Ozeansommer - Anne Daurer - E-Book

Ozeansommer E-Book

Anne Daurer

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Beschreibung

Sommer in Belgien? Echt jetzt? Als Jana zur Erholung an die Nordsee geschickt wird, glaubt sie nicht an fröhliche Sommerferien. Was kann die flämische Küste schon, außer Sand und Wind? Jana rechnet mit Langeweile - und verliebt sich Hals über Kopf in Niklas, der irgendwie mysteriös ist. Niklas, der ihre Liebe erwidert. Niklas, der Jana in tödliche Gefahr bringt. Gegen jede Vernunft glaubt Jana ans große Glück. Sie träumt von einer Zukunft mit Niklas und ignoriert alle Bedrohungen. Bis das Schicksal sie zu einer schweren Entscheidung zwingt. Teil 1 der spannenden Fantasy-Reihe. "Ein wunderbares und fantastisches Sommerabenteuer vor einer traumhaften Kulisse." (Rezension auf Amazon) Tauche ein in Geschichte eines siebzehnjährigen Mädchens, das sich an Belgiens Küste in einen außergewöhnlichen Jungen verliebt. Erlebe mit Jana & Niklas eine mystische, aufregende Reise voller Gefahren und Abenteuer. Spüre eine große Liebe gegen alle Regeln und jegliche Vernunft. Eine Liebe, tiefer als der Ozean.

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Für alle, die an ihren Mut und an die Macht der Liebe glauben.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

1

Nach zehn Monaten meines sechzehnten Lebensjahres wurde meine Einsiedelei beendet.

„Jana, es reicht“, sagte mein Vater eines Morgens. „Du kannst dein Leben nicht im Zimmer verbringen.“

Da war ich anderer Meinung.

„Du musst etwas anderes tun als Grübeln und Musik hören.“ Er rieb sich die Augen. „Warum gehst du nicht raus? Grab den Garten um, so wie früher. Oder schau die Sterne an. Die Welt ist schön, aber du siehst es nicht.“

Draußen jubilierte der Mai. Frühling quoll durch alle Ritzen. Ich starrte die Beeren meines Luxusmüslis an – ein neuer Trick meiner Eltern, mich zum Essen zu animieren – und überlegte, tatsächlich rauszugehen und den Pamps im Blumenbeet zu verteilen.

„Letztes Jahr warst du Schulbeste. Jetzt sind deine Noten unter aller Sau. Hast du überhaupt noch Ziele? Letztes Jahr hast du gesagt, nach dem Abi wirst du verreisen und die Welt erobern. Jetzt malst du nicht mal mehr das Gras vor dem Haus. Und Bücher liest du auch nicht mehr. Und überhaupt, ich vermisse dein Litschicurry und deine Apfelbratkartoffeln.“

Mein Vater sah so deprimiert aus, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihn schon wieder an Dinge zu erinnern, die sich verändert hatten. Mit Aquarellkreide malen, Zitronenbasilikum züchten und Kassiopeia betrachten, das war Vergangenheit. Jetzt war mein Zimmer mein natürlicher Lebensraum und das Bett mein Biotop für Träume. Aus mir war eben ein Unterflieger geworden.

„Hab keine Lust mehr“, nuschelte ich ins Müsli.

„Das verstehe ich ja. Aber ich kann es nicht mehr hören. Als du die Führerscheinprüfung bestanden hast, dachte ich, es geht endlich bergauf. Aber ehrlich gesagt ... du siehst nicht danach aus.“

Eigentlich war es ein Wunder, dass ich den BF17 auf Anhieb bestanden hatte. Aber die Prüfung hatte mir Spaß gemacht. Ich hatte schon immer alles geliebt, was fahren konnte. Und nun hatte ich den Führerschein, aber keine Lust, rauszugehen.

Mein Vater rieb sich die Augen. „So kann es nicht weitergehen“, fügte er seufzend hinzu. Er wiederholte diesen Satz seit September, ohne mir jedoch seine Definition von Es zu erläutern. Auch verriet er nicht, wie es denn weitergehen sollte, wenn nicht so.

Meine Mutter hatte auch ihre Sätze. An diesem Morgen flog „Du musst auf andere Gedanken kommen“ auf den Tisch. Sie behauptete das mit geduldiger Regelmäßigkeit und hoffte, dass ich auf andere Gedanken käme, indem sie es mir vorbetete.

Meine Eltern meinten es gut mit mir und sie hatten ungefähr mit allem Recht. Aber gegen meine Reaktion auf die größte Katastrophe meines Lebens waren sie so hilflos wie ich. Da halfen weder Frühling noch bunte Beeren.

Leilas Bruder Ben war der Einzige, der mich verstand. Er war Freund Nummer eins auf meiner Freundesliste, die, na ja, nur noch aus Ben bestand. In seinen Armen durfte ich in Ruhe depressiv sein. Mit ihm war das Vermissen einigermaßen erträglich. Meine Eltern glaubten, ich sei in Ben verliebt. Doch wir hatten uns nur dort gefunden, wo wir gemeinsam suchten, was wir verloren hatten.

Ab und zu gesellte sich Matilda zu uns. Sie hatte mit Leila in der Schulband gesungen und suchte in meinem Zimmer ihre Spuren. Nebenbei wollte sie mich aufheitern. Jedes Mal, wenn sie nach einem Nachmittag voller Fragen ohne Antworten nach Hause ging, verabschiedete sie sich mit einer langen Umarmung und Phrasen, die gut ins Repertoire meiner Eltern passten: „Kopf hoch, Jana. Wird schon wieder.“

Auch Matilda meinte es gut mit mir. Ich mochte sie gerne, aber ihre Versprechen klangen so hohl wie das ganze Zeug vom Loslassen, Überwinden und Schaffen. Alles Dinge, die mich überforderten, weil ich nicht wusste, wie sie funktionierten.

An jenem Sonntagmorgen im Mai klingelte Matilda an unserer Tür, wehte wie ein blondgelockter Schmetterling herein und flatterte an den Frühstückstisch. Meine Eltern begrüßten sie mit juhu und hallo. Ich wusste, wie sehr sie hofften, ich würde mit Matilda ausgehen, zehn Kilo zunehmen und endlich wieder normal werden.

„Weißt du was, Jana?“, rief sie atemlos. „Dieses Jahr kommst du mit! Nach De Haan!“

Den Hahn? Ich hob träge den Kopf.

„Du weißt doch! Wir fahren jeden Sommer nach Belgien! Ans Meer! Diesen Sommer kommst du mit! Du willst doch? Oder? Bitte sag ja! Ich freu mich schon so!“ Matilda funkelte heller als die Maisonne.

Ich bemühte mich, mitzufunkeln. „Ja. Super. Echt. Danke.“ „Cool! Das wird total schön! Es wird dir gefallen!“

In diesem Moment fiel mir zum ersten Mal auf, wie wenig ich über Matilda wusste. Ihre Mutter Charlotte war eine Arbeitskollegin meiner Mutter. Ihr Vater Henrik irgendwas Wichtiges im Europaparlament. Sie verbrachten fast jeden Sommer in Charlottes Elternhaus in Belgien. Sie hatten zwei Kinder, Leon und Matilda. Jeder durfte immer zwei Freunde mitnehmen.

Dieses Jahr stand mein Name auf der Castingliste.

„Das ist eine fantastische Idee!“ Mein Vater schoss in die Höhe und nahm den Frühstückstisch mit.

Meine Mutter wuschelte gleichzeitig in meinen und Matildas Haaren. „Was für eine wunderwundervolle Idee, liebe Matilda! Das wird dir guttun, liebe Jana!“ Sie hüpfte über die am Boden verstreuten Müslireste und Kaffeetassen, rannte ins Wohnzimmer, rief Charlotte an und jubelte ihre Freude ins Telefon.

Ich durchschaute das Theater sofort. „Jana fährt nach Belgien“ war hundertprozentig auf Matildas fröhlichem Mist gewachsen. Sie hatte vorgeschlagen, dass ich mitkam, und meine Eltern waren ausgeflippt. Vor Freude, versteht sich. Nun schickten sie mich weg, damit ich zur Besinnung kam, tarnten es aber als Matildas Einladung. Ein schlauer Plan. Von Tiefenentspannung über Schreitherapie bis Zumba-Rock-Lala-Dance hatten meine mittlerweile ratlosen Eltern jeden Therapiekurs genutzt, um mich aus meinem Loch zu holen, waren aber an meiner Dauertrauer gescheitert. Als letzte Rettung hatten sie Matildas Charme in die Waagschale geworfen und ich hatte angebissen. Zwar nicht mit Haifischmaul, aber immerhin.

Ich pflichtete der Euphorie teilnahmslos bei. Der Sommer war ferner als der Mars und mir war sowieso alles egal. Aus Gewohnheit grübelte ich, ob ich mit fremden Menschen woanders sein wollte als zu Hause. Ich kam zum Ergebnis, dass ich es nicht wusste.

Mein übliches Hin und Her.

Einerseits wollte ich kein Gespenst mehr sein. Ich sehnte mich nach der Welt vor meinem Zimmerfenster. Ich hatte keinen Bock mehr auf Hätschelei und Phrasen von Menschen, die es gut mit mir meinten. Ich wollte unbeschwert sein und Jungs treffen. Doch wenn man frech, wild und verliebt sein will, darf man nicht im Bett liegen und davon träumen.

Andererseits hatte ich keinen Plan, wie ich meine Lage ändern sollte. Seit September steckte ich in Selbstmitleid und den Nachwehen einer Lungenentzündung fest – eine Folge von Selbstmitleid und daraus resultierenden Dummheiten im Schnee. Innerhalb weniger Monate war ich zum Trauerkloß geschrumpft und ich kam nicht auf die Beine, egal, wie sehr ich sie streckte. Ich war rappeldünn und käsebleich, also das Gegenteil von etwas, in das sich Jungs verlieben wollen. Ich kam nicht die Treppe rauf, ohne fünfmal stehenzubleiben und nach Luft zu schnappen. Und ich fror pausenlos. Jeder, der mich anfasste, bekam Frostbeulen.

Ein Sommer in Belgien sollte mich also auf andere Gedanken bringen. Vielleicht war das ein guter Plan.

Unmittelbar nach Matildas Besuch wurde meine Mutter von einem epischen Kaufrausch befallen. Sie plünderte ihr Sparbuch, schleifte mich durch München und kaufte stapelweise Shirts, Röcke, Kleider, Bikinis, Shorts, Flatterhosen und Sandalen. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viele neue Klamotten besessen.

An einem Regentag vor den Sommerferien zerrte Matilda mich erneut in die Stadt. Mädchenferienshopping. Ich fand eine kuschelige Wolljacke. Matilda warf sie angeekelt ins Regal zurück und überredete mich zu einer Halskette mit silbernem Seestern, einer Umhängetasche, die sich in einen Rucksack verwandeln ließ, und einer, wie sie meinte, echt coolen Sonnenbrille.

Dann war er da, der Tag der Abreise, nachdem ich am knallheißen neunzehnten Juli meinen ersten Geburtstag ohne Leila hingekriegt und das zehnte Schuljahr unterfliegermäßig beendet hatte.

Der erste Ferientag begann an einem verregneten Samstagmorgen um sieben Uhr. Ich stand vor unserem Haus, umringt von meinen neuen Taschen mit meinen neuen Sachen, die ich mir nicht ausgesucht hatte. Vor mir ein Ferienziel, das ich mir auch nicht ausgesucht hatte.

Ben und meine Eltern bildeten das Abschiedskomitee. Meine Gefühle waren nach wie vor unentschieden – ich wollte die Welt sehen und in meiner Höhle bleiben. Die ganze Nacht hatte ich mir eingeredet, dass das bisschen Verreisen mich nicht aus der Fassung bringen konnte. Ich würde mich einfach so lange in meinem belgischen Zimmer einigeln, bis ich wieder nach Hause durfte.

Als der Wagen der Freys heranrollte, flatterte mein Magen zum ersten Mal. Es war einer dieser Riesenvans, in die ein Fußballteam reinpasst, samt Trainer, Ersatzspieler und Fans. Er sah bedrohlich nach Aufbruch aus.

Charlotte und meine Mutter umarmten sich. Matilda drückte mich und tänzelte zurück zum Wagen, wo ihre Freundin Emma saß und neugierig aus dem Fenster sah.

Leon und sein Vater diskutierten mit meinem Vater über den Kofferraum und verstauten meine Sachen, während ich meiner Welt frierend Adieu sagte.

Meine Mutter drückte mich so fest, als würden wir uns zum letzten Mal sehen. Ihre Wärme taute mich ein bisschen an. „Leb wohl, meine liebeliebe Leana. Du wirst wunderwunderwunderschöne Sommerferien haben.“

Das dritte wunder klang ein bisschen schrill.

„Hoffentlich“, murmelte ich.

„Es wird dir gefallen, mein Schatz. Ganz sicher. Aber pass gut auf dich auf. Du bist noch nicht gesund. Du musst, also, du solltest ...“ Ihre Stimme brach ab. Meine liebe, chronisch besorgte Mutter tat, als müsste sie husten.

Ich ergänzte ihren angefangenen Satz. „Früh schlafen gehen. Keine Anstrengung. Nicht grübeln. Auf keinen Fall ins Meer gehen.“ Ich leierte die Sorgen meiner Eltern runter, als wären es meine eigenen.

Mein Vater sah mich belustigt an. „Du hast gut aufgepasst, Jackie.“ So nannte er mich immer, wenn er witzig sein wollte.

„Und lach mal wieder.“

Ich zog gehorsam die Mundwinkel nach oben.

„Wenn irgendwas ist ... das neue Ding ist nicht nur zum Surfen da. Du kannst immer anrufen. Auch nachts.“

Das „neue Ding“ war sein Ich-hab-dich-lieb-schick-dichaber-weg-Geschenk. Ein nagelneues Smartphone, damit ich auch nachts anrufen konnte.

Ben hatte meine Musik draufgeladen, zehn Testmails geschickt, zwanzig Selfies von uns gemacht und meine Rückkehr im Kalender markiert. Jetzt machte er Augen wie ein einsamer Welpe.

„Mailst du mir wirklich?“

„Klar doch. Jetzt weiß ich, wie es funktioniert.“

„Das meine ich nicht.“

„Was dann?“

„Vergiss es.“ Ben schüttelte den Kopf. „Jetzt, wo mein Handy kaputt ist, hast du ein neues und haust ab. Super.“

„Ich haue nicht ab. Genau genommen werde ich weggeschickt. Es war nicht meine Idee. Ich wollte nicht ...“

„Das weiß ich, Jana.“ Ben sah mich durchdringend an. „Aber ... na ja, es wird einsam ohne dich. Sehr einsam.“

Ben sagte in letzter Zeit öfter solche Sachen. Dieser Ben, der mir immer näher kam, war mir fremd. Peinlich berührt sah ich in die Ferne und tat so, als wäre alles nicht so schlimm. „Mensch, Ben“, murmelte ich und zupfte einen Fussel von meiner Jacke. „Du kommst schon klar. Ich fliege nicht auf den Mars.“

„Fühlt sich aber so an.“

„Beschwer dich bei meinen Eltern.“

„Hab ich schon.“

„Und? Was haben sie gesagt?“

Ben hob die Schultern. „Dass es gut ist, wenn wir ...“

Ich hatte Angst vor einem neuen Geständnis und sah Ben misstrauisch an. „Wenn wir was?“

„Mal nicht über meine Schwester reden.“

„Ach so. War ja klar.“ Beinahe war ich erleichtert, dass unser Gespräch auf vertrautem Boden blieb.

„Ihr müsst wirklich auf andere Gedanken kommen“, betonte mein Vater, der die Gepäckverladung beendet hatte. „Du. Ben. Jeder auf seine Weise. Es kann so nicht weitergehen.“

Was sollte ich dazu noch sagen?

Im Hintergrund schlug eine Autotür zu. Henrik Frey startete den Motor. Mein Herz begann zu rasen.

„Jana! Komm! Es geht los!“ Charlotte stand lachend an der geöffneten Beifahrertür und winkte mich herbei.

Matilda steckte den Kopf aus der Wagentür und grinste von einem Ohr zum anderen. „Wenn meine Mutter sagt, es geht los, dann solltest du rennen. Sofort!“

Leon schlug pfeifend die Kofferraumtür zu, nahm Anlauf und sprang mit Arschbombe in den Wagen. Gelächter quoll ihm entgegen.

Ben sah so panisch aus, wie ich mich plötzlich fühlte. Wochenlang war der Sommer weit weg gewesen. Irgendwo, weit außerhalb meiner Vorstellungskraft. Jetzt fielen mir tausend Dinge ein, die ich wochenlang verdrängt hatte. Ich hatte Angst vor der fremden Welt. Würde mir Belgien gefallen? Würde ich Heimweh bekommen? Würde Matilda mich auch nach fünf Wochen noch aufheitern?

„Versprich, dass du dich meldest“, sagte Ben hastig, drehte sich um und war weg.

„Logisch“, krächzte ich ihm hinterher. „Ich melde mich bald.“

Meine Eltern umarmten mich gleichzeitig. „Erhol dich gut, mein Schatz. Viel Spaß“, flüsterten sie in meine Haare.

Ich murmelte einen Gruß – für ausführliche Worte war ich zu nervös – und schlüpfte ins Auto. Mein Vater schloss von außen die Tür. Ich winkte aus dem offenen Fenster. Der Wagen bog um eine Kurve. Meine Welt verschwand aus meinem Blickfeld.

„Jetzt geht’s los!“, brüllte Leon.

„Hey!“ Matilda hielt sich die Ohren zu. „Schrei nicht so!“

„Gewöhn dich dran, Mats.“ Leon grinste. „Wir können noch lauter.“

Seine Freunde Christoph und Samuel lachten.

Matilda schnitt eine Grimasse und machte eine allumfassende Geste durchs Wageninnere. „Also, irgendwie kennt Ihr Euch alle schon, oder?“

Christoph, Leon und Samuel, die in typischer Jungsmanier die letzte Sitzreihe des Vans belegten, nickten mit vollendeter Coolness. Logisch, Ben kannte jeden und deshalb kannte jeder auch mich. Die Einzige, die ich nicht kannte, war Emma.

„Hi.“ Sie hob kurz die Hand. „Bin auch zum ersten Mal dabei.“

Ich lächelte zurück, brachte aber kein Wort heraus.

Matilda sah mich prüfend an. „Alles okay?“

Emma musterte mich aufmerksam. Alle musterten mich.

Auch Matildas Vater im Rückspiegel. Ich fühlte mich wie ein Hochseilartist. Jeder wartete drauf, dass ich runterfiel. Dabei hatte ich das schon getan. Nur hatte damals niemand zugesehen.

Damals, als Leila starb. Letztes Jahr, Ende August. Der Himmel war tiefblau gewesen und der Sommer mittendrin. Im Schwimmbad hatten zwei Jungs auf uns gewartet. Und ich vor dem Schwimmbad auf Leila. Doch sie war nicht gekommen.

„Alles okay?“, wiederholte Matilda.

Ich nickte, würgte den Kloß im Hals runter und setzte ein cooles Lächeln auf. Niemand sollte sehen, dass ich alleine sein und das tun wollte, was ich seit dreihundertsechsunddreißig Tagen machte: um Leila trauern.

Leon glaubte, meine Gedanken zu erraten. „Dein Benni wollte dich gar nicht gehen lassen, was?“

„Er ...“ Ich holte Luft. „Er ist nicht mein Benni.“

Christoph, ein schlaksiger Kerl mit Bürstenhaarschnitt und kugelrunden Augen, sah mich neugierig an. „Heißt das ... du bist noch zu haben?“

Ich hatte ewig nicht mit Jungs geflirtet und sah dumm zur Seite.

Matilda legte beide Arme um Emma und mich. Ihre Haare dufteten nach Blumenwiese. „Ach, süßer Chris. Wir alle sind noch zu haben!“

„Such dir eine aus.“ Emma legte den Kopf in den Nacken. „Oder nimm uns zusammen!“

Charlotte Frey drehte sich zu uns um. „Na, das kann ja heiter werden.“ Sie sah ihren Mann an. „Was meinst du, Henrik? Sollen wir alle einsperren und ohne sie nach Belgien fahren?“

Eine Kaskade von Neins, Buhs und Gepfeife schoss durch den Van.

„Benehmt Euch.“ Henrik Frey maß Matilda und Leon im Rückspiegel mit langen, ernsten Blicken. „Ihr habt Gäste.“

Matilda lehnte sich vor und hauchte einen Kuss auf den Hals ihres Vaters. „Ach Papa, wir sind total anständig. Das weißt du doch.“

Leon straffte den Rücken. „Habt Ihr gehört?“, fragte er Christoph und Samuel. „Benehmt Euch! Ihr seid Gäste!“

„Ähm ... benehmen? Beim Surfen?“ Christoph verzog das Gesicht und boxte in Samuels Rippen. „Was meinst du, Sam?“

Samuel tupfte auf seinem Smartphone herum. „Wolken, Schauer, dreiundzwanzig Grad. Kaum Sonne. Kein Wind.“

„Was faselst du?“

„Das Wetter in De Haan. Sieht nicht nach surfen aus.“

„Ach, das Thema.“ Leon winkte ab. „Bleib cool, Sam. Irgendwo ist immer Wind. Wenduine, Ostende, Ijsselmeer. Whatever.“

Ich verstand nur chinesisch.

„Surfen die Ladys eigentlich mit?“ Christoph beugte sich vor und sah uns Mädels der Reihe nach an.

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich surfe auch dieses Jahr nicht.“ Matilda verzog das Gesicht. „Das ist stinklangweilig!“

„Ich auch nicht, aber ...“, Emma drehte sich um und schielte die Jungsreihe an. „Ihr könnt es mir gerne beibringen.“

„Em!“ Matilda prustete los. „Du schaust drein, als hättest du Pickel im Auge. Wenn du richtig gucken willst, dann so!“ Sie neigte den Kopf, hob eine Schulter und setzte ein Lächeln auf, bei dem sogar mir warm wurde.

„Oh nee. Jetzt geht das wieder los!“ Leon verdrehte die Augen. „Hör auf zu flirten, Mats! Das ist ekelhaft!“

Seine Äußerung führte dazu, dass Matilda laut lachte und ihren Bruder wild anflirtete.

Dann sah sie Emma und mich an. „Die Jungs sind etwas nervig, aber sonst ganz nett.“

„Nervig? Nett?“ Christoph richtete sich auf. „Wir sind super!“

„Jo, sind wir.“ Leon schüttelte seine Locken und ließ keinen Zweifel daran, dass er total super war. Okay, er sah echt gut aus mit den breiten Schultern und diesem selbstbewussten Blick. Er benahm sich auch wie einer, der erwartete, dass alle ihn super fanden.

Samuel hatte ein Tablet aus der Tasche geholt und verglich die Wettersuche mit seinem Smartphone. Anscheinend wollte er ganz genau wissen, was ihn erwartete.

Ich konnte es ihm nachfühlen, wenn auch aus anderem Grund. Ich hatte Bilder von De Haan samt Umgebung im Internet und auf Matildas Tablet angesehen. Doch es beruhigte mich nicht, dass mein Reiseziel ein kleiner, hübscher Badeort in Westflandern war. Ich kannte es nicht. Das machte mir Angst. Wie alles Unbekannte.

Matilda erzählte, dass sie manchmal nach Brüssel flögen und dann mit dem Auto nach De Haan. Dieses Jahr wollte ihr Vater einen neuen Van ausprobieren. Matilda hatte die Route geplant.

„Augsburg, Stuttgart, Karlsruhe, Hockenheim, Alzey, Erftstadt, Aachen, Niederlande, Brüssel, Gent.“ Sie ratterte die wichtigsten Reisestationen runter, ohne Luft zu holen. Sie berichtete, dass die Fahrt von München an die belgische Nordsee achteinhalb Stunden dauert. Ohne Stau. Dass belgische Ortsnamen lustig klingen. Dass es dort coole Beachpartys gibt, einen total romantischen Sommernachtsball und massenweise süße Jungs.

An dieser Stelle tat Leon, als müsse er sich übergeben. Damit löste er eine Diskussion über Jungs und Mädels aus. Wie man richtig flirtet und küsst. Ich konnte nicht viel dazu beitragen. Natürlich hatte ich schon Jungs geküsst. Flüchtige Knutschereien an Bushaltestellen oder auf dem Pausenhof. Aber wie man es richtig macht, das wusste ich auch nicht. Im Umgang mit Jungs war ich immer unbeholfen gewesen.

Charlotte und Henrik folgten unseren Diskussionen schweigend und amüsiert. Sie tauschten verliebte Blicke und unterhielten sich über andere Themen. Anscheinend gehörten sie nicht zu der Sorte Erwachsener, die alles unter Kontrolle haben müssen. In der ersten Autobahnpause boten sie mir das „Du“ an. Charlotte fragte mich, ob es mir gut ging und ich log ein fröhliches Ja.

Das Display meines Handys zeigte fünf SMS von meinen Eltern, die mir eine gute Reise wünschten. Ich simste zurück, dass ich eine gute Reise hatte.

Als wir weiterfuhren, erzählte Matilda noch mehr von De Haan. Vom Ferienhaus, das so groß war, dass man sich verlaufen konnte. Von Oma und Opa, die vor elf Jahren nach Spanien ausgewandert waren und Charlotte ihr Elternhaus überlassen hatten. Von Freunden, die sie nur einmal im Jahr sah. Von kilometerbreitem Strand und Pudersand. Von Waffeln, Fritten und Pralinen. Vom Mond auf dem Meer in Vollmondnächten. Und von Ferdi, ihrer ersten Ferienliebe, als sie fünf Jahre alt war.

Als wir De Haan drei Pausen und vier Staus später erreichten, war es achtzehn Uhr einundvierzig. Der Wagen fuhr einen Kiesweg hinauf und hielt vor einem großen Haus.

Ich war da.

Samuel, Leon, Christoph, Emma und Matilda sprangen aus dem Auto und rannten mit Wo-Hoo und Juhu umher. Sie erinnerten mich an Hunde, die nach langem Stillsein endlich raus durften.

Ich kroch aus dem Van und betrat meine Sommerferienwelt.

„Wow!“ Das war alles, was Emma von sich gab, nachdem sie sich zweimal im Kreis gedreht hatte.

Wow war untertrieben für das strahlend weiße Gebäude, das mich mit seinem Ziegeldach und tausend Fensterläden an ein englisches Landschloss erinnerte.

Matilda nahm meine und Emmas Hand. „Kommt mit! Ich zeige Euch das Meer!“

Leon rannte los. „Wir sind schneller!“

„Halt!“ Charlotte hob eine Hand. „Bevor Ihr weglauft! Um acht Uhr gibt es Abendessen!“

Leon verzog das Gesicht. „Muss das sein?“

„Ja, es muss.“ Charlotte lächelte mich an. „Jana, magst du überhaupt Eintopf mit Kartoffeln, Lammfleisch und Gemüse?“

„Ähm ...“ Eigentlich mochte ich alles. Wenn ich Appetit hatte, was in letzter Zeit selten vorkam. „Ja.“

„Jossi hat Hutsepot gekocht! Geil!“ Matilda tanzte im Kreis und freute sich wie ein Kind an Weihnachten.

Charlotte lachte. „Seit vierzehn Jahren kocht unsere liebe Joselin zu unserer Ankunft Hutsepot. Matilda findet es toll und Leon zieht eine Schnute. Manche Dinge ändern sich nie.“

„War’s das? Bis später!“ Leon rannte los, gefolgt von Christoph und Samuel, der ausnahmsweise kein technisches Gerät anstarrte.

Ich wollte Charlotte nochmal versichern, dass ich jedes Essen mochte. Doch ich war zu lahm, und dann nahm Matilda meine Hand und zog mich fort. Vorbei an der Villa, durch einen weitläufigen Garten mit weichem Rasen, Birken und Buchen, Hortensienbüschen und Rhododendronhecken, tausend bunten Blumen, einem altmodischen Pavillon und einem großen Teich. Wir verließen den Garten durch ein Eisentor, folgten einem gepflasterten Weg und wechselten nach wenigen Minuten auf einen Sandpfad, der zu einer Reihe grasbewachsener Dünen hinaufführte.

Meeresluft streifte mein Gesicht. Sie roch ein bisschen wie frischer Fisch und nasses Holz. Der feuchte Dunst belebte mich. Meine Furcht vor dem Unbekannten wich der Neugierde, und ich spürte zum ersten Mal leise Vorfreude auf einen langen Sommer am Meer.

Leon und seine Freunde rannten hinauf, Matilda und Emma hinterher. Ich wollte mithalten, doch nach fünf Schritten durch weichen Sand war es vorbei. Meine Lungen hatten keine Lust mehr, meine Beine auch nicht. Ich fühlte mich wie ein Betonklotz, der fliegen wollte.

„Jana? Bist du okay?“ Matilda stand oben auf der Düne und lachte zu mir herunter.

„Jaja“, röchelte ich. „Alles gut.“ Am liebsten wäre ich umgekehrt und zum Haus zurückgekrochen.

Emma winkte mit beiden Armen. „Komm schnell! Das Meer ist der Hammer! Und der Himmel erst! Wo-hooo!“

Es hatte keinen Sinn zu erklären, warum ich plötzlich keine Lust mehr auf Himmel und Wo-hooo hatte. Ich biss die Zähne zusammen und stapfte hinauf, wie eine herzkranke Oma, während Matilda und Emma die Aussicht bejubelten und hüpften wie Fünfjährige. Mit jedem Schritt wuchs meine Wut. Ich hasste meine Scheißschwäche und Furcht vor einem kleinen Sandberg. Vor einem Jahr wäre ich raufgeflogen und in den Wolken gelandet.

Als ich endlich oben war, rannten Matilda und Emma auf der anderen Seite hinunter und wirbelten Sandwolken auf. Aus meiner Perspektive sahen sie aus wie Flummis. Sie rollten und hüpften über einen Strand, der sich genauso weit und kilometerbreit ausdehnte, wie Matilda ihn beschrieben hatte. Sie riefen nach mir. Jana komm und Meer und Wow.

Der kurze Anstieg hatte mich so erschöpft, dass ich erst mal verschnaufen musste. Während mein Atem sich beruhigte, schweifte mein Blick nach allen Seiten.

Bis zu diesem Tag hatte ich das Meer nur im Fernsehen und auf Bildern gesehen. Und jetzt, als es zum ersten Mal vor mir lag, verstand ich, warum man Sehnsucht danach haben konnte. Die Abendsonne tauchte die Landschaft in pastellfarbenes Licht. Wolkentürme spiegelten sich im Wasser, das lavendelblau, vanillegelb und pistaziengrün schimmerte. Die Nordsee zischte leise und zeigte ihre Schönheit in glitzernden Schattierungen.

Und ich hatte nichts Besseres zu tun, als wieder mal an Leila zu denken. Es wäre mir verräterisch vorgekommen, diese Schönheit nicht mit ihr zu teilen. Denn zum einen hatten wir alles miteinander geteilt. Und zum anderen war Leila niemals am Meer gewesen.

Dafür war ich jetzt hier.

Ich würgte den hundertsten Kloß des Tages hinunter. Jeder Gedanke an Leila machte mich fertig, und das Vermissen würde niemals enden. Das waren Tatsachen, so unverrückbar wie dieser Strand und der Streifenhimmel. Ich sollte sie akzeptieren, statt immer zu jammern und zu denken, dass ich nicht weiterleben wollte. Doch alles, was ich akzeptieren konnte, war die Tatsache, dass mein Leben ohne Leila sinnlos war. Mutlos versuchte ich, das ätzende Gefühl der Einsamkeit zu ersticken. Die Neugierde und Vorfreude waren so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren.

Ich angelte nach meiner Tasche, um meine Eltern anzurufen. Ich wollte ihnen sagen, dass sie mich abholen sollten. Dass ich auf keinen Fall hierbleiben wollte. Doch ich hatte die Tasche im Van gelassen. In meine Trauer mischte sich Wut über meine Vergesslichkeit. Ich musste mich bemühen, nicht loszuheulen wie ein Kleinkind, das seinen Teddybär verloren hat.

Matilda und Emma erinnerten mich winkend und rufend daran, dass ich nicht allein hier war. Es gibt aber nichts Uncooleres als mit verquollenen Augen herumzulaufen. Und nichts ist anstrengender als zu lachen, obwohl man heulen möchte.

Also atmete ich tief ein und tat so, als würde ich Wellen, Strandpromenade, Liegestühle, Spaziergänger und Segelboote bestaunen. Immer wieder ließ ich meinen Blick schweifen und machte große Augen. Beim letzten Blick zum Horizont fiel mir eine Gruppe Jugendlicher auf, die nicht ins Bild der schwatzenden und lachenden Strandurlauber passten. Sie waren nicht für einen Strandspaziergang gekleidet und schritten in vollkommener Übereinstimmung am Meeressaum entlang. Ihre Selbstsicherheit und die Harmonie ihrer Bewegungen faszinierten mich ebenso wie die Tatsache, dass sie aussahen, als kämen sie direkt aus dem Beautysalon.

Es waren fünf Personen. Ein Mann und eine Frau schritten vorneweg. Sie hatten blasse Haut, schwarze Haare und waren schwarz gekleidet. Ihnen folgten zwei Jungs in Jeans und schneeweißen Hemden. Das Schlusslicht bildete eine junge Frau. Ihre blonden Haare und ihr langes Kleid flossen sanft um ihren Körper.

Ich wusste nicht, welcher Anblick mich mehr fesselte: Die blassen Schönheiten in Schwarz, die blondgelockten Jeansjungs oder das Model, das ihnen lächelnd folgte.

Den anderen Strandbesuchern ging es wie mir. Alle gafften, tuschelten, flüsterten und kicherten. Manche Männer pfiffen dem Model hinterher, andere applaudierten.

Als hätte er ausgerechnet meinen Blick gespürt, sah einer der Spaziergänger plötzlich zu mir hoch. Es war einer von den Jeansjungs. Er verlangsamte sein Tempo und sah mich an. Ich mag es nicht, wenn man mich anstarrt, und sah weg. Nach wenigen Sekunden schielte ich wieder hinunter. Der Typ starrte immer noch. Unsicher sah ich nach allen Seiten. Hier oben auf der Düne war niemand außer mir.

Was also sah er?

Sein Blick war unverändert auf mich gerichtet, und als wäre das nicht genug, wurden seine Augen immer heller und begannen plötzlich zu leuchten. Also, nicht so ein Leuchten, als ob er sich freuen würde. Nein, es war ein grelles Strahlen, als würde eine Flutlichtlampe durch seine Augen scheinen, immer heller und greller. Das Licht schmerzte in meine Augen. Und als wäre das nicht genug, spürte ich eine Hitze, als würde die Sonne hinter den Wolken hervortreten und nur auf mich herabscheinen.

Ich schloss die Augen und senkte den Kopf. Mein Hirn verlangte nach Erklärungen für diese seltsamen Empfindungen. Doch da war nichts, was ich mit gesundem Menschenverstand erklären konnte. Stattdessen kam mir ein vertrauter Verdacht, der an meiner Zurechnungsfähigkeit nagte. Ich hatte zu viel Zeit in meinem Zimmer verbracht und zu wenig geschlafen. Zu viel gegrübelt und zu wenig gechillt. Einsamkeit machte Menschen bekanntermaßen schrullig. Mich hatte sie verblödet. Ja, genau, ich hatte den Verstand verloren. Da war es logisch, dass ich Lichter sah und Schweißausbrüche bekam.

Eine innere Einsicht dieses Kalibers hätte mich eigentlich umhauen sollen. Ich hätte schreiend wegrennen oder apathisch im Sand versinken sollen. Stattdessen beruhigte sich mein Herzschlag, meine Atemfrequenz sank, die Hitze verschwand.

Behutsam blinzelte ich Richtung Strand und seufzte erleichtert.

Der Junge hatte seinen Leuchtblick abgewandt und ging mit seinen Begleitern weiter. Erst jetzt fiel mir ein, dass seine Glotzerei mich sauer machen sollte. Aber ich glotzte ja selbst. Außerdem gefiel es mir, dass ein toller Typ mich anstarrte. Denn jetzt, als ich ihm ungeniert nachschauen konnte, sah ich, wie schön er war. Seine Bewegungen waren weicher als die einer Raubkatze, seine hochgekrempelten Hemdärmel entblößten muskulöse Unterarme und seine Lockenmähne glänzte im Abendlicht wie Manukahonig.

Der andere Jeansjunge sah ihm sehr ähnlich. Er war jedoch etwas kleiner und seine Haare heller. Wie mochten diese fremd wirkenden Menschen wohl zusammengehören? Sie waren alle groß und muskulös, hatten aber sonst nicht viel gemeinsam. Die zwei ähnlich aussehenden Jungs mochten Brüder sein. Aber welche Rollen spielten die Schwarzgekleideten? Und zu wem gehörte das Kurvenwunder im Seidenkleid?

Weit entfernt hörte ich die Stimmen von Matilda und Emma. Sie riefen nach mir, doch ich konnte meinen Blick nicht von den seltsam schönen Menschen abwenden. Außerdem hatte ich den Eindruck, als wären sie von einem sanften Lichtschimmer umgeben.

Ohne stehenzubleiben, drehte der Junge mit dem Leuchtblick den Kopf und fixierte mich erneut. Die Scheinwerfer waren verschwunden, doch sein Blick war genauso durchdringend wie zuvor. Und er sah mich an. Nur mich.

Ich hielt die Luft an. Mein Herz hämmerte, mein Bauch kribbelte. Noch nie hatte ein Junge mich auf diese Weise angesehen. Alles an ihm war außergewöhnlich: seine Körperhaltung, wie er sich bewegte, wie er anmutig der Brandungslinie folgte, seine schimmernde Haut, seine sehnigen Arme, seine athletische Figur. Außerdem hatte er, soweit ich das aus der Distanz beurteilen konnte, die schönsten Augen, die ich jemals gesehen hatte. Denn als er mich so ganz ohne Flutlicht ansah – und trotz der Entfernung sah ich es gut – traf mich sein ernster, melancholischer Blick.

Und wieder fragte ich mich, was er sah. Mein Anblick war sicher nicht das, was ein Typ wie er suchte. Und doch fixierte er mich, als wäre ich das Interessanteste, was er jemals gesehen hatte.

Nach diesem langen Blick wandte sich der Junge wieder seinen Begleitern zu. Ich stakste zwei Schritte die Düne hinunter. Warum hatte er mich so lange und so direkt angesehen? Außer mir war niemand hier oben auf der Düne, und der Himmel hatte sicher nicht sein Interesse geweckt. Ich starrte ihm nach, bis er im Dunst des Horizonts verschwand und wünschte mir, er würde sich noch einmal umdrehen. Ich erwachte erst aus meiner Trance, als Matilda, Emma, Leon, Samuel und Christoph die Dünen hinaufrannten.

„Hast du Angst vor Wasser?“ Leon schüttelte seinen Lockenkopf und bespritzte mich mit tausend Wassertropfen. „Oder warum stehst du hier oben herum?“

Ich zuckte zurück.

„Sag mal, bist du okay?“ Matilda sah mich besorgt an.

„Ja, klar. Alles in Ordnung.“

„Warum bist du nicht zu uns gekommen?“

„Ich habe ...“ Keine Ahnung, was ich sagen sollte.

Matilda grinste breit. „Aaaahhh, ich weiß, warum.“ Ihr Gesicht wurde eine Spur rosiger. „Diese Typen sind echt scharf, was?“

Ich stellte mich dumm. „Hä? Wer?“

„Aber die Schnecken sind noch schärfer!“ Christoph wies mit dem Kopf zum Strand.

„Bah! Du und diese Tanten! Du bist genauso bescheuert wie letztes Jahr! Die eine ist zu blass und die andere schaut wie bekifft.“ Leon schüttelte den Kopf. „Kommt jetzt! Ich hab Hunger!“ Er trabte los.

„Ich auch!“ Samuel überholte ihn.

Und wieder erinnerten mich die Jungs an Hunde, die sich über den Haufen rennen und gegenseitig in die Ohren beißen.

„Ich finde die Typen auch toll.“ Emma sah Matilda und mich an. „Aber ...“

„Aber nicht toll genug für dich, Em?“ Matilda kniff die Augen zu und tat so, als würde sie Emma ganz genau untersuchen.

Emma kicherte und wand sich. Matilda fragte und Emma gab eine Antwort, die ich nicht mehr hörte, weil meine Gedanken woanders waren. Warum hatte dieser Typ mich angestarrt? Weil ich aussah wie ein zahnloses Monster? Hatten seine Augen wirklich geleuchtet? Litt ich unter Halluzinationen?

Während mein Hirn damit beschäftigt war, Fragen zu stellen, auf die es keine Antwort fand, glitt die Welt an mir vorbei. Der Weg zum Haus. Der Esstisch mit Silberbesteck, Kristallgläsern, Wasserkaraffen und weißen Servietten. Mein Teller mit dem gut riechenden Irgendwas. Charlottes fröhliches Gesicht. Das Gelächter von Leon, Christoph und Samuel und, laut und melodiös, Matildas Lachen. Sie packte mich am Arm und riss mich aus meinen Gedanken.

„Hey! Jana! Bist du noch da?“

„Was?“ Ich fühlte mich, als hätte ich geschlafen.

„Ich wollte nur wissen, wo du bist.“

„Ich bin hier. Warum?“

„Deine Mutter hat angerufen.“

„Wann? Jetzt?“ Ach du liebe Zeit, ich hatte ein neues Smartphone. In einer neuen Tasche. Hektisch sah ich mich nach den vergessenen Dingen um.

„Keine Sorge.“ Charlotte lächelte mich an. „Deine Tasche und deine Koffer sind in deinem Zimmer.“

Ich erwiderte ihren Blick, fühlte mich aber beschämt bei dem Gedanken, dass ich meine Sachen vergessen hatte, und peinlich berührt angesichts der Tatsache, dass jemand sie angefasst und weggeräumt hatte.

„Danke“, murmelte ich.

„Alles in Ordnung, Jana. Deine Mutter hat auf meinem Handy angerufen, weil sie dich nicht erreicht hat. Sie richtet dir liebe Grüße aus und wünscht dir eine gute Nacht.“

„Oh.“ Über meine Kopfkinoleinwand flimmerten Bilder meiner Mutter, die durchdrehte, weil ich nicht erreichbar war. „Ich muss mich dran gewöhnen, dass ich ein Handy habe.“

„Ach, das geht schnell.“ Matilda grinste. „Ha! Übrigens! Wir müssen unser W-LAN auf deinem Dings einrichten. Ich muss dir witzige Filme zeigen! Soll ich es gleich holen?“

Mein Kopf war so müde. „Was holen?“

„Immer eins nach dem anderen“, mischte sich Matildas Vater ein. „Das Internet kann bis morgen warten. Es läuft nicht weg.“

„Hat dir das Essen geschmeckt?“, wollte Charlotte wissen.

„Ja, danke. Es war sehr gut.“ Ich mochte es wirklich. Schon lange hatte ich nicht mehr so viel gegessen.

„Ich finde Hutsepot auch toll.“ Emma lümmelte in ihrem Stuhl und streckte sich. „Ich glaube, ich bin müde.“

Erst jetzt merkte ich, dass Leon und seine Freunde nicht mehr am Tisch saßen. Von Weitem hörte ich ihre Stimmen und ihr Gelächter.

„Kommt mit!“ Matilda rutschte von ihrem Stuhl. „Ich zeige Euch Eure Zimmer!“ In ihrer nicht zu bremsenden Begeisterung sprang sie davon. Emma und ich folgten ihr. Kichernd stolperten wir die Treppen hinauf und rannten einen langen Flur entlang.

„Hier!“ Matilda öffnete eine Tür auf der rechten Seite des Flurs. „Deine Sommerwelt!“ Sie knipste das Licht an, ging in die Mitte des Raums und drehte sich einmal im Kreis. „Hier ist dein Bett, da draußen dein Balkon und hinter der Tür dein Badezimmer.“ Sie sah mich erwartungsvoll an. „Und? Wie findest du es?“

„Es ist wunderschön“, murmelte ich, obwohl ich kaum etwas sah – so groß war mein neues Zuhause und so müde waren meine Augen.

„Ach, und übrigens, herzlich willkommen! Cool, dass du hier bist.“ Bevor ich etwas erwidern konnte, drückte sie mich und lief hinaus.

In diesem Moment spürte ich, wie müde ich war. Ich sah nur noch das Bett und meine Tasche. Mit schlaffen Fingern kramte ich mein Handy raus. Auf dem Display waren sieben verpasste Anrufe von meinen Eltern und von Ben. Schnell tippte ich eine SMS an meine Mutter und schrieb, dass es mir gut ging. Danach versank ich in weicher Bettwäsche mit dem Duft von Seeluft und Sommer.

Von weiter Ferne hörte ich das Gelächter von Matilda, Emma, Leon, Christoph und Samuel, während der Tag durch mein Hirn zuckte. Meine Eltern am Straßenrand. Endlose Autobahnen, endloser Strand, endloses Meer. Junge mit endlosem Leuchtblick. Die Bilder kreisten in meinem Kopf, in endloser Folge, wie ein Film, der immer wieder von vorne begann.

2

Immer wieder erwachte ich, fror und wickelte die Bettdecke fester um mich. Im Halbschlaf hörte ich einen Schrei, wusste aber nicht, ob ich geträumt oder selbst geschrien hatte. Ich sank erneut in Schlaf, verfolgt von fremden Bildern und Geräuschen. Dann war es hell und ich wusste nicht, wo ich war. Schlaftrunken kroch ich aus der Decke, streifte Schuhe und Strümpfe von den Füßen und sah mich um. Ach ja, ich war in De Haan.

Mein Zimmer hier war dreimal so groß wie meins zu Hause. An der Wand gegenüber befand sich eine breite Flügeltür zum Balkon, links und rechts davon große Fenster. Vor dem linken Fenster standen ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Unter dem anderen Fenster waren, sauber aneinandergereiht, meine Taschen und Koffer. Links vom Bett erkannte ich hinter einer geöffneten Tür ein Waschbecken.

Es war stickig im Zimmer, also stand ich auf und öffnete die Balkontüren. Feuchte, salzige Luft drang herein. In der Ferne erkannte ich das Meer, ein blassblauer Streifen am Horizont. Ein Horizont, an dem löwenmähnige Jungs herumspazierten und hypnotische Blicke verteilten. Ich schob die Erinnerung mit aller Macht zur Seite. Ich hatte keine Lust, an einen Typ zu denken, den ich nie wieder sehen würde. Außerdem machte mich die Frage nach seinen Augen meschugge, falls ich das nicht schon war.

Der Luftzug streifte mich mit klammen Fingern. Ich flüchtete ins Bett und kuschelte mich in die Bettdecke. Während mein Blick durchs Zimmer kreiste, schweiften meine Gedanken nach Hause. Jetzt, weit weg von daheim, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich in den vergangenen Monaten nichts gesehen hatte, außer meinen Eltern, meinem Zimmer und Bens Armen, in denen ich mich regelmäßig ausweinte. Und nun war ich hier, um etwas Neues zu sehen. Um mein zweigeteiltes Leben zu ändern. Der Teil, der mit Leila gelebt hatte – also Jana Nummer eins – der war vorbei. Jetzt musste ich alleine weiter. So ähnlich jedenfalls hatte es ein Trauerpsychologe gesagt. So sehr ich mich auch bemühte, alles zu kapieren, senkrecht zu gehen und Jana Nummer zwei zu werden, es gelang mir nicht. Scheiß Trauerarbeit. Leila war tot. Mein Herz blieb wund. Und Ben war meine Heilsalbe.

Der Gedanke an ihn erinnerte mich an mein Smartphone. Ich angelte es vom Nachttisch und wollte meine E-Mails abrufen, gierig nach Ablenkung von der Wehmut, die sich schon wieder durch mein Herz fraß. Dann fiel mir ein, dass ich kein Internet hatte.

Es war noch früh, kurz nach fünf Uhr. Ich konnte nicht mehr schlafen, wollte aber auch nicht im Bett liegen und trüben Gedanken nachhängen. Ich sprang auf, lief ins Badezimmer und blieb voller Erstaunen stehen. Es war riesengroß! Andächtig befühlte ich die Armaturen, die Wandfliesen, das Waschbecken, die Duschkabine und die Badewanne. Alles war so sauber, als wäre es noch nie benutzt worden. In einem Regal lagen Handtücher, Duschgel, Bodylotion, Shampoo, Gesichtscreme, Hautöl und ein Parfum. Ich schnupperte an allen Flakons, Tiegeln und Fläschchen. Die dezenten Düfte verrieten Luxus und Eleganz. Ich hätte die Sachen gerne ausprobiert, traute mich aber nicht. Ich war nicht sicher, ob ich sie benutzen durfte. Ich nahm mir vor, Charlotte zu fragen.

Das schöne Badezimmer und die frischen Düfte hatten mich so belebt, dass ich mich nach einer heißen Dusche sehnte. Ich lief zu meinen Koffern, zerrte meine nagelneue Kosmetiktasche raus, zog mich aus, warf meine Klamotten auf den Boden und lief wieder ins Badezimmer. Dort zögerte ich einen Augenblick und drehte mich dann langsam zu dem raumhohen, blankpolierten Spiegel.

Meine Haut war schon immer hell gewesen. Im kalten Morgenlicht leuchtete sie schneeweiß. An den Stellen, wo andere Mädchen Polster haben, hatte ich Knochen, und mein Bauch wölbte sich nach innen. Meine Sommersprossen, auf die ich immer stolz gewesen war, waren verschwunden. Mein Teint sah aus wie Ziegenkäse. Verärgert drehte ich mich um und schüttelte den Kopf. So konnte es nicht weitergehen. Ich nahm mir vor, viel zu essen, in der Sonne zu liegen und mich hübsch zu machen. Matilda, Emma und Millionen andere Mädchen kriegten das schließlich auch hin.

Frierend betrat ich die Duschkabine und wusch mit kochend heißem Wasser die Reise, meinen Frust und meine Vergangenheit vom Körper, fest entschlossen, wieder glücklich und schön zu werden. Als ich die Dusche verließ, war der Spiegel beschlagen. Ich streckte ihm die Zunge raus, wickelte mich in ein fußballfeldgroßes Handtuch und ging nach nebenan. Während ich meine Haare bürstete, betrachtete ich den Streifen am Horizont, der zunehmend blauer wurde. Wie es wohl sein mochte, im Meer zu baden? War das Wasser so kalt wie zu Hause im Badesee? Wie roch es? Wie schmeckte es? Wie fühlte sich die Strömung an, von der alle behaupteten, sie sei so gefährlich? Ich hatte große Lust, es auszuprobieren. Denn unter meinem Trauermantel spürte ich Sehnsucht nach den verrückten Dingen, die ich mit Leila unternommen hatte. Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas Gefährliches tun musste, um mich wieder lebendig zu fühlen. Vielleicht konnte ich dann den Bleiklotz aus meinem Herzen katapultieren und mich wieder leicht und lebendig fühlen. Ich wusste nur nicht, ob meine Träume stärker waren als mein Körper.

Ich wurstelte meine Haare hoch und cremte mich von den Zehen bis zur Stirn mit Avocado-Kumquat-Arganöl ein, das meine Mutter im Kaufrausch erworben hatte, „damit du dich immer gut gepflegt fühlst, mein Liebes.“ Mit jeder Berührung versicherte ich mir, dass ich neuen Mut in meine Haut streichelte und dass ab jetzt alles schön würde. Als jeder Quadratmillimeter mit Liebe versorgt war, schlüpfte ich in meine Klamotten von gestern und suchte nach der nächsten Beschäftigung. Ich musste unbedingt mein Hirn ablenken, damit weder die Trauergedanken zurückkehrten noch die Erinnerung an leuchtende Augen.

Ich öffnete Koffer und Taschen, verteilte alle Klamotten in Wandschränken und Kommoden und stapelte meine Bücher in ein kleines Wandregal über dem Kopfende meines Betts. Das Bargeld meiner Eltern versteckte ich im Schrank und meine Schmucktruhe platzierte ich auf dem Nachttisch. Mein kleiner Plüschelefant, ein Glücksbringer von Leila zu meinem fünften Geburtstag, bekam einen Ehrenplatz neben meinem Kopfkissen. Zum Schluss stopfte ich die leeren Koffer und Taschen in die hinterste Ecke des Wandschranks und schüttelte mein Bettzeug aus. Als ich überlegte, was ich noch tun konnte, klopfte es an der Tür. Ich hielt den Atem an und horchte. Es klopfte wieder. Auf Zehenspitzen ging ich zur Tür, öffnete sie und sah in Matildas Gesicht.

„Morgen“, wisperte sie und schlüpfte herein. Sie beugte sich vor und schnupperte. „Hmmm, du riechst aber lecker.“

„Ich, ähm, hab geduscht.“

„So früh?“ Matilda sah mich bewundernd an. „Du bist cool. So früh kann ich keine Seife sehen.“

„Wirklich? Wie früh ist es denn?“

Matilda legte den Kopf zur Seite und schielte mich aus halbgeöffneten Augen an. „Acht Uhr. Mitten in der Nacht.“

Ich musste lachen. „Und warum bist du dann wach?“

„Nur so. Irgendwann hab ich bei dir Geräusche gehört. Und dann hab ich gedacht, ich sag mal hallo.“

„Na, dann. Hallo!“

Matilda winkte mir zu. „Hallo!“ Ihr Blick wanderte durchs Zimmer. „Du bist noch keine zwölf Stunden hier und hast schon alles ausgepackt und es dir gemütlich gemacht? Bist du schon so lange wach?“

„Ja, leider.“ Ich seufzte und verdrehte theatralisch die Augen. „Das ist immer so am Anfang. Bald ratzt du durch bis Abend.“ Wir lachten. Mit Matilda war es so einfach, Spaß zu haben. Es klopfte erneut an der Tür.

„Erwartest du jemanden?“ Matilda machte kugelrunde Augen.

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Du solltest trotzdem nachsehen, wer das ist.“

„Meinst du?“

„Könnte nicht schaden.“

Es klopfte wieder. „Matilda? Jana?“ Das war Emmas Stimme.

Ich öffnete die Tür.

„Guten Morgen. Ich hab Euch gehört“, flüsterte Emma.

„Darf ich reinkommen?“

„Klar.“ Ich war überrascht über Emmas Besuch, und freute mich, weil ich unsicher war, ob wir miteinander klar kämen. Doch so, wie sie jetzt lächelte, waren meine Zweifel vielleicht unbegründet.

Emma sah sich um. „Dein Zimmer ist auch total schön. Und du hast auch einen Balkon. Ist dein Bad auch so groß?“

„Es ist eine Turnhalle.“

„Und sind in deinem Bad auch so geile Kosmetiksachen?“

„Ja! In deinem auch?“

Matilda lachte. „Hier hat jedes Zimmer einen spanischen Balkon, ein italienisches Badezimmer und französische Körperpflege. Meine Mutter mag es gerne ... ähm ... wie soll ich sagen, besonders?“

„Darf man diese besonderen Sachen verwenden?“, fragte Emma mit glänzenden Augen.

Matilda lachte wieder. „Logisch.“

„Alles klar! Ich muss duschen!“ Emma flitzte davon.

Matilda streckte sich und gähnte. Dann hob sie den Kopf.

„Hmmm, ich glaube, es gibt Frühstück.“

Durch die offene Tür drangen Düfte von frischem Kaffee, Toast und gebackenem Kuchen. Ich hörte das Klappern von Tellern und Besteck und dazwischen die Stimmen von Charlotte und Henrik.

Und ein anderes, fremdes Geräusch. Mein Magen knurrte.

Matilda grinste. „Kann es sein, dass du Hunger hast?“

„Glaube schon.“

„Dann komm schnell!“ Matilda flitzte hinaus. Auf dem Flur rief sie: „Em! Frühstück! Du musst entweder stinken oder verhungern!“

Ich zog Sneakers über meine nackten Füße, schnappte mein Smartphone und lief auf den Flur. Matilda rannte schon Richtung Treppe. Keine Ahnung, wie sie es geschafft hatte, sich so schnell umzuziehen und die Haare zu bürsten.

Auf dem Weg nach unten fiel mir auf, wie hübsch das Haus eingerichtet war. Die Möbel waren überwiegend weiß lackiert. Vorhänge und Sesselbezüge bestanden aus hellblauen und steingrauen Stoffen. Kissenbezüge in Lavendelblau oder Terrakotta bildeten vereinzelte Farbtupfer. Auf Fenstersimsen, Tischen und Kommoden lagen pastellfarbene Kieselsteine, Muscheln und ausgebleichte Äste, bunt bemalt, verziert und mit Datum und Name des Finders beschriftet. Fast jede Wand zeugte mit gerahmten Bildern von den vielen Sommern der Freys. Immer wieder blieb ich stehen, um Fotos von Charlotte, Henrik, Leon und Matilda anzusehen, am Strand, in den Dünen, mit Badekleidung oder in Jeans und Gummistiefeln.

Wir durchquerten die Eingangshalle und landeten in einer riesigen Küche.

„Jossiiiiiiii!“ Matilda rannte ungebremst in die Arme einer kleinen, dunkelhaarigen Frau, die sie mit geöffneten Armen empfing.

Die Frau stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte den Kopf, drückte Matilda einen Kuss auf die Stirn und umarmte sie innig. „Matselein! Min liebes Kind! Wie schön, dir wieder zum sehn! Groß biste geworden. Und so schön! Na, min Lockenköpfchen, geht’s dir gut?“

Matilda schien es nicht zu stören, dass die Frau mit ihr sprach wie mit einem Kleinkind. „Mir geht’s super! Ich hab dich so vermisst!“

Ich stand verlegen herum und betrachtete das Waffenarsenal an Töpfen, Pfannen, Messern und Küchengeräten.

Die kleine Frau löste ihre Arme von Matilda und lächelte mich herzlich an. „Und du bist die Jana. Richtig?“

Woher wusste sie das? „Ja, ähm, das bin ich“, sagte ich leise. „Guten Morgen, Frau ...“

„Joselin.“ Sie drückte fest meine Hand. „Herzlich willkommen im schönen Belgien, liebe Jana.“

„Danke.“ Unbeholfen, wie ich war, fiel mir nichts mehr ein. Aber was hätte ich auch sagen sollen? Ach, Sie sind die mit dem Eintopf?

Als könnte Matilda Gedanken gelesen, sagte sie: „Jossi kocht mega Hutsepot, backt geile Kirschmuffins und massiert Hände. Wenn es sein muss, flickt sie auch Kopfwunden und repariert Autos. Aber wehe, du bedankst dich. Dann wird sie sauer!“

Joselin lachte und wuschelte in Matildas Haaren. Mit der anderen Hand wies sie zu einem Nebenraum. „Dem Fruhstück ist fertig. Lasst ihm Euch schmecken.“ Sie drückte meinen Arm.

An der Tür schwebte uns Charlotte entgegen, eingehüllt in ein Seidenkleid, das für ein Frühstück viel zu elegant war. Sie gab Matilda einen Kuss und sah mich mit so viel Wärme an, dass ich rot wurde.

„Guten Morgen. Habt Ihr gut geschlafen?“

Matilda flog an den Tisch. „Wie ein Murmeltier.“

„Ich hab auch gut geschlafen, danke.“ Ich schlüpfte auf den Stuhl neben ihr und sah mich verstohlen um. Was bei uns zu Hause das Esszimmer war, glich hier einem Tanzsaal. Das Frühstücksgeschirr ähnelte jenem, welches mein Vater bei besonderen Anlässen aus dem Originalkarton holte und nach Verwendung sorgsam verpackte. Was Messer, Gabeln und Löffel betraf, so erblickte ich nur glänzend poliertes Silber. Ich hatte keine Ahnung, ob ich Perfektion in solchem Ausmaß sechs Wochen lang ertrug. Ich hatte weder eine Villa am Meer erwartet, noch Wohlstand im Übermaß. Aber vermutlich sollte ich mich nicht beschweren, sondern froh sein, dass ich hier sein durfte.

„Jana, was möchtest du trinken?“, fragte Charlotte. „Kaffee? Kakao? Grüntee? Darjeeling?“

Verwirrt von der Auswahl sah ich Charlotte ratlos an. Zuhause gab es Teebeutel. Hier musste ich Entscheidungen treffen.

Matilda sah mich ernst an. „Wir haben auch milchfreie Milch, veganen Orangensaft und fettarmes Wasser.“

Henrik schüttelte amüsiert den Kopf.

Es war mir peinlich, dass ich wie im Restaurant bestellen musste. „Ich ... ähm ... kann ich Milchkaffee haben?“

Joselin nickte und verschwand in der Küche. Kurz darauf hörte ich Gepolter im ersten Stock, dann das Gelächter der Jungs auf der Treppe und dann in der Küche. Joselin wurde lauthals von Leon und seinen Freunden begrüßt. Kurz darauf betraten sie das Esszimmer, mit Emma im Schlepptau.

„Grüß die Sonne! Hey Leute! Ihr seid ja schon wach!“ Leon flog auf den Stuhl neben seinen Vater und betrachtete den Frühstückstisch. „Wow, geil, Jossi! Voll super, was es alles gibt!“

Auf dem Tisch türmte sich so ziemlich alles, was man als Frühstück bezeichnen konnte. Körbe mit Brot, Toastscheiben und Croissants. Teller mit Apfel- und Käsekuchen. Silberplatten mit Schinken, Wurst und Käse. Marmeladenschälchen. Schalen mit Müsli und Joghurt. Karaffen mit Säften. Eine Etagere mit Obst und eine Schüssel mit geschlagener Sahne. Joselin plazierte an den wenigen freien Stellen dampfende Teeund Kaffeekannen. Ich wartete darauf, dass der Tisch zusammenbrach und fragte mich, wer das alles essen sollte.

Matilda bemerkte meine Überraschung. „Am ersten Tag gibt es immer megageiles Riesenfrühstück“, erklärte sie.

„An den anderen Tagen auch!“ Leon biss in ein Schokoladencroissant und trank seine Tasse mit einem Zug leer.

„Na gut. Okay. Wir sind immer so verfressen.“ Matilda bestrich eine Toastscheibe sorgfältig mit Butter und Marmelade und türmte Käsescheiben obendrauf.

Ich knabberte an einem Croissant und ließ meinen Blick kreisen. Niemand beobachtete mich oder erinnerte mich daran, dass ich essen sollte. Alle schwatzten und lachten durcheinander. Was das Essen betraf, lagen entspannte Ferien vor mir.

Charlotte riss mich aus meinen Gedanken. „Jana, erzähl doch mal. Wie hat dir das Meer gefallen? Gestern Abend?“

Ich brauchte einen Moment, um aus meinen Gedanken zu erwachen. „Es war sehr schön“, sagte ich wahrheitsgemäß.

„Du warst doch gar nicht am Meer“, nuschelte Leon kauend.

„Richtig“, sagte Christoph. „Du warst oben auf der Düne und hast die Typen angestarrt.“

„Du hast doch selbst geglotzt“, erwiderte Samuel. „Deine Augen sind immer noch ganz rot.“

Matilda verschluckte sich fast an ihrem Tee. „Hey! Mum, das wollte ich noch erzählen! Sie sind wieder da! Die Jungs! Sie sind wieder da!“

„Von wem redet Ihr?“ Henrik sah uns der Reihe nach an.

Charlotte tat es ihm gleich. „Das würde mich auch interessieren.“

„Ach, Mum!“ Matilda beugte sich vor. „Erinnerst du dich nicht an die Jungs vom letzten Sommer?“

„Ich weiß nicht, wen du meinst.“ Charlotte sah Matilda ernst an, aber ihr Tonfall klang nicht überzeugend. Ich hatte den Eindruck, dass sie genau Bescheid wusste, und versuchte, sich das Grinsen zu verkneifen.

„Aber du hast sie damals doch auch gesehen! Die Filmstars! Am Strand! In Designerklamotten! Na? Klingelt’s jetzt?“

Charlotte tat so, als würde sie nachdenken. Henriks Interesse galt inzwischen nicht mehr unseren Erlebnissen am Strand, sondern der Reaktion seiner Frau.

Matilda ließ nicht locker. „Die tolle Superfrau? Im weinroten Seidenkleid? Von Chanel? Weißt du das echt nicht mehr?“

Christoph machte ein Geräusch, das wie Grunzen klang.

„Ach!“ Charlotte lachte. „Die meinst du!“

„Jaaa! Die meine ich!“

„Zwei von den Typen können richtig geil surfen“, bemerkte Leon. „Ich hab sie letztes Jahr gesehen. Ijsselmeer.“

„Ach.“ Henrik lächelte. „Ihr meint vermutlich die Vilkens.“

„Die wer?“ Matilda riss die Augen auf. „Du kennst die?“

Henrik hob die Schultern. „Leider nicht. Ich weiß nur, dass sie hier in der Nähe ein Sommerhaus haben. Irgendwo zwischen Wenduine und Blankenberge.“ Er musterte uns der Reihe nach. „Und dass sie allen Damen den Kopf verdrehen.“

Ein Sommerhaus. In der Nähe. Mein Kopf glühte, mein Herz hüpfte. Mit aller Macht verscheuchte ich die Bilder, die durch meinen Kopf spazierten. Leuchtende Augen, breite Schultern, Surfbretter, Honiglocken. Ich musste das Thema wechseln.

„Ähm, Matilda ...“, sagte ich möglichst beiläufig. „Du hast gestern etwas erzählt ...“

Leon lachte. „Meine Schwester hat gestern viel erzählt.“

Matilda ignorierte ihn.

„Von ... einem ... Sommerball?“

Mein lahmes Ablenkungsmanöver funktionierte. Matilda richtete sich kerzengerade auf. „Hey! Du hast Recht! Ich muss rausfinden, wann der Sommernachtsball ist! Da müssen wir unbedingt hin! Alle zusammen!“

„Das ist jetzt echt doof“, quietschte Leon. „Ich hab mein Ballkleid zu Hause gelassen.“

Christoph lachte und prustete seinen Kaffee auf Samuels Sweatshirt. Samuel schüttelte den Kopf, ließ sich jedoch nicht in seiner Unterhaltung mit Henrik stören.

Für Matilda war es von großer Bedeutung, dass Emma und ich verstanden, warum der Sommernachtsball lebenswichtig und die Grundlage unserer Existenz war. In blumigen Bildern erzählte sie von der festlichen Stimmung am Strand, von Lichterketten, Rosen und Papierlampions, von süßen Jungs, der wunderbaren Musik und der romantischen Abendstimmung, die man in der ganzen Welt vergeblich suchte, weil sie nur an diesem einen Abend in Belgien zu finden war.

„Außerdem muss ich Euch unbedingt Brüssel und Brügge zeigen.“ Matilda war nicht mehr zu bremsen. „Das sind so tolle Städte. Wusstet Ihr, das man in Brüssel in vier Sprachen Waffeln bestellen kann?“

Emma und ich schüttelten den Kopf.

„Also, die verstehen Französisch, Niederländisch, Englisch und Deutsch. Das ist echt witzig, wenn man ...“

„Langsam, Matilda.“ Henrik schnitt ihr das Wort ab. „Siehst du nicht, dass Emmas und Janas Ohren dunkelrot glühen? Hol mal Luft.“

Matilda betrachtete unsere Ohren und lachte.

Ich nutzte die Gelegenheit und zog mein Smartphone aus der Sweatshirttasche. Hilfesuchend sah ich Henrik an. „Ähm ... darf ich Euer W-LAN benutzen?“

„Selbstverständlich.“ Er lächelte mich an. „Gib es Leon. Er kann das schneller als ich.“

Leon streckte seine Hand aus und ich legte mein Smartphone hinein, nachdem ich es entsperrt hatte. Ohne seine Unterhaltung mit Christoph und Samuel zu unterbrechen, wischte Leon auf dem Display herum und gab es mir mit kurzem Kopfnicken zurück.

Unvermittelt verkündete Matilda, dass es Zeit für den Strand war. „Es ist schon Zeit fürs Mittagessen!“

Bevor wir in unsere Zimmer gingen, erklärte Matilda uns das Haus vom Keller bis zum Dachgeschoss. Sie zeigte uns Regale, in denen Hunderte von Weinflaschen lagerten, die Bibliothek und den Billardraum im Erdgeschoss, ließ den ersten Stock aus, weil wir ihn schon kannten, und führte uns durchs Dachgeschoss, wo ihre Eltern wohnten. Hier zeigte sie uns auf einer riesigen Dachterrasse eine atemberaubende Aussicht aufs Meer.

Nach der Hausbesichtigung schwirrte mein Kopf. Ich stand so lange grübelnd vor dem Kleiderschrank, bis Matilda mich rief. Schnell packte ich meine Tasche und rief meine Mails ab, fand aber keine Nachricht von Ben. Anscheinend wartete er darauf, dass ich mein Versprechen einhielt. In Windeseile tippte ich ein paar Zeilen.

„Hi Ben, bin gut angekommen. Habe soeben gefrühstückt. (Kaum zu glauben, was?) Jetzt gehen wir an den Strand. Ich melde mich bald wieder. Kuss, Jana.“

Besser eine kurze Nachricht als gar keine. Vielleicht sollte ich Ben aber keinen Kuss mehr schicken, so wie er mich in letzter Zeit immer ansah.

Auf dem Weg zum Strand war ich aus zwei Gründen sehr aufgeregt: Ich freute mich aufs Meer und ich war neugierig, ob ich dem geheimnisvollen Jungen wieder begegnen würde.

Der Strand quoll über von Badegästen. Leon bemerkte abschätzig, dass es ein typischer Sonntag sei und nicht seine Welt. Mir gefielen das wuselige Gewusel, der himmelblaue Himmel und die segelnden Segelboote. Außerdem war es warm und ich fror nicht. Matilda erzählte unentwegt vom Sommer und den vielen Dingen, die wir erleben mussten. An einer nicht restlos überfüllten Stelle blieb sie stehen und rief: „Hier bleiben wir!“

„Wir nicht!“ Leon, Christoph und Samuel trabten weiter.

„Wohin geht Ihr?“, rief Emma ihnen nach, bekam aber keine Antwort. Sie sah Matilda ratlos an.

„Em! Heute ist doch der magische erste Tag!“ Matilda ließ ihre Tasche fallen. „Da müssen die Jungs erst mal alles anschauen.“

„Was denn anschauen?“

Matilda breitete die Arme aus. „Clubs, Frauen, Surfbretter ... die Welt. Warum fragst du?“

„Ach, nur so.“

Matilda streifte ihr Kleid ab und zeigte einen beneidenswert durchtrainierten und gesunden Körper. Neben ihr musste ich aussehen wie eine gefrorene Schupfnudel. „Es ist saugeil, dass Ihr hier seid!“, rief sie und umarmte Emma und mich. „Es wird ein toller Sommer mit Euch! Ich bin so glücklich! Ihr auch?“

Ich schmiegte mich an ihre Schulter. Ihre Freude machte mich froh und verlegen und ich suchte nach Worten, um meine Unsicherheit zu verbergen. „Ich, ähm, ich glaube auch, dass es schön wird.“ Zumindest hoffte ich das. „Und ich bin froh, dass ich hier sein darf.“

Emma knutschte Matildas Wange. „Matti, ich bin auch froh, hier zu sein. Es wird alles ganz toll!“

„Kommt mit! Bei Ebbe macht es noch mehr Spaß!“ Matilda platschte durchs Watt zu einer Gruppe von Mädchen. Sie standen lachend im hüfthohen Wasser und begrüßten Matilda laut und fröhlich. Matilda umarmte jede Einzelne mit Juhu, Hallo und vielen Worten in vielen Sprachen.

Emma zog sich bis auf den Bikini aus und blickte lange in die Richtung, wo die Jungs verschwunden waren.

Unterdessen schälte ich mich aus Hose und Shirt und schämte mich für meine Mehlwurmhaut. Am liebsten hätte ich mich im Sand vergraben und ein Buch gelesen. Aber ich hatte mir vorgenommen, mich zu ändern. Das bedeutete wohl nicht, wie ein Nerd am Strand zu hocken, während die Welt sich amüsierte.

Emma schlang die Arme um ihren Körper. „Das Wasser sieht ziemlich kalt aus. Was meinst du?“

„Mhm. Aber eigentlich wissen wir es erst, wenn wir es ausprobieren, oder?“

„Stimmt. Das Dumme ist nur ...“ Emma verzog das Gesicht. „Ich steh nicht so auf Wasser.“

„Echt nicht? Warum?“

„Es ist nass.“

„Unglaublich!“

„Find ich auch.“

„Wenn es dir zu nass ist ... warum hast du dann den Jungs gesagt, sie sollen dir das Surfen beibringen?“

Emma sah mich mit großen Augen an. „Was meinst du?“

„Na, gestern, im Auto. Du hast irgendwie geflirtet.“

„Ach ...“ Emma bohrte die Zehen in den Sand. „Das war nur so dahin gesagt. Ich wollte nur ...“

Ihr Gestammel machte mich neugierig. „Du wolltest was?“

„Kommt Ihr endlich?“, rief Matilda. „Keine Angst! Das Meer ist warm wie eine Badewanne!“

Emma seufzte. „Da muss ich wohl durch.“ Sie trippelte zum Wasser und verzog das Gesicht, als ihre Füße hineintauchten.

Ich folgte ihr auf Zehenspitzen, durchquerte die schmalen Rinnsale der Ebbe und war überrascht, wie weich der Meeresboden sich anfühlte. Eine sanfte Strömung umspülte meine Füße, während ich ins Meer watete. Ab und zu streifte mich ein Windstoß und ließ mich frösteln.

Matilda und ihre Freundinnen begrüßten uns laut. Matilda stellte uns gegenseitig vor, aber ich vergaß sofort alle Namen und woher sie alle kamen. Ich genoss das sanfte Treiben im Meer und das zwanglose Geplapper ringsherum. Ab und zu drehte ich mich auf den Rücken und betrachtete den Himmel. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich schwerelos, obwohl ich von Leila träumte und mich daran erinnerte, wie wir zur Mitte des Baggersees geschwommen waren, uns auf den Rücken gedreht und unsere Hände gehalten hatten, während wir uns über die Unendlichkeit des Weltalls schwindelig philosophierten.

Irgendwann rannte Matilda mit zwei Freundinnen weg und kehrte schwer beladen zurück.

„Fritten!“ Matilda sah aus, als würde sie mir den goldenen Gral überreichen.

Ich nahm sie gierig entgegen. „Cool, danke!“

„Fritten!“, wiederholte Matilda und sah Emma beschwörend an. Die umstehenden Mädchen kicherten.

Verwundert sah ich mich um. Was war so lustig?

„Matilda macht Spaß bei Euch“, erklärte ein braun gelocktes Mädchen namens Marijke. „Ist Euere erste Mal hier, ja?“

Emma und ich nickten brav.

„Fritten sind erfunde worde hier in Belgien. Lasst ihm Euch smekken!“ Marijke prostete uns mit ihrer Tüte zu.

Nach einer Weile stellte Emma fest, dass Wasser nass sei, und setzte sich auf ihr Handtuch. Ich planschte noch eine Weile im Meer und kroch dann auch auf die Handtuchlandschaft. Nach und nach kamen die anderen Mädchen zu uns, beladen mit Handtüchern, Taschen und Gelächter. Am Nachmittag kam Charlotte in Begleitung von drei Freundinnen.

Die Tage vergingen mit Meer, Sonne, Joselins Essen und schwerelosen Gedanken. Matilda zeigte uns schmale Gassen und elegante Jugendstilhäuser von De Haan und erzählte zu jedem Grashalm eine Geschichte. Sie erklärte die Kusttram, welche die belgische Küste abfährt. Sie schleppte uns in die besten Cafés und Bistros, wo wir stundenlang hockten und Eis und Waffeln verschlangen, während immer mehr Freunde von Matilda zu uns kamen.

Ich telefonierte regelmäßig mit meinen Eltern und Ben, der mir nach jedem Gespräch mailte, dass er mich vermisste. Ich ging nicht darauf ein. Ich wollte unbekümmert und sorglos sein und mit gleichgesinnten Mädchen herumalbern. Alles andere erschien mir nebensächlich.

3

Ich badete in Sorglosigkeit und Sonne. Charlotte bemerkte immerzu, wie außergewöhnlich schön das Wetter sei, und jagte uns jeden Tag nach dem Frühstück an den Strand. Ich war sicher, sie beobachtete mich und teilte meiner Mutter mein Befinden mit. Dabei versicherte ich meiner Mutter jeden Tag am Telefon, dass es mir gut ging, was nicht mal gelogen war.