Palermo ist eine Zwiebel - Roberto Alajmo - E-Book

Palermo ist eine Zwiebel E-Book

Roberto Alajmo

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Beschreibung

Achtung, Reisewarnung! Verkehrschaos, Mafia und nirgends ist das Meer zu sehen: Roberto Alajmo kann alle Klischees über seine aufregende Heimatstadt bestätigen – aber so charmant und witzig, dass man unbedingt sofort nach Palermo will. Der Palermo-Besucher traut sich nicht mehr aus dem Hotel heraus, kein Wunder nach dem abenteuerlichen Landeanflug und dem scheußlichen Weg vom Flughafen, vorbei an Schwarzbauten und Schauplätzen von Mafiamorden … Doch Roberto Alajmo, chaosresistenter Palermitaner, nimmt den Reisenden bei der Hand – und zeigt, warum es sich lohnt, seine widersprüchliche, atemberaubend schöne Heimatstadt am letzten, oft übersehenen Zipfel Europas zu erkunden. In zwölf Kapiteln entführt Alajmo ironisch-anekdotisch zu berühmten Monumenten und Märkten, kommentiert die wechselvolle Geschichte Siziliens mitsamt gängiger Stereotype, erklärt kulinarische Eigenheiten und überlebenssichernde Blicktechniken. Er erzählt von den Einheimischen, ihrem zufriedenen Pessimismus, ihrem vertrauten Umgang mit den Toten – und ihrem seltsamen Verhältnis zum Meer: Denn darauf pfeifen die Palermitaner mit der gleichen Arroganz, mit der sich ein Reicher die Zigarre an einem Geldschein anzündet.

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Die erste italienische Ausgabe erschien 2005 unter dem Titel Palermo è una cipolla bei Laterza in Rom, eine aktualisierte Neuausgabe 2019 unter dem Titel Palermo è una cipolla. Remix. Karin Kriegers deutsche Übersetzung der italienischen Erstausgabe erschien 2007 unter dem Titel Palermo sehen und sterben beim Carl Hanser Verlag in München, sie wurde für die vorliegende Ausgabe gemäß des italienischen »Remix« aktualisiert und umfassend ergänzt.

E-Book-Ausgabe 2021

© 2019 Gius. Laterza & Figli

© für die Übersetzung von Karin Krieger: 2007 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG

© 2021 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Sabrina Genovesi/gettyimages

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803143129

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2838 6

www.wagenbach.de

Denken Sie an irgendein Problem (politischer, sozialer, kultureller, technischer oder sonstiger Natur) und geben Sie es zwei Italienern, damit sie es lösen, einem Mailänder und einem Sizilianer. Nach nur einem Tag wird der Sizilianer zehn Lösungsvorschläge vorweisen, der Mailänder nicht einmal einen. Nach zwei Tagen hat der Sizilianer hundert Lösungsvorschläge, der Mailänder keinen. Nach drei Tagen hat der Sizilianer tausend Lösungsvorschläge, und der Mailänder hat es schon gelöst.Giuseppe Tomasi di Lampedusa

Vorbemerkung: Die Stadt verändert sich, Bücher werden alt

Was immer den Sizilianern widerfährt, sie werden es mit einem geistreichen Witz kommentieren.

Cicero

Jedes Buch sollte zumindest den Anspruch haben, für die Ewigkeit zu sein. Zumindest den Anspruch: das heißt, im Wissen, dass man für die Ewigkeit ohnehin nie erreichen kann. Man wird der Ewigkeit nicht einmal nahekommen können. Man sollte es trotzdem versuchen, und es lassen sich durchaus Bücher finden, die Zeugnisse dieser Sisyphusarbeit sind und Jahre, Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte überdauern. In aller Bescheidenheit kann ich sagen, dass die erste Version dieses Buches fast fünfzehn Jahre überdauert hat – immerhin. In diesem Zeitraum kam es zu mehreren Neuauflagen, und jedes Mal stellte sich die Frage, ob dem ursprünglichen Text irgendeine Änderung hinzugefügt werden sollte. Und bis jetzt war die Antwort stets ein stolzes Nein. Angesichts der Machart dieses Buchs war Ewigkeit sowieso unerreichbar, doch ein paar Kunstgriffe garantierten wenigstens einen geringfügigen Widerstand gegen das Vergehen der Zeit. Zum Beispiel: keine direkten Verweise auf ein Geschäft, ein Restaurant und ein Lokal, die naturgemäß früher oder später ihre Vergänglichkeit offenbaren.

Doch die Zeit steht nicht still, die Stadt verändert sich, Bücher werden alt. Auch dieses. Manche Seiten und ganze Kapitel der ersten Version, auf Deutsch: Palermo sehen und sterben, taugen heute nur noch als historische Dokumente, damit wir uns an frühere Zeiten erinnern können. In der Zwischenzeit haben sich sogar einige felsenfest scheinende Überzeugungen der Bewohner dieser Stadt gewandelt. Um ein Beispiel zu geben: Möglicherweise haben die Händler endlich die Vorstellung abgelegt, dass eine Fußgängerzone den Weltuntergang bedeuten würde, wie sie es immer gedacht haben. Das scheint nicht der Rede wert, aber man kann da schon von einer genetischen Veränderung sprechen, denn ihre Grundüberzeugung ist die, dass die Bewohner der Stadt nichts kaufen wollen, wenn sie nicht mit dem Auto bis vors Geschäft fahren können. So war es – und so ist es nun nicht mehr.

Daher sollte man auf die wiederkehrende Frage »Hat sich die Stadt verändert?« heute ehrlich mit Ja antworten. Es wäre auch seltsam, wenn es nicht so wäre, da sich im Lauf der letzten zwanzig Jahre auch der Rest der Welt verändert hat. Und weil das Wort Veränderung kein bloßes Synonym zu Verbesserung ist, ist die folgende Spezifizierung wichtig: Ja, in vielerlei Hinsicht hat sich die Stadt zum Besseren verändert. Ohne sich dabei zu Triumphgeheul hinreißen zu lassen, das passende Gegenstück zum hier allgegenwärtigen Defätismus, können wir sagen, dass wir heute wenigstens ein bisschen besser dastehen als vorher.

Gewiss: Man sollte unsere ewige Neigung zum sogenannten annacamento nicht unter den Tisch fallen lassen – immer, wenn man zwei Schritte nach vorn geht, tut man auch einen zurück, einen nach rechts und einen nach links, wodurch die Bewegung nur bedingt einem tatsächlichen Vorankommen entspricht. Doch solche Formen des annacare liegen in unserer Natur. Die Geschichte – und insbesondere die sizilianische – war nie einfach eine Autobahn, auf der man schnurgerade in eine Richtung rasen konnte, die – unsere – Geschichte gleicht eher einem gewundenen Wald- und Feldweg mit häufigem Gegenverkehr, weswegen man ständig zurücksetzen muss und Gefahr läuft, die Böschung hinunterzurutschen. In manchen Momenten hat man geradezu das Gefühl, sich verfahren zu haben, aber nein: Es stimmt schon, das ist die richtige Richtung.

Wir reden hier über eine Stadt, die einen alles andere als stabilen Charakter hat. Gerade das Unruhige und Ungelöste machen ihre Faszination aus. Es wäre unnütz, von ihr zu verlangen, sie solle anderen Städten ähneln, deren Schönheit gefestigt, geordnet und angenehm ist. Es fragt doch auch niemand, ob Venedig sich verändert habe, weil das Problem sich nicht stellt. Man kehrt nach zwanzig Jahren dorthin zurück, und Venedig ist immer noch mehr oder weniger die gleiche Stadt, unbeweglich, weil schon perfekt. Unsere Stadt wird nie so sein. Sie kann sich noch verbessern, Spielraum dafür gibt es jedenfalls reichlich, aber eine Gewissheit besteht schon jetzt: Perfekt wird sie nie sein. In ihrem Webmuster wird es immer einen Fehler geben, in der wärmsten Tönung wird man immer noch wenigstens einen dunklen Fleck finden. Wir sollten darüber nicht zu glücklich sein (paradoxerweise besteht diese Gefahr), aber auch nicht über die Maßen deprimiert. Wir sollten uns lieber bewusstmachen, dass wir wie gewisse Käsesorten sind, die sich den von der Europäischen Union vorgeschriebenen Hygieneregeln entziehen, weil ihr Geschmack gerade von dieser unnennbaren Zutat herrührt, die nur in sehr geringer Menge benutzt werden sollte. Eine Zutat namens gràscia, was Schmierigkeit in der Fett-Variante bedeutet. Sie ist unnachahmlich und unabdingbar, wenn man die Natur des Käses nicht verunstalten und den Geschmack jedes authentischen Tumazza-Käses zu dem eines gemeinen Supermarkt-Galbanino degradieren will.

Im Lichte der identifizierten Veränderungen ließ sich eine Neufassung dieses Buchs nicht weiter aufschieben. Allein schon aus Sorgfaltspflicht gegenüber dem ursprünglichen Empfänger dieser Seiten: dem anonymen Reisenden, der sich, von all seinen Vorurteilen gehemmt, in seinem Hotelzimmer verbarrikadiert hat – aus Angst, dass er seine Vorurteile alle einzeln mit der Realität abgleichen muss. Dieses Buch ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, ihm Trost zu spenden. In dieser Stadt spürt man eine weitverbreitete moralische Verpflichtung, die lieben Fremden, die uns besuchen, zu begleiten. Wir sehen es aus Gründen, die sich unserem eigenen Verständnis entziehen, als unsere Pflicht an. Das Gefühl eines abwehrenden Stolzes, den die Bewohner der Stadt kultivieren, grenzt auf mysteriöse Weise an ein Schuldgefühl. Wir wissen, dass wir es mit einer Stadt zu tun haben, die gleichzeitig Dr. Jekyll und Mr. Hyde sein kann. Die in der Lage ist, aus jedem Kuss einen Biss werden zu lassen, und zwar immer mit denselben Lippen. Zart und grausam ist sie, diese Stadt. Sie ist schnell verletzt und zieht sich auf ihre eigenen Fehler zurück. In gewissen Momenten ist sie kurz davor zu ertrinken, du eilst ihr zu Hilfe, und sie reißt dich mit in den Abgrund. Tatendrang und Abstoßung sind übliche und zweischneidige Instinkte all derjenigen, die mit diesem Ort zu tun haben.

Lieber widerwilliger Reisender, denk erst gar nicht daran, dich zu drücken. Auch du bist ein Klischee. Der jüngste Abkömmling eines illustren Geschlechts, das vielleicht mit Goethe begann, der Sizilien einige Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage der Encyclopédie besuchte, dem Grundstein der Aufklärung. In diesem Buch liest man über die Hauptstadt Siziliens die folgende Definition: »Antike Stadt, die von einem Erdbeben zerstört wurde«. Soviel dazu, wie schwer Vorurteile allen guten Absichten zum Trotz wiegen können.

Als Prototyp des Reisenden in partibus infidelium ließ Goethe sich von vielen Dingen überraschen, die auch dich überraschen werden. Dir wird zum Beispiel auffallen, dass die Stadt dazu neigt, ziemlich dreckig zu sein. Je nach Jahreszeit sogar sehr dreckig. Eine Szene ist oft zitiert worden: wie der deutsche Schriftsteller einen Bewohner unserer Stadt für die Müllschicht, die die Straßen pflasterte, zur Rechenschaft ziehen wollte. Er war entrüstet, wie normal man es fand, den Abfall direkt auf die Straße zu werfen. Der Einheimische antwortete, die Müllschicht diene dazu, die vorüberfahrenden Kutschen der Aristokratie so abzufedern, dass die adligen Lenden nicht unter der Unebenheit des Straßenbelags leiden müssten. Goethe verstand diesen Sinn für Humor nicht und regte sich auf, obwohl er einer typisch sizilianischen Art der Entdramatisierung begegnet war. Über sich selbst zu lachen ist eine der Tugenden, die in Sizilien so lange gepflegt werden, bis sie zur Untugend werden. So entsteht ein System, das vor Empörung schützt. Ein großer Sizilianer, Enzo Sellerio, verteidigte sich auf gleiche Weise gegen einen Journalisten, der ihn fragte, wie er in einer Stadt leben könne, die vor Müll überquelle. Sellerio antwortete ihm:

»Ich lebe nicht in dieser Stadt, ich lebe bei mir zu Hause.«

Darauf kommen wir später noch mal zurück. Doch, lieber Reisender, du solltest bis dahin lernen, diese Prise Sarkasmus wiederzuerkennen. Dieser Sarkasmus wird oft gebraucht, um die Klischees zu verjagen, auch wenn wir selbst diese Klischees dann wieder nähren. Es wird einem bei der Lektüre von Goethes Reisetagebuch außerdem gar nicht klar, ob ihm unsere Stadt nun gefallen hat oder nicht – oder ob ihm wenigstens ihre Bewohner gefielen. Nicht, dass wir bedingungslose Wertschätzung erwarten würden, wir wissen ja, dass diese Gegend voll konfliktreicher Liebe ist. Es hat den Anschein, dass diese Stadt ihm nicht griechisch genug vorkam. Wenigstens nicht getreu der Idee von Griechenland, die Goethe auf seiner Reise in diese Breiten suchte. Aber mal ehrlich: Wir, die Einwohner dieser Ecke Siziliens, sind wirklich nicht besonders griechisch. Wir sind punisch, wir sind arabisch, wir sind normannisch. Wir sind ein Smoothie aus Ethnien und Kulturen, in dem das Griechische eine zweitrangige Zutat ist. Oder vielleicht haben wir vom Griechischen nicht gerade die apollinische Komponente aufgesogen, die Goethe am meisten zu schätzen schien. Apollinisch sind wir mit Sicherheit nicht: dionysisch, möglicherweise. Doch was Goethe auf seinem Weg an Dionysischem begegnete, tat er als unecht ab. Alle Realien, die seiner Theorie des Klassischen widersprachen, wurden beiseitegeschoben. Die verrückte Seite von uns Sizilianern mochte er nicht, aber es ist sehr offensichtlich, dass er nach und nach ihrer Faszination erlegen ist. Wieso sollte er sonst das Geburtshaus von Giuseppe Balsamo aufsuchen, dem angeblichen Grafen von Cagliostro? Die Figur des großen Hochstaplers Cagliostro steht derjenigen Goethes diametral entgegen, zumindest, was seine Sympathien für die speziellen Neigungen dieser Stadt angeht.

Man sagt, dass man entweder alle Menschen für kurze Zeit oder manche Menschen die ganze Zeit an der Nase herumführen kann. Der verzweifelte Wetteinsatz jedes Hochstaplers besteht darin, diese Maxime Lügen zu strafen und es zu schaffen, alle Menschen die ganze Zeit über zu betrügen. Die Cagliostri aller Epochen spielen, gewinnen, verlieren, bis niemand ihnen mehr Glauben schenkt und sie deshalb das Spielen einstellen müssen. Als Goethe Cagliostros Geburtshaus im Viertel L’Albergheria besuchte, hatte der seine Karriere als angeblicher Zauberer bereits in den Tiefen des Kerkers von San Leo beendet, wo er den Tod erwartete. Doch Giuseppe Balsamo war nur der Prototyp eines Modells, an dem dieses Land noch heute großen Bedarf hat, und zwar geht das so weit, dass neben der En-Gros-Eigenproduktion von Cagliostri auch beständig welche importiert werden. Es handelt sich dabei um Personen, die in der Lage sind, durchs Leben zu gleiten und sich dabei stets deutlich über den eigenen finanziellen, kulturellen und intellektuellen Mitteln zu halten: der Theater-Impresario, der jahrelang Institutionen und öffentlichen Einrichtungen Gelder aus der Tasche zieht, der kleine Despot in Schulungslehrgängen, der mehrfache Sternekoch im angeblichen Anti-Mafia-Einsatz und der in Verruf geratene Kunstkritiker, der nur noch hier Mittel und Beistand findet.

Der Besuch bei Cagliostros Mutter wird in Goethes Tagebuch mit einer Fülle von Einzelheiten wiedergegeben, was als Zeichen einer widrigen Faszination verstanden werden kann. Und noch mal die gleiche Frage: Wieso sollte man sich eine Reise bis nach Bagheria antun, um die Villa Palagonia und seinen vor steinernen Monstern nur so wimmelnden Park zu besuchen? Goethe wusste alles über dessen exzentrischen Erfinder Ferdinando Francesco Gravina und konnte sich sicher die dionysische Kraft vorstellen, die aus diesen Statuen tropfte. Doch er wollte dort unbedingt hingehen, und schließlich stempelte er die Villa Palagonia nicht einmal als Frucht des Wahnsinns, sondern vielmehr der Einfalt ab. Wer weiß, was der deutsche Schriftsteller sagen würde, wenn er entdeckte, dass die Villa Palagonia und ihre Monster heute vom größeren Wahnsinn des Schwarzbaus überragt werden. Wahrscheinlich wäre es schwierig, seiner teutonischen Logik gerade das Konzept des Schwarzbaus verständlich zu machen. Wenn bei ihm die dionysische Saite dieser Stadt seinerzeit keinen Anklang gefunden hat, scheint die Hoffnung unnütz, dass er sie in ihrem heutigen Zustand zu schätzen wüsste, da sie fast bis zum Zerreißen überdehnt wurde.

Wenn wir auf die jüngste Gegenwart zurückkommen, stellen wir unter den radikalen Veränderungen die Rückkehr des Bürgermeisters Leoluca Orlando fest, der nach einem etwas mehr als zehnjährigen Interregnum einen enormen Versuch der Wiederbelebung der Stadt in Angriff genommen hat. Auf Orlando müssen wir bereits hier zu sprechen kommen, weil seine Person uns zu verstehen hilft, wie viele Dinge in dieser Stadt laufen, deren natürlicher, unvermeidbarer, quasi dauerhafter Bürgermeister er ist. Mit der Zeit hat sich Orlando in eine mythische Figur verwandelt, halb Mensch, halb Bürgermeister. Die, die ihn lieben, und die, die ihn hassen, nennen ihn gleichermaßen Sinnacollànno. Dabei handelt es sich um ein Wort, das aus zwei Begriffen zusammengesetzt ist, die inzwischen synonym behandelt werden, sich beinahe vollständig überlagern: Bürgermeister, italienisch Sindaco, und sein Nachname Orlando. Was auch immer man über ihn denkt, die Geschichte wird sich an ihn als den Bürgermeister schlechthin erinnern, und zwar nicht nur wegen der Dauer seiner mehrfachen Amtszeiten, deren Ursprünge bis in die Achtzigerjahre zurückreichen. Er war ein linker Bürgermeister in einer rechten Stadt. Bürgermeister der Faulenzer und Bürgermeister der Eliten. Bereit zur Verkostung von Austern und eingelegten Sardinen gleichermaßen, Familienvater und Firmenchef, Padre und Padrone, demokratisch und despotisch, fähig zu sehr großzügigen Anwandlungen, ebenso wie zu plötzlich hervorbrechendem gnadenlosem Zynismus. Seine Stärke war immer, dass er sowohl mit der Sprache der Aristokratie als auch mit der der Enterbten sehr vertraut war, mit jener der Kultur und jener des Volkes. Als überparteilich im Konsens wie im Dissens wird er von der Öffentlichkeit gleichermaßen geliebt und gehasst. Daher war man nie in der Lage, ein objektives kritisches Fazit zu seiner Figur zu ziehen. Jeder Beobachter scheint von ihm lediglich einen kleinen Teil seiner Persönlichkeit zu begreifen, und auf Grundlage dieses Ausschnitts bildet er sich ein, sich ihm anschließen zu können. Lange Zeit war er der Don Giovanni der Kommunalpolitik, der jeden verführen konnte, auch Menschen, die sehr weit von seinen Idealen entfernt waren. Die Radikalisierung jedweder Ansicht ist nicht gleich eine speziell lokale Neigung, nur weil die Dinge hier mit einer besonderen Heftigkeit geschehen. Aber bei allen Vorurteilen muss Orlando zugutegehalten werden, dass er die Welle dieser Stadt besser zu reiten wusste als jeder andere, sodass er geradezu ihre Verkörperung wurde, im Guten wie im Schlechten. Der quecksilbrige, bipolare, unbegreifliche Charakter Orlandos ist abgepaust vom quecksilbrigen, bipolaren und unbegreiflichen Charakter der Stadt. Gerade deshalb wäre er eine hervorragende Romanfigur. Doch neben seiner komplexen Identität stellt das quecksilbrige Wesen auch ein Problem für alle dar, die seine Eigenschaften in einem literarischen Werk festhalten wollen. Die Belichtungszeiten der Literatur sind sehr lang. Er aber, der von einem beneidenswerten Stoffwechsel erhalten wird, kann nicht lange stillsitzen. Vielleicht wird der so sehr ersehnte Roman über diese Stadt (wir werden noch darüber sprechen) ein Roman mit Orlando als Protagonisten und Star sein, im Guten und im Schlechten.

Auch als diese Stadt zur italienischen Kulturhauptstadt ernannt wurde, spalteten sich die Bewohner in zwei Lager: Orlandisten und Antiorlandisten. Die Entscheidung traf offenbar einen wunden Punkt und führte zu blindem und wahllosem Streit. Darin besteht ein Charakterzug, der in diesen Jahren gut sichtbar zugenommen hat: Die Bewohner dieser Stadt sind sehr streitsüchtig geworden. Wir streiten über alle möglichen Themen, aber besonders über das Bild, das die Stadt nach außen hin abgibt. Es ist eine haarspalterisch-pirandellohafte Neigung, die dazu führt, dass man sich ständig aufs Neue spaltet, ja, jedes einzelne gespaltene Haar auch noch vierteilt. Die beiden entgegengesetzten Gruppen von Bürgern sind die der Stolzen und die der Sarkastischen, wobei die zweite Gruppe je nach Ort durch einen ihrerseits sarkastischen Ausdruck gekennzeichnet wird: Feinde der Zufriedenheit. Die erste Gruppe hat die Ernennung zur Kulturhauptstadt mit großer Genugtuung aufgenommen. Die zweite Gruppe hat ihrem Sarkasmus dadurch Ausdruck verliehen, dass sie bezweifelte, ob die Stadt der Rolle gewachsen sei (ihr Schlüsselsatz: Von wegen Kulturhauptstadt: Müllhauptstadt!).

Die Ernennung zur Kulturhauptstadt war in Wahrheit allein schon wegen der Ablagerung verschiedener Kulturen, für die die Stadt seit Jahrhunderten steht, mehr als verdient, unabhängig davon, wer sie vorübergehend verwaltet. Ihr kontroverses und verunstaltetes Wesen kann daran nichts ändern, ganz im Gegenteil: Die Bösewichter waren schon immer so viel faszinierender. Die Touristen, die sich in letzter Zeit vervielfacht haben, nehmen ihren Besuch in der Stadt als kalkuliertes Risiko wahr, das durchaus Emotionen wecken kann, ohne jedoch eine ernsthafte Gefahr darzustellen. Sie neigen außerdem dazu, im Angesicht der lebendigen Gegensätze, denen sie auf den Straßen begegnen, weiterhin verzückt zu sein. Die Bewohner der Stadt müssen in den Unterhaltungen mit den Gästen vom Kontinent sogar oft den eigenen Enthusiasmus herunterschrauben, um zu erklären, dass die Stadt zwar auch über ihre unbestreitbare Schönheit hinaus sehr verführerisch sein kann, aber so manches Problem bleibe natürlich trotzdem noch (ein Euphemismus). Doch einen Fremden auf seinem Spaziergang zu begleiten bedeutet, dass man die Dinge durch seine Augen sieht, um sich von dem verblüffen zu lassen, was wir nicht mehr sehen, obwohl es direkt vor uns liegt. Wenn man mit den Augen der anderen urteilt, ist es unbestreitbar, dass sich zumindest in den letzten Jahren ein kulturelles, wohl noch gasförmiges Ferment feststellen lässt, und gerade das Jahr als Kulturhauptstadt bot eine Gelegenheit, dieses gasförmige Ferment in einen festen Aggregatzustand zu überführen. Die Champagnerflasche ist – bildlich gesprochen – endlich geköpft worden, doch binnen kurzer Zeit wird da nichts mehr perlen, wenn wir nicht etwas Umsicht walten lassen. Gleiches gilt für die Manifesta, die Kunstbiennale, die zumindest das Verdienst hat, auf eine Schönheit aufmerksam gemacht zu haben, die der Rest der Welt viel zu lang übersehen hatte. Jemand sagte einmal, und das zu Recht, dass die Stadt der Manifesta mehr gegeben habe als die Manifesta der Stadt. Tatsächlich verschwanden die Kunstinstallationen schließlich wieder, im Gegensatz zu den Containern, die sie aufnahmen. Die Installationen gehen, die Container bleiben.

Der Weg ist gewiss noch lang, er wird nicht gerade sein und auch nicht angenehm leicht bergab gehen, aber wir haben ihn mit Sicherheit in Angriff genommen. Vielleicht werden wir Bewohner morgen in einer Stadt leben, die immer noch schwer am Müll trägt (die Perfektion ist hier nicht zu Hause), aber es wird wenigstens ein bisschen besser sein als früher. Also wollen wir zu Protokoll geben, dass wir hier von einer Stadt reden, die niemand jemals so verbiegen könnte, dass sie sich gänzlich dem gesunden Menschenverstand fügt. Die Stadt ist unbeherrschbar, und Orlando ist eben der Verwalter, der es zumindest geschafft hat, länger als jeder andere im Sattel zu bleiben.

Manches könnte sich weiter verbessern, wenn die Bewohner der Stadt ihre Neigung, die Komplexität der Welt einzig durch die miteinander nicht zu versöhnenden Brillen von Orlandismus und Antiorlandismus zu betrachten, noch etwas abschwächen würden. Heute ist es schwierig, über die Oberflächlichkeit der Dinge hinauszugehen und eine Diskussion zu wagen, wenn man weiß, dass das Gehirn deines Gesprächspartners derweil auf folgende Weise arbeitet: Das sagt er nur, weil er Orlandist ist. Oder: Das sagt er nur, weil er Antiorlandist ist. Eine Vereinfachung, der man wenigstens seit den Neunzigerjahren unmöglich entkommen konnte. Gewiss hat die Möglichkeit zur Direktwahl der Bürgermeister überall eine Wunderheiler-Erwartungshaltung gegenüber dem Wirken der Stadtverwalter erzeugt. Doch es ist auch wahr, dass Orlandos Charisma hierbei einen rationalen Zugang nicht gerade begünstigt, da es wesenhaft auf dem moralischen Dilemma namens Entweder mit mir oder gegen mich beruht.

Mit Blick auf den Lauf der Geschichte kann man sagen, dass Orlando in der Lage war, seinerzeit einigermaßen erfolgreich ein hoffnungsloses Spiel zu spielen, nämlich die Wiege der Cosa Nostra in die Hauptstadt der Rechtsstaatlichkeit zu verwandeln. Was auf den ersten Blick wie eine Liebe zum Paradox scheinen mag, erweist sich auf die Dauer als einfache und effektive Marketingstrategie, die darin besteht, sich vollkommen unbekümmert in den Ring zu werfen und sich danach klammheimlich wieder zurückzubewegen. Nach einigen Jahren ist die Stadt gewiss nicht zum Vorbild an Rechtsstaatlichkeit geworden, aber nun wird sie wenigstens nicht mehr als ein Ort wahrgenommen, wo man an jeder Straßenecke sein Leben riskiert. Auf die gleiche Weise ist die Stadt an einem gewissen Punkt tatsächlich zur Kulturhauptstadt geworden, nachdem mit allen Mitteln die Rolle der Kulturhauptstadt heraufbeschworen wurde. Aus all dem rührt ein wiedergefundener Stolz auf die Zugehörigkeit her, den zu unterschätzen falsch wäre. Was das Wirtschaftliche angeht, ist die Situation leider komplizierter. Hier funktioniert es nicht so leicht, unbekümmert zu sein und eben zu hoffen, dass die Dinge wahr werden, solange man sie als ausgemacht hinstellt. Allein schon deshalb nicht, weil es private Investoren bräuchte, die ein paar Groschen aufwenden, um Arbeitsplätze zu schaffen, Leute also, die mit deutlich größerer Vorsicht handeln als Künstler.

Doch etwas bewegt sich auch in diesem Bereich, und das Zugpferd ist wieder die Kultur. Ein großer auswärtiger Mäzen namens Massimo Valsecchi hat, nachdem er die halbe Welt bereiste, den Palazzo Butera gekauft, ein Bauwerk aus dem 18. Jahrhundert, mit Meerblick. Er hat es auf eigene Kosten restauriert, um es in ein Kulturzentrum zu verwandeln, in dem nun auch seine Kunstsammlung beherbergt ist. Ein unverhofftes Geschenk hier im Süden, wo es noch viel unmöglicher als bloß unwahrscheinlich ist, einen privaten Sponsor für Kulturelles zu finden. Ein Zeichen für unsere neue Fähigkeit, Ideen und Kapital anzuziehen, die in der Vergangenheit weggeblieben sind.

Man müsste sich generell den Übertreibungen entziehen, die den Bürgermeister, die Stadt, im Grunde die ganze Insel betreffen und immer auf die extremen Gegensätze von Optimismus und Pessimismus zugespitzt sind. Man ist im Angesicht gewisser Missstände der Stadt häufig versucht, all ihren Unannehmlichkeiten entkommen zu wollen. Auf lange Sicht verstärkt das aber nur den ohnehin schon überentwickelten Zynismus ihrer Bewohner. Denn viele glauben sich dadurch ermächtigt zu sagen: »Siehst du? Ich hab dir doch gesagt, dass sich nichts ändert.« Wenn der Verfall von Stadt und Gesellschaft zum alltäglichen Anblick gehören, wird es immer jemanden geben, der argumentiert, dass man eben lernen müsse, mit den Trümmern der Moral zu leben. Ein Teil der Bevölkerung neigt typischerweise zur Resignation, weil man sich in seiner eigenen Rückständigkeit wohlfühlt, seine Freude hat am eigenen großstädtischen Provinzialismus, an der eigenen Kurzsichtigkeit und daran, auf ewig das Ei von heute dem Huhn von morgen vorzuziehen. Doch es gibt auch einen Teil der Zivilgesellschaft, dessen Bewusstsein noch nicht vollständig betäubt ist. Gerade wenn alles verwässert und verloren scheint, kommt wie durch ein Wunder aus dem Nichts wieder Hoffnung auf. Und es sind die Verrückten, die diese Hoffnung zurückbringen, die Visionäre. Die Hoffnung wird wiedergeboren durch die wenigen, die sich dem Status quo nicht anpassen, die sich nicht von ihrem Weg abbringen lassen, die sich weigern, Köpfe und Ideen zu einem unbenutzten und unbenutzbaren Klumpen anzuhäufen. Oft sind es Talente, die abseits der etablierten Kreise zur Welt kommen, junge Menschen, denen es gelingt, inmitten des schädlichen Skeptizismus ihrer Mitbürger eine Bresche zu schlagen.

Heute ist der stärkste Charakterzug der Bewohner dieser Stadt wahrscheinlich mehr denn je, dass sie sich streiten und bei jedwedem Thema gespaltener Meinung sind. Vielleicht sind die Orte zum (Über-)Leben zu knapp geworden, die Mittel rar gesät, und die Menschen leben zu eng aufeinander. Tatsache ist, dass auf schmerzliche Weise wahr bleibt, was Leonardo Sciascia über die Sizilianer sagte: Nur die schlechtesten sind in der Lage, Mafia-Clans zu bilden. Die besseren hingegen laufen einsam durchs Leben und hegen recht häufig ihren Groll, gerade wenn sie auf mögliche Verbündete treffen. Normalerweise, mit einigen glücklichen Ausnahmen, gibt es in einer Situation offener Konkurrenz keinen Platz für Fairplay. So versuchen die Konkurrenten dann nicht einmal, in einen gesunden Wettbewerb zu treten, lehnen es ab, eine positiven Kreislauf in Gang zu setzen, vielmehr verändert sich das Ganze schnell zu allgemeiner Feindseligkeit. Die Niederlage des Gegners ist immer schöner als der eigene Erfolg. Es überrascht, dass im ausgesprochen reichen sizilianischen Dialekt ein Äquivalent des großartigen deutschen Wortes Schadenfreude fehlt. Nicht einfach Neid, kein Unglückswunsch, sondern schlicht die Zufriedenheit im Angesicht der Rückschläge, die einen anderen treffen, vielleicht sogar einen Freund – umso mehr vielleicht bei einem Freund –, und ohne dass mit dem Unglück des anderen ein eigener Vorteil für den, der dieses Gefühl hat, einhergehen würde. Auch wenn es dafür im Sizilianischen keinen äquivalenten Ausdruck gibt, ist es in diesen Breiten ein sehr tiefgreifendes Problem. Ein Gegengift ist die Aufschrift, die sich manchmal auf der Rückseite von Wohn- oder Lieferwagen findet: »Dein Neid ist mein Motor.«

Dazu eine kleine exemplarische Geschichte, um dieses Gefühl schändlicher Zufriedenheit besser zu verstehen: Man sagt, dass Gott, um Frieden zwischen zwei sizilianischen Hirten zu stiften, die sich seit Jahren um Weidegrund stritten, zu einem der beiden ging und ihm sagte:

»Ich werde dir alles geben, was du möchtest, aber wisse auch, dass ich alles, was ich dir gebe, deinem Nächsten doppelt geben werde, um dich vom Neid zu befreien.«

Der Hirte war erstaunt ob des Angebots, geradezu irritiert. Was immer ihm in den Sinn kam, zerfiel beim Gedanken daran, dass sein Gegner davon das Doppelte haben würde. Der Hirte quälte sich lange, bevor er sich entschied und Gott zur Antwort gab:

»Also gut, nimm mir ein Auge.«

Wenn in der Stadt ein ganz normaler Bürger die Straße jenseits der eigenen Eingangstür fegt, erregt er sofort Verdacht. Die Nachbarn denken:

»Für wen macht er das?«

Das ist das böswillige Vorurteil: Wenn jemand sich bemüht, muss unbedingt etwas dahinterstecken. Da muss unbedingt ein persönlicher Vorteil im Spiel sein. Und wenn schon nicht für ihn, dann sicher für jemand anderes. Für wen machst du das? ist ein wirklich toxischer Ausdruck, der das zivile Zusammenleben zutiefst vergiften kann. Es bedeutet einen sozialen Schaden – einen geradezu anthropologischen –, und hervorgebracht hat ihn im Laufe der Zeit auch die öffentliche Verwaltung, weil sie sich sogar Sprechstunden zu nichtigen Anlässen bezahlen ließ und so den Chromosomen der lokalen Bevölkerung die Überzeugung eingepflanzt hat, dass man nichts jemals umsonst tut.

In manchen Fällen tragen die Dialektausdrücke eine Komplexität in sich, die die italienische Sprache nicht vorsieht. Zum Beispiel: Man würde das Wort lagnusìa auf Anhieb einfach mit »Faulheit« übersetzen. Doch das wäre allzu simpel. Die lagnusìa ist nicht reine Faulheit. Es ist mit Gejammer gemischte Faulheit. Es tut weh, zugeben zu müssen, dass ein anderer ausgeprägter und wesentlicher Charakterzug der Bewohner dieser Stadt die Trägheit ist, schon an sich eine schändliche Eigenschaft. Doch im Fall der lagnusìa handelt es sich um ein unentwirrbares Gemenge, zu dem auch die Neigung zum Murren gehört. Sogar schon in der Wortherkunft überwiegt die lagna (Gejammer). Wir reden hier wirklich vom Murren, nicht von Protest. Protest würde schon eine Art Rebellion darstellen, die jedoch sowohl in den Chroniken als auch in der Geschichte fast nicht vorkommt. Darin besteht das Wesen des aggressiven Selbstmitleids: nichts tun und sich beschweren. Sich beschweren und nichts tun.

Man muss sich das so vorstellen: Auf jeden entschlossenen jungen Menschen, der sich für eine Vision einsetzt, kommt ein Tisch in der Bar mit vier erwachsenen Männern, die, ohne auch nur mit halber Stimme zu sprechen, dasitzen und sich in lagnusìa üben, weil ihnen selbst die Geschäftigkeit der anderen ein Dorn im Auge ist:

»Aber für wen macht er das?«

»Und was bringt mir das?«

»Wer weiß, wer alles daran verdient.«

Die vier Herren an ihrem Tischlein sind Teil einer besonders bösartigen Gruppe: der ’xperten. Ein ’xperte ist ein Experte, aber im schlechten Sinn eines Schlitzohrs. Die Komödienmaske des Giufà, in der man sich in Sizilien seit der Zeit der arabischen Vorherrschaft spiegelt, verkörpert eine regionale Figur in Reinform: den dummen Schlaukopf. Einer, der glaubt, im Sinne seines eigenen Interesses zu handeln, sich aber in Wahrheit selbst damit schadet. Er ist nicht zu verwechseln mit seinem entsprechenden Gegenteil, dem schlauen Dummkopf, der sich die Masse der dummen Schlauköpfe zum Werkzeug macht und so die eigenen Beschränkungen umgehen und sich einen persönlichen Vorteil verschaffen kann. Ein Beispiel: Dumme Schlauköpfe sind normalerweise die Wähler, schlaue Dummköpfe sind fast immer die, die gewählt werden. Daher stammt die klassische Definition der Schläue: die Intelligenz der Trottel.

Wir werden in Zukunft sehen, ob die jungen Visionäre oder die alten ’xperten die Oberhand gewinnen, ob die unbestreitbare Neigung zur Hoffnung in diesen Jahren sich so wird festigen können, dass sie systematisch wird für die Stadt. Wir werden sehen, ob diese zarte Tendenz zur Wertschätzung unserer großartigen kulturellen Identität dazu dient, ein wirkliches Wachstum zu ermöglichen, und ob dieses Wachstum von Dauer sein wird. Und während man dies abwartet, müsste man sich so verhalten, wie man es in den Forstwissenschaften tut, wenn zur Festigung eines leicht abrutschenden Bodens Bäume gepflanzt werden, damit beim ersten Regen nicht alles umfällt. Und dieses Mal sollten wir es vermeiden, Pinien zu pflanzen, die Bäume, die unter ihrer Mähne nichts wachsen lassen und ganz leicht vom Wind entwurzelt werden können.

Schon allein, da Orlando früher oder später abdanken wird als ewiger Sinnacollànno, als unwiederholbarer Sinnacollànno, als die Pinie, unter der die ganze Bevölkerung einen bequemen Schutz gefunden hat. Und dann wird die Stadt trinken oder eben ertrinken müssen: entweder einen anderen Schutzheiligen wählen, wenn man das überhaupt schafft, und dann darauf hoffen, dass er es gut mit uns meint – oder über die Orlandismen und Antiorlandismen hinausgehen und sich dazu entschließen, endlich groß zu werden.

1Willkommen in der Stadt

In Palermo gibt es so viele und so komplexe Dinge, dass ich nur einen kleinen Ausschnitt der Stadt zeigen kann. Ich kann an einem kurzen Abend nicht alles über Palermo sagen. Ich kann nur die Eindrücke darstellen, die mich tief im Innern getroffen haben, und von diesen auch nur einen sehr geringen Teil.

Pina Bausch

Man sollte sich einen Fensterplatz geben lassen und darauf hoffen, an einem klaren, sonnigen Tag anzukommen. Den kann es auch im Winter geben, denn die Stadt will zu jeder Jahreszeit eine gute Figur machen. Wenn das Flugzeug zur Landung ansetzt, sieht man die roten Klippen von Terrasini und das türkisfarbene und tiefblaue Meer, ohne dass sich sagen ließe, wo das Tiefblau aufhört und wo das Türkis beginnt. Die Häuser, die sogenannten kleinen Villen, sind einem vielleicht zu viel, doch vom Himmel aus betrachtet sieht man ihnen nicht die Pfuscherei mit dem Anspruch auf Originalität an, die sie vom Boden aus offenbaren. Du schaust dir das alles an und denkst, du bist jetzt am schönsten Ort der Welt. Mal ehrlich, du glaubtest, schon eine Vorstellung von der Stadt und von der Insel zu haben, weil sich Klischees nicht so einfach vermeiden lassen, doch bei dem grandiosen Anblick der Küste rings um den Flughafen wird jede vorgefasste Meinung sofort hinfällig.

Während du aus dem Fenster schaust, hast du genügend Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen, bei so viel Schönheit ins Schwärmen zu geraten und vielleicht sogar die Möglichkeit zu erwägen, alles hinzuschmeißen – Arbeit, Familie, Wurzeln –, um künftig hier zu leben. Doch kaum hat man sich für die Vorstellung eines immerwährenden Sommers erwärmt, meldet sich prompt ein Gegenargument. Auch das kommt durch das Fenster, denn während die Augen noch voller Licht und Meer sind, ragt plötzlich ein Gebirge vor einem auf. Ein riesiges graues Gebirge, an dem das Flugzeug jeden Augenblick zerschellen kann.

Der Flughafen Punta Raisi liegt auf einer schmalen Landzunge, die das Meer vom Berg trennt, was in der Vergangenheit dazu führte, dass ein Flugzeug über den Bergen abstürzte (am 5. Mai 1972) und ein weiteres über dem Meer (am 23. Dezember 1978). Der Flughafen der Stadt ist so. Die Stadt ist so. Du, lieber Reisender, wusstest das vor deiner Abreise, doch vor der blendenden Schönheit der Landschaft hast du es vergessen. Nun wirst du womöglich von einer leichten Panik erfasst, weil der Berg immer näher kommt, und zwar auf beängstigende Weise. Doch sei unbesorgt, am Ende wird gar nichts passieren, denn die Piloten sind inzwischen geübt darin, exakt auf dem befahrbaren Streifen zwischen Meer und Berg aufzusetzen, und dann kannst du erleichtert darüber nachdenken, dass die Stadt es nicht versäumt hat, dich von Anfang an zu warnen: Glaube ja nicht, dass die Dinge hierzulande immer so sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Du kannst dich nicht einfach in die Betrachtung des Schönen versenken, als wären wir in Polynesien oder in der Toskana. Hier darf man sich auf nichts verlassen, im Gegenteil, gerade im Augenblick höchsten Entzückens kommt der Schlag in die Magengrube, lässt dich nach Luft schnappen und zwingt dich, wieder Abstand zu den Dingen zu suchen.