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Als ihre Freundin Eva verschwindet, ist Angelika aufs Äußerste beunruhigt. Denn die 18-jährige Schülerin hatte sich in letzter Zeit verändert. Dann wird Evas Mofahelm vor dem Haus ihrer Klavierlehrerin gefunden. Und die Polizei tut nichts! So sieht es zumindest Angelika und macht sich gegen den Widerstand ihrer Mutter Maike Berger selbst auf die Suche. Als auch Angelika verschwindet, schaltet sich endlich auch die Alzeyer Kripo ein. In der Zwischenzeit jedoch hat Maike mithilfe von Evas Klavierlehrerin und einem EDV-Freak eine erste Spur gefunden. Dabei taucht sie in das Dunkel eines schrecklichen Familiengeheimnisses ein: sexueller Missbrauch. Maike ahnt nicht, dass sie damit nicht nur Angelikas Leben in Gefahr bringt …
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Seitenzahl: 438
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PAPA HAT DICH LIEB
Ein Krimi
Jeder Mensch erfindet früher oder später eine Geschichte, die er, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält, oder eine Reihe von Geschichten, die mit Namen und Daten zu belegen sind, sodass an ihrer Wirklichkeit scheint es, nicht zu zweifeln ist. Trotzdem ist jede Geschichte, meine ich, eine Erfindung.
(Max Frisch)
Gerd J. Merz
Ein Krimi
© Leinpfad Verlag
Winter 2013
Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: kosa-design, Ingelheim
Layout: Leinpfad Verlag, Ingelheim
Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 Ingelheim
Tel. 06132/8369, Fax: 896951
E-Mail: [email protected]
www.leinpfadverlag.com
eISBN 978-3-942291-96-5
Erster Auszug aus der Audiokassette
Samstag, 1. September 2012, Alzey
Sonntag, 2. September 2012, Alzey
Donnerstag, 6. September 2012, Alzey
Montag, 10. September 2012, Worms
Montag, 10. September 2012, 17 Uhr, Alzey
Zweiter Auszug aus der Audiokassette
Donnerstag, 13. September 2012, Alzey
Freitag, 14. September 2012, Alzey
Montag, 17. September 2012, Alzey
Dritter Auszug aus der Audiokassette
Dienstag, 18. September 2012, Alzey
Mittwoch, 19. September 2012, Mainz
Donnerstag, 20. September 2012, Alzey
Freitag, 21. September 2012, Alzey
Freitag, 21. September 2012, 8 Uhr 30, Weinheim
Freitag, 21. September 2012, 10 Uhr 30, Alzey
Vierter und letzter Auszug aus der Audiokassette
Mittwoch, 28. August 1991, Frankfurt am Main
Samstag, 22. September 2012, Alzey
Montag, 24. September 2012, 11 Uhr, Alzey
Montag, 24. September 2012, 15 Uhr, Alzey
Montag, 24. September 2012, 17 Uhr 35, Alzey
Dienstag, 25. September 2012, Alzey
Dienstag, 25. September 2012, 21 Uhr 30, Wöllstein
Dienstag, 25. September 2012, 21 Uhr 30, Alzey
Dienstag, 25. September 2012, 21 Uhr 30, Wöllstein, JVA
Dienstag, 25. September 2012, 23 Uhr, Alzey
Freitag, 28. September 2012, Alzey
Einige Tage später, Alzey
Nachwort und Dank
Der Autor
Die Wiedergabe der Kompakt-Audiokassette klingt etwas verrauscht. Ein typisches Problem der Magnetisierung, die bei dieser veralteten Technik im Laufe der Jahre zu Qualitätsverlusten führt. Dennoch ist der Text, gesprochen von einer jungen Frau, deutlich zu verstehen. Sie spricht langsam, geradezu bedächtig, mit dem charakteristischen südhessischen Tonfall, der auf ihre Herkunft aus dem Raum Frankfurt am Main schließen lässt. Bis auf wenige Passagen vermittelt sie den Eindruck, als seien die Erlebnisse, die sie schildert, die einer anderen Person. Selbst Phasen, die den Zuhörer betroffen machen, ja gar schockieren, erzählt sie scheinbar unberührt und mit leidenschaftsloser Gleichgültigkeit.
Es ist Dienstag, der 27. August 1991, 5 Uhr 30. Die Sonne geht vor dem Fenster meines Zimmers auf. Für die Menschen hier in Frankfurt wird es ein schöner, warmer Sommertag werden. Für mich, Klara Feulner, wird es der letzte Tag meines Lebens sein. Ich stehe kurz vor der Ausführung einer endgültigen Entscheidung. Sie wird unumkehrbar sein. Ich kann auch nichts mehr dagegen tun, ich bin machtlos. Ich glaube nicht, dass mich jemand verstehen kann, der sich niemals in meiner Lage befunden hat. Ich will aber, dass man meinen Entschluss respektiert, mich aus einer teuflischen und unbarmherzigen Zwangslage, die ich nicht mehr ertragen kann, zu befreien. Ich will schildern, wie es dazu kam. Es ist die Geschichte meines Martyriums. Natürlich beinhaltet sie Aussagen, die ich als kleines Kind so noch nicht hätte treffen können. Dazu fehlten mir damals noch die Sinnzusammenhänge, die sich mir erst später erschlossen haben. Und manche Einzelheiten und Hintergründe erfuhr ich erst aus den Schilderungen meiner Mutter, die ich vor wenigen Tagen in der Klinik Bad Nauheim besucht habe. Schilderungen, die mir ihre Sicht des Geschehens deutlich machten. Sie befindet sich im Vorstadium der Demenz, ist phasenweise verwirrt und verängstigt, wenn ihr kurzfristig ihr Zustand bewusst wird. Dennoch konnte sie sich an bestimmte Situationen noch so detailliert erinnern, als ob sie einen alten, oft gesehenen Film abspulte. Meine Geschichte, die ich nun erzähle, ist also ein Gemisch aus eigenen Erinnerungen und Empfindungen, angelesenen und erlernten Erkenntnissen und Berichten Dritter. Aber ich schwöre bei Gott und allem, was mir heilig ist, dass es die Wahrheit ist. Die ungeschminkte und einzige Wahrheit.
Alles begann vor fast genau 13 Jahren, im August 1978 in Frankfurt am Main. Da war ich fünf Jahre alt. Ich durfte im Bett zwischen meinen Eltern schlafen. Seit ich mich zurückerinnern kann, gab es von Samstagnacht auf Sonntag dieses Ritual. Da mein Vater am nächsten Morgen nicht zur Arbeit musste, konnte er lange liegen bleiben. Aber meine Mutter stand immer etwas früher auf. Um das Frühstück vorzubereiten, wie sie sagte. Mein Vater und ich blieben währenddessen noch im Bett. Er zog mich auf sich und herzte, drückte und küsste mich. Auch auf den Mund. Ab und zu schob er sogar seine Zungenspitze zwischen meine Lippen. Und manches Mal kitzelte er mich auch zwischen meinen Beinen. Er vergrub sein Gesicht in meinen blonden Locken und atmete tief ein. Damals dachte ich mir nichts dabei. Heute weiß ich, dass ich ihn mehr erregte, als es je eine Frau vermocht hätte, schon gar nicht meine Mutter. Ich erinnere mich noch gut daran, dass sein Atem stoßweise und heftig an mein Ohr drang, wenn er mir zuraunte, wie schön ich doch sei und dass ich sein liebes Mädchen wäre und er mich heiraten würde, wenn es Mama nicht gäbe. Auch wenn seine Bartstoppeln auf meiner Haut eine leichte Rötung hinterließen, sein säuerlicher Atem, die Ausdünstungen seines Körpers und seine fordernde Zunge mir ein gewisses Unbehagen bereiteten, so war es damals doch eine vertraute Situation, die für mich nichts Schlechtes an sich hatte. Ich fühlte mich geborgen in den Armen dieses Mannes, den ich damals noch bedenkenlos Papa nannte.
Wir kuschelten so lange, bis der Duft von gebratenen Eiern mit Speck durch die Ritzen der Schlafzimmertür drang. Dann schob er mich von sich und schickte mich mit einem Klaps auf den Po nach unten in die Küche zu Mama. Er kam immer erst ein paar Minuten später nach.
An diesem Tag, ich muss so fünf Jahre alt gewesen sein, aber das hatte ich ja bereits erwähnt, hatte ich jedoch auf der Treppe kehrtgemacht und war noch einmal ins Schlafzimmer zurückgekommen. Ich hatte Brummi, meinen Teddy, vergessen. Mein Vater lag mit geschlossenen Augen im Bett. Aber er schlief nicht. Er machte heftige Bewegungen, durch die sich seine Bettdecke hob und senkte. Dabei schnaufte und stöhnte er, als ob er Schmerzen hätte. Ich kniete neben ihm auf Mamas Bettseite, hielt meinen Brummi im Arm und beobachtete ihn verängstigt. „Papa?,“ fragte ich zaghaft. Erst jetzt bemerkte er mich, richtete sich abrupt auf und schrie mich an, was ich denn noch hier zu suchen hätte und ich solle sofort rausgehen. Weinend flüchtete ich zu meiner Mutter. Ich war verwirrt, suchte Trost, schließlich hatte ich doch gar nichts Böses gemacht. Ich hatte doch nur Angst um meinen Papa gehabt. Weshalb war er denn dann so zornig gewesen? Ich klammerte mich an meine Mutter, wollte umarmt, gestreichelt, getröstet werden. Doch die schob mich mit einer heftigen Bewegung von sich und stieß mich an den Küchentisch.
„Du wirst schon wissen, was du gemacht hast!“, sagte sie in einem harten Tonfall. Aber dann stellte sie wortlos eine Tasse mit dampfendem Kakao vor mir auf den Tisch, so, als ob sie ihre schroffe Haltung damit wiedergutmachen wollte.
Als ich den ersten Schluck genommen hatte, erschien auch mein Vater. Unrasiert, mit fettigen und ungekämmten Haaren, setzte er sich an den Küchentisch. Für ihren Vorwurf, ob er sich nicht wenigstens waschen und kämmen könne und weshalb er schon wieder seinen verfleckten und verbeulten Trainingsanzug angezogen habe, hatte er nur ein Schulterzucken übrig gehabt. Meinen Vater berührte so etwas nicht. Wie meine Mutter mir erzählte, war er zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem halben Jahr arbeitslos. Seitdem bewegte er sich meist nur auf dem Pfad zwischen dem Platz vorm Fernseher, dem Kühlschrank in der Küche, um sich ein Bier zu holen, und der Toilette. Seine körperlichen Aktivitäten beschränkten sich, außer einigen Kneipengängen, auf das Fegen des Bürgersteiges, wie es an jedem Samstag in unserer kleinen Wohnsiedlung üblich war. Da traf er auf die Nachbarn, plauderte und diskutierte mit ihnen. Da zeigte er sich als kommunikativer, aufgeschlossener Zeitgenosse, den man einfach nett finden musste. Wie er tatsächlich war, hätte wohl niemand vermutet.
Statt eines Morgengrußes schnauzte er meine Mutter ruppig an, ob sie mich nach oben geschickt hätte.
„Und wenn schon“, war ihre Antwort. „Würde das noch etwas ausmachen? Irgendwann wird sie nicht mehr so naiv sein.“ Sie drehte ihm den Rücken zu, hantierte am Herd, und schaufelte wie immer drei Eier mit Speck auf seinen Teller. Ohne meinen Vater auch nur eines Blickes zu würdigen, knallte sie ihn auf den Tisch. Nicht vor ihn, sondern außerhalb seiner Reichweite, sodass er gezwungen war, sich aus seinem Stuhl zu erheben, um das Essen zu sich heranzuziehen. Ein Akt der Genugtuung, den er ihr gönnerhaft gestattete und lediglich mit einem verächtlichen Zug um die Mundwinkel quittierte.
„Natürlich nicht!“, rechtfertigte sie sich.
„Ist ja auch schließlich meine Tochter!“, stellte er herrschsüchtig fest. Dabei schob er ein ganzes Eigelb mit Speck in den Mund und ein Stück Brot hinterher. „Klara gehört mir!“, sagte er mit vollem Mund. „Nicht wahr, du bist mein liebes Mädchen“, tröstete er mich, als er sah, dass in meinen Augen immer noch Tränen schimmerten. „Papa hat das vorhin nicht so gemeint. Er hat dich doch ganz toll lieb. Auch wenn du einen Kakaobart an deinem süßen Schnäuzchen hast und aussiehst wie der Räuber Hotzenplotz.“ Und dann tupfte er mit dem Ärmel seines Trainingsanzuges die Kakaospur von meiner Oberlippe. „Und wenn du immer schön brav bist, dann kommst du bald in die Schule und Papa kauft dir eine ganz große Schultüte. Viel größer und schöner als die der anderen Kinder.“
Meine Tränen waren versiegt. Ich lächelte wieder glücklich und schob meine Hand über den Tisch. Er legte sein Besteck zur Seite und umfasste zärtlich meine Finger mit seiner grobschlächtigen, haarigen Pranke.
Heute schäme ich mich für das Glücksgefühl, das ich dabei empfunden haben musste und in meiner kindlichen Naivität unverhohlen zur Schau stellte. Es hatte meine Mutter so tief getroffen, dass ihr diese Szene trotz ihres unaufhaltsam verfallenden Gedächtnisses noch bewusst war. „In diesem Moment wusste ich, dass ich dich für immer verloren hatte, Klara“, hatte sie gesagt und mich dabei mit einem Blick angesehen, der gleichermaßen Trauer und Liebe zu vereinen schien, dass es mir Schmerzen verursachte. „Ich erinnere mich noch gut an den Triumph in deinen Augen, als du mich glücklich angesehen hast. Und ich war hilflos. So ohnmächtig hilflos. Ich konnte mir nicht helfen und dir erst recht nicht.“
Sie war damals aufgestanden und hatte wortlos die Küche verlassen. „Wo willst du hin?“, fragte mein Vater. Sie war kurz in der Türfüllung stehen geblieben und hatte mit müder Stimme geantwortet: „In den Keller, Wäsche.“
Er rief ihr hinterher: „Ja, hau nur ab! Wäsche, pah. Saufen willst du. Ich weiß doch Bescheid. Aber mach, was du willst! Zu mehr taugst du ja nicht mehr. Wir brauchen dich hier nicht.“
Maike erfasste mit einem Seitenblick den Kalender, der an der Holzverkleidung des Kühlschrankes angebracht war. Das rot markierte Datum „8“ bestätigte, was sie in der frühmorgendlichen Hektik beim Umblättern nur vage wahrgenommen hatte. „Dein Geburtstag fällt ja dieses Mal auf einen Samstag. Willst du nicht ein paar Freunde einladen, Angie? Mensch, 17 Jahre. Was für ein tolles Alter“, schwärmte sie und zog den Atem hörbar durch die Nase.
Mit dem Rücken zum Küchentisch, an dem Angelika saß, stand Maike Berger in gebeugter Haltung an einer Anrichte und unterhielt sich mit ihrer Tochter. Sie bereitete ein Huhn für das Mittagessen vor. Coq au Vin sollte es wieder einmal geben. Aber nicht mit Burgunder, sondern typisch rheinhessisch zubereitet, mit Riesling – Angelikas und ihr Lieblingsgericht.
„Soll ich euch einen Spießbraten machen, mit Kartoffelsalat? Angie, was meinst du? … Angie, so sag doch was! Angelika?!“ Mit dem Schwenk vom Kosenamen zum Taufnamen verschärfte sich Maikes Tonfall.
Jetzt erst drehte sie sich ruckartig zu ihrer Tochter um und richtete sich dabei auf. Das scharfe Küchenmesser in der erhobenen Rechten blieb in der Luft stehen. Verärgert stellte sie fest, dass sie unfreiwillig ein Selbstgespräch geführt hatte. Angelika hatte sich irgendwann lautlos aus der Küche gestohlen. Dieses demütigende Verhalten passte so gar nicht zu ihrem ansonsten so respektvollen Verhalten untereinander. Es ergänzte andererseits auf eine ruppige Art das Bild, das Angelika ihr während der letzten Tage hin und wieder geboten hatte.
„Verd…, da hätte ich mich ja gleich mit der Dunstabzugshaube unterhalten können. Das Resultat wäre das Gleiche. Klar doch, die Ärzteflüsterin kann ja die ganze Woche ab morgens um sieben von Praxis zu Praxis hetzen. Nur um dem gnädigen Frollein dann nachmittags für Nachhilfe und Fahrdienste zur Verfügung zu stehen.“ Ihren Ausbruch begleitete sie mit heftigen und zunehmend unkontrollierten Hieben ihres japanischen Messers, mit dem sie eine Zwiebel zerkleinerte.
Sie legte es seufzend zur Seite und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen, mit dem Effekt, dadurch einen noch heftigeren Tränenfluss auszulösen.
„Denke bloß nicht, dass ich wegen dir heule“, rief sie in Richtung Angelikas Zimmer, „das kommt nur von den Zwiebeln. Propanthial-S-Oxid, sonst nichts!“
Immer noch zornig löste sie mit einer heftigen Bewegung die Schlaufe ihrer Schürze, zog sie über den Kopf und warf sie vor sich auf den Boden. Nur Sekunden später besah sie kopfschüttelnd das Werk ihrer Unbeherrschtheit, seufzte und entschuldigte sich bei dem unglücklich wirkenden Häufchen Stoff. „Du kannst ja auch nichts dafür“. Dann hob sie die Leinenschürze wieder auf, glättete sie und hängte sie an den Haken neben dem Kühlschrank. Liebevoll strich sie über das altertümliche Stück, eine Erinnerung an ihre Großmutter. Auch wenn die eingestickten Worte „Für Kaiser, Volk und Vaterland“ an weniger friedliche Zeiten erinnerten, war sie doch stolz auf dieses Erbstück.
Das monotone „Umph … Umph … Umph …“ der Bässe von Angelikas Stereoanlage drang zu ihr. Sie empfand es als das, was es wohl auch sein sollte: eine bewusste Provokation.
„Jetzt geht das auch noch los.“
Zu einem Mehr an Reaktion war Maike nicht fähig. Als sei auf einen Schlag jegliche Energie aus ihr gewichen, ließ sie sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen. Die Arme auf dem Tisch aufgestützt, legte sie ihren schwer gewordenen Kopf auf die Fäuste. Sie hatte gehofft, die Pubertät würde für ihre Tochter auf eine für alle Beteiligten barmherzige Weise verlaufen. Aber seit einigen Tagen …!? Maike zog die Nase geräuschvoll hoch.
Wer die 40-Jährige leise schniefend und mit geröteten Augen, in löchrigen Jeans, über denen sie ein altes Poloshirt trug, hörte und sah, vermochte sich kaum vorzustellen, wie ihre Kunden und Kollegen sie erlebten: Maike Berger, die stets perfekte und überkorrekte Pharmareferentin. Man musste in einem Moment wie diesem schon genauer hinsehen, um die verborgene Schönheit zu erkennen. Dann entdeckte man den idealen farblichen Kontrast ihres hellen Teints zu den kurz geschnittenen brünetten Haaren. Sie war stolz darauf, mit ihren fast 1 Meter 70 immer noch problemlos Kleidergröße 34 tragen zu können, was nichts daran änderte, dass ihr auf XXL gewaschenes Poloshirt ihre weiblichen Proportionen nicht verbergen konnte.
Im beruflichen Alltag ging Maike allerdings keine Kompromisse ein. Mühelos und unauffällig umging sie den erzkonservativen Kleidungskodex von Heliopharm, dem Pharmaunternehmen, in dem sie seit sieben Jahren tätig war. Mit ein paar kleinen Kniffen und feschen Accessoires schaffte sie es, der langweiligen, fast schon uniformierten Kluft der typischen Außendienstler eine persönliche Note zu verleihen. Mit dem Resultat, dass viele, die ihr begegneten, es in der Regel nicht bei einem flüchtigen Blick beließen. Sie war das, was man gemeinhin einen Hingucker nennt. Selbst ihre Geschlechtsgenossinnen erkannten das neidlos an. Denn trotz ihrer Attraktivität sahen sie in ihr nicht die potenzielle Nebenbuhlerin. Dafür strahlte sie viel zu ausgeprägte Signale aus, die Männer auf eine natürliche Distanz hielten. Meist trug sie Hosenanzüge und schminkte sich bewusst dezent, wodurch der Typus des weiblichen Kumpels unterstrichen wurde.
Die elegante, beliebte und erfolgreiche Pharmareferentin und die legere und unsichere Maike zu Hause schienen zwei unterschiedliche Frauen zu sein.
Maike atmete mehrmals tief durch, schüttelte den Kopf wie ein Boxer, der einen Schlag verarbeitete, und erhob sich schließlich. Sie wandte sich wieder dem Huhn zu, tranchierte es und zog ihm mit geübten Griffen die Haut ab. Während sie mit bloßen Händen eine Gewürzmischung in das helle Fleisch massierte, hätte sie an seiner Stelle lieber Angelika traktiert. War ich auch so?, fragte sie sich. Niemals! Mein Vater hätte mich auf seine Art schon zur Räson gebracht. Eines der Geflügelstücke erhielt einen heftigen Klaps mit der flachen Messerklinge. Genau so!, erinnerte sie sich an seine rüden Erziehungsmethoden, von denen sie geschworen hatte, sie niemals bei Angelika anzuwenden. Er wusste es halt nicht besser. Heute, mehr als zehn Jahre nach seinem Tod, redete sie sich ein, ihm verziehen zu haben. Der wusste ja nicht einmal, was sich in der Pubertät in einem jungen Menschen abspielt. Ich weiß es wenigstens. Aber muss ich mich deshalb wie ein Putzlappen behandeln lassen? Nur weil ich Verständnis für diese Pubis habe?
Schwungvoll goss sie Olivenöl in eine Kasserolle aus glasiertem Steingut und stellte sie auf die große Ceranplatte, um das Öl zu erhitzen. Sie warf Zwiebelschalen und Hähnchenhaut in den Abfalleimer, der für den Kompostabfall gedacht war. Ihre Gedanken machten sich selbstständig und begaben sich auf ein Terrain, das mit Angelikas Flegelei nichts mehr zu tun hatte. Von Umweltbewusstsein keine Spur, fiel ihr ein. Ihr Zimmer ist eine anarchistische Komposition aus Müllkippe, Altpapiercontainer und Plastikflaschensammlung. Lautlos dozierte sie durch das geschlossene Küchenfenster, als ob sie dort draußen ein Auditorium vor sich hätte. Dabei blickte sie aus dem vierten Stockwerk lediglich auf den menschenleeren Parkplatz vor dem Haus. Den Ausblick auf den Wartberg, an dem sie sich sonst so gerne erfreute, nahm sie in ihrer Empörung nicht wahr. Sie bemerkte nicht einmal die Farbenpracht der Schleierwolken, in denen sich die glutrot untergehende Sonne reflektierte. „Und dann die Wäsche, die kreuz und quer herumliegt. Die würde einer Großwäscherei zur Ehre gereichen und ihr für mehrere Wochen eine beruhigende Auftragslage sichern. Alles blieb liegen, wo sie es hatte fallen lassen. Aber das bringt ja alles nichts. Ich muss mir ihr reden.
Maike drehte sich um und kehrte zurück in die Realität des Coq au Vin. Sie beschloss, zuerst das Huhn anzubraten und dann zu Angelika zu gehen. Während sie die Geflügelstücke gefühlvoll in das heiße Öl legte, nahm sie wieder die laute Musik wahr, die sie kurzzeitig ausgeblendet hatte.
„Diese Beschallung!“, schimpfte sie laut. „Das treibt mich zumW a h n s i n n.Ohne Musik, wenn man das Geumphe überhaupt so nennen kann, geht bei den Pubis nichts. Rein gar nichts. Natürlich in einer Lautstärke, die in einem Radius von einem Kilometer Gehörschäden unvermeidlich machen. Kopfhörer sind ja auch keine Alternative, denn wie sollte man damit telefonieren. Aber ist das vielleicht ein Zeichen der modernen Pubertät und Eltern müssen sich damit abfinden?“
„Pubertät ist, wenn Eltern anfangen, schwierig zu werden. Können wir uns vielleicht auf diese Definition einigen?“
Die süßlich säuselnde Stimme ihrer Tochter drang in Maikes Bewusstsein. Angelika war während der Entlastungskanonade ihrer Mutter unbemerkt in die Küche zurückgekommen. Schweigend wendete sie das Fleisch in der Kasserolle und lächelte. Aus erzieherischen Gründen, wie sie meinte, neutralisierte sie ihre Mimik, bevor sie sich langsam umwandte und sich Angelika gegenübersetzte. Über den Tisch hinweg ergriff sie ihre Hände und sah ihr ins Gesicht. Angelika sah Bernd so ähnlich. Die leicht schräg gestellten Augen, die tiefgrüne Iris, die vollen Lippen, der helle Teint, die blonden Haare. Selbst die trug er inzwischen fast so lang wie Angelika. Alles erinnerte an Bernd. Obwohl sie weiterhin die Scheidung als vernünftig erachtete, schmerzte es immer noch, wenn sie ihn in Angelika sah.
„Mein Schatz, was ist mit dir los in letzter Zeit? Kann ich dir irgendwie helfen, Angie? Du weißt doch, dass ich immer für dich da bin.“
Mein Gott, dachte sie, was für eine phrasenhafte und banale Einleitung für ein Mutter-Tochter-Gespräch. Jede Seifenoper hat bessere Texte. Aber sie wusste nicht, wie sie es hätte besser sagen sollen. Schließlich meinte sie es so – genau so! Umso mehr überraschte sie Angelikas Reaktion.
Mit einer impulsiven Bewegung richtete sie sich auf und entzog ihrer Mutter ihre Hände. Entgegen Maikes Befürchtung verharrte sie nur kurz in dieser abweisenden Stellung und neigte sich ihr dann mit einem Lächeln zu.
„Das weiß ich doch, Mama.“ Sie atmete tief durch. „Ja, es gibt da ein Problem, mit dem ich nicht klarkomme. Aber keine Angst“, sie entschlüsselte Maikes Gesichtsausdruck und kam ihr zuvor, „es geht gar nicht um mich, es geht um …“ Sie zögerte und sah ihre Mutter unsicher an.
„Ist etwas mit deinem Vater? Ist Bernd etwas passiert? Oder heiratet er jetzt doch diese Pilar?“ Sie wusste – und förderte es sogar – dass Angelika einen regen E-Mail-Kontakt mit ihm pflegte.
„Mama …?!“
Mit ungläubigem Blick quittierte Angelika kopfschüttelnd das, was Maikes impulsiver Gefühlsausbruch zu verraten schien. „Sag mal, das war ja eine unüberhörbare Offenbarung deines Unterbewusstseins oder wie darf ich das verstehen?“
„Jetzt sag schon!“
„Nein, Papa geht es gut. Er will demnächst in San Sebastian ein weiteres Büro seiner Wanderschule eröffnen und Pilar soll es führen. Aber von Hochzeit ist keine Rede. Du weißt, dass er immer noch davon träumt, dass du … dass wir … na ja, dass wir zu ihm nach La Gomera ziehen. Er …“
„Ich bin noch nicht reif für die Insel. Er kennt meine Einstellung zu seinem Aussteigerleben. Und du weißt, dass das einer der Gründe für unsere …“ Sie wollte den Satz nicht beenden. Kurzfristig verdüsterte sich ihre Miene, bevor sie in versöhnlichem Tonfall fortfuhr. „Lass es gut sein, Angie. Das ist ja wohl nicht das Thema. Wenn es nicht um deinen Vater geht, um wen oder was geht es dann? Was bereitet dir ein derartiges Kopfzerbrechen, dass du während der letzten Tage ungewohnt unausstehlich und kaum ansprechbar bist?“
„Es geht um Eva.“
„Was ist mit ihr? Habt ihr euch gestritten? Oder geht es um einen Jungen, den ihr beide …?“
„Quatsch! Darum geht es nicht. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, Mama. Sie wirkt seit einiger Zeit so verschlossen. Nicht nur mir gegenüber. Sie hat angeblich keine Zeit mehr, sich mit mir zu treffen. Irgendwie ist sie anders. Etwas stimmt nicht mit ihr.“
„Was meinst du denn damit, dass etwas nicht mit ihr stimmt?“
„Ich weiß es doch auch nicht!“ Angelika kämpfte mit den Tränen. „Sie hat sich verändert und erzählt mir auch nicht mehr alles wie früher. Ich merke aber, dass sie unter Druck steht, wie fremdgesteuert. Sie ist unkonzentriert und in der Schule schlechter geworden. Sie hat zu nichts Lust und wirkt blass. Heute war sie noch nicht einmal in der Schule. Kannst du dir vorstellen, was das sein kann? Du hast doch mit so was in deinem Beruf zu tun!“
„Ich bin doch kein Arzt. Aber was sagen ihre Eltern dazu?“
„Mama! Darüber kann ich doch mit denen nicht sprechen. Aber du könntest doch mal …!“
„Könnte was?“
„Na ja, mal mit ihren Eltern reden? So von Elternteil zu Elternteilen?“, grinste sie und versuchte mit dem grammatikalischen Wortspiel ihre momentane Unsicherheit zu überspielen.
Maike schürzte die Lippen und blickte sie mit leicht schräg gehaltenem Kopf an. Ihre Augen verengten sich. „Wohl kaum. Auch wenn wir uns schon ein paarmal begegnet sind, so kenne ich sie nicht gut genug, um mit ihnen über deine Vermutung zu sprechen. Dazu ist das alles viel zu vage. Außerdem – du weißt, dass es mir schwerfällt, mich hinter diplomatischen Phrasen zu verstecken und zu verbiegen.“
„Mama, bitte! Spring doch mal über deinen Schatten. Deine Konsequenz ist manchmal zum Kotzen. Damit hast du auch Papa …“
Es hätte gar nicht erst des drohenden Blickes bedurft, um Angelika daran zu hindern, ihren Satz zu vollenden. Sie wollte keinen Streit. Nicht wieder über ihre ganz persönliche Version einer „unendlichen Geschichte“.
„Vielleicht hat sie ja einen Freund?“, rätselte Maike, mehr, um das Gespräch aus einem gefährlichen Fahrwasser zu lotsen, als auf der Suche nach einer Lösungsalternative.
„Dann muss sie sich aber doch nicht so abschotten.“
„Weiß mans? Vielleicht ist er wesentlich älter als sie? Ich stelle mir da so einen Typ vor wie James Mason als Humbert Humbert in Lolita. Oder er ist verheiratet? Oder einer eurer Lehrer? Weißt du denn, ob sie schon ihre ersten sexuellen Erfahrungen hatte?“
„Oder er ist viel jünger, so zwölf, dreizehn“, überging Angelika die Intimfrage. „Oder er hat ‘ne Glatze und ist ein militanter Rohköstler. Oder noch besser: Er ist Volksmusikfan und liebt Heino und Florian Silbereisen. Hast du noch ein paar Freaks auf dem Schirm? Nein, weiß ich nicht!“
„Wie sieht es damit eigentlich bei dir aus?“
„Mama, es geht jetzt um Eva. Aber, um dich zu beruhigen. Nein. Von dem ersten und bisher einzigen Mal mit Gero im Zeltlager vor zwei Jahren habe ich heute noch die Nase voll. Der Richtige muss erst noch kommen. Beruhigt?“
„Klar. Denk aber dran …“
„… zu verhüten. Ich bin doch kein Baby mehr. Und wenn ich wieder einen festen Freund habe, stelle ich ihn dir sowieso vor.“
„So konventionell? So kenne ich dich gar nicht!“
„Nein, als Test. Wer das erste und vielleicht einzige Zusammentreffen mit dir übersteht, ohne schreiend davonzulaufen, muss ein gefestigtes Gemüt, einen grenzenlosen Humor und die unerschütterliche Hoffnung in eine bessere Zukunft haben.“ Sie musste laut lachen bei der Vorstellung, wie ein normaler junger Mann auf ihre Mutter reagieren würde, wenn sie gut drauf war.
„Und so ein Exemplar wünschst du dir? Von dieser Kombination, vereinigt in einem einzigen Individuum, träumst du wohl nachts – oder? Das wäre nämlich der sprichwörtliche Traummann. Da kannst du lange suchen.“
„Du hattest ja mal so einen gehabt“, sagte Angelika leise. „Er wartet immer noch auf dich, auf La Gomera.“
„Und täglich grüßt das Murmeltier. Wir reden demnächst noch mal darüber. Du sollst endlich die ganze Geschichte erfahren – versprochen. Nur jetzt bitte nicht.“
Angelika schüttelte den Kopf und betrachtete ihre Mutter kritisch. Sie konnte ihre zögerliche Haltung nicht verstehen.
„Angie, ich habe dich unendlich lieb. Und ich bin froh, dass es dich gibt. Und ich bin glücklich darüber, dass so vieles von deinem Vater in dir steckt.“
Angelika versuchte, den Moment zu nutzen. „Mama, sprich du doch mal mit Eva.“
„Ich glaube kaum, dass sie sich gerade mir öffnen wird.“
„Da liegst du falsch. Ich weiß, dass sie mich um unser Verhältnis beneidet und dass sie dich schätzt. Ich rufe sie am besten gleich an. Vielleicht geht sie ja an ihr Handy.“
Angelika wollte nach ihrem Mobiltelefon greifen, das in Reichweite vor ihr auf dem Küchentisch lag.
„Sachte, junge Dame, nicht so hastig!“ Maike stoppte das spontane Vorhaben ihrer Tochter, indem sie das Handy schneller an sich nahm, als diese es fassen konnte.
„Erstens ist das nicht meine Angelegenheit, sondern die ihrer Eltern. Ich möchte auch nicht haben, dass sich jemand in unsere Beziehung einmischt.“
„Aber …“
„Ich bin noch nicht fertig. Nach erstens kommt zumindest ein zweitens. Also, zweitens weiß ich nicht, auf was so ein Gespräch hinauslaufen soll. Wenn sie dir schon nichts erzählt und sich vor ihren Eltern verschließt, was könnte ich da ausrichten? Und falls doch, welche Konsequenzen könnten sich daraus ergeben? Was sollte dabei herauskommen? Hast du da eine Antwort?“
Angelika verzog ihren Mund und schaute sich in der Küche um, als ob sie an Schränken und Wänden eine Antwort ablesen könnte.
„Nein“, kam es schließlich zögernd über ihre Lippen, „habe ich auch nicht. Aber versuchen könntest du es doch wenigstens. Bitte Mama!“
Maike sah Angelika an und schüttelte zur Selbstbestätigung den Kopf, denn es fiel ihr schwer, dem verzweifelten Drängen ihrer Tochter zu widerstehen. Sie schwankte zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Nachgeben und Konsequenz. Auch wenn es oftmals schmerzlich war, so hatte sie das Leben gelehrt, sich meistens verstandesgemäß zu verhalten. Damit war sie bisher immer am besten gefahren. Zumindest redete sie sich das ein. Wäre dem nicht so, hätte sie die schwerste Entscheidung ihres Lebens, die Trennung von Bernd, nicht verkraftet. Auch in diesem Fall war sie der Vernunft gefolgt.
„Bitte verstehe mich. Es ist besser so. Wenn Evas Eltern auf mich zukommen würden und mich bitten, mit ihr zu sprechen, so als Mutter ihrer besten Freundin, dann wäre das etwas anderes. Und außerdem, Angelika, du bist zwar nicht Evas Kindermädchen, aber sie ist deine Freundin. Sprich doch noch einmal mit ihr. Und wenn du sie nur davon überzeugst, sich doch ihren Eltern anzuvertrauen.“
Langsam erhob sich Angelika von ihrem Stuhl. Maike sah ihr nach, wie sie als das sprichwörtliche Häufchen Elend die Küche verließ und in Richtung ihres Zimmers schlich. Allerdings nicht, ohne zuvor mit einer zupackenden Bewegung ihr Handy wieder an sich genommen zu haben. Angelikas Niedergeschlagenheit löste in Maike ein Schuldgefühl aus. Sie war überzeugt davon, dass sie vernünftig gehandelt hatte. Das musste Angelika doch auch einsehen. Maike wartete auf ein erlösendes Zeichen. Ein Türenknallen oder wenigstens wieder laute Musik. Aber es blieb still.
„Das Coq au Vin wird es schon wieder richten“, versicherte sie sich mit Bestimmtheit und erhob sich, um den Riesling anzugießen.
„Mit den Flügeln der Zeit fliegt die Traurigkeit davon“, erinnerte sie sich daran, wie Ihre Mutter sie in ähnlichen Situationen zu trösten versucht hatte. „Das wird schon alles wieder ins Lot kommen.“
Sie schien auch tatsächlich recht zu behalten. Als Angelika einige Minuten später wieder auf der Bildfläche erschien, ging sie auf Maike zu und umarmte sie.
„Ich habe dich auch lieb, Mama. Das weißt du doch. Und jetzt habe ich …“
„… Hunger. Auch das weiß ich.“ Sie schenkte sich ein Glas Riesling ein und prüfte kritisch den restlichen Inhalt der Flasche. „Das reicht noch. Willst du auch ein Glas?“
Während des Essens klammerten sie das Thema Eva aus. Mit einem banalen rhetorischen Trick hatte Maike zudem versucht, Angelika völlig von diesem Thema abzubringen.
„Erzähle mir mal, wie dir der Film gestern gefallen hat. Wie hieß der noch mal, der nach dem Roman von dem …? Der, der die Texte für Ladykracher mit Anke Engelke schreibt. Ich hatte dir doch diesen Roman von ihm geschenkt.“
„Tommy Jaud meinst du, „Resturlaub“. War ganz nett. Aber von wegen Urlaub …“
Die Kunstpause in Verbindung mit einem boshaften Grinsen machte Maike schlagartig klar, dass ihr Ablenkungsmanöver ganz und gar nicht so clever war. Für Angelika war der Filmtitel zu einer Steilvorlage geworden, die sie auch umgehend aufgenommen hatte und nun zu einem Volltreffer verwandelte.
„… du hast doch noch Urlaub. Vom 4. bis 14. Oktober haben wir Herbstferien. Wollen wir da nicht zu Papa …?“
Das Thema Eva war vom Tisch. Stattdessen stand unversehens ein anderes im Raum. Maike wusste, dass es nach sieben Jahren an der Zeit war, Angelika ohne Ausflüchte die Gründe der Trennung von Bernd darzulegen. Aber nicht jetzt … in ein paar Tagen … vielleicht … Jetzt war sie erst einmal müde, was sie auch durch herzhaftes Gähnen unterstrich. Ob ihre Tochter ihr das abnahm, war ihr in diesem Moment völlig gleichgültig.
Sie hatte sich vor dem Zubettgehen mit Angelika dahingehend geeinigt, dass sie ihr zusagte, in den Ferien ihren Vater besuchen zu dürfen. Da er bisher stets die Flugkosten und den Aufenthalt bezahlt hatte, würde das ihre Haushaltskasse nicht belasten. Die Entscheidung, ob auch sie nach La Gomera mitkommen würde, hatte sie offengelassen. Sie lag in dem großen Bett, das sie einmal mit Bernd geteilt hatte. Zwei auf zwei Meter. Da kann man sich schon einmal verirren. Sie atmete tief und rhythmisch durch. Sanft, fast zärtlich, strich sie über das glatt gezogene Laken auf der rechten Seite – Bernds Seite. Erinnerungen wurden wach. Wehmütig, schmerzhaft. Immer noch meinte sie, seinen Geruch wahrzunehmen. Sehnte sie sich nach ihm? Oder glorifizierte sie eine Vergangenheit, von der sie doch wusste, dass diese nicht mehr zurückzuholen war? War es Einsamkeit? Die Sehnsucht nach einer Schulter, an der sie sich anlehnen konnte? Wo sie nicht mehr die starke und toughe Pharmareferentin und Mutter spielen musste? Wo sie endlich einmal wieder Frau sein konnte – einfach eine ganz normale Frau?
Der gequälte Blick auf das beleuchtete Zifferblatt ihres Weckers vermittelte ihr, dass sie schon seit mehr als zwei Stunden vergeblich versuchte einzuschlafen. Eine Flut von Gedanken hinderte sie daran. Die ganze Situation war unbefriedigend, schien irgendwie verfahren. Sie wusste, dass es einzig an ihr gelegen hatte. Obwohl seit der Scheidung bereits sieben Jahre vergangen waren, hatte sie es bisher nicht fertiggebracht, Angelika ihre Beweggründe verständlich zu machen. Anfangs hatte sie sich damit herausgeredet, dass ihre Tochter noch zu jung sei, um sie zu verstehen. Sie wollte auch nicht das Bild, das sie von ihrem Vater hatte, belasten. Mittlerweile wusste Maike jedoch, dass sie selbst nicht in der Lage war, eine rationale und schlüssige Begründung zu finden. Einerseits war sie sich dessen bewusst, dass die Trennung sein musste. Andererseits konnte sie nicht mehr nachvollziehen, weshalb sie irgendwann die Versuche aufgegeben hatte, ihre Ehe zu retten. Klar, da war diese Geschichte, die sie zumindest nicht verzeihen konnte. Andere an ihrer Stelle hätten das lockerer gesehen. Ihre Gedanken schlugen Kapriolen. Eben noch bei ihrer gescheiterten Ehe, landete sie plötzlich bei Angelika und dem Rätsel um Eva. Eva! Was ging sie, Maike, dieses Mädchen an? Das war doch eindeutig „P. a. L.“, wie sie zu sagen pflegte: Probleme anderer Leute. Oder etwa doch nicht? Diese Ungewissheit, ihre Antriebslosigkeit, ihr Mangel an Entschlussfreude. Was war das mit ihr? Ein Anflug von Depressionen? Erste Vorboten der Wechseljahre? Mit 40? Weshalb nicht. Auch die beängstigende, bewusste Wahrnehmung ihres Herzschlages zuvor sprach dafür. Vielleicht hätte sie zwei, drei Kapseln Sedariston nehmen sollen. Auch wenn die nicht aus dem Hause Heliopharm kamen, sie schwor auf dieses pflanzliche Beruhigungsmittel. Oder handelte es sich etwa um ein pathologisches Problem? Sollte sie ein Szintigramm ihrer Schilddrüse veranlassen? Eine Überfunktion zeigt sich doch auch durch solche Symptome. Oder war es etwas Psychisches? Sie musste unbedingt Herbert Commenius anrufen und mit ihm darüber reden. Er würde sie ernst nehmen, vielleicht sogar eine einleuchtende Antwort haben. Mit diesem hoffnungsvollen Gedanken an den langjährigen väterlichen Freund und Psychologen schlief sie endlich ein.
Kurz nach neun Uhr wachte Maike auf. War es der Kaffeeduft oder das Geschirrklappern, das aus der Küche zu ihr drang? Sie wusste nicht, was sie aus ihrem unruhigen Schlaf in die Wirklichkeit des Sonntagvormittags geholt hatte. Sie atmete tief durch, reckte sich, gähnte herzhaft und sprang dann mit einem Satz aus dem Bett. Wenn sie morgens nicht sofort nach dem Erwachen aufstand, benötigte sie quälende Stunden, um auf Touren zu kommen. Sie öffnete die Vorhänge und schloss reflexartig die Augen, als sie der blendenden Morgensonne ungehindert Einlass gewährte. Sie warf ihren Morgenmantel über und ließ sich von der magischen Anziehungskraft des Kaffeeduftes, der inzwischen von dem Geruch frisch gebackener Brötchen verstärkt wurde, in die Küche locken.
Angelika drückte ihr wortlos einen Pott Kaffee in die Hand. Sie hatte den Tisch gedeckt und kaute bereits an einem Honigbrötchen.
„Du bist ja schon in voller Montur“, staunte Maike und schob dann ein „Danke für den Kaffee und …“, mit einer raumgreifenden Geste schloss sie das üppige Frühstücksarrangement mit ein.
„Aber da nicht für“, kaute Angelika. Diese Formulierung hatte sie aus einem Ferienaufenthalt in einem Jugendcamp an der Nordsee mitgebracht.
„Fährst du mich dann so in einer halben Stunde?“
Maike sah sie irritiert an. „Fahre ich dich? Wohin?“
„Mama, du nervst. Ich hatte dir doch gestern gesagt, dass ich mich mit ein paar aus meiner Klasse in der Rheinwelle zum Schwimmen verabredet habe. Und dass du mich bitte zum Bahnhof fährst. Weißt du es jetzt wieder?“
„Wenn du‘s sagst, wird es wohl so sein. Und wie kommst du wieder zurück?“
„Ich rufe dich an, wenn ich wieder in Alzey bin. Irgendwann heute Nachmittag.“
„Und dass ich vielleicht etwas vorhabe, das kommt dir wohl nicht in den Sinn?“
„Du und was vorhaben?“ Das gespielte Entsetzen in Angelikas Modulation löste in Maike ein Gefühl der Hilflosigkeit aus. „Hast du?“
„Nö. Ich meine ja nur. Vielleicht ergibt sich etwas spontan. Ich frage auch nur aus Prinzip. Obwohl … irgendwie habe ich ja auch noch ein Eigenleben – oder?“
Angelika reagiert nicht auf Maikes Versuch, sie mit ihrer Befindlichkeit zu konfrontieren. Stattdessen gab sie vor, etwas zu suchen, und kramte in ihrem Rucksack.
„Ist denn Eva auch mit dabei?“
Angelika tauchte wieder aus den Tiefen ihres Rucksacks auf. „Nein. Ich habe sie auch gar nicht erst gefragt. Jetzt soll sie mal auf mich zukommen. Ich finde außerdem, dass du recht hast.“
„Ich recht? Das ist ja ganz was Neues. Womit denn?“
„Dass ich nicht Evas Kindermädchen bin.“
Maike legte den Umschlag mit der Geburtstagskarte auf den Couchtisch im Wohnzimmer, bevor sie in ihrem Schlafzimmer nebenan die Arbeitskleidung gegen einen bequemen Jogginganzug tauschte. Mit Wohlgefühl strich sie über den flauschigen Stoff. Sie liebte dieses Ritual, was ihr gleichermaßen Freizeit und Freiheit suggerierte. Jetzt noch einen Campari-Orange und dann wollte sie sich an den Text der Geburtstagskarte machen. Sie war schon gespannt auf Angelikas Gesicht, wenn sie den Gutschein darin entdeckte: ein Fahrschulkurs für die Fahrerlaubnis der Klasse B. Anfänglich mit Begleitung und in einem Jahr, wenn sie sich keine Eskapaden erlauben würde, bekäme sie den „richtigen“ Führerschein. Mit diesem Geschenk würde Angelika nicht rechnen. Sie hatte es zwar gelegentlich angesprochen, aber Maike hatte so überzeugend dagegen argumentiert, dass sie es schließlich aufgegeben hatte.
Sie stellte sich vor, wie Angelika ungläubig fragen würde, ob das begleitete Fahren auch wirklich in Maikes Auto stattfände. Und ihre Antwort würde lauten: „Klar doch. Solange du es nicht als Rennauto missverstehst, sondern damit normal und vernünftig fährst, kann man auch in einem Spider das Fahren lernen.“
Ja, so oder so ähnlich würde sie sich als coole Mutter präsentieren. Aber wo blieb Angelika nur? Sie hätte eigentlich schon längst zu Hause sein müssen. Doch dann erinnerte sich Maike, dass sie noch bei Eva vorbeischauen wollte, die seit mehreren Tagen nicht in der Schule gewesen war und auch ihre Anrufe auf dem Handy nicht entgegennahm. Sie hatte noch nicht einmal auf ihre Kurznachrichten geantwortet. „Ich muss etwas unternehmen, endlich wissen, was mit Eva los ist!“, hatte Angelika erklärt.
Maike lehnte sich zufrieden in der Polstergruppe im Wohnzimmer zurück und blickte um sich. Immer wieder erfüllte sie der Anblick ihrer Wohnung mit einer Mischung aus Stolz und Freude. Unmittelbar nach der Trennung von Bernd war sie mit Angelika hier eingezogen. In dem obersten Stockwerk eines viergeschossigen Wohnhauses aus den 60er-Jahren hatte sie eine gerade sanierte Dreizimmerwohnung gemietet. Sie sah aus dem Panoramafenster, das die Hälfte der Außenwand einnahm. Schwere graue Wolken hatten sich über Alzey aufgetürmt. Erstes Wetterleuchten war von dort zu sehen, wo man den Rheingau erahnen konnte. Die Schwüle des Spätsommertages würde wohl bald durch ein Gewitter vertrieben werden.
Maike hatte sich bereits ihren zweiten Drink genehmigt, da hörte sie endlich, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Schnell ließ sie die inzwischen beschriebene Geburtstagskarte hinter einem der Sofakissen verschwinden und schaute erwartungsvoll zum Flur, um Angelika wie gewohnt mit einem Kuss zu begrüßen. Dem lauten Knall der zugeschmetterten Wohnungstür folgte ein zweiter, etwas dumpferer, der anzeigte, dass nun auch die Schultasche für den Aggressionsabbau hatte herhalten müssen.
„So ein laptopkompatibler Dakine Schulrucksack für fast 100 Euro muss das aushalten können“, murmelte Maike. „Hallo, junge Dame“, rief sie dann jedoch fröhlich, „was hat dir denn die Petersilie verhagelt?“
Mit zornigem Blick und geröteten Augen stand Angelika in der Tür wie ein Racheengel.
„Ich hasse dich!“, schleuderte sie ihr ohne Vorwarnung entgegen. Sie zitterte vor Erregung. „Eva ist seit zwei Tagen spurlos verschwunden und du bist mit schuld daran! Keiner hat sich um sie gekümmert. Hätte ich sie am Sonntag doch besser angerufen, um zu fragen, ob sie mitgeht zum Schwimmen. Ihren Eltern geht es nur um die Kanzlei und dir …, dir geht es ja nur um die Kohle, um deinen Umsatz bei deiner beschissenen Heliopharm und um deine Prämien. Da war bei Eva ja nichts zu holen.“ Die letzten Worte erstarben in heftigem Schluchzen. Maike war geschockt und wie paralysiert. Dann aber erhob sie sich und ging auf Angelika zu. Sie wollte sie in den Arm nehmen, ihr über den Rücken streichen, sie beruhigen. Und schließlich wollte sie wissen, was passiert war.
„Lass mich bloß in Ruhe!“ Mit einem heftigen Stoß, der Maike zurücktaumeln ließ, wehrte Angelika die Annäherung ab. „Du weißt ja gar nicht, was bei Eva abgeht.“
„Weißt du es denn? Hast du einen konkreten Hinweis, der sich nicht mit Gefühlen, sondern mit Vernunft erklären lässt?“
„Ich? Nein. Wieso? Du immer mit deiner Scheißvernunft und deinen verdammten Prinzipien machst du doch alles kaputt. Du musst dich nicht wundern, dass du einsam bist. Erst hast du Papa aus dem Haus getrieben und jetzt das mit Eva. Ich hasse dich! Ich gehe weg. Ich ziehe zu Papa! Er hat schon recht, wenn er von dir sagt, dass du Dämme baust, wo eigentlich eine Brücke notwendig wäre. Klingt gut – oder?“
Sie drehte sich um und rannte in ihr Zimmer. Maike hörte fassungslos, wie die Tür zugeschmettert wurde. Einem ersten Impuls folgend wollte sie Angelika hinterhergehen, sie zu einer Aussprache bewegen. Sie kannte solche Szenen, wo einer sich dem anderen entzog. Und sie verabscheute es, wenn man sie ohne die Möglichkeit zur Rechtfertigung mit der übergekübelten Schuld sitzen ließ. Maike hatte kein Problem damit, in die Konfliktarena zu steigen. Sie wusste, dass Meinungsverschiedenheiten zum normalen Zusammenleben gehören. Als sie jedoch hörte, wie ihre Tochter die Zimmertür auch noch verschloss, verharrte sie in ihrem Sessel. Den Kopf zurückgelehnt, fuhr sie sich mit beiden Händen über das Gesicht. Wie oft hatte Bernd sie in den kritischen Situationen, als sie anfänglich noch verzweifelt um ihre Ehe kämpfte, so zurückgelassen. Schmählich im Stich und alleine gelassen. „Das Schweigen der Männer“, hatte sie es genannt. Bis heute hatte sie eines nicht verstanden: Warum können Männer in der Öffentlichkeit, an den Arbeitsplätzen, in Talk- und Politshows den Mund nicht halten und in den eigenen vier Wänden bekommen sie die Zähne nicht auseinander? Angelika schien da einiges von ihrem Vater abbekommen zu haben. Was hatte Angelika ihr eben entgegengeschleudert? „Du mit deiner Scheißvernunft und deinen verdammten Prinzipien! Erst treibst du Papa aus dem Haus und jetzt hast du Eva auf dem Gewissen.“ Und dann der Spruch mit den Dämmen statt der Brücke.
Selbstverständlich musste sie verstandesgemäß handeln. Das erforderte nicht nur ihr Job. Schließlich gehörte sie als berufstätige, alleinerziehende Mutter zu einer mobbinganfälligen Randgruppe, die immer noch mit Vorurteilen zu kämpfen hatte. Und Bernd? Sie hatte ihn weiß Gott nicht aus dem Haus getrieben! Und um zu überleben, sind halt manchmal auch Dämme notwendig. Was soll eine Brücke, wenn man gar nicht auf die andere Seite will?!
Die verzweifelte Stimme ihrer Tochter riss sie aus ihren Gedanken. „Mama, da muss man doch etwas tun. Aber was?“
Angelika stand neben ihr. Maike blickte zu ihr auf und lächelte sie an.
„Schön, dass du dich wieder etwas beruhigt hast. Jetzt setz dich bitte und erzähle mir, was vorgefallen ist. Aus deinen Vorwürfen kann ich mir leider kein Bild machen.“
„Sorry. Ich weiß, es war ungerecht. Du kannst ja gar nichts dafür, aber …“
„Du warst bei ihr zu Hause?“, beschritt Maike den Weg zu einer sachlichen Ebene, indem sie ihre Tochter bewusst unterbrach.
„Ja. Ihre Mutter war da. Als ich nach Eva fragte, bat sie mich ins Haus. Sie weinte und erzählte mir dann, dass Eva seit Dienstag spurlos verschwunden ist. Nach dem Klavierunterricht ist sie nicht mehr nach Hause gekommen. Sie haben keine Ahnung, wo sie sein kann. Eva hat nichts hinterlassen. Keinen Brief, keine Notiz. Die Letzte, die sie gesehen hat, war Frau Bellmann. Und die kann sich auch keinen Reim auf Evas Verschwinden machen. Sie sagte, dass Eva ganz normal war und wie immer um 18 Uhr die Klavierstunde verlassen hat.“
„Hat sie denn irgendetwas mitgenommen? Kleider? Andere persönliche Gegenstände? Irgendein Gepäckstück?“
„Das habe ich ihre Mutter auch gefragt. Sie sagt: Nein. Nur das, was sie an Kleidung trug. Und dann noch ihre Mappe mit den Klaviernoten, ihre Geldbörse und ihr Handy. Naja – und natürlich ihre Rex, also ihren Mofaroller, und ihren Helm.“
„Ja, und die Polizei? Was unternimmt die?“
„Die unternehmen nichts. Eva ist doch seit letztem Monat 18.“
„Was heißt, die macht nichts!? Wie denn das?“
„Ja halt, weil sie volljährig ist. Frau Hinze hat mir das erklärt. Ich hoffe, dass ich sie richtig verstanden habe. Die haben wohl eine Vermisstenmeldung aufgenommen, aber sonst unternehmen die derzeit nichts, solange es keine Anzeichen für ein Verbrechen gibt oder dafür, dass Eva sich in Gefahr befindet. Sie ist nicht krank und offenbar auch nicht selbstmordgefährdet. Daher geht die Polizei davon aus, dass sie aus freien Stücken nicht mehr nach Hause kam.“
„Irgendwie passt das ja mit unserer Mutmaßung zusammen, dass sie jemanden kennengelernt hat.“
„Das war nicht unsere Mutmaßung, Mama, sondern deine.“
„Aber es könnte tatsächlich zutreffen. Vor allem, nachdem sie sich schon seit einiger Zeit so komisch benommen hat, wie du sagst. Hast du ihrer Mutter darüber etwas erzählt?“
Angelika zuckte resigniert mit den Schultern. „Hätte ich das tun sollen? Ich hatte zwar daran gedacht, war mir aber total unsicher. “
„Was unternehmen denn ihre Eltern nun?“
„Das weiß ich nicht genau. Sie rufen halt Gott und die Welt an. Und dann überlegen sie, eine Detektei einzuschalten. Meinst du, dass das was bringt? Mama? Hörst du mir überhaupt zu?“
Maike reagierte nur verzögert. „Ich überlege gerade.“ Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf die Platte des Couchtisches, der sich zwischen ihr und Angelika befand. „Eva ist doch seit Dienstag verschwunden. Und ihre Eltern haben, außer, dass sie bei der Polizei waren, eine telefonische Suchaktion gestartet. Das habe ich doch richtig verstanden?“
Angelika nickte. „Worauf willst du hinaus?“
„Weshalb haben sie dich nicht angerufen? Sie wissen doch, dass ihr befreundet seid. Sie hätte sich doch zum Beispiel bei uns aufhalten können.“
„Vielleicht haben sie in ihrer Aufregung einfach nicht daran gedacht. Aber was machen wir jetzt?“
„Nichts. Wir können da überhaupt nichts machen. Ich weiß nur, was ich alles in Bewegung setzen würde, wenn du … Ach, ich will gar nicht daran denken.“ Maike war um den Tisch herum gegangen, hatte sich neben Angelika gesetzt und sie umarmt. „Du machst aber niemals so einen Quatsch. Weglaufen, ohne etwas zu sagen. Versprich mir das – bitte!“
„Mama, ich bin nicht Eva! Du musst halt immer nur schön lieb zu mir sein und machen, was ich will“, feixte Angelika anzüglich, „dann habe ich auch keinen Grund dazu.“
„Meinst du denn, bei Eva gab es einen Grund?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich kann es mir nicht vorstellen. Sie hatte doch alles, was sie brauchte. Ihr Vater hat sie vergöttert und ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Na ja, als Anwalt sollte der ja Kohle genug haben.“
Maike sah sie skeptisch an. „Für mich gibt es momentan drei Alternativen. Die erste: Es hat etwas mit einer Person außerhalb ihrer Familie zu tun – sprich: Ein männliches Wesen ist im Spiel. Die zweite: Der Schein der heilen Familie trügt.“
„Meinst du so etwas wie ein dunkles Geheimnis?“
„Ich fantasiere halt einmal. Ist ja auch nur ein Gedankenspiel.“
„Bei dem Hitchcock die Regie führt. Sorry, ich wollte dich nicht bei deinen Überlegungen unterbrechen. Du denkst noch an eine weitere Möglichkeit?“
„Ja“, Maike stockte, schüttelte unwillig den Kopf, „es könnte sich natürlich auch um ein Verbrechen handeln.“
Grüner Montag bei Heliopharm in Worms. An diesem Tag versammelten sich einmal in der Woche, wie man ihn wegen des grünen Firmenlogos nannte, die Außendienstmitarbeiter im Unternehmen. Durch Planungen, Besprechungen und Schulungen versprach man sich Synergieeffekte und eine Verbesserung der internen Kommunikation.
Die Heliopharm hatte ihren Sitz in Worms. Die Lage direkt zwischen der B9 und dem Rhein war ebenso verkehrsgünstig wie attraktiv. Maike war seit sieben Jahren für das Unternehmen tätig. Bei Ärzten in Praxen und Kliniken im gesamten rheinhessischen Raum hatte sie sich im Laufe der Jahre zu fast so etwas wie einer Institution entwickelt. Alleine schon ihre Ausbildung als PTA, pharmazeutisch-technische Assistentin, und ihre mehrjährige berufliche Erfahrung in der Apotheke von Bernds Eltern, hatten sie zu einer kompetenten Ansprechpartnerin werden lassen. Gerade beim Einsatz neuer Medikamente, die naturgemäß einen erheblichen Erklärungsbedarf hatten, zeigte sich ihre Stärke. Auf Augenhöhe verstand sie es eindrucksvoll, mit ihren Kunden zu fachsimpeln. Und mit der ihr eigenen Symbiose aus Sachlichkeit und Empathie wusste sie zu überzeugen. Lange und nervende Wartezeiten, bevor sie zu den Göttinnen und Göttern in Weiß vorgelassen wurde, kannte sie nicht. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Konkurrenten. Das war umso bemerkenswerter, als die Unternehmensphilosophie der Heliopharm ihre ganz spezielle Problematik mit sich brachte. Trotz immer wieder aufflackernder Diskussionen mit dem Außendienst fühlte sich die Geschäftsleitung dem Vermächtnis des verstorbenen Firmengründers verpflichtet. „Heliopharm“, so lautete sein Wahlspruch, „zeichnet sich durch verantwortungsvolle und sanfte Forschung, Produktion und Verkauf von Arzneimitteln aus, die in ethischer Übereinstimmung mit der Natur und ihren Geschöpfen stehen. Die Gewährleistung dieses Prinzips steht über der Maximierung von Gewinnen.“
Ärzte von der Verschreibung überteuerter Arzneimittel zu „überzeugen“, im Austausch von kostenlosen Schiffsreisen oder gut dotierten Studien, das konnte jeder. Maike war, ebenso wie die meisten ihrer Kollegen bei Heliopharm, stolz darauf, in der Branche als Exot milde belächelt zu werden. Sie fühlten sich als Delfine in dem Haifischbecken der Pharmakonkurrenz wohl. Vor allem Maike konnte sich aufgrund ihrer persönlichen Einstellung damit identifizieren. Und nachdem es der Marketingabteilung gelungen war, genau dieses Bild in der Öffentlichkeit werbewirksam herauszustellen, waren auch wieder höhere Umsätze zu verzeichnen.
Gemeinsam mit einer Kollegin teilte sich Maike ein kleines Büro mit Blick auf den Rhein, der allerdings getrübt wurde durch das gespenstische Panorama auf der rechtsrheinischen Seite: die Kühltürme und Reaktorgebäude des Kernkraftwerkes Biblis. Diesen Anblick hatte sie stets als massive Bedrohung empfunden. Vor zwei Wochen jedoch hatte die Bundesnetzagentur bekannt gegeben, dass das Kraftwerk nicht mehr angefahren werde und auch nicht als „Kaltreserve“ zu Verfügung stehen sollte. Die Erleichterung und Freude darüber hatte angehalten und beflügelte sie bei ihrer Schreibtischarbeit, die ihr, wie wohl den meisten „Vertrieblern“, so lieb war wie ein Pickel auf der Nase. Seit neun Uhr brachte sie ihren Wochenbericht in eine ordentliche Form und markierte die wesentlichen Punkte für das nachfolgende „Salesmeeting“. Dabei ging es vornehmlich um neue Kontakte, wissenswerte Informationen, die sie bei ihren Kundenbesuchen aufgeschnappt und noch im Auto vor der Fahrt zum nächsten Termin dokumentiert hatte. Obwohl sie äußerst konzentriert arbeitete, empfand sie die Unterbrechung durch das Telefon eher als Abwechslung denn als Störung. Entsprechend flapsig meldete sie sich: „Maike bei der Arbeit. Wer stört?“
„Genauso hatte ich es mir vorgestellt. Wenn schon die Mutter die elementarsten Grundsätze der Höflichkeit vermissen lässt, braucht man sich bei der Tochter nicht zu wundern.“
„Entschuldigung“, sie musste sich räuspern, „ich dachte, das sei ein internes Gespräch. Mein Name ist Berger. Aber das scheinen Sie ja bereits erahnt zu haben.“ Sie hatte sich wieder gefangen. Ihr zuvor noch verzagter Tonfall wurde plötzlich energisch. „Ich kann allerdings leider nicht erraten, mit wem ich das Vergnügen habe!“
„Breuner. Kriminalhauptkommissar Alfred Breuner von der Polizeiinspektion Alzey.“
Siedend heiß durchfuhr es Maike. „Um Gottes willen! Ist etwas mit meiner Tochter? Mit Angelika?“
„Wie man es nimmt. Passiert ist nichts. Da kann ich Sie schon mal beruhigen. Aber ich befürchte, sie ist drauf und dran, sich und damit auch Sie in Schwierigkeiten zu bringen.“
„Herr Beuner, erklären Sie …“
„Breuner bitte“, unterbrach er sie. „Berta, Richard, Emil, Ullrich, Nordpol, Emil, Richard – Breuner.“
„Was hat sie denn gemacht?“
„Sie kam in mein Büro gestürmt und hat mich, ja wie soll ich es sagen, lautstark zusammengefaltet. Obwohl, angeschissen wäre der bessere Ausdruck, wenn Sie gestatten.“
„Was haben Sie denn gemacht, Herr Breuner?“
„Ich? Was soll ich denn gemacht haben? Nichts. Ich kannte Ihre Tochter zuvor ja gar nicht. Sie hat mich mit einem Wortschwall ohne Punkt und Komma angemault, weil ich angeblich nichts für die Suche nach ihrer Freundin Eva unternommen hätte. Und das in einer Lautstärke, dass man es bis in die Nebenzimmer hören konnte.“
Maike atmete erleichtert auf und konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. Sie war froh, dass sich Bildtelefone noch nicht als gängige Kommunikationsmittel verbreitet hatten.
„Ja, haben Sie denn etwas unternommen?“
„Kann ich doch nicht! Es gibt schließlich Vorschriften, an die ich mich zu halten habe.“ Sein Tonfall kippte kurzfristig um ins Larmoyante, bevor er gefestigt fortfuhr. „Ich habe es bereits Herrn und Frau Hinze erklärt. Nun auch noch Ihrer Tochter. Obwohl das bei ihr nichts fruchtete. Die will es einfach nicht kapieren.“
„Akzeptieren, Herr Breuner, nicht kapieren. Das ist ein eklatanter Unterschied.“
„Meinetwegen“, blaffte er. „Ich bin doch nicht dazu da, jedem, der hier hereinstürmt, Rechenschaft darüber abzulegen, wie ich meinen Job zu machen habe! Ach, und übrigens: Richten Sie Ihrer Tochter doch bitte aus, dass meine Mundartkenntnisse noch so weit ausreichen, um zu wissen, was ein Dilldapp ist.“