brimborium mit den Orden verzichtet. Er hat einfach getan, was er für richtig hielt. Ohne sich von dem Gedanken lähmen zu lassen, was für ihn selbst dabei auf dem Spiel stand. Ich könnte einen Klub gründen – nur mit Kameraden auf der ganzen Welt, die ihm auf ewig verbunden sind, weil sie ihm ihr Leben verdanken.«
»Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass der letzte Orden, das Tapferkeitskreuz, ihn doch berührt hat.«
Fritsen nickte nachdenklich. Seine Augen glänzten nicht mehr.
»Ich glaube, auf diese Auszeichnung war er wirklich ein bisschen stolz, auf seine ganz eigene, stille Art.«
Sie nahm den Deckel wieder ab. Diesmal war sie vorbereitet. Ihre Finger glitten über das schwarze Kreuz.