Pain - Lisa Jackson - E-Book + Hörbuch

Pain Hörbuch

Lisa Jackson

4,5

Beschreibung

›Für deine Sünden sollst du büßen!‹ – diese beängstigende Nachricht erwartet die Radiopsychologin Samantha Leeds auf ihrem Anrufbeantworter. Es wird nicht die letzte Warnung bleiben. Schon bald wird außerdem klar, dass zwischen den Drohungen, die die Psychologin erhält, und der unheimlichen Mordserie, die New Orleans erschüttert, eine Verbindung besteht. Kann Samantha dem finsteren Racheengel entkommen, der ihre dunkelsten Geheimnisse zu kennen scheint? Schutz bietet ihr ein ebenso attraktiver wie mysteriöser Nachbar. Doch darf sie ihm wirklich trauen?

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Zeit:16 Std. 5 min

Sprecher:Ulla Wagener
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Lisa Jackson

Pain

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. KapitelEpilogDanksagungEine Liste aller Lisa-Jackson-Romane in chronologischer Reihenfolge:New-Orleans-Reihe1. Pain. Bitter sollst du büßen (Hot Blooded)2. Danger (Cold Blooded)3. Shiver (Shiver)4. Cry (Absolute Fear)5. Angels (Lost Souls)6. Mercy (Malice)Montana-»To Die«-Reihe1. Der Skorpion (Left to Die)2. Der Zorn des Skorpions (Chosen to Die)San-Francisco-Reihe1. Dark Silence (If She Only Knew)2. Deadline (Almost Dead)Savannah-ReiheEwig sollst du schlafen (The Morning After)West-Coast-Reihe1. Sanft will ich dich töten (Deep Freeze)2. Deathkiss (Fatal Burn)
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Widmung

Für John Scognamiglio, der dieses Buch nicht nur als Lektor betreut hat, sondern ein Hauptbeteiligter am kreativen Entstehungsprozess war, wie bei all meinen Büchern für Kensington, besonders während der Arbeit an »If she only knew«. Immer bei klarem Verstand, mit unermesslicher Geduld und brillanten Ideen, die mich über das, was ich sonst vielleicht wagen würde, hinausführen, hat John mich zu Folgendem inspiriert. Ich belohne ihn, indem ich den Schurken in diesem Roman nach ihm benannt habe. Danke, John!

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Prolog

Juni New Orleans, Louisiana

Hast du irgendwelche besonderen Wünsche?«, fragte sie und fuhr sich provokant mit der Zungenspitze über die Lippen.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich könnte –«

»Zieh dich einfach aus.«

Irgendwas stimmt nicht mit diesem Kerl. Irgendwas ist oberfaul, dachte Cherie Bellechamps, und eine unerklärliche Angst stieg in ihr auf. Sie überlegte, die Sache einfach abzublasen, dem Freier zu sagen, er solle verschwinden, aber sie brauchte das Geld. Vielleicht ging auch nur ihre Fantasie mit ihr durch. Womöglich war er gar nicht so übel.

Sie knöpfte langsam ihr Kleid auf und spürte seinen Blick auf ihrem Körper, nicht anders als hunderte anderer Blicke, die sie schon ausgehalten hatte. Nichts Besonderes.

Die Musik, die aus dem Radio neben ihrem Bett erklang, übertönte den Lärm der Stadt. Frank Sinatras samtige Stimme – die Cherie für gewöhnlich beruhigte. Aber nicht in dieser Nacht.

Eine laue Junibrise, schwer vom modrigen Atem des Mississippi, wehte durch das offene Fenster herein. Sie bauschte die vergilbten Spitzengardinen und kühlte die Schweißtropfen, die sich auf Cheries Stirn gesammelt hatten. Doch sie nahm ihr nicht die Nervosität.

Der Freier setzte sich auf einen dreibeinigen Hocker und ließ einen Rosenkranz durch seine Finger gleiten, dessen blutrote Perlen das schwache Licht reflektierten. Was war er für einer? Irgendein religiöser Spinner? Ein Priester, der mit dem Zölibat nicht zurechtkam? Oder nur einer von diesen merkwürdigen Fetischisten? Weiß der Himmel, dachte Cherie. In New Orleans liefen die Perversen zu Tausenden herum, und jeder von ihnen erging sich in seiner ganz eigenen sexuellen Fantasie.

»Gefall ich dir?«, erkundigte sie sich und bemühte einen leichten Cajun-Akzent, während sie mit einem langen Fingernagel über ihr Dekolleté strich und versuchte, das beharrliche Gefühl des Unbehagens abzuschütteln.

»Mach weiter.« Mit einer wedelnden Fingerbewegung wies er auf ihren BH und Slip.

»Willst du das nicht machen?«, fragte sie mit leiser, verführerischer Stimme.

»Ich sehe zu.«

Sie wusste nicht, wie viel er überhaupt sehen konnte. Dieses Zimmer im zweiten Stock am Rande des Französischen Viertels von New Orleans wurde von einer einzigen Lampe erhellt, deren Schirm mit einer Mantille aus schwarzer Spitze verhängt war. Schatten spielten an den Wänden und verbargen die Risse in dem alten Beton. Darüber hinaus trug der Freier eine Ray-Ban-Sonnenbrille mit dunklen Gläsern. Cherie konnte seine Augen nicht erkennen, doch das störte sie nicht. Er sah gut aus. Athletisch gebaut. Sein Kinn war eckig, die Nase gerade, die Lippen waren schmal, umgeben von Bartstoppeln. Er hatte ein dunkles Hemd an und eine schwarze Jeans, sein Haar war dicht und kaffeebraun. Wenn dieser Typ nicht einen Augenfehler hatte, war er attraktiv wie ein Hollywoodstar.

Und Furcht erregend wie ein Gangsterboss.

Er hatte sie bereits aufgefordert, sich das Gesicht zu waschen und eine rote Perücke über ihr kurzes platinblondes Haar zu stülpen. Sie hatte sich nicht gesträubt. Es war ihr gleich, wie er auf Touren kam.

Sie öffnete den Verschluss ihres BHs und ließ den Fetzen aus roter Spitze zu Boden fallen.

Er rührte sich nicht von der Stelle. Rieb immer nur die verdammten Perlen seines Rosenkranzes.

»Hast du auch einen Namen?«, fragte sie.

»Ja.«

»Willst du ihn mir nicht sagen?«

»Nenn mich Vater.«

»Vater wie … mein Dad … oder«, sie musterte die dunklen Perlen, die durch seine Finger glitten, »wie Heiliger Vater?«

»Einfach Vater.«

»Wie wär’s mit Father John?« Es sollte ein Scherz sein, doch er lächelte nicht einmal. Wollte sich wohl nicht entspannen. Es war Zeit, die Sache zu Ende zu bringen, das Geld einzustreichen und ihn rauszuwerfen.

Sie streifte ihren Slip ab, setzte sich aufs Bett und gestattete ihm den Blick auf alles, was sie zu bieten hatte.

Manche Männer machte es an, Cherie beim Ausziehen zuzusehen. Einige schauten sogar ausschließlich zu, berührten sie nicht und streichelten sich selbst. Aber dieser Freier war so kalt und gefühllos – auf geradezu unheimliche Weise. Und was sollte diese Brille? »Wir könnten ein bisschen Spaß haben«, schlug sie vor, um die Sache zu beschleunigen. Er hatte schon einen gehörigen Teil der vereinbarten Stunde vergeudet, und bisher war noch nichts passiert. »Nur du und ich …«

Er antwortete nicht, streckte lediglich die Hand aus und ließ einen Hundertdollarschein auf ihren Nachttisch fallen. Sinatras Stimme erstarb abrupt – der Freier fummelte nun am Radio herum. »When I Was Seventeen« ertönte, dann eine Reihe von Pfeif- und Zwitschertönen und monotones Knistern und schließlich der offenbar gewünschte Sender – irgendeine Talkshow, die Cherie schon mal verfolgt hatte, eine beliebte Sendung mit einer Psychologin, die Lebensberatung anbot. Aber Cherie hörte nicht zu. Sie starrte auf den Hunderter auf dem Nachttisch. Er war beschädigt. Benjamin Franklins Augen waren mit schwarzem Marker ausgelöscht, als wollte auch er, wie der Mann mit der Sonnenbrille, seine Identität verbergen.

Oder nichts sehen.

Merkwürdig. Beklemmend.

Father John hatte sie einen Block von der Bourbon Street entfernt aufgelesen. Sie hatte ihn gemustert, nichts auszusetzen gefunden und ihren Preis genannt. Er war einverstanden gewesen, und so hatte sie ihn hierher gebracht, in das schäbige Apartment, das sie sich zu diesem Zweck mit ein paar Mädchen teilte. Ihr normales Leben fand in einem anderen Viertel statt, jenseits des Sees … Eine Sekunde lang dachte sie an ihre fünfjährige Tochter und den langwierigen Kampf mit ihrem Ex um das Sorgerecht. Niemand in Covington wusste, dass sie auf den Strich ging, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, und niemand durfte es je erfahren, sonst würde ihr das Sorgerecht entzogen und jeglicher Kontakt mit ihrem einzigen Kind untersagt.

Jetzt kamen ihr doch Bedenken. Der Freier war reizbar, seine vermeintliche Ruhe verbarg eine Rastlosigkeit, die sich in der kleinen pochenden Ader an seiner Schläfe und den Bewegungen von Daumen und Zeigefinger an dem Rosenkranz zeigte. Sie entsann sich der Pistole, die sie in der obersten Schublade des Nachttisches aufbewahrte. Falls es brenzlig wurde, konnte sie sich einfach umdrehen, den Hunderter sicherstellen, die Schublade öffnen und die .38er herausnehmen. Ihn verscheuchen. Und den Hunderter behalten.

»Komm doch zu mir«, lockte sie, legte sich rücklings auf die Chenille-Bettdecke, lächelte und rechnete nicht damit, dass er sich rührte. Himmel, es war wirklich heiß.

»Zieh mich aus.« Er stand auf. Näherte sich dem Bett.

Sein Befehl erschien ihr unpassend, aber zumindest war er nicht ungewöhnlich. Also wollte er endlich zur Sache kommen. Gut. Die Sekunden verstrichen, doch sie ließ sich Zeit, erhob sich schließlich, um sein Hemd aufzuknöpfen. Sie schob es ihm von den kräftigen Schultern und der Brust, die kein Gramm Fett aufwies, sondern aussah wie eine Mauer aus steinharten Muskeln mit dunklem, krausem Haar. Sie löste seinen Gürtel, und er betastete das Kreuz, das knapp über ihren Brüsten baumelte und das sie nie ablegte.

»Was ist das?«

»Das … das ist ein Geschenk von meiner Tochter … letztes Jahr zu Weihnachten.« O Gott, er würde es doch wohl nicht stehlen?

»Das reicht nicht, du brauchst mehr.« Er zog ihr den Rosenkranz über den Kopf, über die rote Perücke.

Vielleicht war er wirklich ein Priester. Ein völlig ausgeflippter.

Die scharfkantigen Perlen waren warm von seinen Fingern. Sie rutschten in die Schlucht zwischen ihren Brüsten. Das Ganze war gruselig, zu gruselig für ihren Geschmack. Sie sollte ihn sofort wegschicken.

»So, das ist schon besser.«

Father John zog einen Mundwinkel hoch, als wäre er jetzt endlich mit ihrem Anblick zufrieden. Und bereit loszulegen. Wurde auch Zeit. »Was soll der Rosenkranz?«

»Fass mich an.«

Sein Körper war perfekt. Durchtrainiert. Braun gebrannt. Geradezu stählern.

Abgesehen von seinem Schwanz. Der hing schlaff herab, als wäre der Typ nicht die Spur an ihr interessiert.

Sie fuhr mit dem Finger über seine Brust, und er riss sie an sich. Küsste sie heftig und gefühllos und warf sie auf die durchgelegene Matratze ihres Metallbetts. Sie hatte eine feste Regel: keine Küsse auf den Mund. Doch dieses Mal ließ sie es durchgehen, nur, um schneller zum Ende zu kommen.

»So ist’s brav«, gurrte sie und angelte nach seiner Sonnenbrille. Kräftige Finger umspannten ihr Handgelenk.

»Nicht.«

»Angst, dass ich dich erkennen könnte?« Vielleicht war er berühmt – Mann, er sah wirklich umwerfend aus. Oder er war verheiratet. Ja, wahrscheinlich …

»Lass es einfach.« Sein Griff war wie eine Stahlklammer.

»Schon gut, wie du willst.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und strich mit den Fingern über seine definierten Muskeln. Er bewegte sich unter ihren Berührungen, und sie arbeitete hart, berührte all die erogenen Zonen, deren Stimulation normalerweise garantiert zur Erektion führte. Vergebens. Ganz gleich, wie sehr sie ihn küsste und leckte – er war kein bisschen erregt.

Mach schon, mach schon, dachte sie. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit. Verschwommen nahm sie die Stimme aus dem Radio wahr. Die Psychologin, Dr. Sam, schickte sich bereits an, ihre Sendung zu beenden, mit ihrem üblichen Spruch über Liebe und Lust in dieser Stadt am Delta, und auch Father John hob den Kopf und lauschte der Radiopsychologin.

Vielleicht lenkte sie ihn ab, und das war sein Problem. Cherie streckte die Hand nach dem Radio aus.

»Rühr es nicht an«, knurrte er, und jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an.

»Aber –«

Seine Faust traf sie völlig unvermittelt, glühender Schmerz explodierte in ihrer linken Gesichtshälfte. Sie schrie. Nahm den metallischen Geschmack ihres eigenen Blutes wahr. Das verhieß nichts Gutes. Ganz und gar nicht. »Moment mal, du Mistkerl …«

Wieder hob er die Faust. Sie sah es mit ihrem rasant zuschwellenden Auge.

»Du rührst weder das Radio noch meine Brille an«, raunzte er.

Sie versuchte, sich ihm zu entwinden. »Raus hier! Raus, zum Teufel!«

Er versuchte, sie zu küssen.

Sie biss ihn.

Er zuckte nicht einmal mit der Wimper.

»Raus, du Scheißkerl! Mich schlägt keiner, kapiert? Das war’s.«

»Noch nicht ganz, aber bald.« Er drückte sie zurück aufs Laken. Küsste sie wieder. Beinahe gewaltsam. Als ob ihre Schmerzen ihn antörnten. Es pochte in ihrer Wange, und Cherie versuchte, sich unter ihm hervorzuschlängeln, doch er hielt sie mit seinem athletischen Körper fest.

Sie saß in der Falle. Geriet in Panik. Schlug ihn, kratzte ihn, wollte ihn wegstoßen.

»Recht so, du Sünderin, du Fotze!«, fauchte er. »Kämpf gegen mich.«

Seine Hände waren rau. Er biss sie in eine Brust, kniff in die andere.

Sie schrie, und er brachte sie zum Schweigen, indem er seinen Mund auf ihren presste. Sie wollte ihn beißen, hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein, doch er war stark. Aufgebracht. Erregt. O Gott, wie weit würde er es treiben?

Adrenalin schoss durch ihre Adern. Und wenn er nicht aufhörte? Wenn er sie die ganze Nacht lang quälte?

Als er erneut in ihre Brust biss, durchzuckte ein heftiger Schmerz ihren Körper.

Sich windend fiel ihr Blick auf das Radio. Das digitale Display beleuchtete den Hundertdollarschein. Dr. Sams Stimme klang kühl und sachlich.

Cherie verkniff sich einen Hilferuf. Stattdessen tastete sie nach der Schublade und ihrer Waffe, stieß dabei die Lampe um, trat wild um sich und spürte seine plötzlich stahlharte Erektion.

Also würde er sie vergewaltigen.

Das war’s, was er wollte. Hätte er nur ein Wort gesagt, hätte sie mitgespielt, doch jetzt war sie starr vor Angst.

Bring’s einfach hinter dich und tu mir nicht weh!

Er riss ihren Kopf vom Kissen hoch, und als er anfing, den Rosenkranz um ihren Hals festzuziehen, schrie sie aus Leibeskräften. Die scharfkantigen Perlen schnitten in ihre Haut.

O Gott, er will mich umbringen! Ihre Angst wurde übermächtig. Sie sah in die Augen hinter der Sonnenbrille und wusste es.

Er zurrte den Rosenkranz noch fester und stieß tief in sie hinein. Cheries Augen traten aus den Höhlen, sie bekam keine Luft. Wild schlug sie mit den Armen und kratzte, aber vergeblich. Schwärze … Alles um sie herum wurde schwarz … Ihre Lungen brannten … Ihr war, als würde ihr Herz zerspringen … Bitte, lieber Gott, hilf mir!

Er zog die perlenbewehrte Schlinge zu. Sie röchelte. Rang nach Atem. Etwas sprudelte in ihrem Hals. Blut, o Gott, sie schmeckte ihr eigenes Blut … schon wieder.

Dunkelheit umfing sie, und sie dachte flüchtig an ihre Tochter … Mein liebes, süßes Schätzchen …

Er schwitzte, bohrte sich weiter in sie hinein, keuchte. Als sie schließlich aufgab, spürte sie, wie er erstarrte, und vernahm seinen kehligen, urtümlichen Schrei. Verschwommen hörte sie über sein schweres Atmen und das Dröhnen in ihrem Kopf hinweg eine andere Stimme. Weit weg. Unendlich weit weg …

»Hier ist Dr. Sam mit einem abschließenden Wort … Pass auf dich auf, New Orleans! Gute Nacht, euch allen, und Gott segne euch. Ganz gleich, welche Sorgen euch heute quälen – morgen ist auch noch ein Tag. Träumt was Schönes …«

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1. Kapitel

Juli Cambrai, Louisiana

Zu Hause ist es doch am schönsten, zu Hause ist es doch am schönsten.

Und jetzt drei Mal mit den Absätzen dieser rubinroten Slipper aufstampfen und …

»Das macht siebenunddreißig Dollar«, brummte der Taxifahrer und riss Samantha aus ihren Gedanken. Er lenkte das Taxi die kreisförmige Zufahrt entlang und fuhr so dicht wie möglich an die Haustür heran. Währenddessen kramte sie tief in ihrer Jackentasche nach der Geldspange.

»Sind Sie so freundlich, mein Gepäck ins Haus zu bringen?«, fragte sie.

Der Fahrer verrenkte sich den Hals, um sie vom Vordersitz aus besser sehen zu können, und bedachte sie mit einem neugierigen Blick. Seine Augen waren dunkel. Misstrauisch. Als erwartete er eine zweideutige Einladung. Schließlich zog er seine massive Schulter hoch. »Wenn Sie wollen.«

»Ja, bitte.« Mithilfe einer Krücke stemmte sie sich aus dem Taxi, hinaus in die schwüle Nacht von Louisiana. Ein feiner, feuchter Nebel verhängte die Lebensbäume, die ihr weitläufiges altes Haus in der einzigartigen Gemeinde am Südufer des Lake Pontchartrain, ein paar Meilen westlich von New Orleans, umstanden. Es war herrlich, wieder zu Hause zu sein.

Manche Ferien waren wie ein Traum, andere wie ein Albtraum. Dieser Urlaub war schlimmer gewesen als ein Albtraum, er hatte sich zu einer einzigen Katastrophe entwickelt.

Aber immerhin wusste sie jetzt, dass sie nie und nimmer Mrs. David Ross sein würde. Das wäre ein schlimmer Fehler gewesen.

Noch einer.

Eine kräftige Brise brachte die Strähnen des Spanischen Mooses in Bewegung, die an alten, knorrigen Ästen hingen. Die Pflastersteine des Wegs, schlüpfrig vom Regen, schimmerten im schwachen Licht der Verandabeleuchtung. Als Sam über die unebenen Steine humpelte, kitzelte das nasse Unkraut, das sich unbeirrt durch die Ritzen im Mörtel drängte, die bloßen Zehen ihres verletzten Fußes. Der Schweiß lief ihr in Bächen über den Rücken. Der Juli hatte gerade erst angefangen, und schon setzte die Hitze Louisianas ihr zu. Sie biss die Zähne zusammen und hinkte die Stufen zu der breiten Veranda hinauf, die das Haus am See ringsum einfasste. Die Windspiele klimperten. Sam lehnte die Krücke gegen die Hollywoodschaukel und holte den Ersatzschlüssel aus seinem Versteck in den Spinnweben hinter einem der Fensterläden. Eilig schloss sie die Haustür auf. Als der Taxifahrer ihr Gepäck heranschleppte, knipste sie das Licht an. Sogleich wurde es hell im Eingangsbereich. Zweihundert Jahre altes Holz glänzte von feiner Patina, die Luft in dem ehrwürdigen Haus war abgestanden und heiß.

Der Taxifahrer stellte ihre drei Taschen an der Garderobe ab und reichte Samantha ihre Krücke.

»Danke.« Sie gab ihm vierzig Dollar und wurde mit einem zufriedenen Grunzen und einem knappen Kopfnicken belohnt.

»Willkommen zu Hause.« Dunkle Augen blitzten unter dem Schirm seiner Baseballkappe hervor. »Einen schönen Abend noch.«

»Danke.« Sie machte die Tür hinter ihm zu, steckte den Hausschlüssel in die Tasche und rief über die Schulter hinweg: »Schätzchen, ich bin wieder da.«

Keine Reaktion.

Nur das leise Ticken der Uhr über dem Kaminsims und das Summen des Kühlschranks aus der Küche war zu hören. Sie schaltete den Deckenventilator ein, dann die Klimaanlage.

»Ach, komm schon …«, sagte sie laut. »Du bist doch nicht sauer, weil ich dich hier ganz allein gelassen habe, oder? Weißt du, das ist typisch Mann.«

Aus der Speisekammer holte sie den Bund mit den Ersatzschlüsseln und wartete, lauschte auf das unverkennbare Klicken der ID-Marke oder das leise Geräusch von Pfoten auf dem Boden. Stattdessen hörte sie ein leises Miau, und dann schlüpfte Charon aus den Schatten. Seine Pupillen waren geweitet, die Augen so dunkel wie sein tintenschwarzes Fell. Nur ein kleiner goldener Ring war sichtbar. »Hör bloß auf; jetzt spielst auch du noch den Unnahbaren«, warf sie ihm vor, als er vollkommen desinteressiert und mit zuckendem Schwanz näher kam. »O ja, du bist wirklich ein cooler Typ.« Sie lachte, und er hüpfte näher, strich ein paar Mal um ihre Knöchel und rieb seinen Kopf an dem Fiberglas, das ihre linke Wade und den Fuß umgab.

»Gefällt dir das? Das habe ich diesem Fiasko in Mexiko zu verdanken«, berichtete sie, hob seinen geschmeidigen Körper vom Boden auf, drückte ihn an ihre Brust und kraulte ihn unterm Kinn. Charon, ein streunender Kater, den sie nach dem Fährmann in Dantes »Inferno« benannt hatte, begann unverzüglich zu schnurren. Seine distanzierte Haltung hatte er aufgegeben; er stupste mit der feuchten Nase gegen ihren Hals. »Nun, was war hier so los, während ich fort war? Hat Melanie dich gut versorgt? Nein?« Lächelnd trug sie den Kater ins Arbeitszimmer und öffnete das Fenster einen Spaltbreit, damit sich das Hausinnere abkühlte.

Sie setzte Charon aufs Bücherregal, wo er zwischen ihren Psychologiebänden und Stapeln von Papierkram umherstolzierte. Dann sprang er auf den Schreibtisch, auf dem sich ihre Post stapelte, säuberlich nach Briefen, Reklame, Zeitschriften und Zeitungen geordnet. Melanie, Sams Assistentin, die nicht nur das Haus gehütet und Charon versorgt, sondern während Samanthas Urlaub auch ihre Radiosendung übernommen hatte, war ein Ausbund an Tüchtigkeit.

Samantha rückte den Schreibtischstuhl zurecht und ließ sich auf den vertrauten Sitz fallen. Sie schaute sich im Zimmer um. Irgendwie erschien es ihr verändert, aber sie wusste nicht, weshalb. Vielleicht lag es nur daran, dass sie so lange fort gewesen war, über zwei Wochen. Oder sie war durch den Schlafmangel der letzten Tage und die emotionalen Turbulenzen der Reise einfach ein wenig daneben.

Seit der Landung in Mexiko vor zwei Wochen war alles schief gegangen. David und sie hatten nicht bloß mal wieder den ewig gleichen Streit – er wollte, dass sie ihren Job aufgab und zurück nach Houston zog –, sondern zu allem Überfluss auch noch einen so genannten Bootsunfall gehabt, bei dem sie und ihre Handtasche in den Pazifik gestürzt waren. Dabei hatte sie sich einen verstauchten Knöchel eingehandelt – und ihre Handtasche samt der Papiere war auf Nimmerwiedersehen im Meer versunken. Seitdem trug sie einen scheußlichen, hinderlichen Gipsverband. Die Ausreise war ein einziges Chaos gewesen, und nur mit Mühe hatte sie die Behörden überreden können, sie zurück in die USA zu lassen.

»So etwas passiert eben«, hatte David mit einem Achselzucken gesagt, als sie schließlich in die 737 gestiegen waren. Er bedachte sie mit einem Lächeln und zog eine Augenbraue hoch, als wollte er sagen: Hey, wir können jetzt nichts daran ändern. Wir sind im Ausland. Natürlich hatte er Recht, aber das besserte auch nicht ihre üble Laune und ihren Verdacht, dass der Kapitän des Fischerboots betrunken gewesen war oder unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen gestanden hatte, dass ihre Handtasche wie auch das Gepäck einiger anderer Teilnehmer der Gruppe von einheimischen Tauchern aus der See gefischt worden waren und dass die Kreditkarten, das Bargeld und andere Wertgegenstände mittlerweile an der gesamten Westküste Mexikos benutzt oder versetzt wurden. Nach den Worten des Kapitäns hatte das winzige Fischerboot einen Satz gemacht, um einem Felsen auszuweichen – das klang in Sams Ohren ganz und gar nicht plausibel. Ein Schnitzer eines Seemanns, der jeden Tag in den Gewässern vor Mazatlán umherschipperte. Samantha hatte ihm die Geschichte nicht abgenommen und irgendeine Form der Entschädigung verlangt, mindestens jedoch eine Entschuldigung. Stattdessen war sie in einem kleinen Krankenhaus bei einem ältlichen Arzt gelandet, einem ausgewanderten Amerikaner, der aussah, als hätte er schon in den Siebzigerjahren in den Ruhestand gehen sollen. Wahrscheinlich hatte er genau das in seiner Heimat auch getan – oder er war wegen Kurpfuscherei des Landes verwiesen worden.

»Saure Trauben, Dr. Sam«, ermahnte sie sich selbst, während sich Charon auf seinem Lieblingsplätzchen auf der Fensterbank niederließ. Er starrte durch die Scheibe, sein Blick folgte irgendeiner Bewegung in der Dunkelheit. Vermutlich ein Eichhörnchen. Samantha schaute ebenfalls hinaus, entdeckte aber nichts außer den dunklen Schatten der Bäume.

Sie drückte die Abspieltaste ihres Anrufbeantworters, griff dann nach einem Brieföffner und schlitzte den ersten Umschlag auf – eine Rechnung. Zweifellos die erste von vielen. Der Rekorder gab eine Reihe von Signaltönen und ein Klicken von sich, danach begann er mit dem Abspielen.

Der erste Anrufer hatte aufgelegt.

Toll.

Sie warf die Rechnung auf den Tisch.

Als Nächstes meldete sich ein Werbeagent und erkundigte sich, ob sie eine Autoglas-Reparatur benötige.

Noch besser. Sie dachte an ihr rotes Mustang-Cabrio und konnte es kaum erwarten einzusteigen und loszufahren. Aber eine neue Windschutzscheibe brauchte sie nicht. »Nein, vielen Dank«, sagte sie und öffnete weitere Briefe – Kreditkarten-Angebote, Bitten um Beiträge für wohltätige Zwecke, die Abwassergebühren-Rechnung.

Schließlich erklang noch eine Stimme.

»Hey, Sam, ich bin’s, Dad.« Sam lächelte. »Hab ganz vergessen, dass du nicht zu Hause bist … Ruf mich an, wenn du zurück bist, ja?«

»Mach ich«, sagte Sam, überflog ihre jüngste Visa-Abrechnung und war froh, Melanies Stimme zu hören. Ihre Assistentin versprach ihr, sämtliche Kreditkarten unverzüglich sperren zu lassen.

Zwei weitere Anrufer hatten aufgelegt, und dann vernahm sie die Stimme ihrer Chefin. »Sam, ich weiß, du bist wahrscheinlich noch gar nicht zurück«, sagte Eleanor. »Aber ruf mich auf der Stelle, auf der Stelle, an, wenn du zu Hause bist. Und erzähl mir nicht, dass du wegen deines Beins nicht arbeiten kannst, damit kommst du bei mir nicht durch. Ich habe deine Nachricht aus dem Krankenhaus erhalten, aber sofern du nicht am Tropf hängst und an der Herz-Lungen-Maschine, wirst du schnellstmöglich im Studio auftauchen, verstanden? Melanie macht ihre Arbeit ganz gut, ehrlich, aber seit deiner Abreise sinken die Quoten, und Trish LaBelle drüben beim WNAB reißt sich deinen Marktanteil unter den Nagel … Das ist nicht gut, Sammie, ganz und gar nicht. Deine Hörer wollen dich, Mädchen, und sie sind nicht bereit, irgendeinen Ersatz zu akzeptieren, und wenn er auch noch so gut ist. Also komm nicht auf die Idee und bring mir ein Attest von irgendeinem umwerfenden Arzt, hörst du? Wehe … Also, schwing deinen Hintern rüber ins Studio! Okay, genug geredet. Aber ruf mich an, und zwar sofort!«

»Hast du das gehört, Charon? Ich werde also doch geliebt«, sagte sie geistesabwesend zu ihrem Kater. Dann spürte sie plötzlich ein Kribbeln im Nacken. Irgendein Laut, eine Veränderung in der Umgebung, irgendetwas nicht Benennbares zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Die Katze saß, bis auf das kaum merkliche Zucken ihres Schwanzes, völlig reglos auf der Fensterbank. »Siehst du was?«, fragte Sam und versuchte, das unheimliche Gefühl abzuschütteln. Sie legte die restliche Post beiseite, ging zum Fenster hinüber und spähte durch die vom Nieselregen beschlagenen Scheiben hinaus in die Dunkelheit.

Die immergrünen Eichen standen da wie bärtige Wachposten, bewegungslose dunkle Gestalten, die ihr Haus behüteten.

Ein Knirschen.

Sams Herz blieb beinahe stehen.

War das der Wind in den Zweigen oder ein für ein altes Haus typisches Geräusch? Oder schlich jemand über die Veranda? Ihr Gaumen wurde trocken.

Hör auf, Sam, du regst dich auf wegen nichts und wieder nichts. Hier lauert keine Bedrohung. Du bist hier sicher. Doch sie wohnte erst seit drei Monaten in diesem Haus, und nach ihrem Einzug hatte eine klatschsüchtige alte Nachbarin, die gegenüber wohnte, ihr die Geschichte des Hauses unter die Nase gerieben. Laut Mrs. Killingsworth gab es nur einen Grund dafür, dass das Haus so lange zum Verkauf gestanden und Sam es schließlich weit unter dem Marktpreis bekommen hatte: Die Frau, die zuvor hier gewohnt hatte, war in diesem Haus ermordet worden – von einem erzürnten Liebhaber.

»Und was hat das mit dir zu tun?«, fragte sie sich jetzt und rubbelte über ihre Arme, als wäre ihr kalt. Sie glaubte nicht an Gespenster, Flüche oder Übersinnliches.

Der Anrufbeantworter spulte weiter. »Hi, Sam.« Erneut Melanies Stimme. Samantha beruhigte sich ein bisschen. »Hoffe, du hattest einen schönen Urlaub. Ich habe die Banken angerufen, wie angewiesen, und die Post auf deinem Schreibtisch hinterlegt, aber du hast sie inzwischen sicher schon gefunden. Charon war völlig aus dem Häuschen, als du weg warst. Total ausgeflippt. Hat sogar das Klavier markiert, aber ich hab’s sauber gemacht. Und dann überall diese Haare – ekelhaft. Wie auch immer, ich habe einen Liter Milch für dich eingekauft und diese feinen französischen Kaffeebohnen mit Vanillearoma, die du so gern magst. Beides steht im Kühlschrank. Die Sache mit deinem Bein tut mir echt leid. Wie ärgerlich! Ziemlich romantische Reise, wie? Wir sehen uns im Studio. Falls du etwas brauchst, ruf mich an.«

Sam humpelte zurück zu ihrem Schreibtischstuhl. Sie litt eindeutig unter Einbildungen. Nichts hatte sich verändert. Sie warf einen Blick auf das Bild von David auf ihrem Schreibtisch. Groß und athletisch, mit grauen Augen und einem kantigen Kinn. Gut aussehend. Vorstands-Vize und Verkaufsdirektor bei Regal Hotels, hatte man sie mehr als einmal erinnert. Ein Mann mit Zukunft und einem ausgeprägten, wenn auch spitzfindigen Sinn für Humor. Eine gute Partie, wie ihre Mutter gesagt hätte, wäre sie noch am Leben gewesen.

Ach, Mom, du fehlst mir immer noch. Sams Blick wanderte von Davids Bild zu einem verblassten Farbfoto ihrer Familie. Sie stand bei ihrer Abschlussfeier an der UCLA in Talar und Doktorhut zwischen ihren lächelnden Eltern. Der Kopf ihres Bruders, Peter, war hinter der Schulter ihres Vaters zu sehen, er hatte das Gesicht von der Kamera abgewandt, trotzdem erkannte man seine finstere Miene. Er hatte es nicht einmal für nötig gehalten, seine Sonnenbrille abzusetzen, als wollte er damit kundtun, dass er im Grunde gar nicht dabei sein wollte, nicht die Absicht hatte, Sam zu ihrem Erfolg zu beglückwünschen oder sich gar mit ihr zu freuen. Ihre Eltern hingegen strahlten um die Wette. Beth war eine eifrige Verfechterin der Ehe gewesen und hätte ihre Tochter gern mit einem viel versprechenden Mann verheiratet gesehen.

Der erfolgreiche David Ross war solch ein Mann.

Ein Mann mit einer dunklen Seite.

Ähnlich wie Jeremy Leeds. Sams Ex.

Sie öffnete nun einen weiteren Brief und fragte sich, warum sie sich immer so sehr zu Kontrollfanatikern hingezogen fühlte.

»Hey, Sam, hier ist noch einmal Dad«, vernahm sie die Stimme ihres Vaters. »Ich mache mir Sorgen um dich. Hab seit deinem Anruf aus Mexiko, als du versucht hast auszureisen, nichts mehr von dir gehört. Hoffentlich ist alles gut gegangen! Aber wie ich dich kenne, hast du es geschafft … Und wie geht es deinem Bein? Ruf mich an.«

»Mach ich, Dad. Versprochen.«

Es folgten noch weitere Anrufe mit guten Wünschen für ihre Genesung. Sie hörte sie alle an und schaute dabei ihre Rechnungen durch. Celia, ihre Freundin, die im Napa Valley als Grundschullehrerin tätig war, Linda, eine Zimmerkollegin aus Collegezeiten, die sich mit ihrem Mann, einem Polizisten, in Oregon niedergelassen hatte, Arla, eine Freundin, mit der sie seit der Grundschule Kontakt hielt – alle schienen irgendwie von ihrer Verletzung erfahren zu haben, und alle wollten gern zurückgerufen werden.

»Toll, so beliebt zu sein«, bemerkte sie an den Kater gewandt, während die Empfangsdame ihres Zahnarztes sie an ihren Termin für die halbjährliche Zahnreinigung erinnerte. Der nächste Anruf kam vom Boucher Center, wo Sam ehrenamtlich mitarbeitete; die Sekretärin wies sie darauf hin, dass am kommenden Montag ihre nächste Sitzung fällig war.

Sam griff nach dem letzten Umschlag – schlicht, weiß, geschäftsmäßig. Kein Absender. Ihr Name auf ein Etikett getippt. Sie schlitzte den Umschlag auf und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus.

Das Blut wollte ihr in den Adern gefrieren.

Sie erblickte sich selbst. Ein PR-Foto, das sie vor mehreren Jahren hatte anfertigen lassen. Es war kopiert und dann entstellt worden. Das dunkelrote Haar umgab ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen, dem spitzen Kinn und dem anzüglichen Lächeln, doch dort, wo vorher grüne Augen mit dichten Wimpern geblitzt hatten, befanden sich jetzt nur unregelmäßige Löcher, als wären sie in aller Eile ausgestochen worden. Über ihre pfirsichfarbenen Lippen hatte jemand mit Rotstift ein einzelnes Wort gekritzelt: BEREUE.

»O Gott.« Angewidert stieß sich Sam vom Schreibtisch ab. Einen Augenblick lang stockte ihr der Atem.

Sie hörte ein scharrendes Geräusch auf der Veranda.

Als hätte jemand sie durchs Fenster beobachtet und liefe jetzt davon. Eilige Schritte.

Sie fuhr in ihrem Stuhl herum und humpelte zum Fenster, konnte in der Schwärze der Nacht jedoch nichts erkennen. Ihr Herz klopfte so heftig, dass das Ticken der Uhr kaum noch zu hören war. Während Sam noch durch die regennasse Scheibe blickte, spielte der Anrufbeantworter die nächste Nachricht ab.

»Ich weiß, was du getan hast«, flüsterte eine leise Männerstimme.

Sam wirbelte herum und starrte entsetzt auf das Gerät mit dem blinkenden roten Lämpchen.

»Und du kommst nicht ungeschoren davon.« Die Stimme klang keineswegs grob, im Gegenteil, sie klang verführerisch, beinahe zärtlich, als würde der Anrufer sie persönlich kennen. »Du wirst für deine Sünden bezahlen müssen.«

»Du Mistkerl!«

Charon fauchte und sprang von der Fensterbank hinab.

Der Anrufbeantworter klickte und schaltete sich aus. Die Wände des Hauses schienen sich ihr zu nähern, die düsteren Ecken wurden noch dunkler. Bildete sie es sich nur ein, oder vernahm sie tatsächlich Schritte im Garten?

Sie atmete ein paar Mal tief durch und überprüfte dann sämtliche Schlösser und Riegel an den Türen und Fenstern. Es ist ein Scherz, beruhigte sie sich, nichts Bedrohliches. Dank ihres Berufs galt sie quasi als Berühmtheit; viele Menschen nahmen Kontakt zu ihr auf, damit sie ihnen half, ihre Probleme zu lösen. Als Rundfunkpsychologin beschäftigte sie sich in ihrer Sendung Nacht für Nacht mit den Schwierigkeiten und Ängsten anderer Leute. Und dies war nicht das erste Mal, dass jemand in ihre Privatsphäre eindrang; es würde auch nicht das letzte Mal sein. Sie erwog, die Polizei oder David oder eine Freundin anzurufen, aber um nichts in der Welt wollte sie den Eindruck einer hysterischen Kuh erwecken, die unter Verfolgungswahn litt. Am allerwenigsten vor sich selbst.

Sie war Profi. Doktorin der Psychologie.

Sie wollte keine öffentliche Missbilligung riskieren. Nicht noch einmal.

Ihr Herz hämmerte; langsam stieß sie den Atem aus. Sie musste die Polizei verständigen, daran führte kein Weg vorbei. Aber jetzt noch nicht. Nicht an diesem Abend. Noch einmal kontrollierte sie sämtliche Schlösser und ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Sie würde jetzt nach oben gehen, in einem Buch schmökern und am nächsten Morgen bei Tageslicht noch einmal Revue passieren lassen, was genau vorgefallen war. Es bestand überhaupt kein Grund zur Panik. Oder doch?

Bereue?

Für deine Sünden bezahlen?

Welche Sünden?

Der Kerl machte sie nervös – was wahrscheinlich genau seine Absicht war. »Komm, Großer«, rief sie dem Kater zu. »Wir gehen nach oben.« Es war ihre erste Nacht zu Hause; sie würde sie sich nicht von irgendeinem anonymen Widerling verderben lassen.

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2. Kapitel

Wenn du mich fragst, sie spielt Theater«, flüsterte Melba Tiny zu und zwinkerte dann freundlich in Sams Richtung, als diese am Rezeptionspult der WSLJ-Büros, einen Block von der Decatur Street entfernt gelegen, vorüberhumpelte. Wespentaille, mit mokkafarbener, makelloser Haut und einem Tausendwattlächeln, das kalt und missbilligend werden konnte, wenn jemand versuchte, sich an ihr vorbeizumogeln, hütete Melba die Türen von WSJL, als wäre sie ein scharf abgerichteter Rottweiler. Hinter ihr befand sich eine Glasvitrine, von weichem Halogenlicht beleuchtet und angefüllt mit allem Möglichen: von Prominentenfotos und Preisen, die der Sender gewonnen hatte, bis zu einer Voodoo-Puppe und einem ausgestopften Alligator, Erinnerungsstücke, die jeden Besucher darauf hinwiesen, dass man sich eindeutig im Herzen von New Orleans befand.

Sam hatte Melbas Bemerkung gehört und verdrehte die Augen. »Recht hast du. Ich trage das hier«, sie tippte mit der Gummispitze ihrer Krücke gegen ihr Gipsbein, »nur, um mich vor der Arbeit drücken zu können und Mitleid zu erregen. Und aus dem gleichen Grund schlucke ich alle paar Stunden Ibuprofen. Ich neige nun mal zum Masochismus.«

»Psychogequatsche«, schimpfte Melba.

»Was soll ich sonst sagen? Das ist mein Beruf.« Die Anspannung fiel von ihr ab. Es war ein schönes Gefühl, wieder im Sender zu sein, und sie freute sich auf die Arbeit. Nach einer unruhigen Nacht hatte sie erleichtert den neuen Tag begrüßt und sich ermahnt, nicht solch ein Angsthase zu sein. Sie hatte den Garten auf Fußspuren untersucht, keine gefunden und dann das verstümmelte Foto mit den Augen der Expertin betrachtet, mit Distanz. Sie hatte den merkwürdigen Anruf noch einmal abgehört und beschlossen, deswegen nicht auszuflippen.

Melba stützte das Kinn in die Hand. Ein Dutzend Armbänder klimperte und blitzte im Licht. »Weißt du, ich habe so meine eigene Theorie über Seelenklempner – äh, Psychologen.«

»Nur raus damit«, drängte Sam.

»Ich glaube, jeder Psychologe hat sich aufgrund eines Charakterfehlers für diesen Beruf entschieden. Die meisten Seelenklempner, die ich kenne, sind verrückt. Und ihr Radiotypen seid die schlimmsten. Also wirklich, wer sitzt schon gern freiwillig die ganze Nacht im Studio und hört sich die Probleme anderer Menschen an, obwohl er doch weiß, dass er ihnen nicht helfen kann? Die rufen doch nur an, weil sie einsam sind.«

»Oder geil«, steuerte Tiny zu der Unterhaltung bei, der gerade ein Päckchen auf Melbas Pult legte. Leiser Jazz rieselte aus verborgenen Lautsprechern.

»Genau. Lass dir einen abgehen, indem du Dr. Sam anrufst, die private nächtliche Couch für New Orleans. Beichte, und du wirst geheilt.«

Sams Kopf ruckte hoch. Ihr Lächeln gefror. »Was hast du gesagt?«

»Lass dir einen abgehen …«

»Nein, nein, von wegen Beichten?«

»So ist es doch«, beharrte Melba, während das Telefon zu klingeln begann. »Du bist eine Art Priesterin, Predigerin oder was auch immer. Und in deiner Sendung verwandelt sich das ganze Studio in einen Hightech-Beichtstuhl. Schon der Name deiner Sendung, Schätzchen … ›Mitternachtsbeichte‹ … Sagt das nicht alles?« Sie drückte eine Taste und betrachtete ihre glänzenden rosafarbenen Fingernägel. »WSLJ, New Orleans’ Zentrum von Jazz und Radio-Talk. Mit wem darf ich Sie verbinden?«

»Kümmer dich nicht um sie«, sagte Tiny. »Du weißt doch, sie hat immer Hummeln im Hintern. Aber sie liebt dich.«

»Es ist schön, geliebt zu werden«, murmelte Sam, noch immer in Gedanken über Melbas Ausführungen. Vielleicht war sie nur nervös und vermutete überall versteckte Bedeutungen. Sie hatte nicht genug Schlaf bekommen, ihr Bein hatte geschmerzt, und in ihrem Kopf waren die Gedanken an die verflixte Nachricht auf dem Anrufbeantworter und das verhunzte Foto gekreist. Und bisher war der Tag äußerst nervenaufreibend gewesen. Zuerst hatte sie sich mit der Polizei von Cambrai herumgeschlagen, hatte mit einem Beamten telefoniert und dann auf sein Kommen gewartet. Er hatte ihr versichert, seine Kollegen würden jetzt häufiger in dieser Wohngegend Patrouille fahren, und hatte die Kassette des Anrufbeantworters, den Umschlag und das Foto mitgenommen. Später, immer noch nervös, hatte sie die Kreditinstitute angerufen, um sicherzugehen, dass tatsächlich alle Kreditkarten mittlerweile gesperrt waren. Mit einigen Schwierigkeiten hatte sie sich auf den Weg zur Verkehrsbehörde gemacht, um sich einen neuen Führerschein zu besorgen, dann zum Schlüsseldienst mit dem Auftrag, in ihrem Haus sämtliche Schlösser auszutauschen und einen Ersatzschlüssel für ihr Auto anzufertigen. Schließlich war sie noch zu ihrer Versicherung gefahren und hatte dort fast eine Stunde lang in der Schlange stehen müssen, um eine neue Versichertenkarte zu beantragen. Ihre rezeptpflichtige Sonnenbrille hatte sie noch nicht ersetzen können, doch das war der letzte Punkt auf ihrer Liste, und eine Zeit lang würde sie auch mit Kontaktlinsen und gewöhnlicher Sonnenbrille auskommen.

»… Ich gebe die Information an Mr. Hannah weiter«, sagte Melba nun, beendete ihr Gespräch und kritzelte eine Notiz auf einen Zettel. »Warum wir hier keine Mailbox haben, ist mir unbegreiflich. Als lebten wir noch im Mittelalter oder so.« Sie warf einen Blick zu Tiny hinüber. »Du bist doch das Computergenie. Kannst du uns nicht so was einrichten?«

»Würde ich ja, aber das verdammte Budget gibt es nicht her.«

»Ja, ja, immer ist es das Budget, die Quote, der Marktanteil.« Melba verdrehte die ausdrucksvollen Augen. Ihr lockiges Haar glänzte unter den Neonröhren, die im Empfangsbereich für die Beleuchtung sorgten. »Nun, ich gebe es äußerst ungern zu«, wandte sie sich an Sam, »aber dem Stapel von Fanpost in deinem Fach nach zu urteilen könnte man meinen, die Leute hätten dich vermisst.«

»Das überrascht mich.«

Wieder klingelte das Telefon und beanspruchte Melbas Aufmerksamkeit. Tiny begleitete Sam durch den Hauptgang, liebevoll als »die Aorta« bezeichnet. Das Gebäude war ein richtiger Kaninchenbau, ein Labyrinth von Büros und willkürlich miteinander verbundenen Fluren, denn man hatte das alte Haus, in dem WSLJ und seine Schwestersender untergebracht waren, in den vergangenen zweihundert Jahren immer und immer wieder umgebaut. Die unzähligen Ecken und Winkel waren jetzt in Abstellkammern, Studios, Büros und Konferenzzimmer integriert.

»Schau dir auch deine E-Mails an«, mahnte Tiny und blieb vor der Tür zu seinem Büro stehen, einem kleinen Raum, der vormals ein begehbarer Schrank inmitten der Büros gewesen war. Darin standen ein einsamer Schreibtischstuhl, ein einfacher Tisch und darauf ein Laptop. Tinys einzige Konzession an Raumgestaltung war ein großes Poster, auf dem ein Alligator abgebildet war und das er, wie Sam aufgrund der zahlreichen Einstiche rund um die Schnauze des Tieres feststellte, als Dartsscheibe benutzte. Wo er seine Pfeile versteckte, war ein Geheimnis, das bisher niemand der Mitarbeiter im Funkhaus hatte lüften können.

Offenbar wusste Tiny zu jeder Zeit, was im Hause vor sich ging. Er war Student der Kommunikationswissenschaften in Loyola, entwarf und wartete die Website des Rundfunksenders und hatte sich als wahrer Zauberer in Sachen Computerprobleme erwiesen. In Sams Augen war Tiny unersetzlich, wenn auch ein bisschen abgehoben vom Rest der Welt. Er war ein schlaksiger Bursche, ein typischer Computerfreak, der dringend eine Zahnspange und Clearasil benötigte, aber ein tüchtiger Arbeiter, der unglücklicherweise in Sam verknallt war. Und sie gab vor, es nicht zu bemerken.

»Sind es viele?«, fragte sie, und der Kleine strahlte geradezu.

»Unmengen. Und in allen geht es so ziemlich nur um eins: Die Hörer wollen dich zurück.«

»Du liest meine E-Mails?«, schnappte sie.

Er bekam rote Ohren. »Einige waren ganz allgemein an den Sender adressiert, und trotzdem ging es nur um dich und wann du endlich zurückkommst. Ich, äh, also, deinen privaten Kram habe ich nicht angeguckt.«

Das würdest du bestimmt niemals tun, dachte sie sarkastisch, doch bevor sie Gelegenheit hatte, ihn ins Gebet zu nehmen, drang die sonore Stimme der Programmmanagerin an ihre Ohren.

»Die verlorene Tochter ist also heimgekehrt!« Eleanors Worte hallten durch den Flur.

Die große Schwarze, die sich aus Messing Golfbälle als Briefbeschwerer hatte anfertigen lassen, zur Zierde ihres Schreibtisches, schritt den Flur entlang und lächelte so breit, dass ein mit Gold überkronter Backenzahn zu erkennen war.

»Und wie du aussiehst …« Sie deutete auf Sams Gipsbein. »Der letzte Schrei, zweifellos. Komm, schlepp dich in mein Büro, da können wir reden.« Sie ging voraus durch die Aorta und bog im rückwärtigen Teil des Gebäudes, gegenüber dem verglasten Studio, in dem Gator Brown gerade ein paar beliebte Jazznummern für seine Sendung aufnahm, rechts ab. Gator, mit Kopfhörern über den Ohren, erblickte Sam, grinste und hob eine sommersprossige Hand, ohne auch nur für eine einzige Sekunde sein Samtstimmen-Geplauder zu unterbrechen. Gleichzeitig schaffte er es, eine andere CD für die Tonbandzusammenstellung einzulegen.

»Also, ich höre«, sagte Eleanor und wies Sam einen Sessel zwischen den mit Akten, Disketten, Tonbändern und Büchern gefüllten Bücherschränken zu. »Wie lange musst du dich mit dem Ding da plagen?« Sie deutete auf Sams linkes Bein und setzte sich hinter ihren unordentlichen Schreibtisch.

»Nur noch knapp eine Woche, hoffe ich. Der Knöchel ist nur verstaucht, nicht gebrochen. Ich kann natürlich trotzdem arbeiten.«

»Gut. Denn ich will dich wieder in deinem Studio sehen. Deine Hörer schreien nach dir, Sam, und WNAB wirbt immer aggressiver um dein Publikum. Sie haben Trish LaBelle von sieben auf neun Uhr verlegt, so haben sie immer noch einen Vorsprung zu deiner Show und können später Kopf an Kopf gegen dich antreten. Ich überlege, ob ich deine Sendung um eine Stunde nach hinten verschiebe, also auf elf, aber Gator schreit Zeter und Mordio und behauptet, er würde seine Zuhörer verlieren und sein Jazz müsste spät in der Nacht gespielt werden. Ihm wäre es lieber, wenn du weiterhin von zehn bis Mitternacht auf Sendung bleibst.« Sie griff in ihre oberste Schublade und entnahm ihr ein Röhrchen mit Kalziumtabletten. »Und mein Mann versteht nicht, wieso ich hohen Blutdruck habe.«

Sam glaubte nicht an den beschriebenen Konkurrenzkampf. »WNAB hat sein Publikum, wir haben unseres.«

»Die Hörer sind schneller übergelaufen, als du denkst.« Eleanor war ganz Geschäftsfrau. Sie schluckte zwei Tabletten. »Sieh mal, wir alle haben hart gearbeitet, um diesen Sender zum besten zu machen, und wir wollen unser Publikum doch jetzt nicht verlieren. Ich missgönne dir deinen Urlaub nicht, versteh mich nicht falsch«, sagte sie und hob die Hände, Handflächen nach außen gekehrt, »aber ich muss an den Sender denken, das ist mein Job. Ich kann nicht zulassen, dass WNAB oder sonst jemand uns unsere Quoten abspenstig macht.« Sie brachte ein Lächeln zustande, das allerdings nicht echt wirkte, und als das Telefon klingelte, wurde sie auf der Stelle wieder ernst und nahm schnell den Hörer ab. »Hier Eleanor … Ja … ich weiß.« Sie zog an der Schnur, rollte mit ihrem Stuhl rückwärts und kramte in einem Stapel Akten, der auf einer Kredenz abgelegt worden war. »Gut, mal sehen. Hast du mit der Verkaufsabteilung gesprochen?« Ihre Stimme klang gepresst. Angespannt. »Ich verstehe … Wir arbeiten daran. Was? … Ja. Samantha ist zurück, also ist für die späten Nachtstunden gesorgt … Genau. Gib mir eine Minute.« Sie wandte sich wieder dem Schreibtisch zu, schnappte sich mit der freien Hand die Computermaus und gab Sam mit einem Blick zu verstehen, dass das Gespräch beendet war. »Hör zu, George, warte einfach ab. Ich sagte doch, ich kümmere mich darum.«

Samantha hinkte aus dem Raum und schloss die Tür, doch Eleanors Stimme war weiterhin deutlich zu vernehmen.

»Mir fällt schon was ein … Ja, bald. Du liebe Zeit, jetzt krieg nicht gleich einen Herzinfarkt. Beruhige dich … Ich verstehe.«

Sam bog vorsichtig um zwei Ecken und betrat den Flur, der zu den verglasten Studios und Aufnahmeräumen führte. Sie schaute durch ein Fenster und sah Gator, noch immer übers Mikrofon gebeugt, mit den Tonbändern sprechen, als ob er tatsächlich Hörer vor sich hätte, die allesamt seine engsten Freunde waren. Er würde dieses Tonband in sein reguläres Programm hineinschneiden. Auf Sendung war seine Stimme sanft und gedehnt, einladend, der nette Junge von nebenan. Privat war er entschieden geistreicher und lebhafter. Sam winkte, Gator nickte ihr flüchtig zu, und sie ging weiter an mehreren Studios, der Redaktion und der Bibliothek vorüber, bis sie schließlich im Gemeinschaftsbüro angelangt war, das sie mit den anderen Moderatoren teilte. Ihr Fach quoll tatsächlich über vor Briefen. In Gedanken an das abscheuliche Foto prüfte sie sämtliche Umschläge mit großer Sorgfalt. Sie sagte sich, dass das unangenehme Prickeln, das ihr über den Rücken lief, völlig fehl am Platz sei, und schlitzte dann Umschlag für Umschlag auf und überflog den Inhalt.

Sie fand nichts Außergewöhnliches. Kein Schreiben war auch nur annähernd verdächtig.

Angebote, auf Wohltätigkeitsveranstaltungen zu sprechen oder als Gastgeberin zu fungieren, Genesungswünsche von Hörern, die von ihrem Unfall erfahren hatten, Werbung, Kreditkarten-Angebote … nichts Beunruhigendes. Sie beschloss, den Brief und den Drohanruf den Kollegen im Sender gegenüber nicht zu erwähnen, aber sie würde sich noch einmal bei der Polizei nach deren Ergebnissen erkundigen. Der Brief und die Stimme auf ihrem Anrufbeantworter waren vermutlich nur Streiche. Von irgendeinem Typen, der sich auf ihre Kosten einen runterholte.

Und was ist mit den Schritten auf der Veranda?

Was ist mit Charons sonderbarer Reaktion?

Was ist mit diesem Gefühl, das dich gestern Nacht beschlichen hat, diesem Gefühl, dass unsichtbare Augen dich bei allem beobachten, was du tust?

Sie biss die Zähne zusammen und ermahnte sich wohl zum hundertsten Mal, sich nicht von ein paar boshaften Dummejungenstreichen einschüchtern zu lassen. Sie hatte schließlich auch früher schon mit anonymen Anrufen zu tun gehabt. Wenn sie die Alarmanlage überprüfen ließ und darauf achtete, dass die Polizei von Cambrai zu ihrem Wort stand und die Patrouillen in ihrem Bezirk verstärkte, würde ihr nichts passieren.

Oder?

 

Ein paar Stunden später – der Großteil der Belegschaft hatte inzwischen Feierabend gemacht – warf Sam gerade Abfall in den Mülleimer, da hörte sie das Klicken hoher Absätze. Sie drehte sich um und sah Melanie in den Raum fegen. Ihr Haar war vom Wind zerzaust, die Wangen rosig von der Hitze des Sommerabends.

»Willkommen daheim«, begrüßte Melanie sie lächelnd. Im Alter von gerade mal fünfundzwanzig Jahren hatte Melanie als Jahrgangsbeste ihren Abschluss am All Saints gemacht, einem kleinen College in Baton Rouge. Ihr Hauptfach war Kommunikationswissenschaften gewesen, das Nebenfach Psychologie. Sie hatte im College-eigenen Rundfunk mitgearbeitet, dann einen Job in Baton Rouge gefunden und schließlich kurz nach Sams Einstieg die Stelle bei WSLJ angenommen. Melanie war wie Sam eine von Eleanors Entdeckungen.

»Danke.«

»Ich gehe runter zum Laden an der Ecke und hole Kaffee und irgendwas total Kalorienreiches … vielleicht Schmalzgebäck mit einem Berg Puderzucker. Möchtest du auch?«

»Die Versuchung ist groß, aber ich glaube, ich verzichte lieber.« Sam legte die Post beiseite und stieß sich mit ihrem Stuhl von dem langen Tresen ab, der als Schreibtisch diente. »Und noch einmal vielen Dank dafür, dass du auf den Kater aufgepasst und für Kaffee und Milch gesorgt hast. Du hast mir das Leben gerettet.«

Melanie strahlte angesichts des Kompliments – in mancher Hinsicht war sie noch ein Kind. »Erinnere dich bitte daran, wenn der Zeitpunkt für meine Revision und die Gehaltserhöhung gekommen ist, ja?«

»Oh, verstehe. Du hast mich bestochen.«

»Ganz genau!« Melanie stand in der Tür, je eine Hand in den Türrahmen gestützt. In dem beinahe durchsichtigen violetten Kleidchen und dem dünnen schwarzen Cape, in Schuhen mit Plateau-Absatz und frisch geschminkt sah sie aus, als wollte sie die Stadt unsicher machen, statt zur Arbeit zu gehen.

»Hast du ein heißes Date?«

»Man soll die Hoffnung nie aufgeben.« Melanie lachte und zog eine Schulter hoch. »Vielleicht habe ich ja mal Glück. Und«, sie hob einen Finger, »gib mir bitte nicht den guten mütterlichen Rat, auf mich Acht zu geben. Ich bin schon ein großes Mädchen.«

»Und ich bin keineswegs alt genug, um deine Mutter zu sein.«

»Dann spar dir auch jeden freundschaftlichen oder womöglich sogar professionellen Rat, ja?«

Sam wusste, wann es an der Zeit war, den Mund zu halten. Melanies letzte Beziehungen waren alles andere als erfreulich verlaufen, und das Mädchen war bereit, sich erneut das Herz brechen zu lassen, doch Samantha hütete sich, ihren Senf dazuzugeben. Immerhin hatte sie selbst in Liebesdingen auch nicht gerade großartige Erfolge zu verzeichnen. »Wann hast du Feierabend?«

Melanie blickte auf ihre Uhr. »Nach der Sendung, genau wie du. Also, was kann ich dir mitbringen? Tee? Mineralwasser?«

»Du brauchst mich nicht zu bedienen.«

»Ich weiß. Ich frage nur, weil du doch ein Gipsbein hast. Wenn du wieder richtig laufen kannst, musst du für dich selbst sorgen, also mach mich jetzt ruhig zu deiner Sklavin.«

»Du willst es nicht anders. Gut, bring mir eine Cola light mit.«

»Mach ich.« Melanie warf einen mitleidigen Blick auf Sams Bein. »Juckt es?«

»Wie verrückt.«

»Du Arme! Ich bin gleich zurück.« Genauso schnell, wie sie gekommen war, war sie auch wieder verschwunden.

Sam überprüfte flüchtig ihre E-Mails, wobei sich ihr Puls leicht beschleunigte und ihre Hand schweißfeucht auf der Maus lag. Doch niemand hatte ihr irgendeine bedrohliche Nachricht geschickt, und sie wurde ruhiger. Sie überflog ein paar Anfragen nach dem Zeitpunkt ihrer Rückkehr, zwei Dutzend Witze, die sie unverzüglich löschte, längst überholte interne Memos, ein Angebot, auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in der Stadt zu sprechen, eine weitere Erinnerung vom Boucher Center an ihren nächsten Termin, einige kurze Grüße von Freundinnen und eine Mail von Leanne Jaquillard, einem siebzehnjährigen Mädchen, das sie im Rahmen einer Gruppentherapie im Boucher Center betreute.

Als Melanie zurückkam, ohne ihr Cape, Spuren von Puderzucker auf den Lippen, eine Dose Cola light in der einen, einen Becher Kaffee in der anderen Hand, hatte Sam bereits so viele Mails wie möglich beantwortet, diejenigen, die sie noch brauchte, archiviert und die übrigen gelöscht.

»Danke«, sagte sie, als Melanie ihr das Getränk reichte. »Dafür bin ich dir was schuldig.«

»Nicht nur dafür – schließlich habe ich deinen hinterhältigen Kater versorgt. Aber wer zählt schon die Gefälligkeiten?« Melanie trank einen Schluck von ihrem Kaffee, und die Puderzuckerreste verschwanden von ihren Lippen.

In dem Moment, als Sam ihre Coladose aufriss, steckte Gator den Kopf zur Tür herein. »Du hast noch etwa fünfzehn Minuten«, verkündete er. »Ich habe zwei Stücke auf Band, dann kommt der Wetterbericht und Werbung. Danach gehst du auf Sendung.« Er wollte schon wieder gehen, doch da fiel ihm noch etwas ein. »Hey, schön, dass du wieder da bist.« Es klang nicht so, als wäre es ernst gemeint.

»Danke.«

»Was ist denn überhaupt passiert?« Er wies mit dem Zeigefinger auf ihr Gipsbein.

»Das ist eine lange Geschichte. Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass der Kapitän unseres Fischerboots ein Idiot und ich ein Tollpatsch war.«

Gators Grinsen war gekünstelt. »Damit erzählst du mir nichts Neues«, erwiderte er und fügte hinzu: »Muss jetzt los. Irgendwo in dieser Stadt gibt es doch bestimmt eine Frau, die darauf brennt, mich kennen zu lernen.«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, flüsterte Melanie, nachdem er gegangen war.

»Erklär mir noch einmal, warum ich so dringend hierher zurückkommen wollte«, bat Sam.

»Er ist nur sauer, weil man überlegt, seine Sendung zu verkürzen, um deine zu verlängern. Das ist der pure Neid.«

Sam konnte es Gator nicht einmal verübeln. Früher war er der Morgenshow-Moderator gewesen, war dann mit »Unterwegs um fünf« auf den Nachmittag und schließlich auf den frühen Abend geschoben worden. Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass er langsam, aber sicher ausgemustert wurde. Im Augenblick bekam sie dank der Beliebtheit ihrer »Mitternachtsbeichte« den größten Teil seines fehlgeleiteten Zorns zu spüren.

»Ich sollte mich wohl lieber wieder an die Arbeit machen.« Sam kam mühselig auf die Füße und spürte einen schmerzhaften Stich in ihrem Knöchel, den sie jedoch ignorierte. »Danke, dass du während meiner Abwesenheit für mich eingesprungen bist!«

»Gern geschehen.« Melanies goldene Augen wurden ein bisschen dunkler. »Es hat mir Spaß gemacht.«

»Du bist ein Naturtalent.«

Das Mädchen seufzte und trat gemeinsam mit Sam hinaus auf den Flur. »Ich wollte, die maßgeblichen Kräfte würden meine Begabungen zu würdigen wissen.«

»Das werden sie schon noch. Hab Geduld. Und mach deinen Doktor. Der Bachelor in Psychologie reicht nicht.«

»Ich weiß, ich weiß. Danke für den guten Rat, Mom«, sagte sie mit einer Spur von Neid.

Melanie war großartig am Mikrofon, sie brauchte nur noch etwas Reife, mehr Lebenserfahrung und die richtigen Ausbildungsnachweise. Urlaubsvertretung war die eine Sache; eine eigene Sendung war etwas anderes.

»Hat sich irgendwas Weltbewegendes ereignet, während ich im Urlaub war?«, fragte Sam, um das heikle Thema zu beenden.

»Nichts. Hier war es stinklangweilig.« Melanie zuckte mit den Schultern und nahm noch einen Schluck Kaffee.

»In New Orleans ist es niemals langweilig.«

»Aber im Sender. Immer das Gleiche. Man munkelt, dass WSLJ an einen großen Konzern verkauft werden oder mit einem Konkurrenten fusionieren soll.«

»Das munkelt man immer.«

»Dann würde eine große Umstrukturierung stattfinden. Sämtliche DJs flippen bei dem Gedanken aus, weil sie dann durch Computer ersetzt würden oder durch Konsortialprogramme aus Timbuktu oder Gott weiß, woher.«

»Das hört wirklich nie auf«, stellte Sam fest.

»Aber dieses Mal steckt mehr dahinter. George spricht davon, eine gehörige Summe in die Computerausrüstung zu investieren, Arbeitsplätze zu streichen, mehr Sendungen aus der Konserve zu bringen. Melba ist begeistert, ach was, sie kriegt beinahe einen Orgasmus bei der Vorstellung einer Mailbox, und Tiny findet die Idee genial. Je mehr Hightechkram, desto besser.«

»Das ist der Odem der Zukunft«, bemerkte Sam zynisch. Die Aufgaben der Diskjockeys wurden mehr und mehr von Computern übernommen, genauso, wie die CD das Tonband und die Schallplatte verdrängt hatte. Die LP- und Singlesammlungen der Rundfunkstation setzten in einem verschlossenen Glaskasten Staub an und wurden nur von Ramblin’ Rob, dem verknöcherten ältesten DJ im Gebäude, gelegentlich abgespielt. »Damit handle ich mir Riesenärger ein«, sagte er dann immer und lachte, heiser von jahrelangem Zigarettenkonsum. »Aber sie wagen es nicht, mich zu feuern. Die Gewerkschaft, der Gouverneur und Gott selbst würden diesen Laden dichtmachen, wenn sie das wagen sollten.«

Melanie folgte Samantha den Flur entlang. »Die Sendung zu schmeißen, war das einzig Interessante hier.«

»Alles Lüge«, sagte Melba im Vorbeigehen und nahm ihre Jacke von der Garderobe in einer Nische bei den Büros. »Lass dir von ihr keinen Quatsch erzählen.« Sie zog ein wenig die eleganten Augenbrauen hoch. »Unser Küken hat einen neuen Mann an ihrer Seite.«

Melanie wurde rot und verdrehte die Augen.

»Ist das wahr?«, fragte Sam, bog um die Ecke und eilte durch die Tür ins Studio. Die Information über das Liebesleben ihrer Assistentin war nun wirklich keine Schlagzeile wert. Melanie hatte alle vierzehn Tage einen neuen Freund – so kam es ihr zumindest vor.

»Diesmal ist es was Ernstes.« Melba erschien im Türrahmen und klemmte sich ihren Schirm unter den Arm. »Glaub mir, das Mädchen ist verliiiebt.«

»Wir haben uns nur ein paar Mal getroffen, mehr nicht.« Melanie spielte mit dem Kettchen an ihrem Hals. »Nichts Besonderes.«

»Aber du magst ihn?«

»Bis jetzt.«

»Kenne ich ihn?«

»Nein.« Melanie schüttelte den Kopf und schlüpfte in die Kabine neben Sams. »Ich fange an, die Anrufe zu filtern«, sagte sie, während sich Sam auf ihrem Stuhl niederließ und das Mikrofon ausrichtete. Sie überprüfte ihren Computerbildschirm. Mit leichtem Fingerdruck auf den jeweiligen Button auf dem Monitor konnte sie einen vorher aufgenommenen Werbespot, die Titelmusik oder den Wetterbericht aufrufen. Sie stülpte sich die Kopfhörer über die Ohren, und Melanie nickte ihr zu, um ihr zu bedeuten, dass die Telefonleitungen funktionierten und die Verbindung zum Computer hergestellt war.

Sam wartete bis zum Ende des dreißig Sekunden dauernden Werbespots für einen ortsansässigen Kfz-Händler, dann berührte sie einen Button, und die ersten paar Töne von »A Hard Day’s Night« von den Beatles erklangen und verhallten. Sam beugte sich übers Mikrofon. »Guten Abend, New Orleans, hier ist Dr. Sam. Ich bin zurück. Und ihr hört ›Mitternachtsbeichte‹, hier auf WSLJ. Wie ihr vermutlich wisst, habe ich mir einen kleinen Erholungsurlaub in Mexiko gegönnt. In Mazatlán, genauer gesagt.« Sie stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und behielt den Bildschirm im Auge. »Es war wunderschön dort, sehr romantisch, wenn man in der richtigen Stimmung war, aber statt euch jetzt einen detaillierten Reisebericht vorzulegen, dachte ich mir, wir fangen mit einem leichten Thema an, damit ich mich wieder eingewöhne. Wir könnten die Diskussion heute Abend vielleicht mit dem Thema Urlaub eröffnen: wie stressig Urlaub sein kann, wie erholsam er eigentlich sein sollte, an welchen Orten ihr gern mit eurem Liebsten relaxt. Ruft an und erzählt mir, wo ihr wart und wie es euch gefallen hat. In Mazatlán war es jedenfalls heiß, heiß, heiß; jede Menge heiße Sonne und heißer Sand, viele Pärchen, die am Strand spazieren gingen. Palmen, weißer Sand, Piña Colada, alles, was das Herz begehrt. Und die Sonnenuntergänge waren zum Sterben schön …«

Sie sprach noch ein paar Minuten lang über Urlaub zu zweit, nannte dann die Telefonnummer, bat die Hörer anzurufen und wartete auf eine Meldung. Durch die Trennscheibe hindurch sah sie, wie Melanie, die Kopfhörer auf den Ohren, nickte. Die Kontrolllämpchen der Telefonleitungen begannen zu leuchten. Es ging los.

Der Name des ersten Anrufers, Ned, erschien neben Leitung eins auf dem Bildschirm; auf Leitung zwei war jemand mit dem Namen Luanda. Sam drückte den ersten Button und sagte: »Hi. Hier ist Dr. Sam. Mit wem spreche ich?«

»Hier ist Ned.«

Der Typ wirkte nervös.

»Ich, äh, ich freue mich, dass du wieder da bist. Ich höre mir immer deine Sendung an, und … und ich muss sagen, ich habe dich vermisst.«

»Danke.« Samantha lächelte leicht und versuchte, dem Mann die Scheu zu nehmen. »Tja, Ned, was willst du berichten? Warst du kürzlich in Urlaub?«

»Ja, äh, ich bin mit meiner Frau nach Puerto Rico gefahren, das war vor etwa zwei Monaten, und … na ja, es war so eine Art Wiedergutmachung … du weißt schon.«

»Wiedergutmachung wofür?«, hakte sie nach.

»Na ja, ich war mit einer anderen zusammen, und ich und meine Frau, wir hatten uns für eine Weile getrennt … Und da dachte ich, ich überrasche sie mit einer Reise in die Karibik, weißt du, um vielleicht doch alles wieder ins Lot zu bringen.«

»Und was ist passiert, Ned?«, fragte Sam, und stockend schüttete ihr der Mann sein Herz aus. Ein typischer Midlifecrisis-Seitensprung. Sein zweiter, gestand er, aber er liebe seine Frau, oh, sie sei die Allerbeste, eine warmherzige Frau, mit der er seit zwölf Jahren verheiratet sei. Doch in Puerto Rico hatte sie es ihm heimgezahlt. Hatte sich einen Latinlover gesucht und vor Neds Augen mit ihm herumpoussiert. Ned war gekränkt. Was hatte sie sich dabei gedacht? Der romantische Urlaub war schließlich zur Katastrophe geworden.

»Und was hast du jetzt für ein Gefühl?«, fragte Sam und sah, dass Luandas Name vom Bildschirm verschwunden war. Sie hatte offenbar keine Lust mehr gehabt zu warten und aufgelegt. Doch auf Leitung drei war jetzt jemand mit Namen Bart.

»Ich bin tief verletzt und sauer«, sagte Ned. »Stinksauer sogar. Für den Urlaub habe ich zweitausend Dollar ausgegeben!«

»Also hast du das Geld und deine Frau verloren. Was glaubst du selbst, warum hast du dich überhaupt mit diesen anderen Frauen eingelassen?«, wollte Sam wissen.

Die Kontrolllämpchen der Leitungen begannen zu blinken wie ein Weihnachtsbaum. Die Leute brannten darauf, sich zu Neds Story zu äußern oder ihre eigene zu erzählen und Sams Meinung dazu zu hören. Kay war auf Leitung zwei, Bart auf der drei und, oh, da war Luanda wieder, auf Leitung vier.

Sam redete noch eine Weile lang mit Ned, erklärte ihm die uralte menschliche Gewohnheit, mit zweierlei Maß zu messen, dann wandte sie sich Kay zu, einer boshaften Frau, die Ned und jeden anderen Mann, der seine Frau betrog, in den heißesten Winkel der Hölle wünschte. Sam konnte sich bildlich vorstellen, dass sie vor Wut Schaum vor dem Mund hatte. Danach lauschte sie Bart, dessen Freundin mit ihm nach Tahiti gereist war und nun nicht mehr heimkommen wollte.

Diese und ähnliche Geschichten, Zorn, Gelächter und Verzweiflung knisterten durch den Äther. Sam unterbrach die Anrufe durch das Einblenden von Werbespots und Wettervorhersagen sowie das Versprechen, Nachrichten zwischenzuschalten, falls welche vorlägen. Die Zeit verflog, und mit jeder Minute fühlte sich Sam mehr in ihrem Element. Während sie mit ihren Hörern redete, verblassten die flüchtigen Gedanken an die Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter und das verunstaltete Foto.

Sie war schon fast drei Stunden lang auf Sendung, hatte ihre Cola ausgetrunken, bereits die zweite Tasse Kaffee vor sich und stand kurz davor, zum Schluss zu kommen, da nahm sie noch den Anruf eines Mannes entgegen, den der Computerbildschirm als John auswies.

»Hier ist Dr. Sam. Wie geht es dir heute Abend?«

»Gut. Mir geht’s gut«, meldete sich eine glatte Männerstimme.

»Wie heißt du?«, fragte sie um der Hörer willen.

»John.«

»Hi, John, worüber möchtest du reden?« Sie griff nach ihrer Kaffeetasse.

»Beichte.«

»Gut.«

»So heißt deine Sendung.«

»Ja. Nun, John, was beschäftigt dich?«

»Du kennst mich.«

»Ich kenne dich? Woher?«

»Ich bin der John aus deiner Vergangenheit.«

Sie spielte mit. »Ich kenne eine Menge Johns.«

»Darauf möchte ich wetten.«