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Sie hilft ihm über seine Schreibblockade hinweg, er ihr über ihre Beziehungsblockade | Dieses E-Book enthält das exklusive Page Overlay als Grafik Bestsellerautor Cy Bellamy steckt nach dem Erfolg seines Debütromans in einer tiefen Schreibkrise. Seine beste Freundin Louise will ihm bei einem Kreativ-Wochenende helfen, und so ziehen sie sich gemeinsam in Cys Ferienhaus auf einer kleinen Insel zurück. Doch er weigert sich, Louise zu erzählen, wovon sein neues Buch handeln soll. Denn in seinem Schreiben hat Cy endlich ein Ventil gefunden – für seine seit Jahren unterdrückten Gefühle für die alleinerziehende Louise. Und als Louise der Wahrheit näherkommt, merkt sie, dass Cys Gefühle längst nicht das Einzige sind, das ihr verborgen geblieben ist. Band 2 der Badger-Books-Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Kathinka Engel – die drei Geschichten aus dem Universum des Indie-Verlags versprechen jede Menge Funkensprühen! Hotness-Skala: 2 von 5 heißen Chilis
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2024
Redaktion: Michelle Gyo
Illustration: Carina Vellichor
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
Illustration
Triggerwarnung
Widmung
1
Louise
2
Cy
3
Cy
4
Louise
Auszug aus Cys Manuskript
5
Cy
6
Louise
7
Cy
Auszug aus Cys Manuskript
8
Louise
9
Cy
10
Louise
11
Louise
12
Louise
13
Cy
14
Cy
Auszug aus Cys Manuskript
15
Louise
16
Louise
17
Cy
18
Louise
19
Cy
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Cy
Auszug aus Cys Manuskript
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Louise
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Cy
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Cy
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Cy
Louise
Cy
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Cy
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Cy
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Cy
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Cy
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Cy
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Cy
Louise
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Louise
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Auszug aus Cys Manuskript
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Louise
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Cy
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Cy
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Louise
29
Cy
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Auszug aus Cys Manuskript
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Cy
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Cy
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Louise
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Cy
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Louise
36
Cy
Auszug aus Cys Manuskript
37
Louise
38
Cy
39
Louise
40
Louise
Auszug aus Cys Manuskript
41
Cy
Auszug aus Cys Manuskript
42
Cy
Danksagung
Triggerwarnung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Liebe Leser*innen,
»Pages unwritten« enthält Themen, die triggern können. Deshalb findet ihr auf Seite 392 eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese beinhaltet Spoiler für die gesamte Geschichte. Wir wünschen euch allen das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Kathinka und euer Team von everlove
Für Matthias.
Das ist erst der Anfang.
Die Unfähigkeit meines Ex-Freunds, sich an Absprachen zu halten, steht seiner Unfähigkeit, Kondome richtig zu benutzen, in nichts nach. Deswegen überrascht es mich nicht, dass auch heute die Vorschule anruft, weil Tommy mal wieder nicht aufgekreuzt ist, um einen Nachmittag mit seiner Tochter zu verbringen.
»Danke, Mrs Omari. Ich bin auf dem Weg.« Ich lege auf und seufze. »Das war Phils Lehrerin«, sage ich zu Bash, meinem Kollegen und Freund, der gleichzeitig einer der beiden Mitgründer von Badger Books ist. Badger Books, ein kleiner Independent Verlag aus Portland, Maine, das sind Bash, Coulter und ich. Louise. Lektorin, alleinerziehende Mutter und auf dem besten Weg, Nonne zu werden.
»Er ist nicht gekommen?« Bash kennt Tommy noch aus dem Studium. Er war außerdem derjenige, der mir die Hand gehalten hat, während ich auf das Ergebnis des Schwangerschaftstests wartete.
»Weißt du, es wäre mir egal, wenn es dabei nicht um Phil ginge. Aber einem fünfjährigen Mädchen jeden Monat aufs Neue sagen zu müssen, dass sein eigener Vater es wieder nicht schafft, Zeit mit ihm zu verbringen, ist niederschmetternd.« Ich seufze. Sehe Phil vor mir, wie sie vor dem Eingang des einstöckigen Schulgebäudes mit dem kleinen Rucksack auf dem Rücken auf ihren Dad wartet. Noch liebt sie ihn. Noch verzeiht sie ihm. Noch hofft sie jedes Mal aufs Neue, dass er kommen wird.
»Vielleicht solltest du Coulters Angebot von damals doch annehmen«, schlägt Bash vor.
Ich lache müde. »Gewalt löst keine Probleme, glaub mir, sonst hätte ich es selbst schon versucht.« Das erste Mal an dem Tag, an dem ich Tommy von meinem positiven Test erzählte und er mir eröffnete, dass er »ja schon auch irgendwie das Gefühl« hatte, dass was mit dem Kondom nicht in Ordnung war. Danke fürs Bescheidgeben.
»Aber dann frag Coulter wenigstens, ob er dich fährt«, sagt Bash mit Blick auf die Uhr. Er weiß genau, wann die Schule aus ist, wie lange ich vom Büro unterwegs bin und wie enttäuscht Phil in diesem Moment sein muss. Er weiß es, weil er sie anders als Tommy oft genug für mich abgeholt hat.
»Wenn Tommy wenigstens abgesagt hätte …« Meistens macht er das. Ruft irgendwann im Laufe des Tages an, sodass ich Zeit habe, meinen Nachmittag, mein Wochenende und alles andere umzuorganisieren. Aber wahrscheinlich hat er nach dem letzten Einlauf, den ich ihm verpasst habe, keine Lust mehr. Und wieder ist Phil die Leidtragende. Ich hasse es. Doch statt meine Energiereserven an Wut und Frustration zu verschwenden, betätige ich die Kurzwahl nach oben in Coulters Büro. Denn im Gegensatz zu Bash und mir ist Coulter ein bisschen eigen, was Privatsphäre anbelangt, und arbeitet deswegen in einem Einzelbüro, das direkt an sein Junggesellenloft anschließt.
»Was gibt’s?«, fragt er.
»Phils Lehrerin hat angerufen. Tommy ist nicht aufgetaucht.«
Ich höre noch, wie Coulter einen Fluch ausstößt, für den ich Phil die Ohren zuhalten müsste, wäre sie nicht die Enkelin eines Portlander Fischers, dann legt er auf.
Bash sieht mich fragend an, und ich zucke mit den Schultern. Doch im nächsten Moment hört man Coulter bereits aus dem Hauptraum.
»Feierabend, Leute. Gönnt euch mal.« Er klatscht in die Hände. »Los, los, Wochenende.«
»Ich würde noch kurz was fertig …«
»Tu, was du nicht lassen kannst, Kwan.«
Die Tür zu unserem Büro geht auf, und Coulter steckt seinen Kopf herein. »Bereit?«, fragt er.
»Wie schnell bist du denn?« Ich beeile mich, meinen PC runterzufahren.
»Bash, kommst du auch?«, fragt er.
»Klar.« Bash erhebt sich, schaltet seinen Bildschirm aus.
»Ihr müsst wirklich nicht …«, versuche ich es, aber gegen Coulter und Bash habe ich keine Chance.
»Wir können ihren Dad nicht ersetzen, aber wir können wenigstens dafür sorgen, dass sie ihn für eine Weile vergisst«, sagt Coulter, doch ich weiß, dass diese beiden zehnmal wichtiger für Phil sind als ihr leiblicher Vater, auch wenn sie das vielleicht noch nicht einschätzen kann. Diese beiden und mein bester Freund Cy, der ebenfalls von Anfang an eine wichtige Bezugsperson für Phil war. Und für mich natürlich. Denn mit Anfang zwanzig und mitten im Studium auf einmal die Verantwortung für ein eigenes Kind zu tragen ist heftig. Zumal, wenn man es sich nicht wirklich ausgesucht hat. Doch mit Bash, Coulter und Cy, auf die ich mich immer zu hundert Prozent verlassen konnte, und mit meinen Eltern im Hintergrund, die Phil ebenfalls vergöttern, war es möglich, das Studium abzuschließen und eine – wie ich glaube – ziemlich gute Mom für meine Tochter zu sein.
»Kino? Milchshakes? Burger?«, fragt Bash.
»Wir müssen sie wirklich nur abholen. Ich kümmere mich dann um den Rest.«
»Louise, du hast jetzt mal Sendepause«, sagt Coulter. »Milchshakes und Burger«, entscheidet er dann.
»Lola’s also«, sagt Bash, denn Lola’s ist eins der wenigen Diners, die Coulters Hygienestandards entsprechen. Das liegt nicht daran, dass die Diners in Portland schmutziger wären als anderswo, sondern an Coulters immens hohen Ansprüchen.
Eine Viertelstunde später kommt Coulters Wagen mit quietschenden Reifen vor Phils Schule zum Stehen. Wenn man pünktlich ist, wimmelt es hier nachmittags von Kindern und Eltern. Doch die Schule war vor einer Dreiviertelstunde aus. Die Lehrerinnen warten immer eine Weile, bis sie die Eltern kontaktieren, für den Fall, dass sich jemand nur verspätet. Und wieder merke ich, wie eine ungeheure Wut in mir aufsteigt. Aber ich schlucke sie hinunter. Jetzt muss ich für Phil da sein.
Ich steige aus und sehe sie bereits hinter den Glastüren auf einer Bank sitzen. Sie hat die Ellenbogen auf ihre Oberschenkel gestützt und starrt auf den Boden.
Coulter und Bash kommen mir den gepflasterten Weg zum Eingang nach. In dem Moment, als Phil uns erblickt, hellt sich ihr Gesicht auf, und sie springt von der Bank und winkt.
»Abholkommando von Philodendron Calahan«, sagt Coulter.
Phil lacht, aber an ihren feuchten Wimpern erkenne ich, dass sie geweint hat. »Philomena«, korrigiert sie.
»Sorry, Süße.« Ich gehe vor ihr in die Hocke. »Dein Dad hat es leider nicht geschafft.«
Einen kurzen Augenblick sehe ich, dass Phil erneut mit den Tränen kämpft. Sie blickt angestrengt auf den Boden, ihre Lippe bebt.
»Dafür sind Coulter und Bash mitgekommen. Und wir machen uns ein schönes Wochenende, okay?«
Sie atmet ein. Dann wird sie von einem tiefen Seufzer erschüttert. Fünfjährige sollten nicht auf diese Weise seufzen. »Okay«, sagt sie.
»Lust auf einen viel zu süßen Milchshake und einen Burger mit extra Käse?«, fragt Bash, und Phil nickt.
Sie wischt sich einmal mit dem Handrücken über die Augen, dann lächelt sie. »Darf ich auf deinen Schoß?«
»Natürlich«, erwidert Bash, und ich sehe ihn dankbar an. Dass Coulter und er mitgekommen sind, macht diese Situation um einiges leichter. Für mich, aber natürlich vor allem für Phil.
»Darf ich vorne sitzen?«, fragt sie jetzt.
»Nein!«, antworten wir alle drei im Chor, denn der Kindersitz, den Coulter in seinem Kofferraum für genau diese Zwecke aufbewahrt, ist für die Rückbank.
»Aber ich bin so traurig«, versucht sie es noch mal.
»Wenn dir allerdings was passiert, Philosophy, dann bin ich noch viel trauriger. Deswegen musst du hinten sitzen.« Coulter zuckt mit den Schultern.
»Philomena«, sagt sie und lacht wieder.
»Wenn du willst, sitzen Bash und Louise mit dir hinten.« Coulter grinst uns an.
»Aber …«, protestiert Bash, doch als Phil jubelt und auf und ab hüpft, zuckt er mit den Schultern und klettert auf die Rückbank, wo er den Kindersitz entgegennimmt und fachmännisch installiert.
Wir verbringen die Fahrt zusammengequetscht, während Coulter von vorne über den Luxus von Beinfreiheit, Armfreiheit, Fingerfreiheit und so weiter fachsimpelt und Phil immer wieder zum Lachen bringt.
»Fingerfreiheit«, sagt sie und schüttelt ihre Hände aus.
»Fingerfreiheit haben wir auch, oder, Louise?«, fragt Bash, und wir schütteln ebenfalls die Hände. Phil quietscht vor Freude, und die Enttäuschung scheint für den Moment vergessen.
»Welchen Geschmack nimmst du?«, fragt Coulter, während er auf den Parkplatz von Lola’s einbiegt.
»Hm, weiß noch nicht.«
»Philibuster, so was muss man sich gut überlegen!«
»Philomena!« Ihr Lachen ist jetzt wieder so kindlich-unbeschwert, wie es immer sein sollte. »Was nimmst du?«
»Coke Zero«, sagt Coulter, fährt in eine Parklücke und stellt den Motor ab.
»Immer Coke Zero«, mault Phil und versucht, den Anschnallgurt zu lösen. Doch weil er etwas klemmt, helfe ich ihr dabei, sich zu befreien.
»Nie kannst du dich entscheiden«, mault Coulter scherzhaft zurück, steigt aus und macht Phil die Tür auf.
Bash und ich schieben uns nacheinander auf der anderen Seite nach draußen.
»Vielleicht Schokolade«, überlegt Phil. »Mit Sahne und Kirsche.«
»Können Fünfjährige eigentlich Herzinfarkte kriegen?«, fragt Coulter an mich gewandt und grinst.
»Oder Erdbeere. Mit einer echten Erdbeere am Glas«, überlegt Phil weiter. Sie nimmt Coulters Hand und hopst an seiner Seite auf die Eingangstür zu. »Oder Schokolade und Erdbeere. Mit Sahne und Kirsche und einer echten Erdbeere am Glas.«
»Du bist verrückt, Kind!«, sagt Coulter und sieht so liebevoll zu meiner Tochter hinunter, dass es schwer vorstellbar ist, was für ein Ekelpaket er manchmal sein kann.
»Du bist verrückt«, kontert sie, und als wir den Laden betreten und Lola selbst uns freundlich zulächelt, will sie gleich ihren Milchshake bestellen. »Kann ich … ähm … Schokolade und Vanille … nee, Erdbeere und … und … und …« Sie ist ganz aufgeregt, weswegen sie auf halbem Weg vergisst, sich zu konzentrieren. »Mit Sahne und Kirsche und Erdbeere und …« Sie denkt nach und sieht sich Hilfe suchend nach uns um. »Was wollte ich noch mal?«
»Willst du zwei Gläser oder alles in einem?«, fragt Lola.
»O nein, noch eine Entscheidung, die du treffen musst, Philadelphia!«
»Phi-lo-me-na!«, sagt sie und boxt Coulter in die Seite.
»Wir machen es so. Ich bringe dir zwei Milchshakes und ein extra Glas mit einem großen Löffel. Dann kannst du selbst mischen und schauen, ob es dir schmeckt. In Ordnung?«
Phil nickt begeistert. »Ja, aber mit Sahne und Kirsche und Erdbeere.«
»Kommt sofort. Und euch bringe ich Karten?«, fragt Lola an uns gewandt.
Kurz darauf sitzen wir in einer Sitznische, Phil mixt sich selbst den süßesten Milchshake, den die Welt je gesehen hat, und wir warten auf unsere Burgerbestellung – Coulters ohne Brot mit extra Salat, was Phil zu einer erneuten enttäuschten bis fassungslosen Grimasse veranlasst.
Ich blicke von Phil, die sich abwechselnd einen Löffel Schokomilchshake und einen Löffel Erdbeermilchshake in den Mund schiebt und dabei eine ziemliche Sauerei macht, zu Coulter und Bash.
»Danke euch«, sage ich tonlos, und beide lächeln und nicken, als wäre es das Selbstverständlichste, an einem Freitagnachmittag früher Feierabend zu machen, um meine Tochter zu bespaßen. Aber ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist. Und selbst wenn die beiden so denken, will ich nicht anfangen, es als selbstverständlich anzusehen. Ich möchte, dass sie wissen, wie viel mir ihre Unterstützung bedeutet. Und vor allem, wie viel es mir bedeutet, dass sie mir nie das Gefühl geben, mit meiner Tochter eine Bürde zu sein. Für unsere Freundschaft, für unseren Verlag, für die tagtägliche Arbeit, die anfällt, für Meetings, die ich nicht wahrnehmen kann, für After-Work-Drinks, die ich in letzter Minute absagen muss.
»Shit«, entfährt es mir. Denn jetzt fällt mir ein, warum es so wichtig war, dass Phil dieses Wochenende bei ihrem Dad ist.
»Was?«, fragt Bash.
»Das sagt man nicht«, schimpft Phil, die natürlich alles mitkriegt, obwohl sie mit ihrem chemischen Zuckerexperiment beschäftigt ist.
»Ich bin morgen bei den Bellamys eingeladen. Corbins Todestag. Da veranstalten sie immer eine kleine Gedenkfeier.« Corbin war Cys älterer Bruder und der ganze Stolz seines Vaters Holm, der so etwas wie eine lebende Legende in der Literaturwelt ist. Dass sein jüngerer Sohn Cy in seine Fußstapfen tritt, beeindruckt ihn bedauerlicherweise kein bisschen, obwohl die weltweite Erfolgsgeschichte, die Cys Debüt in den letzten zwei Jahren hingelegt hat, ihresgleichen sucht.
The Gentle Art of Losing your Mind stand neunundachtzig Wochen auf der New York Times-Bestsellerliste, davon fünfzehn auf Platz eins. Es wurde inzwischen in fast zwanzig Sprachen übersetzt, und während der letzten Monate war Cy in L. A., um am Drehbuch für die Verfilmung zu arbeiten. Er wird als literarisches Wunderkind gefeiert, doch sein Vater sieht nur den Sohn, den er verloren hat.
»Ich sage einfach ab.« Obwohl ich wirklich gerne für Cy da wäre. Für ihn ist dieser Tag ebenfalls nicht einfach, auch wenn es inzwischen schon sieben Jahre her ist, dass Corbin sich das Leben genommen hat.
»Bist du sicher?«, fragt Bash. »Camille und ich könnten …«
Aber ich will Phil an einem Wochenende, an dem sie eigentlich Zeit mit ihrem Dad hätte verbringen sollen, nicht abschieben. Sie soll wissen, dass ich immer für sie da bin. »Danke für das Angebot, aber nein.«
Ich zücke mein Handy und schreibe eine Nachricht an Cy.
Es tut mir so leid, aber ich kann morgen nicht dabei sein. T ist mal wieder abgetaucht, und ich muss mich um Phil kümmern. Du bist herzlich eingeladen, hinterher bei mir vorbeizukommen, wenn du Redebedarf hast. Noch mal SORRYYYYYY!
Nachdem wir unsere Burger bekommen haben, essen wir eine Weile in einträchtigem Schweigen. Coulter versucht angestrengt, den Schokoladenfleck, den Phils Hand auf seinem Hemd hinterlassen hat, zu ignorieren, Bash ist in Gedanken wahrscheinlich bei seiner Freundin Camille. Und ich blicke auf mein Handy. Cy hat geantwortet.
Vielleicht bringst du sie einfach mit? Die Veranstaltung kann eine chaotische Fünfjährige gut gebrauchen …
»Sieh an, sieh an, das literarische Wunderkind.« Mein Vater blickt von seiner Lektüre auf. Er sitzt auf seinem Lesesessel, die Beine übereinandergeschlagen, die Füße stecken in Pantoffeln.
»Hi, Dad«, sage ich und ignoriere den sarkastischen Tonfall.
»Ich hoffe, du hast in L. A. nicht verlernt, profunde Gedanken zu haben.« Er lacht. Laut und bellend.
»Keine Sorge. Ich habe jede Sekunde dort gehasst.«
»Ich habe es dir ja gesagt, Cyrus. Eine Verfilmung mag auf deinem Bankkonto gut aussehen, aber nicht jeder ist für diese Art von Erfolg geschaffen. Als ich mit Steven Soderbergh zusammengearbeitet habe, habe ich ihm von Anfang an klargemacht, dass meine Geschichte, meine Charaktere unangetastet bleiben. Ich habe gesagt: ›Steve? Ich darf doch Steve sagen? Du willst mein Buch verfilmen, dann halte dich an die Vorlage, denn sie ist brillant. Jede Änderung macht deinen Film schlechter. Und ich lasse nicht zu, dass aus Death by Simplicity ein schlechter Film wird.‹ Weißt du, was er erwidert hat, Cyrus?« Er wartet meine Antwort nicht ab. »›Dann sind wir schon zwei, Mr Bellamy.‹ Während der gesamten Zusammenarbeit habe ich ihn Steve genannt und er mich Mr Bellamy. Nicht Holm. Das ist die Art von Respekt, die man mir entgegenbringt. Aber dafür ist deine Generation zu weich.« Er nimmt sein Buch wieder auf. Die Unterhaltung ist beendet. Und ich kann nicht behaupten, dass ich es sonderlich schade finde.
Mein Vater und ich hatten noch nie das beste Verhältnis. Ich war ihm nie Manns genug. War ihm nie laut genug. Nicht wie Corbin, der Whisky trank, boxte – manchmal sogar gegen Holm. Mom hat es gehasst. Das Trinken, das Boxen. Vielleicht hat sie geahnt, dass es Ausdruck von etwas war. Ein Betäuben des eigentlichen Schmerzes, der aus seinem Inneren kam und gegen den keiner von uns eine Chance hatte. Nicht einmal er selbst.
Doch Dad sieht, was er sehen will. Er sieht Corbins nach außen dargestellte Stärke, seine Männlichkeit, die er sich von ebendiesem Außen überstülpen ließ. Er sieht sein Lachen, aber nicht die Leere in den Augen, die ab einem gewissen Moment immer da war. Er sieht meine vermeintliche Schwäche, aber nicht, dass ich derjenige bin, der noch hier ist. Er sieht das Potenzial, das in seinem erstgeborenen Sohn gesteckt hätte, und verachtet meinen Erfolg, den er als Eintagsfliege, Glück und die Tatsache abtut, dass – ich zitiere – »die Groupies heutzutage auf so weinerliche Halbfrauen wie mich und diesen Timothy Chamalamadingdong abfahren«.
Ich würde gerne sagen, dass ich meinen Vater liebe. Oder wenigstens hasse. Aber alles, was ich denken kann, ist, dass egal, wie verzweifelt er an der Ordnung festhält, die er kennt – und die Männer seinesgleichen etabliert haben –, seine Zeit langsam abläuft. Die Gesellschaft braucht ihn nicht mehr, da spielt es keine Rolle, dass er fünfzehn bedeutende Romane geschrieben hat, die die Literatur seiner Zeit mitgeformt haben, wie es auf Wikipedia heißt. Er hat aufgehört, zu partizipieren. Aufgehört, zuzusehen. Aufgehört, zuzuhören, falls er das je gemacht hat. Zusehen, zuhören. Er versteht die Themen, die die Menschen bewegen, nicht mehr und wertet sie deswegen ab. Der Verlust von Corbin hat diese Entwicklung noch mal beschleunigt. Man kann noch so oft als so bedeutend wie Hemingway und der Robert Louis Stevenson unserer Zeit bezeichnet werden, ohne Entwicklung wird man irgendwann überholt. Und dass ausgerechnet ich derjenige bin, der es ihm vorlebt, zerfrisst ihn langsam.
Ich weiß das alles. Und dennoch ist seine Ablehnung schwer zu ertragen. Wenn ein Elternteil, einer von den Menschen, die dich bedingungslos lieben sollten, wegsieht, was auch immer du tust, weil alles, was du tust, die Abwesenheit von etwas anderem, etwas, das hätte sein können, in den Fokus rückt, verlierst du dich. Jedes Mal ein bisschen mehr. Weil sich deine Herkunft von dir entfernt.
»Ach, und, Cyrus?«, sagt er nun, bevor ich das Wohnzimmer wieder verlassen habe, um meine Mutter zu suchen. Auch sie habe ich nicht mehr gesehen, seit ich nach L. A. geflogen bin. Sie wollte mich eigentlich besuchen, aber irgendetwas kam immer dazwischen.
»Hm?« Ich wende mich noch einmal zu ihm um.
»Ich habe Andrew zum Lunch getroffen. Er hat erzählt, dass du immer noch kein Nachfolgeprojekt gepitcht hast, obwohl du einen Zweibuchvertrag unterschrieben hast. Du hast deine Deadline im Blick?« Seine Stimme schwankt zwischen Genugtuung, weil das für seine Theorie von der Eintagsfliege spricht und ich ihm auf diese Weise nicht den Rang als bedeutendstes Familienmitglied streitig machen werde, und simpler Neugierde.
»Andrew sollte mit dir nicht über meine Verträge sprechen.« Und über meine Deadlines noch viel weniger. Denn mir ist es ohnehin unangenehm, dass mein Verleger der Lektor war, der meinen Vater damals zu Random House geholt und berühmt gemacht hat. Deswegen war es mir auch wichtig, meinen Debütroman zunächst unter Pseudonym anzubieten. Ich wollte keinen Vorteil durch meinen Namen. Ich wollte wissen, wie gut ich bin. Dass mein Roman nach einer nervenaufreibenden Auktion schließlich doch beim Verlag meines Vaters landete, habe ich meiner Agentin Sue und meiner Lektorin Angelina zu verdanken. Sue, weil sie sagte, ein siebenstelliges Angebot und einen Zweibuchvertrag könne man nicht ausschlagen, und Angelina, weil die Worte, die sie für meine Worte fand, zeigten, dass sie meinen Text nicht nur verstanden, sondern durchdrungen hatte. Sues Begeisterung, als ich mich bei ihrer Agentur bewarb, bedeutete mir natürlich auch viel. Ebenso das Interesse von nahezu jedem großen Verlag des Landes. Aber Angelinas aufrichtige Überzeugung, dass The Gentle Art of Losing your Mind groß werden konnte, war das Einzige, das auch nur ansatzweise an das Hochgefühl heranreichte, nachdem Louise meinen Text gelesen und mich weinend um vier Uhr nachts angerufen hatte.
»Andrew spricht mit mir, worüber er will. Aber ich muss sagen, sogar ich bin überrascht, dass du nicht einmal eine halbwegs passable Idee für einen zweiten Roman hast. Woran liegt es? Angst, zu enttäuschen? Angst, zu versagen? Das wirst du ohnehin, da kannst du es wenigstens versuchen.«
»Danke für den Pep Talk.«
»Ich halte nichts von Pep Talks. Entweder man hat es in sich, oder man sollte es bleiben lassen.«
Mir liegt auf der Zunge, zu sagen, dass Corbin es offensichtlich nicht in sich hatte. Aber es geht nicht um Corbin. Nicht nur. Es geht darum, dass die Anerkennung unseres Vaters nur für einen von uns reichte. Und mit ihm ist sie gestorben. Denn obwohl jetzt nur noch einer da ist, ist nichts mehr davon übrig.
»Ist okay.«
»Ich sage nur, wie es ist. Diese Welt ist nichts für Schwächlinge, Cyrus.«
Ich wüsste gern, wie er sich erklärt, dass ich dann derjenige bin, der am Leben ist. Aber er hat ohnehin keine Ahnung mehr von dieser Welt. Lebt in diesem absurd großen Haus mit einer Frau, mit der er kaum noch spricht, trifft sich mit seinen alten weißen Männer-Freunden, die alle ihre Macht schwinden sehen und sich umso fester daran klammern. So bestätigen sie sich gegenseitig, und niemand muss je nach links oder rechts schauen.
»Okay«, sage ich wieder und frage mich, ob so ein Vater-Sohn-Boxkampf nicht vielleicht doch eine ganz gute Sache wäre. Allerdings geht die Sache mit dem Zweibuchvertrag bei Random House tiefer, als Holm wissen kann. Deswegen muss ich mich besonders zusammennehmen, um nicht überzureagieren.
Denn natürlich verspüre ich Druck. Natürlich habe ich Angst, zu versagen. Und nach einem derartigen Erfolg geht es nun einmal nur nach unten. Darüber habe ich mit Sue, Angelina und besonders mit Louise schon oft gesprochen. Aber die Sache ist die: Seit ein paar Monaten habe ich eine Idee. Nachdem ich zwei Jahre lang keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte, weiß ich seit L. A. genau, was ich als Nächstes schreiben möchte. Unbedingt schreiben möchte. Aber es ist eine unmögliche Geschichte. Diese Zwickmühle blockiert mich seit Monaten. Die Unbedingtheit gegen die Unmöglichkeit. Das ist auch der Grund, warum noch niemand etwas darüber weiß, obwohl ich überzeugt bin, dass es ein würdiger Nachfolger für Carls und Lyssas tragische Liebe wäre. Wahrscheinlich wäre es sogar ein noch besseres Buch. Aber wahrscheinlich würde ich dadurch alles verlieren, was mir etwas bedeutet. Ich weiß, Sue würde ausflippen, wenn ich ihr die Geschichte pitchte. Angelina würde in Jubelstürme ausbrechen. Aber Louise würde die Geschichte verstehen, und dieses Risiko kann ich nicht eingehen.
Ich schüttle kaum merklich den Kopf. Ich muss hier raus. »Weißt du, wo Mom ist?«
»Nein. Kannst ihr ausrichten, dass ich früh ins Bett gehe. Ich brauche kein Abendessen.«
Ich salutiere, aber falls er ahnt, dass ich diese Geste ironisch meine, lässt er es sich wenigstens nicht anmerken. Dann lasse ich ihn allein und begebe mich auf die Suche nach Mom.
Das Haus, in dem wir aufgewachsen sind, ist riesig. Es ist eine frei stehende Villa am Rand von Portland inmitten eines großen, perfekt gepflegten Gartens. Das ist das Verdienst zweier Gärtner, auch wenn sich mein Vater für Interviews und Porträts gerne bei der Gartenarbeit fotografieren lässt. Früher haben meine Eltern außerdem eine Haushälterin beschäftigt, Mrs Calahan, Louise’ Mom, weswegen Louise oft nach der Schule zu mir kam. Mit zwei berufstätigen Eltern wäre sie sonst ganz allein zu Hause gewesen.
Jeden Raum in diesem Haus verbinde ich mit Erinnerungen an sie. Auch mit Erinnerungen an Corbin natürlich. An uns drei. An Louise’ schmachtende Blicke, wann immer er sich dazu herabließ, mit seinem kleinen Bruder und dessen bester Freundin Zeit zu verbringen. Sie entgingen mir nicht, die Blicke, und noch heute spüre ich die Stiche, die sie dem Jungen, der ich war, versetzt haben.
»Mom? Bist du hier?«
Ich sehe uns auf dem Teppichboden im Fernsehzimmer zu irgendeiner Sitcom herumlümmeln, während wir eigentlich Hausaufgaben machen sollten. Sehe Louise’ Gesicht vor meinem inneren Auge, als sie bleich wie die Wand aus der unteren Toilette kam und mir erzählte, dass sie gerade zum ersten Mal ihre Tage bekommen hatte.
»Mom?«
Sehe uns das Treppengeländer hinunterrutschen, bis wir Ärger mit Mrs Calahan bekamen, weil das erstens gefährlich war und zweitens mein Vater sich zu einem Mittagsschlaf zurückgezogen hatte und durch unser Gejohle gestört würde. Sehe uns auf dem obersten Treppenabsatz nebeneinander, Hand in Hand, während wir hören, dass unser Hund tot im Straßengraben gefunden wurde. Bis zuletzt hatte Louise die Hoffnung nicht aufgegeben, während Corbin sich von Anfang an sicher gewesen war, dass etwas Schlimmes passiert war, weil Baal nie freiwillig von zu Hause weggeblieben wäre. Louise’ Kopf lag auf meiner Schulter, ihre Tränen sickerten in den Stoff meines T-Shirts, und ich weiß noch, wie schäbig ich mir vorkam, weil ich ihre Nähe genoss, während Baal tot war.
Ich sehe Louise auf meinem Bett auf dem Bauch liegen, die Beine angewinkelt, die Füße überkreuzt und auf einem Stift herumkauend, sodass ihre Lippen schon ganz blau von der Tinte waren. Weiß noch, dass ich die Tinte küssen wollte. Weiß noch, dass sie mir von ihrem ersten Kuss erzählte und ich gerne diesen Franklin vermöbelt hätte, aber ahnte, dass ich lange mit Corbin hätte trainieren müssen, um auch nur den Hauch einer Chance zu haben.
Die Tür zu Corbins altem Zimmer ist nur angelehnt. Auch hier habe ich Erinnerungen an Louise. Wie sie jedes Mal stehen blieb und hoffte, einen Blick hineinwerfen zu können. Manchmal durften wir in sein Zimmer, wenn er den großen Bruder gerade mal nicht heraushängen ließ – aus Langeweile oder Liebe oder warum auch immer.
»Mom?«, frage ich jetzt und schiebe die Tür ein wenig weiter auf.
Während mein Zimmer inzwischen umdekoriert wurde und nichts mehr mit dem Jugendzimmer zu tun hat, in dem ich aufgewachsen bin, ist Corbins Zimmer zu einem Mahnmal geworden. Er wohnte zwar schon nicht mehr hier, als er entschied, sein Leben zu beenden, aber unsere Eltern haben alles so gelassen, wie es war. Die dunkelblaue Wandfarbe, die einen fast erdrückt, die düsteren Poster, die kleinen Notizen, die er mit Reißzwecken überall an die Wand gepinnt hat. Sogar das Aquarium mit den Fröschen gibt es noch, nur dass es inzwischen neue Frösche sind.
»Mom, bist du hier?«
»Cyrus?«
»Hey!« Ich schiebe die Tür nun ganz auf.
Mom sitzt am Rand von Corbins Bett, die eine Hand auf der Decke, als hätte sie ihm gerade eine gute Nacht gewünscht. Sie lächelt mich müde an, dann erhebt sie sich, kommt auf mich zu und schließt mich in ihre Arme.
»Schön, dass du da bist.«
»Schön, dich zu sehen.« Ich streiche ihr über den Rücken. Sie war schon immer schlank, aber in den letzten Jahren ist sie noch dünner geworden.
»Gut siehst du aus«, sagt sie und schiebt mich eine Armlänge von sich weg. »Ach, ich hätte dich so gern in L. A. besucht. Aber Holm …«
»Ich weiß. Ich war sowieso ziemlich beschäftigt.«
Sie nickt und strahlt. »Mein Sohn, der weltberühmte Schriftsteller«, sagt sie.
»Hör auf, Mom.« Ich winke ab.
»Ich bin deine Mutter, ich habe das Recht, stolz auf dich zu sein.«
»Und ich bin dein Sohn und habe das Recht, peinlich berührt zu sein.« Obwohl es schon merkwürdig ist, dass mich die gesamte Welt feiert, mir aber ausgerechnet die Anerkennung meiner Mutter schwerfällt. Ob es an dem krassen Kontrast zur Ablehnung meines Vaters liegt? Oder daran, dass Mütter stolz sein müssen? Oder daran, dass auch ich in der hintersten Ecke meines Verstands denke, Corbin sollte an meiner Stelle sein?
»Willst du etwas essen?«
»Essen wir zusammen?«
Sie wiegt den Kopf hin und her, dann nickt sie zögerlich, und ich folge ihr nach unten in die Küche.
Unter Mrs Calahans Küchenregime herrschte hier immer Chaos. Die Anrichte war voller Obst und Gemüse, auf dem Herd kochten mindestens zwei verschiedene Töpfe vor sich hin, und aus dem Ofen duftete es nach Kuchen oder Muffins. Louise und ich verbrachten unsere Nachmittage oft hier, weil die Küche der Ort im Haus ist, der am weitesten vom Arbeitszimmer meines Vaters entfernt ist. Hier musste man nicht wie auf Eiern gehen, und Mrs Calahan schimpfte zwar auch viel mit uns, aber immer auf eine warme, liebevolle Art. Mehr als einmal war ich neidisch auf Louise, dass ihre Familie so laut und lebendig war und fluchte. Und dann fiel mir auf, dass Louise und ich dann Geschwister wären, und ich dankte dem Schicksal dafür, dass ich in meine verkorkste Familie geboren war. Außerdem hatte ich Corbin als Verbündeten, auch wenn ich das selten spürte. Nur wenn es wirklich hart auf hart kam.
»Ich mache dir ein Sandwich.« Mom öffnet den zweitürigen Kühlschrank und holt Käse, Schinken, Salat und Senf heraus.
»Das kann ich selbst machen.« Ich nehme ihr die Sachen ab, lege sie auf die Kücheninsel und hole einen Teller.
»Nein, lass mich.« Sie schiebt mich zur Seite.
»Aber …«
»Bitte, lass mich dir ein Sandwich machen, Cy.« Sie sagt es fast flehend, sodass ich ihr Platz mache. »Es ist schön, sich ein bisschen gebraucht zu fühlen, weißt du?« Da ist wieder das müde Lächeln in ihrem Gesicht. »Besonders vor morgen.«
Ich nicke. Sie hat nicht mehr oft die Möglichkeit, jemandes Mom zu sein. Früher wollte sie es nicht, gefiel sich zu gut in der Rolle der Frau an der Seite eines berühmten Schriftstellers – heute muss sie es nicht. Nicht mehr für Corbin, aber seit ich in New York wohne, auch nicht mehr für mich.
»Mom?«, frage ich. »Warum tut ihr euch das jedes Jahr wieder an?« Denn ich für meinen Teil gedenke meines Bruders lieber für mich. Oder mit Louise. Oder meinetwegen auch mit Mom und Holm. Aber dieses ganze Brimborium drum herum. Die Menschen, die eingeladen werden. Die Reden, die geschwungen werden. Das Essen, das am Ende weggeworfen wird.
»Weil er es verdient hat«, sagt sie und kneift die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. »Weil er es verdient hat, dass wir uns einmal im Jahr Mühe geben.« Beinahe meine ich, einen Vorwurf herauszuhören. Einen Vorwurf, den sie sich selbst macht.
Ich nicke. »Du hast recht. Er hat es verdient.«
Mom reicht mir das Sandwich. Sie setzt sich neben mich an den Küchentisch, an dem wir nie gemeinsam gegessen haben, und knabbert an der Rinde, die sie überflüssigerweise von meinem Sandwich abgeschnitten hat.
»Ist das dein Abendessen?«, frage ich.
»Morgen gibt es so viel, da lasse ich lieber etwas Platz.« Aber morgen wird sie keinen Appetit haben.
»Louise bringt Phil mit. Ich hoffe, das ist in Ordnung.«
Mom lächelt, und diesmal sieht es fast so aus, als meine sie es. »Natürlich ist das in Ordnung. Ich bin gespannt, wie groß sie geworden ist.«
»Riesig«, sage ich. »Sie überragt mich inzwischen um zwei Köpfe.« Und obwohl es kein besonders origineller Witz ist, lacht Mom für einen Moment laut auf, und der ungewohnte Klang jagt mir einen Schauer über den Rücken.
Die Türglocke klingelt in einem fort. Immer mehr und immer entferntere Bekannte meiner Familie strömen ins Wohnzimmer und in den Garten. Sie alle tragen dunkelgraue bis schwarze Kleidung und machen betretene Mienen. Unterhaltungen werden nur gedämpft geführt. Meine Mutter steht auf der Terrasse, begrüßt die Heraustretenden mit einem Nicken und einem angedeuteten traurigen Lächeln. Die Menschen schütteln ihr die Hand und beteuern ihre Anteilnahme. Sie haben mal mehr, mal weniger persönliche Worte über Corbin zu sagen, Worte, die sich seit sieben Jahren nicht verändert haben.
Aufmerksame Kellnerinnen und Kellner bieten den Gästen Getränke von silbernen Tabletts an, die in der Sonne glänzen, und in einem Zelt in der Mitte des Gartens spielt ein Streichquartett Trauermusik.
Corbin hätte diese Events gehasst. Ich weiß es, und meine Eltern wissen es wahrscheinlich tief in ihrem Inneren ebenso. Aber es ist leicht, einen Menschen in der Erinnerung zu optimieren. Ihn näher an die Idealvorstellung der Person heranzurücken, der er nie gerecht werden konnte. Oder wollte. Corbin hätte sich Bauhaus-Goth-Musik gewünscht. Er hätte eine Handvoll Menschen eingeladen. Menschen, die ihm etwas bedeuteten. Nicht Andrew, meinen und Dads Verleger, den er für einen verlogenen Schwätzer hielt.
»Angelina glaubt jedenfalls fest an dich«, sagt er gerade zu mir. Seit geschlagenen zehn Minuten redet er halb flüsternd auf mich ein, ich solle mit Angelina brainstormen, sie hätte gute Ideen für mich. Er schlug eine düstere Familiensaga vor oder ein schwarzhumoriges Kammerspiel, in dessen Mittelpunkt drei Paare stehen, die sich gegenseitig betrügen, und irgendwas Drittes, das ich schon wieder vergessen habe, weil es mich genauso abgeturnt hat wie die Familiensaga. Über das Kammerspiel habe ich sogar schon mit Angelina gesprochen. Ich mag den Ansatz. Aber ich werde mit Sicherheit nicht vorgekaute Ideen schreiben. Andere Autoren würden mir vielleicht widersprechen, aber in meinem Verständnis dieses Berufs gehört die eigene Idee zum kreativen Prozess. Und es ist mit das Befriedigendste, wenn diese Idee bereits im Verstand eingeschlagen hat, sich festbeißt, sich verwurzelt, und man merkt, sie wird einen nicht mehr loslassen, bis man sie geschrieben hat. So war es bei The Gentle Art …, so ist es bei meiner neuen Idee. Und das macht diese Sache so beängstigend.
»Das freut mich zu hören«, sage ich, obwohl ich nur mit halbem Ohr und einem Sechzehntel Herzen bei der Sache bin. Ich mag es nicht, dass Andrew den heutigen Tag zum Anlass nimmt, mich zu belagern. Dass er nicht ein einziges Mal die Buchgeschäfte sein lassen kann.
»Andrew!« Mein Vater kommt auf uns zu. Er ist der Einzige, der in normaler Lautstärke spricht, sodass man immer weiß, wo er ist – und wo man nicht sein möchte. »Schön, dass du gekommen bist. Das bedeutet Iris und mir viel.«
»Corbin war so ein begabter junger Mann«, sagt Andrew. »Ich werde nie vergessen, wie er …«
Jetzt erzählt er dieselbe Anekdote, mit der er jedes Jahr wieder versucht, zu punkten. Wie Corbin mit Holm nach New York fuhr, um den Verlag kennenzulernen. Ein Vater-Sohn-Ausflug. Und wie er vollkommen ungeniert mit seinen damals siebzehn Jahren einen doppelten Whisky bestellte und bekam, weil das die Ausstrahlung war, die Corbin schon als Jugendlicher hatte.
Dad lächelt und nickt. Ein stolzer Ausdruck gemischt mit Schmerz schleicht sich auf seine Gesichtszüge, wie immer, wenn er an Corbin denkt. »Das war Corbin«, sagt er. »Mein Sohn.«
Ich sehe mich nach einer Möglichkeit um, dieses Gespräch zu verlassen. Mein Blick wandert durch den Raum, bleibt an einem älteren Ehepaar hängen – ich glaube, er ist Journalist –, das mit den Nachbarn spricht. Dr Royce war es, der Baal damals gefunden hat.
Die Türklingel geht erneut. Mehr langweilige Menschen in dunklen Farben. Mehr gedämpfte Unterhaltungen. Mehr betretene Blicke. Doch dann erspähe ich Louise’ rote Haare. Ein Farbtupfer in all der Tristesse. Sie hat Philomena an der Hand und bedankt sich gerade lautstark bei einer jungen Frau für das Getränk.
»Was willst du, Phil? Saft?«, fragt sie jetzt und beugt sich zu ihrer Tochter hinunter. Erst jetzt fällt mir auf, dass Philomena ein rosafarbenes Prinzessinnenkleid mit Glitzer trägt, so sehr war mein Blick von Louise in den Bann gezogen. Doch nun verziehen sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln. Einem echten Lächeln, denn ein rosa Glitzerkleid hätte Corbin gefallen. Corbin hätte Philomena ohnehin geliebt, wenn er sie hätte kennenlernen können. Wenn er nur ein bisschen mehr Geduld gehabt hätte. Wenn … aber es hilft nichts, darüber nachzudenken.
»… seinen Verlag hinzuhalten …« Mein Vater lacht, und es ist ein völlig unpassendes Geräusch. Köpfe wenden sich zu uns um, unter anderem auch der von Louise. Ich will gerade meine Hand heben, da sagt er: »Ich habe ihm gestern schon den Kopf gewaschen. Nicht wahr?« Holm schlägt mir mit der flachen Hand auf die Schulter. So ein Männerding, das ich abstoßend finde, weil es erstens wehtut und zweitens eine Jovialität suggeriert, die zwischen uns nicht herrscht.
»Gute Kunst braucht eben Zeit. Ich habe ihm auch gerade schon vorgeschlagen, mit seiner Lektorin zu brainstormen. Sie hat ein paar wundervolle Ideen, die wir uns sehr gut aus Cys Feder vorstellen könnten. Diese perfekte Mischung aus zeitlos und gleichermaßen modern. Er spricht zu den jungen Lesern, ohne die älteren zu befremden. Das ist eine große Kunst. Aber wem erzähle ich das?«
»In der Tat«, sagt mein Vater, als wüsste er, worüber Andrew redet. Dabei bin ich mir sicher, dass er mein Buch nicht gelesen hat.
Ich will nichts lieber, als endlich einen höflichen Abgang machen, um Louise und Philomena zu begrüßen, aber der Gedanke, dass die beiden weiter über mich sprechen, bereitet mir Unbehagen.
»Mrs Bellamy!« Louise – neben meinem Vater die Einzige, die in normaler Lautstärke spricht – umarmt meine Mutter. Ich sehe, wie sie sie fest an sich drückt. Mom wirkt beinahe ein bisschen überrumpelt. Ihre engsten Freundinnen sind nicht so herzlich wie Louise. »Ich habe Phil mitgebracht. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
Philomena sieht zu meiner Mutter auf und hält ihr die Hand hin.
»Du bist ja groß geworden«, sagt Mom, und Philomena stellt sich auf Zehenspitzen, um zu demonstrieren, wie groß sie ist. »Und was hast du für ein schönes Kleid an!«
Mein Vater wendet den Kopf, wahrscheinlich, um herauszufinden, wer es wagt, in seiner Lautstärke zu sprechen. Als er Philomenas Kleid sieht, rümpft er die Nase und schüttelt den Kopf. Und das ist der Moment, in dem ich mich endlich verabschiede.
»Danke, dass du da bist, Andrew. Vielleicht sehen wir uns später noch mal.«
»Auf jeden Fall. Ich habe Angelina versprochen, dass ich am Montag gute Nachrichten für sie habe.« Er zwinkert und lacht, was beinahe noch unpassender ist als der gesamte Rest unserer Unterhaltung.
Bis ich bei der Gartentür angekommen bin, muss ich noch ein paar Hände schütteln und Fragen zu L. A., der Verfilmung, einem zweiten Buch und meinem Liebesleben beantworten. Nichts von alledem geht diese Halbfremden etwas an. Dennoch gebe ich mir Mühe – vor allem um meiner Mom willen.
Als ich endlich draußen bin, kann ich Louise und Philomena nirgendwo mehr sehen. Auch meine Mom steht nicht mehr auf ihrem Begrüßungsposten, und so schlendere ich die Stufen in den Garten hinunter und betrete den Rasen.
Ich denke an vergangene Sommer. An Louise in Sommerkleidern, barfuß. Denke an Baal, der Stöcken und Frisbees oder was auch immer hinterherjagte. Denke an Corbin rauchend, lesend, schreibend in einem Liegestuhl unter dem Bergahorn, und wie man durch die verspiegelte Sonnenbrille nie seinen Blick sehen konnte.
»Gut, dich zu sehen, Junge«, sagt Mike Chastain, der Anwalt meiner Eltern. »Wie geht’s dir?«
Ich bleibe nicht stehen, drehe mich im Gehen um, um den Blickkontakt einen Moment zu halten. »Gut, Mike, gut, danke.«
Menschen winken mir zu. Ich erwidere die Gesten. Eine Tante zweiten Grades macht Anstalten, auf mich zuzukommen, aber ich bedeute ihr, dass ich gerade beschäftigt bin. Überall haben sich Menschen zu kleinen Grüppchen zusammengefunden, und auf einmal wird mir klar, dass ich und Mom und sogar Dad die einsamsten Personen auf dieser Gedenkfeier sind. Weil wir diejenigen sind, die jemanden verloren haben. Und gleichzeitig die, die nicht zusammen um ihn trauern. Es fällt mir schwer, Mitleid für Dad zu empfinden. Und sobald ich Louise gefunden habe, bin ich nicht mehr einsam. Mit Louise zusammen zu sein, ist das Gegenteil von Einsamkeit. Aber für Mom bricht mein Herz, weil sie sich jedes Jahr wieder durch dieses Event quält, ohne dass es ihrem Schmerz Linderung verschaffen würde. Im Gegenteil. Aber sie tut es für ihn. Für ihren Sohn, dem sie im Leben nicht helfen konnte.
In meinem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. Ich wende den Blick und sehe sie. Louise in ihrem dunkelblauen Jumpsuit und Philomena im Prinzessinnenkleid. Sie kommen vom Teich, in dem Moms Kois leben.
»Cy!«, ruft Philomena, als sie mich entdeckt. »Wir haben eine Biene gerettet!«
Ich laufe auf Louise und Philomena zu, während ein paar der Umstehenden leise über das kleine Mädchen lachen, das die Ruhe stört.
»Sie war im Teich und wär fast ertrunken!«
Je näher ich ihnen komme, desto schneller werden meine Schritte. Und dann beginnt Philomena, zu rennen, und wirft sich im nächsten Moment in meine Arme. Ich hebe sie hoch, drehe mich einmal im Kreis.
»Halloooooo!«, sage ich und drücke ihren Körper an mich, bis sie anfängt zu zappeln.
»Bist du jetzt wieder hier? Oder musst du noch mal so lange wegfahren?«, fragt Philomena, denn wir haben uns in den letzten Monaten nur per Videocall gesehen.
»Jetzt bin ich wieder hier. Oder besser gesagt in New York, aber das ist viel näher als Kalifornien.«
»Wieso wohnst du eigentlich in New York?«
»Weil …« Wieso stellen Kinder immer Fragen, auf die man eine Antwort haben müsste?
Weil ich Abstand zu meinen Eltern brauchte.
Weil es unerträglich war, ihr so nah zu sein.
Weil ich für mich sein musste.
Sie sieht mich mit ihren großen braunen Augen an. Mit den Augen ihres Dads.
»Weil meine Arbeit dort ist.«
»Du schreibst Bücher!«, sagt sie vorwurfsvoll.
»Ja, aber mein Verlag ist in New York. Meine Agentin. Meine Freunde.«
»Ich bin hier«, sagt sie.
»Deswegen komme ich auch so oft wie möglich zu Besuch.«
Sie seufzt und wirft mir einen Blick zu, der ganz eindeutig sagt, dass ich mich mehr anstrengen könnte. Ich muss grinsen. Und mit diesem Grinsen erhebe ich mich und sehe Louise an.
»Hi.« Ich greife nach ihrer Hand, die so perfekt in meine Hand passt, ziehe sie an mich und schließe meine Arme um sie. Ihre langen rotblonden Haare kitzeln meine Wange. Ihr Geruch steigt mir in die Nase und vernebelt meinen Verstand. Ich spüre ihren Rücken unter meinen Händen. Spüre ihre Rundungen. Früher waren dort keine, früher, als wir noch jünger waren. Die kamen erst mit der Schwangerschaft und sind geblieben.
»Hi«, erwidert sie, und ihre Stimme, die so laut sein kann, ist in diesem Moment sanft und beruhigend.
»Danke, dass ihr hier seid.« Ich schaffe es noch nicht, mich von ihr zu lösen.
»Danke, dass ich Phil mitbringen konnte. Und sorry wegen ihres Kleides …«
»Corbin hätte es gefallen.«
»Haha, das habe ich auch gesagt!«
»Und Mom hat es offensichtlich nicht gestört.«
Louise schüttelt den Kopf in dem Moment, als wir uns voneinander lösen, sodass ihre Haare mein Gesicht einen Augenblick länger streifen.
»Das war Andrew Webb, mit dem du gesprochen hast, oder?«
Ich nicke. »Er wollte über mein zweites Buch sprechen.«
»Heute?« Sie reißt voller Erstaunen ihre Augen auf.
»Jep, heute.«
»Also, man hört ja in der Branche so einiges über ihn. Und die Tatsache, dass dein Vater ihn einen Freund nennt, ist auch bezeichnend. Aber wow. Das ist wirklich …«
»Ich weiß«, sage ich und würde Louise am liebsten noch mal umarmen, weil ich ihre Empörung so liebe. Wie alles an ihr. Wie sie.
Feste bei den Bellamys sind immer gruselige Veranstaltungen, ob es nun ein freudiger Anlass ist wie eine Silberhochzeit oder die jährliche Gedenkfeier für Corbin. Dennoch komme ich zu jeder einzelnen – für Cy.
Cy ist mein bester Freund, seit dem Tag, an dem ich eine Brille bekommen habe. Eine unmodische Kinderbrille, über die sich der Klassenbully Trevor den ganzen Tag lustig gemacht hatte. Am Nachmittag ging ich zum vierten Mal in das viel zu große Haus, in dem meine Mom nun arbeitete, um Menschen mit viel zu viel Geld Essen zu kochen und hinterherzuräumen und dafür zu sorgen, dass die beiden Söhne, mit denen ich noch kein Wort gewechselt hatte (mit dem größeren, weil er zu cool war, um mich wahrzunehmen, mit dem kleineren, weil er zu schüchtern war), ihren Vater nicht störten. Der schrieb nämlich Bücher und musste sich deswegen konzentrieren. Ich glaube, es dauerte fast ein Jahr, bis ich ihn das erste Mal zu Gesicht bekam.
Jedenfalls hielt ich meine Brille in der Hand, als ich über den Hintereingang das Haus betrat, etwas nach vorne gebeugt, weil mein Rucksack mit all den Schulbüchern so schwer war. Cy saß auf der Küchenbank und aß ein Sandwich, das meine Mom ihm gemacht hatte, und ich erinnere mich noch daran, wie ich ein bisschen eifersüchtig war, dass dieser Junge jetzt etwas so Intimes wie ein Sandwich von meiner Mom essen durfte. Ich setzte mich ihm gegenüber und sah ihn an. Starrte, besser gesagt. Und blinzelte, weil meine Augen eben doch die Brille brauchten. Also setzte ich sie auf und starrte weiter. Und da lächelte der Junge und sagte, dass das eine coole Brille und Rot seine Lieblingsfarbe sei. Ich antwortete mit einem »Okay«. Dann fragte er, ob ich die Frösche seines Bruders sehen wolle. Wieder sagte ich »Okay«, und wir schlichen auf Zehenspitzen nach oben, um seinen Dad nicht zu stören. Sein Bruder hatte die Tür abgesperrt, aber durchs Schlüsselloch konnte man eine Ecke des Aquariums sehen. Unheimliche Musik drang nach draußen. Corbin war besessen von der Dark-Wave-Band Bauhaus. Düsterer Gothic Rock der späten Siebziger und frühen Achtziger. Verzerrte E-Gitarren, minimalistisches Schlagzeug, düstere, beinahe verstörende Klangwelten, eindringliche Texte. Und dann die gruselige Stimme, die Swing the Heartache, just for her sake jaulte.
Heute ist aus dem Jungen, dessen Hand ich gehalten habe,
als sein Hund tot aufgefunden wurde,
als man bei seiner Mutter Brustkrebs diagnostiziert hatte,