3,99 €
Eine neue Welt ist entstanden. Aus Aberglauben ist Realität geworden. In dieser Welt wehrt sich die junge Jennifer Mazdan dagegen, dass ihr Leben von einer geheimnisvollen Kraft beherrscht wird. Dieser Kraft gibt sie die Schuld daran, dass ihr Mann Mike plötzlich ihre Ehe annullieren ließ.
Jennifers Leben wird zu einem Chaos, als sie sich gegen die Ordnung der Welt, in der sie lebt, auflehnt …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Rachel Pollack
Parallelwelten
- Unstillbares Feuer -
Fantasy-Roman
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © Steve Meyer, nach Motiven, 2023
Übersetzung: Lore Straßl
Original-Titel: Unquenchable Fire
Korrektorat: Mina Dörge und Bärenklau Exklusiv
Published by arrangement with Christopher Priest, Literary Agent
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Parallelwelten
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
Die nichtexistierende Ehe
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
Über die Autorin Rachel Pollack
Eine neue Welt ist entstanden. Aus Aberglauben ist Realität geworden. In dieser Welt wehrt sich die junge Jennifer Mazdan dagegen, dass ihr Leben von einer geheimnisvollen Kraft beherrscht wird. Dieser Kraft gibt sie die Schuld daran, dass ihr Mann Mike plötzlich ihre Ehe annullieren ließ.
Jennifers Leben wird zu einem Chaos, als sie sich gegen die Ordnung der Welt, in der sie lebt, auflehnt …
Dieser Roman, der im Original »Unquenchable Fire« heißt, wurde mit dem Arthur C. Clarke Award ausgezeichnet.
***
- Unstillbares Feuer -
Widmung
Dieses Buch ist Edith Katz gewidmet, mit herzlichem Dank für ihr Vertrauen, ihre Hilfe und alles andere.
Dank schulde ich auch den vielen, die mir beim Schreiben dieses Romans geholfen haben – die meisten, ohne es zu ahnen –, vor allem aber Ingrid Toth, die zuhörte und glaubte.
Poughkeepsie, die Stadt New York, Wappinger’s Falls etc. sind reale Orte, und einige der in diesem Buch erwähnten Bauten und Straßen haben ihr Gegenstück in der wirklichen Welt. Aber ich möchte betonen, dass dies ein Roman ist und nichts, was darin über diese Lokalitäten geschrieben ist, der Wirklichkeit entspricht. Die in der Handlung vorkommenden Personen haben keine Pendants in der wirklichen Welt. Jegliche Ähnlichkeiten mit echten Personen oder Ereignissen wären Zufall.
Und unterwegs erzählte ich eine Geschichte von solcher Eindringlichkeit, dass alle, die sie vernahmen, Reue verspürten.
Rabbi Nachman von Bratislava
Gottes Werke sind groß. Das Größte jedoch sind nicht seine göttlichen Zeichen am Himmel … Gott schenkte Far-li-mas die Gabe, Geschichten auf eine Weise zu erzählen, die unübertroffen blieb.
Zitat eines sudanesischen Kameltreibers, nacherzählt von Leo Frobenius und von Joseph Campbell zitiert.
***
Wir gedenken der Gründer
Am Nachmittag des Tages der Wahrheit, siebenundachtzig Jahre nach der Revolution, schlief Jennifer Mazdan, Wärterin beim Mitthudson-Elektrizitätswerk, unerwartet ein und hatte einen ungewöhnlichen Traum, desgleichen nirgendwo katalogisiert war. Jennifer hatte nicht vorgehabt, an diesem Nachmittag zu schlafen. Sie war ein unbescholtener Single, der in einer Wabe wohnte, südlich von Poughkeepsie, gute hundert Kilometer nördlich von New York City; sie hatte beabsichtigt, den Vortrag zu besuchen und ihren Platz bei ihren Nachbarn einzunehmen. Dort wollte sie Allan Lichtsturm zuhören, dem großen Bildererzähler, der eines der Urbilder vortragen würde.
Wie alle anderen hatte Jennifer schon die ganze Woche in Vorfreude geschwelgt. Es kam schließlich nicht jedes Jahr vor, dass ein Allan Lichtsturm eine Stadt wie Poughkeepsie besuchte. Gewöhnlich blieben die Lebenden Meister in den riesigen Bilderhallen der Großstädte oder reisten zu Hauptvorträgen in die Nationalparks. Eigentlich hatte man erwartet, dass Lichtsturm in diesem Jahr in der Halle ganz aus Quadersteinen und Buntglas an der Fifth Avenue in New York reden würde.
Gewöhnlich musste sich Poughkeepsie am Tag der Wahrheit mit seinen eigenen drei oder vier prominenten Erzählern begnügen. Zu ihnen gehörte Dennis Lilie, der mit großer Leidenschaftlichkeit erzählte, doch häufig zu viel Gewicht auf die Innere Bedeutung legte, dass er die eigentliche Geschichte nur herunterrasselte. Dann war da noch Alice Windfall, die »arme Alice«, wie die Leute sie nannten. Man hatte sie anfangs für sehr vielversprechend gehalten, so wie sie »auf den Schwingen der Geschichte flog«. Alle, die sie an dem Tag hörten, da sie aus dem College zurückgekehrt war, spürten, wie sie bunten Ballons gleich in die Luft schwebten und auf ihre Körper hinunterblickten, die mit vornübergeneigten Schultern und den trüben Mienen ihres Alltagslebens an den Hängen saßen. Doch das glückte Alice bedauerlicherweise kein zweites Mal. Möglicherweise war der Skandal daran schuld, nachdem sich die Seele Martin Magundos, des städtischen Finanzrats, in den Rotoren des Hubschraubers verfing, den deutsche Touristen gemietet hatten, um auf die Versammlung hinunterzuschauen. Obgleich eine amtliche Untersuchung Alice völlig entlastete und Margundos Familie den Prozess gegen Alice und das New Yorker College für Erzähler verlor, erfüllte die arme Alice die ursprünglichen Erwartungen nicht. Jetzt, Jahre später, erhob sie ihre Stimme kaum mehr. Gewiss, sie sprach noch an den Feiertagen, und die Leute besuchten ihre Vorträge in der Hoffnung, die Lebende Welt würde Mitleid mit ihr haben und ihr ihre Kräfte zurückgeben. Tatsächlich nuschelte sie nun häufig, und das Gerücht ging um, dass Alice sich vor einem öffentlichen Auftritt Mut antrank. Hin und wieder ersuchte der Bürgermeister oder der Stadtdirektor das New Yorker College für Erzähler um einen neuen, etwas bedeutenderen Erzähler. Die Antwort war fast immer die gleiche: dass das College den ganzen Staat versorgen und alle Fakten abwägen müsse etc. etc. Wenn ein Bürgermeister sich erkundigte, welche Faktoren ausschlaggebend waren, die begabtesten Erzähler nach New York oder Albany zu schicken, bekam er stets die gleiche Antwort. Ein Nichterzähler, der die Dinge lediglich nach ihrer logischen Äußerlichkeit beurteilte, der nie ins Herz der Sonne reiste oder neben der Geketteten Mutter am Meeresgrund saß, sei wohl kaum imstande, die Gründe in Frage zu stellen, von der das College bei seiner Entscheidung ausgehe.
Einmal hatte Bob Gobi, gleich nach seinem Wahlsieg als erster nichtrevolutionärer republikanischer Stadtdirektor seit dreißig Jahren, den damaligen Collegedirektor gefragt: »Wann war es das letzte Mal, dass irgendein Erzähler all diese Dinge vollbrachte?« Dann hatte er hinzugefügt: »Die wahren Erzähler starben vor vielen Jahren, das wissen Sie ebenso gut wie ich.«
Der Collegedirektor war hinter seinem Schreibtisch aufgestanden. »Wenn wir uns enthalten, den Geist in seiner puren Form zu offenbaren«, erklärte er Stadtdirektor Gobi, »geschieht es zum Wohlergehen unserer Zuhörer und aus Rücksicht auf ihre Schwächen und Ängste.«
»Ach nein?«, rief Gobi völlig von Sinnen. »Kommen Sie mir nicht damit! Jeder weiß, dass Sie sich enthalten, weil Ihnen gar nichts anderes übrigbleibt. Sie wissen überhaupt nicht mehr, wie es geht! Der letzte echte Erzähler starb vor vierzig Jahren!«
Welche Grenzen die gegenwärtigen Erzähler auch haben mochten, sie waren zu Bob Gobis Pech immer noch zu einfachen Verwünschungen imstande. Am nächsten Abend, als Bob Gobi vor dem Stadtrat über Gesetzesänderungen sprechen wollte und den Mund öffnete, sprang ein Frosch heraus und hüpfte auf Joan Lafers linke Brust und von dort auf den Boden. Alle lachten, doch als Gobi es aufs Neue versuchte und wieder ein Frosch heraushopste, erkannten die Anwesenden, dass es kein Ulk war. Sie wichen vor Gobi zurück und hasteten zur Tür. Gobi versuchte ihnen zuzurufen, doch zu bleiben, da flog eine geflügelte Echse aus seinen Lippen und geradewegs in das Gesicht eines schreienden Stadtrats.
Fünf Tage später suchte Gobi wieder das College der Erzähler an der Madison Avenue auf. Er war den ganzen weiten Weg von seinem Ranchhaus im Süden von Poughkeepsie zu Fuß gegangen und trug nichts weiter als ein schwarzes Hemd, aus dem er die Ärmel gerissen hatte, und ein schmutziges Handtuch vom Wahrheitsbund junger Männer, das er sich um den Unterleib gewickelt hatte. Am Eingang angekommen, kroch er durch die Tür und an den Bildern der Gründer vorbei zum Schreibtisch des Collegedirektors, bei dem er vor einer Woche gewesen war. Der Mann lächelte. »Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte er sich. Gobi blickte ihn nur an. »Kommen Sie«, forderte ihn der Direktor auf. »Nur keine Scheu. Frei heraus mit Ihrem Anliegen.«
Gobi fragte sich, ob der Mann etwa den Fluch von ihm genommen habe. Er öffnete die Lippen – und eine Libelle flog hinaus.
»Sehr lustig«, brummte der Direktor. »Würden Sie mir nun sagen, was Sie möchten?« Weinend bedeutete ihm Gobi mit Gesten, ihm Papier und Stift zu geben. »Nein, nein«, wehrte der Direktor ab. »Keine Formulare. So bürokratisch sind wir nicht, was die Leute auch über uns sagen mögen. Mündlich genügt völlig. Also, sprechen Sie!« Gobi deutete mit dem Daumen auf seine geschlossenen Lippen. Der Direktor tat, als wende er sich wieder seiner Arbeit zu. »Ich habe keine Zeit für Scharaden«, erklärte er. »Wenn Sie mir nicht sagen wollen, weshalb Sie gekommen sind, dann muss ich Sie bitten, mich nicht länger zu belästigen. Ich bin sehr beschäftigt.«
Gobi vergaß aufzustehen und kroch davon. Er nahm den Zug (Pilger benötigten keine Fahrkarten) zum Rand des Küstengeistreservats. Waldhüter erzählten, dass sie ihn in Richtung der entlang dem Verbotenen Strand aufgepflockten Schädel hatten gehen sehen. Viele Jahre später, während ihrer eigenen Pilgerreise zum Strand, um mit den Schädeln zu sprechen, war Valerie Mazdan einem gebeugten alten Mann begegnet, der mit an sich gedrückten Armen inmitten einer Versammlung von Fröschen saß. Sie trat zu ihm und strich die wirre Mähne aus seinem Gesicht. Er blinzelte erstaunt, doch nicht so sehr wegen des Anblicks eines anderen Menschen, sondern wegen dem der Sonne, die so lange hinter seinem Haar verborgen gewesen war, dass er sie schon vage für eine Mär aus seiner Kindheit gehalten hatte. »Wer sind Sie?«, fragte Valerie und kniete sich vor ihn. Der Mann schüttelte den Kopf. »Sagen Sie es mir! Sie brauchen keine Angst zu haben«, versicherte ihm Beherzte Weisheit. »Ich tu Ihnen nichts.«
Plötzlicher Ärger veranlasste den Mann, den Mund zu öffnen.
Ein Schmetterling flatterte hinaus, kreiste einmal um seinen Kopf und verschwand im Sonnenschein. Valerie nickte wie ein Arzt, der Symptome erkennt. Sie berührte seine Lippen. »Sagen Sie mir jetzt, wer Sie sind.« Der Mann versuchte, sich von diesem Quälgeist abzuwenden, doch etwas ließ es nicht zu. Er öffnete den Mund weit, als wolle er einen Ochsenfrosch auf sie speien, doch stattdessen entquoll ihm ein seltsames Krächzen, ein wenig wie das Quaken eines Frosches, wenn er sein Fliegenmahl verdaut. »G… G… Go…«
Valerie berührte seine Schulter. »Sie brauchen bloß ein bisschen Übung«, beruhigte sie ihn. »Es ist lange her.«
»J-ja«, bestätigte der ehemalige Stadtdirektor. Dann rannte er davon, voll Angst, die Frau könnte es sich überlegen und die Verwünschung zurückbringen. Doch Beherzte Weisheit war bereits weitergegangen, um die Schädel ihrer Vorgänger zu suchen. Bob Gobi verließ das Reservat und rannte einem Sheriff vom Sheriffbüro Suffolk in die Arme, der ihn zum Krankenhaus des Inneren Geistes brachte. Gobi blieb den Rest seines Lebens dort und arbeitete in der Abteilung für autistische Kinder. In der Nacht, in der er starb, überschwemmte eine wahre Welle von Fröschen das Krankenhaus, die aus voller Schallblase quakten. Sie verschwanden am folgenden Morgen.
Mit Bob Gobi als warnendem Beispiel vor Augen wagten keine Beamten mehr, erstrangige Bildererzähler zur Erbauung der großen Gemeinschaft der Stadt Poughkeepsie zu fordern, wie ein Leitartikel im Poughkeepsie Journal es formulierte. Das änderte jedoch nichts daran, dass die Seelen der Bürger verkümmerten, die so schwächlichen Stimmen lauschen mussten wie jenen von Alice Windfall oder Dennis Lilie oder den anderen Erzählern, die an den kleineren Vortragstagen bei den verschiedenen Bilderhallen der Stadt sprachen. Deshalb herrschte große Aufregung, als das Mitthudson-College für Erzähler (eine Zweigstelle des New Yorker Colleges) bekanntgab, dass Allan Lichtsturm am Vortragstag sprechen würde. Sein Name sprang einem von den Schlagzeilen entgegen, und die lokale Fernsehstation brachte Sondersendungen über sein Leben, seine Berufung, seine Auslegung der kleineren Bilder, seine Privataudienzen beim Präsidenten und bei ausländischen Staatsoberhäuptern.
Die derzeitige Obrigkeit, der Bürgermeister und der Stadtdirektor, gaben sich der trügerischen Hoffnung hin, dass ein lebhafter Anklang Lichtsturm die Vorteile eines ständigen Wohnsitzes in einer Kleinstadt schmackhaft machen würden. Sie ordneten zur Begrüßung des illustren Gastes an, dass sich Kinder mit Transparenten zu beiden Seiten des langen Pfades zur Kuppel des Vortragsbergs aufstellen sollten. Diese Transparente wurden von Kunstvögeln hochgehalten, die halb genetisch manipuliert und halb Plastik waren – eines von Poughkeepsies zwei Hauptprodukten (das andere war ein dicker gelblicher Sirup, der es ermöglichen sollte, Frischverstorbene für fünf bis zehn Minuten wiederzubeleben). Die Transparente prangten in elektrischen Farben mit der wahren Geschichte von Poughkeepsie und der Lebensgeschichte von Allan Lichtsturm (die noch stärker übertrieben war als die offizielle Biographie). Immer, wenn der Erzähler an einem Transparent vorbeikam, dröhnte eine Stimme aus einem im Boden darunter eingelassenen Lautsprecher. Sie berichtete, in Etappen, wie Poughkeepsies Ureinwohner – vier Meter große Riesen, deren Haut je nach Jahreszeit die Farbe wechselte – die Stadt aus mächtigen Zedern gehauen hatten, die von einem Sturm in Mexiko entwurzelt und ans Ufer des Hudson geschwemmt worden waren. Die Stadt wuchs und gedieh, bis es zu einer dreißigjährigen Dürreperiode kam. Während dieser schrecklichen Zeitspanne schrumpften die Bürger auf siebzig Zentimeter, und der Fluss wimmerte jede Nacht in trauriger Erinnerung an seine ehemalige Größe. Eines Morgens fanden sich alle Bürger zu einer Regenzeremonie im Stadion der High-School ein. Ohne große Hoffnung zogen die Einwohner in einer Prozession rund um das Sportfeld und spritzten Blut auf die Fußballtore. Zur selben Zeit marschierten Poughkeepsies wundersame Zedern, die die endlose Dürre leid waren, zum Steinbruch am Stadtrand und sprangen in die tiefe Kiesgrube. In diesem Augenblick der Verzweiflung, da die Häuser vernichtet wurden und das ewige Wimmern des Flusses die Ohren der Einwohner quälte, landete ein mehrstöckiges UFO auf einer mit Löwenzahn überwucherten Wiese, die in naher Zukunft zum Dutchess-County-Flughafen werden sollte. Die Fremden aus dem Weltraum – die Transparente zeigten sie als leuchtende Föten mit überlangen Fingern und Zehen – lehrten die Menschen nicht nur, wie sich Regensamen aus ganz gewöhnlichen Blumen machen ließ, sondern auch, wie moderne Häuser zu bauen waren und wie man eine Regierung zusammensetzte, einschließlich Schul- und Polizeisystem und einem Metaphysischen Entwicklungs-Amt (kurz MEA). Als es zur Wahren Revolution kam und die Heerscharen der Heiligen den Hudson von New York hochfuhren, stellten sie fest, dass Poughkeepsie eine höhere Evolution hatte als alle Orte in der näheren und weiteren Umgebung.
Der letzte Teil war eine ausgesprochene Lüge. Tatsächlich hatte sich Poughkeepsie – einst das Zuhause einer Gesellschaft alter Art, die sich Internationale Bürokratische Mechanismen oder so ähnlich nannte – länger gegen die Revolution gesträubt als irgendein anderer Teil des Staates New York. Technophile aus so weit entfernten Gegenden wie Cincinnati und Santa Barbara waren nach Poughkeepsie gekommen, um den Widerstand gegen den Schwarzen Morast – wie einer ihrer Sprecher es nannte – zu unterstützen. Von Poughkeepsie aus verteilten sie Flugblätter und Agenten und verkündeten schließlich, dass sie sich mit Loyalisten (wie sie die Rejektionisten in der alten säkularen Regierung nannten) verbündet hatten, die mehrere Geschosse mit atomaren Sprengköpfen in den Stützpunkt der Heiligen schmuggeln würden. Der Jüngste Tag stehe bevor, wenn die Heerscharen der Heiligen und ihre Anhänger nicht ihren Kurs des pseudomystischen Wahnes – das waren die Worte der Technophilen – aufgäben. Tatsächlich, vielleicht aus Verlegenheit über die etwas anrüchige Geschichte der Stadt, wiesen die Transparente auch auf diesen Vorfall hin, doch verlegten sie den Ort der Handlung nach Newburgh auf der anderen Seite des Flusses. Danach zeigten die Transparente, wie Allan Lichtsturm in einem Einbaum den Fluss hochpaddelte und am Wald südlich jener Stadt an Land ging. Dort, behaupteten die Transparente, verwandelte sich der große Mann in eine Dogge und drang in die Festung der Rejektionisten ein. Um seinen Hals trug er als scheinbare Hundemarke ein Metallschild mit den Namen der Gründer.
Vor den Augen einer Gruppe Technophiler (behauptete man) nahm Lichtsturm seine menschliche Gestalt wieder an. Er hielt die Plakette an die Stirn und erzählte das Geheime Bild, eine Geschichte von solcher Macht, dass kein Erzähler seither je gewagt hatte, sie nachzuerzählen. Die Techs warfen sich auf den Boden und bedeckten ihre Köpfe mit Staub. »Wir bitten um Vergebung, Meister«, riefen sie einstimmig, »das wussten wir nicht.« Lichtsturm hieß sie, sich zu erheben, und gab jedem einen Besen. Lichtsturms Namen murmelnd, kehrten sie das Böse aus den Geschossen, und nunmehr gehörte auch Newburgh (Poughkeepsie) der Revolution an. Viele Historiker sahen dieses Ereignis als Wendepunkt des Krieges. Doch Allan Lichtsturm, der erst fünfzig Jahre später geboren wurde, hatte nichts damit zu tun. Allen war bekannt, dass die Entwaffnung Mohandas Quark zu verdanken war, ebenso, dass er die Gestalt eines Foxterriers angenommen hatte, die viel weniger auffällig war als die einer Dogge. Und Lichtsturm wusste, dass alle das wussten. Doch indem sie diese Tat ihm zuschrieben, erwiesen die Bürger ihrem illustren Gast den gebührenden Respekt, wie sie es sahen. Jahre später würde Valerie Mazdan öffentlich ablehnen, »einer leeren Gegenwart mit einer übertriebenen Vergangenheit zu schmeicheln« – das waren ihre Worte. Am Tag von Jennifer Mazdans Traum jedoch hielten die Leute es für völlig richtig, dass die großen Erzähler ihrer Zeit den Ruhm für die Wunder ihrer Vorgänger einheimsten.
Dass gerade dieses Wunder gewählt wurde, war verständlich, denn Lichtsturm hatte peinlich genau die Vortragshaut von Mohandas Quark kopiert. In wallenden Falten bunten Satins schritt Allan Lichtsturm den Hang empor zu seinem Platz, wo er Mohandas Quarks Schwingen um sich legen und eines der Urbilder erzählen würde, wie es sich für den Tag der Wahrheit ziemte.
Selbst wenn man sonst nicht viel mehr über ihn sagen könnte, ließ sich nicht übersehen, dass Lichtsturm ein Meister der Gestik war. Während er den Berg emporschritt, schwang er seine blau-goldene Haut mal so, mal so, dabei schrie er Schmerz und Freude hinaus, und seine Stimme war von einer Art, dass jeder Zuhörer (und das schloss alle Bewohner von Poughkeepsie ein, außer Jennifer Mazdan, die am Fuß eines Energiehüters schlief) glaubte, die Erde müsse sich öffnen, um eine Lichtflut auszustoßen, die alle Ängste und Sorgen davonschwemmte. Später – in der Nacht und am folgenden Tag – setzte eine unendliche Frustration ein, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die erwartete Läuterung ausgeblieben war und dass im Grund genommen nichts hinter Lichtsturms wundersamer Stimme und Gestik steckte und der Vortrag mit einer Pastete ohne Füllung zu vergleichen war. Doch während seines Aufstiegs und Vortrags lauschten sie so voll Erwartung, dass viele vermeinten, ihre Haut würde in die Sonne verdunsten.
Er muss bleiben, sagten sie sich. Warum wäre er überhaupt gekommen, wenn er nicht vorgehabt hätte zu bleiben? Tatsächlich war es jedoch gar nicht Allan Lichtsturms eigene Idee gewesen, nach Poughkeepsie zu kommen, sondern ein Befehl von der Lebenden Welt. Eines Morgens im Juni verließ er sein Haus, das allgemein Palast genannte Gebäude gegenüber der Rückseite der Fifth Avenue Hall. Er spazierte die 51st Street zur Fifth hoch, wo er Valentinos Laden betrat und zwei weiße Hemden mit Perlenknöpfen bestellte. Von dort schlenderte er zu Nat Sherman für eine Kiste seiner Lieblingszigarren. Er wollte sich gerade auf den Heimweg machen, als ihm eine Schar Menschen vor einer Geisthilfebuchhandlung auf der anderen Straßenseite auffiel. Neugierig ging er hinüber.
Ein Mann in purpurnem Jogginganzug hatte eine schwarze Folie auf dem Pflaster ausgebreitet. Die Leute um ihn herum sahen zu, wie er drei Metallkäppchen darauf bewegte. Ein Käppchen stand für die Sonne und war goldfarben, eines silbern für den Mond und das letzte blaugefleckt für die Sterne. Lichtsturm wusste, dass sich unter einem eine Stahlkugel befand, das Symbol für die Erde. Während er die Käppchen bewegte, hüpfte der Mann vor und zurück und beschirmte sie mit seinen wedelnden Händen, sodass es immer schwieriger wurde, sich klarzuwerden, unter welchem Käppchen sich die Kugel befand. Während Lichtsturm zusah, gab ein Mann in grünem Hemd dem Mann auf dem Boden eine Münze, bückte sich und deutete auf den Mond. Der andere Mann hob das silberne Käppchen. Leer. Mit verlegenem Grinsen richtete sich der mit dem grünen Hemd auf. Der Käppchenmann zeigte den Zuschauern, dass die Erde unter den Sternen lag, dann bewegte er die Himmelskörper aufs Neue.
Idioten, dachte Lichtsturm. Selbst wenn jemand es richtig erriet, würde er seinen Gewinn nicht lange behalten. Einen Block entfernt würde ein himmlischer Rektifizierer ein Signal erhalten, dem Gewinner zu einem stillen Winkel zu folgen, um ihn um seinen Gewinn zu erleichtern und um das, was er an Wertsachen bei sich trug.
Lichtsturm wollte heimgehen. Trotz der strahlenden Sonne wurde es unangenehm kühl. Doch er stand nur da und sah zu, wie die Hände die Himmelskörper bewegten. Seltsam, dass der Mann dabei kein Wort sagte. Niemand sagte etwas. Da wurde Lichtsturm bewusst, dass überhaupt niemand auf der Straße den geringsten Laut von sich gab – weder Passanten noch Straßenhändler, die Brezeln verkauften oder Würstchen oder Ohrringe, keiner, der die Schaufenster betrachtete oder im Auto an der Ampel auf Grün wartete. Er hörte auch keine Motorengeräusche, keine Hupen, keine quietschenden Reifen oder Bremsen. Er blickte die Straße auf und ab. Der Verkehr bewegte sich völlig lautlos. Die Menschenmassen strömten nach wie vor in beide Richtungen, die Einheimischen zielbewussten, die Touristen stockenden Schrittes. Keiner verursachte den geringsten Laut, ihre Schuhe nicht und sie selbst auch nicht, wenn sie gegeneinander rempelten.
Ich bin taub geworden!, dachte Lichtsturm entsetzt. Ich bin taub! Doch er wusste, dass es weder an seinen Ohren noch an seinen Nerven lag, sondern an der Straße, den Wagen, den Menschen. Sie wirkten zerbrechlich, fast durchsichtig. Selbst durch die Wolkenkratzer, die bei den Besuchern so beliebt waren, konnte man einen Finger, eine Hand stecken. Sein Blick wanderte die protzige Fassade des Trump Tower hoch. Jemand hatte die Sonne ausgequetscht – es steckte keine Hitze mehr in ihr, obwohl sie nach wie vor so blendend schien, dass es den Augen weh tat. Er blinzelte. Es war nicht die Hitze, die weg war.
Die Geschichten sind verschwunden, dachte Allan Lichtsturm. Jemand hatte alle Geschichten entfernt, hatte die Menschen, die Stadt, ja sogar den Himmel und die Erde ausgeräumt. Er konnte mit seinem Fuß stampfen, und er würde durch die Erdoberfläche dringen.
Auf der Folie standen die drei Käppchen in einer Reihe. Der Mann im Jogginganzug hinter ihnen blickte zu Lichtsturm hoch. Als er lächelte, öffnete sich sein Mund so weit, dass Lichtsturm glaubte, er könne ihn verschlingen. Ein Böser! Ein Böser! Hilf mir!, betete Lichtsturm. Ihm war klar, dass er die Standardformel beim Erkennen sprechen sollte, wenn er einem Leuchtenden begegnete. »Grimmiger, ich flehe dich an, lass mich in Frieden. Ich weiß, dass ich mir mit nichts, was ich tat, dein böswilliges Eingreifen verdient habe.« Aber sein Mund gehorchte nicht. Er wusste nicht, ob er seine Zunge bewegen könnte.
Der Böse fuhr mit einer Hand über die Käppchen. Wähle, bedeutete das. Wähle das richtige, dann gebe ich dich frei. Lichtsturm beugte sich vor. Wie sollte er wissen, welches das richtige war? Er hatte ja gar nicht aufgepasst! Er streckte die Hand zur Sonne aus, dann zog er sie hastig zurück. Eine falsche Wahl, und er würde sie nie wiederbekommen. Seine Hand zitterte, als sie sich wieder den Käppchen näherte. Der Grimmige grinste und nickte.
In diesem Moment stolperte eine Frau und fiel mit Händen und Knien auf die Folie. Die Käppchen kippten, und die Stahlkugel rollte heraus. »Oh verdammt«, knirschte die Frau. »Entschuldigen Sie, es tut mir leid.« Lichtsturm packte die Kugel und hielt sie dem Bösen ins Gesicht. Einen Augenblick lang fletschte das Wesen die Zähne – die gelb wie von vielem Rauchen oder von Smog waren –, doch ehe es etwas zu unternehmen vermochte, stolperte die Frau beim Aufstehen aufs Neue. Sie fiel gegen den Bösen, dass er gegen das Schaufenster krachte. Er stieß sie aus dem Weg, doch es war bereits zu spät. Lichtsturm warf ihm die Kugel zu, und der Straßenlärm wurde wieder laut. Menschen brüllten, Hupen verkündeten einen Stau, ein Händler, der Weingummibonbons verkaufte, machte sich über einen Kunden lustig, der mit einem Fünfzigdollarschein bezahlen wollte. Als Lichtsturm der Frau auf die Füße half, sammelte der Mann die Käppchen ein, faltete die Folie zusammen und ging rasch den Block hinunter, fort von zwei Polizisten in kurzärmeligen Hemden und Baseballmützen.
Lichtsturm blickte auf seine Retterin. Sie war eine stämmige Frau mit breiten Schultern und mit ihren hochhackigen Sandalen etwa fünf Zentimeter größer als er selbst. Sie trug eine Sonnenbrille mit rosa Fassung und blauen Gläsern, einen weißen Rock und rosa Kittel, wie er bei Friseusen oder Kosmetikverkäuferinnen üblich war. In einer Hand hielt sie eine rote Geldbörse, in der anderen einen goldfarbenen Einkaufsbeutel mit japanischen Schriftzeichen in Schwarz. »He«, sagte sie mit New Yorker Akzent, »tut mir leid, dass ich Ihr Spiel so unsanft beendet habe.«
Lichtsturm lachte. Er wollte ihr gerade danken, sie vielleicht zu einem Drink in der Wiedergeburt am Geistplatz einladen, als von ihrem Haar ein Leuchten ausging. Es dauerte nur einen Augenblick und hätte davonkommen können, dass die Sonne sich flüchtig auf der aufgesprühten Hennaschicht spiegelte. Doch Lichtsturm wusste, dass es nicht die Sonne gewesen war. Sie wollte, dass er erkannte, wer ihm geholfen hatte. Er machte einen Schritt rückwärts. »Gütige, ich danke für deine Hilfe. Ich weiß, dass ich mir mit nichts, was ich tat, dein gütiges Eingreifen verdient habe.«
Die Leuchtende nickte. Mit demselben Akzent wie zuvor sagte sie: »Dankbarkeit genügt nicht.«
Lichtsturm blickte rasch auf die Menge, auf den zähen Verkehr. Er fragte sich flüchtig, ob er nicht schnell in ein Taxi springen und die Sicherheit seines Hauses erreichen könnte. Doch dann fragte er: »Möchtest du, dass ich Buße tue?«
»Wir brauchen deine Hilfe«, entgegnete sie.
»Meine Hilfe? Was soll ich tun? Irgendwo einen Beitrag leisten?«
Die Gütige lachte. So laut lachte sie, dass Lichtsturm ihr am liebsten eine runtergehauen und ihr gesagt hätte, sie solle aufhören. Er wich einen weiteren Schritt zurück. »Geh zu einem Orakel«, wies sie ihn an. »Lass von der Sprecherin eine Inkubation vornehmen. Dann wirst du erfahren, was du tun sollst.« Immer noch lachend, drehte sie sich um und ging.
Drei Tage später trat Allan Lichtsturm auf das Dach des Welthandelszentrums. Von dem Dach des Zwillingshochhauses ragten Radaranlagen, Fernsehantennen, Wettermonitoren und Überwachungsgeräte der Regierung auf. Hier dagegen gab es nur Steine, Erde, ein paar verkrüppelte Bäume mit verkümmerten Früchten und ein ständiges Wispern. Traditionsgemäß mochten Erzähler Sprecherinnen nicht. Lichtsturm verzog das Gesicht beim Anblick der schlaksigen Frau, die inmitten eines Baumkreises auf ihrer steinernen Bank saß. Neben der Bank lag ihr Hüter, ein großer schwarzer Stein, auf den kleine bunte Glasscherben geklebt waren. Sie hatte die Beine gespreizt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf vorgebeugt, als hätte sie getrunken. Sie trug einen unförmigen alten Kittel und Männerschuhe mit Löchern. So, wie es aussah, hatte sie ihr Haar wahrscheinlich seit ihrer Ernennung nicht mehr gewaschen und auch nicht geschnitten. Steinchen und Zweigstücke hatten sich in dem Filz verfangen. Als er sich ihr näherte und die Frau den Kopf hob, zuckte er bei den tiefen Schnittnarben in ihrem Gesicht zusammen. Reiselinien nannten die Sprecherinnen sie: eine für jede Initiation.
Die Inkubation dauerte über eine Stunde, eine ungewöhnlich lange Zeit für die Große Sprecherin, die an manchen Tagen dreißig Bittsteller abfertigen musste. Etwa nach der Hälfte dachte Allan Lichtsturm, dass er nie geglaubt hätte, er könnte jemanden so glühend hassen. Er war überzeugt, dass viele der Dinge, die sie ihn tun ließ, wie sich herumzurollen und Schmutz zu essen, nichts mit der Erschließung zu tun hatten, sondern dass sie ihn nur demütigen wollte. Wenn er doch bloß wegen einer einfachen Weissagung hätte zu kommen brauchen – ein Lesen der Zukunft durch Stäbchen, abgeschnittene Fingernägel oder Kartenlegen – nicht wegen einer Inkubation.
Als die Sprecherin endlich soweit war – sie schaukelte mit den Händen um die Knie vor und zurück –, trieb ihr schriller Singsang Lichtsturm so weit, dass er ihr am liebsten den Hals umgedreht hätte. Endlich hörte sie auf. Sie schaute mit klaren Augen zu ihm hoch, und Lichtsturm wusste, dass sie nun bereit für ihre Deutung war. Er erwartete orakelhafte Worte wie »die toten Gänse fliegen rückwärts« oder »Ihre Mutter hat sich die Zunge gebrochen«. Damit würde er zu den Computerexperten des Metaphysischen Entwicklungsamtes gehen, und wenn ihm deren Interpretation nicht gefiel, konnte er eine Revision beantragen. Stattdessen grinste die Frau ihn an und sagte: »Man will, dass Sie nach Poughkeepsie fahren.«
»Wa-as?«, fragte Lichtsturm.
»Poughkeepsie. Man möchte, dass Sie Ihren Vortrag am Tag der Wahrheit dort halten.«
»Das kommt nicht in Frage! Ich erzähle an diesem Tag das Hauptbild an der Fifth Avenue Hall. Das Fernsehen überträgt es live.«
Die Frau fing zu lachen an.
»Also gut«, knurrte Lichtsturm. »Dann eben Poughkeepsie.« Er drehte sich um.
»Noch etwas«, hielt die Frau ihn zurück.
Lichtsturm stöhnte. »Was?«
»Es wird verlangt, dass Sie ein bestimmtes Bild erzählen.« Den ganzen Rückweg zur Halle brütete er Rache gegen die Große Sprecherin, ja gegen die gesamte Vereinigung von Orakeln und Sprechern. Was bildete sie sich eigentlich ein, dass sie ihm befahl, eine Satellitenübertragung am wichtigsten Tag des Jahres aufzugeben? Wenn es je eine gefälschte Deutung gegeben hatte … Was glaubte sie, wer er war? Irgendein hinterwäldlerischer Amateur, der sofort lossauste, wenn irgendein verrücktes Orakel es ihm befahl? Er arbeitete bereits einen Plan aus – die Leute, die er anrufen, die Schritte, die er unternehmen würde als er auf dem Hof des Palasts ankam. Dort, in der Mitte der vier Marmorkreise, stand die Frau im rosa Kittel und den hochhackigen Sandalen, die immer noch ihre rote Geldbörse und den Einkaufsbeutel mit der japanischen Aufschrift in den Händen hielt.
Lichtsturm machte einen Schritt auf seine Wohltäterin zu. »Bitte«, sagte er, »das kannst du nicht von mir verlangen. Ich mache das Hauptbild.« Die Frau schwieg. »Einen anderen Vortrag. Wie wäre es mit einem anderen? Am Gründertag. Ich mache es am Gründertag.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Bitte«, flehte Lichtsturm. »Es ist nicht fair!«
Sie knöpfte ihren Kittel auf, und Licht strömte aus ihrem Körper. Es wärmte Lichtsturms Gesicht und Brust. Sie trat auf ihn zu und breitete die Arme aus. Lichtsturm beugte den Kopf, dass er ihn zwischen ihre Brüste legen konnte. Sie waren weich und warm, und ihre Arme um seine Schultern hoben ihn aus dem Lärm der Stadt in eine Welt der Sanftheit und Liebe.
Am nächsten Morgen teilte Allan Lichtsturm schriftlich sein Bedauern mit, dass er nicht am Fest der Wahrheit an der Fifth Avenue teilnehmen könnte. Am selben Nachmittag sandte er ein Schreiben an das Mitthudson-College für Erzähler, in dem er um eine Einladung als Gasterzähler für Poughkeepsie bat.
Teil einer Version der Geschichte Der Ort im Inneren – als erstes gefunden von Li Ku, Unlöschbares Feuer (möge ihr Name für alle Zeit gepriesen sein).
(Die Hände mit Asche bedeckt, greift die Erzählerin in den Sack der Winde und holt das Gesicht-von-Feuer-geschwärzt heraus, eine verkohlte Holzmaske, deren Mund- und Augenöffnungen in Silber gefasst sind.)
Ich bin jene mit dem Gesicht.
Meine Finger sind Vögel, meine Finger sind Tiere, Meine Finger sind Steine und das Wasser auf den Steinen,
Meine Finger sind Kinder,
Die toten, die lebenden, die nie geborenen.
Meine Finger sind Stöcke, um die Zeit wegzujagen.
Ich bin jene mit dem Gesicht,
Ich bin jene, die spricht,
Ich spreche in allen Stimmen,
Ich bin die Gemahlin des Mondes,
Die Schwester der Sonne,
Ich spreche vom Anfang bis zum Ende,
Ich lasse nichts aus.
Es war einmal ein Junge, und seine Mutter nannte ihn Er-der-wegläuft. Er lebte in einem fernen Land, einem dürren Land, das ungeschützt unter der Sonne lag. Dieses Land befand sich hinter dem Meer des Leides, wo verwirrte Seelen über dem Wasser hängen. Es sind dies die Seelen, die einen falschen Weg einschlugen, die nicht aufpassten, als ihre Hüter sie zum Land der Toten führten.
Seine Vorfahren kamen übers Meer … Von Langeweile getrieben, reisten sie in Schiffen, die mit Teer bestrichen waren, das die gestrandeten Toten davon abhielt, das Holz zu essen. Sie spannten Netze über sich zum Schutz gegen die Wolken von Toten, die sich wie Mückenschwärme auf ihnen niederlassen wollten. Sie stachen in See und versicherten einander, dass das Meer des Leides die Pforte zu einem verlorenen Paradies bewacht, einem Ort, an dem einem Speisen aller Art in den Mund fliegen, kaum dass man den Kopf zurücklegt; an dem man alle paar Jahre seinen Körper säubern und aufpolieren konnte, als bringe man Kleider zur Reinigung, ja ihn sogar umzuformen vermochte. Sie nahmen ihre Saat und Schößlinge mit sich, ihre Kühe und Säue und Hunde und Katzen sowie Vögel in Käfigen und Schlangen in Körben. So segelten sie über das große Wasser, die Augen mit Bildern von Palästen und geflügelten Kindern übermalt, die Nase mit Blumen vollgestopft.
Nachdem sie die See überquert hatten, zerschlugen sie ihre Schiffe, denn sie glaubten, sie hätten gefunden, was sie gesucht hatten – das Paradies. Sie lachten und klopften einander auf den Rücken, als sie plötzlich daran dachten, die Farbe von den Augen zu waschen. Beim ersten Blick auf das braune Gestein mussten viele gedacht haben, auf ihrer Netzhaut wären Reste von Terpentin zurückgeblieben. Sie kratzten und kratzten, bis sie die Augen aus dem Kopf gescharrt hatten. Selbst jetzt noch, wenn man durch das Meer des Leides zum Bitteren Strand reist, sieht man massenweise Augen, die einen anstarren und sich nur mit Ansichtskarten und Bildern der verlorenen Welt trösten lassen.
Er-der-wegläuft kam aus dem Schoß seiner Mutter mit offenen Augen, sogar jene im Innern waren offen, welche die meisten Menschen ängstlich bis nach ihrem Tod geschlossen halten. Er sah die Welt. Er sah das rissige Flachland seiner Geburt, er sah die verborgene Brücke über das Meer des Leides, er sah das unbeschreibliche Grün des Hügellands, er sah die grauen Zähne des Gebirges, er sah die Löcher hinter den Wolken. Und nachdem er das alles gesehen hatte, vergaß er es.
Er nannte sich Sohn-eines-Gottes.
Er drohte ihnen mit dem Grimm seines Vaters.
Die Kinder zwickten und traten ihn, verhöhnten ihn, forderten ihn auf, seinen Gottvati anzurufen, dass er sie vernichte. Dreimal versuchte Er-der-wegläuft, seinen Namen zu bewahrheiten. Die Kinder jagten ihn und zerrten ihn wie eine Katze oder einen Fuchs mit zusammengebundenen Fuß- und Handgelenken zu seiner Mutter zurück.
In seinem fünfzehnten Lebensjahr riss ein Beben die Erde auf, Häuser sprangen in die Höhe wie wütende Grashüpfer, ganze Karawanen stürzten in Erdspalten (einige kamen nach Jahren wieder hoch und fanden glasgepflasterte Schnellstraßen vor, Türme, die Mondschein für wolkige Nächte speicherten, und Steuereintreiber, die als Steine getarnt an den Straßenseiten lauerten). Inmitten des Erdbebens erklomm Sohn-eines-Gottes das Dach seines Mutterhauses. Er brüllte über das Grollen der Erde, über die Schreie der Menschen hinweg. Sein Vater war gekommen, war endlich gekommen! Sein Vater würde sie für ihre schrecklichen Sünden und unverschämten Grobheiten bestrafen! Die Leute drängten sich durch den Felssturm, warfen sich vor dem Jungen auf die Knie, baten ihn um Vergebung, flehten ihn an, bitte, bitte seinen Vater heimzuschicken. Das Erdbeben hörte auf. Die Menschen schauten sich um, lachten und übergaben sich gleichzeitig. Dann hoben alle Steine auf und bewarfen den Jungen damit. Sie hätten ihn getötet, wäre nicht doch die Furcht gewesen, sein Vater halte sie vielleicht zum Narren und kehre wieder zurück. So trieben sie ihn nur in die Wüste, wo der Staub in mehr Schattierungen von Gelb, Rot, Braun, Schwarz und Purpur wirbelte, als sich ein Bergbewohner aus dem Osten auch nur vorzustellen vermochte.
Geblendet und krank von der Sonne, seine Haut eine wahre Hügellandschaft von Insektenstichen, wanderte der Junge tagelang dahin, bis er zu einem von vielen Löchern gezeichneten Felsturm gelangte. Hunderte von farbigen Steinchen füllten seine Narben und erzählten ihre Geschichten, die Vögel und Wüstenratten dort zurückgelassen hatten. Von Schüttelfrost gerüttelt, vor Übelkeit halb weinend, halb stöhnend, mit einem Zorn so gewaltig wie der Mond, legte sich Er-der-wegläuft in den Schatten der Felsen. Er schloss die Augen und brüllte nach dem Tod.
Als er hochblickte, sah er jedoch statt Unsere-geflügelte-Mutter-der-Nacht einen Besucher, einen Beauftragten der Lebenden Welt. Das Geschöpf trug eine Maske, die gut halb so groß war wie der Junge und von deren Seiten Knochensplitter und Hautfetzen hinunterhingen. Die Stirn war mit Aufnahmen von brennenden Leibern beklebt, Fliegen füllten den Mund.
Er-der-wegläuft versuchte davonzukriechen. Ein Finger berührte ihn am Genick, und seine Seele flog aus seinen Augen. Als er am nächsten Morgen in seinen Körper zurückkehrte, fand er die Maske neben sich.
An den meisten Vortragstagen besuchten die Bürger von Poughkeepsie ihre eigenen Hallen: die modernen Glas- und Ziegelbauten an der Park Avenue; die renovierten Gebäude der Alten Welt, wie die grauen Hochhäuser an der Cannon Street, einen Häuserblock entfernt vom Parkplatz zum Gesegneten Pfad südlich der Hauptstraße; die schreiend bemalten Geschäftshäuser der Neupuritanischen Bewegung. Für die größeren Vorträge wie am Erdtag begaben sie sich auf den Exerzierplatz oder in den Park oder auf die Sportplätze. Am Tag der Wahrheit jedoch, der Sommersonnenwende, versammelten sich die Bürger in großen Gruppen. Denn nach dem Glaubenssatz gewann die Erfahrung einer jeden einzelnen Person an diesem Tag durch die aller anderen (im Gegensatz zum Tag der Isolation, der Herbsttagundnachtgleiche, an dem das Universum eines jeden Zuhörers nur aus ihm und dem Erzähler besteht). Am Tag der Wahrheit, an dem die Stadt mit ihren besten Erzählern aufwartete, versuchte der Großteil von Poughkeepsies Bürgerschaft sich auf den Hängen des Vortragsberges zusammenzudrängen. Der Vortragsberg war ein künstlicher Hügel, der nach der Revolution durch die Heilige Wiederaufbaukommission errichtet worden war, und zwar als Rebecca Regenbogens Maßnahme gegen die Arbeitslosigkeit, die durch den Wirtschaftszusammenbruch der Alten Welt beängstigend anwuchs. Und in diesem Jahr, da Allan Lichtsturm sprach und jeder dabei sein wollte (außer vielleicht irgendwelche puritanischen Neupuritaner), hatte die Stadt bewachte Schranken errichtet, die niemanden durchließen, der sich nicht als Bürger der Stadt ausweisen konnte. Einige stellten sich mit Schlafsäcken und Zelten bereits fünf Tage zuvor an, doch die meisten erst am Vorabend oder am frühen Morgen des großen Tages, in der Hoffnung, einen guten Platz mit unbehinderter Sicht auf das Rednerpodest zu ergattern. Doch wenigstens zwei oder drei Tage zuvor pilgerten in ganz Poughkeepsie die Einwohner zu Hause in privaten Bittgängen herum – in Holz- oder Feldsteinhäusern, in Ziegelwohnblöcken, auf Wohnwagenplätzen, in Wohlfahrtsbehausungen. Wachs tropfte von den Kerzen in ihren Händen auf ihre nackten Füße, und sie hatten ihre Baseballkappen mit metallenen Gründeramuletten besteckt. Allein oder in kleinen Gruppen beteten sie und taten Buße, in der Hoffnung, ein Leuchtender würde für gute Plätze für sie und ihre Familie sorgen.
Die Kerzen und Kappen waren keine auf Poughkeepsie beschränkte Sitte. Sie wurden im ganzen Land in Metaphysische-Hilfe-Läden angeboten und sollten Segen für das ganze Jahr bringen. Sie gehörten zum Tag der Wahrheit. Die meisten aus Jennie Mazdans Zelle hatten ihre an einem der Sonderstände gekauft, die Sears im South-Hills-Einkaufszentrum aufgestellt hatte. Als Besonderheit wiesen alle hier angebotenen Kappen ein Bild von Allan Lichtsturm und seinen Namen in Glitzerbuchstaben auf.
Nicht alle kamen früh oder brachten Opfer für einen guten Platz. Einige, wie städtische Beamte und höhere Beamte des MEA, leitende Angestellte der Lichtvogelfabrik und die Direktoren der Handelskammer und der drei Krankenhäuser von Poughkeepsie hatten reservierte Sitze. Verschiedene Gruppen konnten ebenfalls mit einem sicheren Platz rechnen, so die Bewohner der Siedlungen am Rand der Stadt. In der Leuchtwaldwabe, wo Jennifer Mazdan seit drei Jahren lebte, schliefen die Bewohner sich aus und erwachten im glücklichen Bewusstsein, dass die Familien in ihren billigen Häusern, von denen eines wie das andere aussah, zumindest dieses eine Mal im Jahr ein gemeinsames Privileg hatten, das den Ärzten und Anwälten in ihren teuren Eigenheimen am Wilbur Boulevard und im Südend versagt blieb. Doch im Lauf des Vormittags kämpften auch diese Leute sich durch die Staus und die Kilometer offizieller und behelfsmäßiger Parkplätze, um die ihnen zugewiesenen Sitzplätze zu finden und um zu warten – auf die Prozession den gepflasterten Pfad hoch, auf einen Blick auf ein wallendes Kostüm, auf die berühmte Stimme, die ihre schmachtenden Ohren füllen sollte.
Die Bürger von Poughkeepsie saßen auf hölzernen Bänken, auf Polstern unter Baldachinen, die eigens von der Stadt aufgestellt worden waren, auf Klappstühlen, auf Decken und auf Bäumen, wo immer die Äste stark genug waren. Wer später kam, als die Massen sich immer dichter drängten, musste sich mit einem Stehplatz begnügen. Der Vortragsberg befand sich in einem Gebiet südlich der Stadt. Im Norden stand die Bürgermeistervilla, ein Pavillon mit Glaswänden, in dem der Stadtdirektor jedes Jahr die Enthauptung des Bürgermeisters mimte, als Besänftigung jeglicher Böser, die sich möglicherweise in der Stadt umhertrieben.
Südlich vom Berg, am Fluss entlang, reihten sich Betonunterkünfte für Pilger, die unterwegs zu den Nationalparks in den Adirondacks nahe der Grenze von Kanada waren. Während der vergangenen Wochen, seit der Ankündigung von Allan Lichtsturms Besuch, hatte die Stadt diese Unterkünfte geschlossen, aus Angst, Pilger würden versuchen, Plätze einzunehmen, die für Einwohner bestimmt waren. Heute würden sich sowohl das Gebiet um die Unterkünfte wie die Grundstücke in der Gegend mit den überfließenden Massen füllen. Östlich der Pilgerunterkünfte, doch noch südlich des Berges, begannen die Ladenstraßen und Einkaufszentren um die Schnellstraße der Neun Wunder zwischen Poughkeepsie und Wappinger’s Falls.
Östlich des Vortragsberges, auf der anderen Seite der Schnellstraße, lag das Freizeitzentrum mit seinem Schwimmbecken, das von Wasserhütern aus Beton umgeben war. Hinter dem Becken begann der Golfplatz, dessen Nähe zum Berg niedrige Pars zu verdanken waren, weshalb er Spieler bis von New York und Connecticut anzog. Einige Jahre vor Lichtsturms Tag in Poughkeepsie war einem Golfer, der im Aus neben der Schnellstraße spielte, der Ball über die Straße geschossen, der einen arbeitslosen Gärtner getroffen hatte, der durch den Zaun um den Vortragsberg schaute. Der Gärtner dachte daraufhin, dass Gott ihn zum Sprecher erwählt habe, und während der folgenden Wochen prophezeite er mehrere Entwicklungen für die Stadt, u.a. die Entdeckung von Erzlagern unter der Market Street, mitten im Behördenviertel. Eine Weile erwarb er sich ein gewisses Ansehen, und Investoren kamen von New York, bis die Stadt eine Erdgängerin aus Denver kommen ließ, die feststellen sollte, wo die günstigste Stelle war, mit den Erdarbeiten zu beginnen. Sie fand jedoch nichts als Granit und ein oder zwei gefangene Geister aus der Zeit vor der Revolution. Der Gärtner/Prophet behauptete daraufhin, dass Böse die Erzlager als Strafe für Poughkeepsies Sünden weggenommen hätten, sie jedoch zurückbringen müssten, wenn jeder sich ihm zu einem Monat des Betens, Fastens und sexueller Exzesse anschlösse. Nur wenige Leute, hauptsächlich Halbwüchsige, hörten auf ihn. Die Investoren kehrten nach New York zurück, die Erdgängerin musste vor Gericht gehen, um zu ihrem Honorar zu kommen, und der Gärtner, der von dem sehr verärgerten Stadtrat aus seinem Haus geworfen wurde, zog nach Wappinger’s Falls, wo er in einem ehemaligen Lichtspieltheater, in der Nähe der Brücke über die Fälle, einen kleinen Bußtempel errichtete.
An der Nordseite des Berges, südwestlich von der Bürgermeistervilla, erstreckte sich ein eingefriedeter Wohnkomplex. Er wurde von Poughkeepsies Erzählerkomitee in formeller Armut gehalten, die so malerisch war, dass die Handelskammer Abbildungen davon auf ihren Investmentbroschüren brachte, bis ein Gerichtsurteil es ihr schließlich verbot. Von dort würde Lichtsturm seinen Bergmarsch zum Rednerpodest beginnen.
Westlich des Berges, wie eine grünsilberne Katze, die sich in der Sonne räkelt, floss der Hudson – »unsere Urgroßmutter«, wie Maryanna Himmelsspalterin ihn einmal nannte –, eingesäumt von Felsen und Wäldern und Wohnhäusern und Eisenbahnschienen. An diesem Tag wimmelte es in dieser Flussstrecke von Fischen, denn auch sie wollten den Meister hören, dessen Ruhm selbst zu den Vögeln am Himmel und den Tieren im Wasser gedrungen war. Vor vielen Jahren waren die Heerscharen der Heiligen in ganz mit weißen und gelben Blumen geschmückten Barken den Fluss hochgefahren (ein Ausflug, der nunmehr im Frühjahr und Sommer unter dem Namen Bootsfahrt nach Poughkeepsie als Touristenattraktion wöchentlich angeboten wurde). Die Bösen, die vor den Bomben der Technophilen geflohen waren, hatten sich im Fluss verkrochen. Sie schwammen nun im Wasser, bereit, die Barken zu verschlingen. Um die Gründer zu schützen, schickte die Lebende Welt eine Gruppe Kinder in den Fluss, ihre Münder waren mit Steinen gefüllt, mit denen sie die Feinde bewerfen sollten. Eine Böse, in Gestalt einer schönen Frau, erhob sich vor ihnen. Jedem Kind erschien sie als seine eigene Mutter, frei von Schwächen, Eifersucht oder Zorn und Liebe ausstrahlend. Die Kinder ließen ihre Steine fallen und schwammen zu der Frau, deren Kuss ihnen die Seelen aussaugte. Doch ihre Gier war ihr Verderben. Sie schwoll so gewaltig an, dass die Heerscharen den feisten Leib sahen und die Falle entdeckten. Nur den Kindern konnten sie bedauerlicherweise nicht mehr helfen. Als sie die Böse anstachen, schossen die Kinderseelen ins Wasser, ehe die Gründer sie in ihre Körper zurückzubringen vermochten.
Zu Jennifer Mazdans Zeit konnte man die Kinder immer noch jede Nacht um dreiundzwanzig Uhr weinen hören. Es war ein so herzzerreißendes Wimmern, das es unmöglich machte, Häuser in Ufernähe zu bauen. In den Rudern von Segelbooten, Barken und Ausflugsschiffen verfingen sich hin und wieder Teile der Kinderseelen, woraufhin diese Wasserfahrzeuge sich im Kreis zu drehen begannen, bis die Seelen sich zu lösen vermochten.
Gegen dreizehn Uhr trat Lichtsturm aus seiner Suite. Prangend wandelte er den Berg hoch und fegte mit seiner wallenden Vortragshaut den Pfad, auf dessen Pflastersteinen Geldscheine und Münzen verstreut lagen – Opfergaben jener, denen es gelungen war, sich durch die Menge vorzudrängen. Die Geste, mit dem Ärmel »die Straße zu fegen«, sollte andeuten, dass der Erzähler nicht an persönlichem Gewinn interessiert war. (Nach dem Vortrag würden die gesichtslosen Arbeiter der Stadtverwaltung das Geld in Körben von der Form kauernder Schweine auflesen.) Während er bergauf stieg, dachte Lichtsturm an die Satellitenverbindung, die von Rechts wegen seiner Stimme über den ganzen Kontinent hätte tragen sollen. Er fragte sich, wen der Vorsitzende als Ersatz für ihn genommen hatte. Er blickte hinüber zu den Privilegierten (wahrscheinlich der Bürgermeister und der Stadtrat), die unter Sonnenschirmen auf samtgepolsterten Bänken entlang dem Pfad saßen. Er konnte von Glück reden, wenn sie nicht versuchten, ihn zu berühren. Ihre Münder standen offen, als erwarteten sie, dass er sie wie ein Vogel stopfte. Die Hinterwäldler würden vielleicht feststellen, dass sie etwas schwerere Nahrung bekamen, als sie gewollt hatten, wenn ihnen klar wurde, welches Bild ihre importierte Berühmtheit ihnen als Festschmaus bieten würde.
Tatsache war, dass die Erzähler Der Ort im Innern ebenso ungern vortrugen, wie die Versammelten sie hören wollten. Es konnte dazu führen, dass dieses Bild den Erzähler wochenlang deprimierte. Wie Judy Weißlicht behauptete, hatte Gail Morgensonne aus Brooklyn sogar einen Schröpfer gebraucht, um den Schuldschaum abzusaugen, der vom Ende des Bildes in ihr verblieben war. Er erinnerte sich gut an seine Worte, als er das von Gail gehört hatte: »Was kann man schon von jemandem erwarten, der herumgeht und sagt: Unser Volk braucht uns, damit wir ihm die Schönheit in sein Leben zurückbringen.« Jetzt – jetzt wünschte er sich, er könnte die Provinzler einander in die Mäuler gaffen lassen und selbst nach New York zurückkehren und sich in seinem Schwimmbecken im Garten entspannen.
Der Ort im Innern. Das hatte ihm genauso gefehlt wie dieser Auftrag am Hudson! Trübsal! Das war die Innere Bedeutung des Bildes. Er dachte: Großartig gemacht, Li Ku. Genau das, was ich brauche! Ein Bild, das Trübsal lehrt. Sich dem Irrsinn hingeben, traf es wohl noch besser. Irgendwie enthielt die Geschichte – etwas. Was, konnte man nicht so recht sagen, außer dass es nichts mit der offiziellen Auslegung zu tun hatte. Aber wer hätte Li Ku schon verstehen können? Niemand mochte sie. Sogar während der Revolution hatte man sie die Wahnsinnige Gründerin genannt. Fast hätte man sie umgebracht, als sie ihre tätowierten Anhänger herbeigezerrt hatte, damit sie Rebecca Regenbogen vor die Füße spuckten.
Endlich hatte Lichtsturm die Reihen von Honoratioren hinter sich. Auf der Bergkuppe angelangt, setzte er sich in den hochlehnigen Sessel aus poliertem Mahagoni mit weichem Sitzpolster und in Schlangenform geschnitzten goldverzierten Armlehnen. Entsetzlich protzig, aber zumindest bequem. Wenn sie bloß auch an einen Sonnenschutz gedacht hätten!
Er strich über die Armlehnen und dachte an das eine Mal, als John Donnerstimme eine Einladung nach Utah (Utah! Lichtsturm konnte sich kaum vorstellen, dass es solche Orte überhaupt gab!) für einen Vortrag am Tag der Wahrheit annahm. Nach seiner Rückkehr hatte er entsetzt erzählt, dass man ihm Tiefkühlkost vorgesetzt hatte und einen Erzählerstuhl, der eine bessere Steinbank war! »Sie bilden sich da draußen offenbar ein, dass wir noch in der Zeit der Fanatiker leben«, hatte er zu Allan gesagt. »Aber was konnte ich tun? Jaleen Herz-der-Welt kniete seinerzeit mit nackten Knien auf Steinen. Also musste ich mich wohl oder übel beherrschen. Aber bei Gott, damals war die Revolution. Ich meine, schließlich haben wir diese verdammten Schlachten gewonnen. Jemand sollte diesen Leuten sagen, dass die gottverdammte Revolution vorbei ist.« Monatelang hatte er sich nicht beruhigen können.
Lichtsturm schaute zu seinen Zuhörern hinunter. Es waren so viele, dass er nur ihre Köpfe sehen konnte. Selbst die in der Nähe, sogar die hiesigen Erzähler auf der Sitzreihe unter ihm, hatten scheinbar ihre Körper verloren und waren nur noch unwirkliche Gesichter. Plötzlich entschloss er sich, alles, wozu er fähig war, in das Bild zu stecken, es zu offenbaren wie seit Jahren nicht mehr. Er holte tief Atem, dann wandte er bedächtig das Gesicht von einer zur anderen Seite. Die Hinterwäldler würden diesen Tag der Wahrheit den Rest ihres armseligen Lebens nicht mehr vergessen!
Er legte die Hände auf den Bauch wie nach einem üppigen Mahl. Dann begann er die Geschichte von Zu-schön-als-gut-für-sie-ist und ihrem Löwenliebsten.
Lauter Krach vor ihrem Haus hatte Jennifer Mazdan an diesem Morgen aus dem Schlaf gerissen. Es war der Tag der Wahrheit, und das Metaphysische Entwicklungs-Amt hatte seine Läuterer ausgeschickt, um die Stadt von destruktiven spirituellen Aspekten zu räumen. Sie lag im Bett, lauschte dem Lärm – dem Glockengeläut und Sirenengeheul der Spürmaschinen, dem Pfeifen der Läuterer, ihrem heiseren Brüllen (sie nahmen sich die Siedlungen gewöhnlich als letztes vor, da alle anderen in der Stadt schon vor Sonnenaufgang aufbrachen, um einen guten Platz zu bekommen), wenn sie sich straßauf, straßab etwas zuriefen. Sie ächzte, stand auf, kratzte ihre rechte Brust und dann ihre Seite. Sie konnte nicht sagen, ob Dreck juckte oder ob sich ein Loch im Fliegenfenster befand.
Sie lächelte schwach, denn für ein Grinsen war sie zu benommen. Vielleicht war das Jucken nur ein erstes Zeichen von Besessenheit? Hatte es mit Mikes Tante-wie hieß sie doch, Margaret? – nicht auch so angefangen? Zuerst hatte es sie am ganzen Körper gejuckt, dann, ehe sie es sich versah, hatte sie Steine gegessen und Gold ausgespuckt. Nun lachte sie. Mike hatte gesagt, sein Onkel habe sich geweigert, Margaret zu melden, weil er die Nuggets verkaufen wollte. Doch als er sie zum Juwelier brachte, brannten sie durch dessen Ladentisch oder worauf er sie gelegt hatte. Der arme Onkel Jack! Der Juwelier entpuppte sich als Amateurmetapsychologe und wusste deshalb sofort, wie Onkel Jack an das Gold gekommen war. Als das MEA anrückte, um Margaret zu entschärfen – offenbar gingen in Poughkeepsie alle Lichter aus, und eine Blaskapelle im Bürgerhaus hatte angefangen, die Zuhörer mit Öl aus ihren Schalltrichtern zu besprühen –, fand es sie von Wand zu Wand hüpfend wie ein Tischtennisball. Mike sagte, dass sie einer Frau fast die Nase abbiss, ehe man sie einfangen und den Bösen austreiben konnte.
Jennie seufzte. Sie dachte schon wieder an Mike. Es war nun fast drei Jahre her, und immer noch … Eines Tages würde sie wohl doch zu der Stätte bei Ellenville fahren und sich eine Buße für die wachsende Schuld auferlegen lassen müssen, weil sie sich gegen die Annullierung verging. Als der Krach auf der Straße näherkam, schaute Jennie auf den Wecker und zuckte zusammen. Zehn nach sechs! Sie verstand selbst nicht, was sie veranlasst hatte, sich freiwillig zur Arbeit am Vormittag des Tages der Wahrheit zu melden. Doch nicht wegen des Geldes, oder zumindest glaubte sie das nicht. Nicht dass sie es nicht brauchen konnte.
Sie stand auf und watschelte zum Fenster. Als sie nach den dunkelbraunen Vorhängen griff, um sie aufzureißen, fiel ihr gerade noch ein, dass sie zuvor etwas anziehen sollte. Bestimmt spähte Marjorie Kowski aus ihrem Fenster über der Straße und hoffte, dass die Läuterer in irgendjemandem in der Zelle ein paar Spinnweben finden würden. Von Marjorie Kowski nackt gesehen zu werden war das letzte, was Jennie jetzt brauchte. Jennie war sicher, dass Marjorie seit der Annullierung Geschichten über die frustrierte Mrs. Mazdan erfand, die jeden in Sichtweite verführte, von dem pensionierten Polizisten bis zu der Heiligen Schwester, die auf ihrem Fahrrad durch die Siedlung fuhr und sie segnete.
Sie riss ihren gelben Bademantel von dem Traumstock am Fußende des Bettes und blickte flüchtig schief auf den hölzernen Hüter. Sie hatte dieses grinsende Gesicht und die Glotzaugen nie ausstehen können. Es gab zwei Hüter für das Bett. Der Stock vertrieb angeblich schlimme Träume, die sich in den Decken versteckten. Auf dem Kopfteil lag eine Puppe mit leerem Gesicht unter einer winzigen Decke in einer hölzernen Schachtel. Indem sie ein gutes Beispiel setzte, sollte die Hüterin erholsamen Schlaf bringen. Jennie rieb sich den Nacken, der seit einer Woche jeden Morgen steif war. Erholsam, pah!
Mit einer Hand hielt sie ihren Bademantel zusammen, mit der anderen zog sie die Vorhänge am Schlafzimmerfenster zurück. Draußen bogen die Läuterer in ihren Nylonoveralls und Plastikhelmen gerade um die Ecke. Einige beobachteten ihre Instrumente, während andere mit langen, kupferumwickelten Stangen durch die Luft peitschten. Jennie erinnerte sich, dass Mikes Nichte Glissie (kurz für Glissander ausgerechnet-idiotische Eltern) diese Zeremonie fast ebenso sehr genoss wie den Vortrag. Sie hatte vor dem Feiertag bei Mike und Jennie übernachtet und sich am Morgen auf die Couch gestellt und jedes Mal gekreischt, wenn die Läuterer in ihre Pfeifen bliesen.
Der Gedanke an den Vortrag entspannte Jennie ein bisschen. Sie fragte sich, wie Allan Lichtsturm je auf den Gedanken gekommen war, Poughkeepsie zu besuchen. Im Werk redete man von nichts anderem. Ihre Kolleginnen ließen sich die irrsten Ideen einfallen und behaupteten, sie wüssten es von Vettern im Rathaus oder aus Traumvisionen, in denen Lichtsturm von den Gründern befohlen wurde, sich nach Poughkeepsie zu begeben. Jennie selbst konnte sich nicht vorstellen, wie es jemandem, den Time auf dem Titelblatt gebracht hatte, einfallen könnte, sich für eine Kleinstadt wie diese zu entscheiden. »Wir wollen uns doch nicht den Kopf darüber zerbrechen, sondern uns freuen«, hatte ihre Chefin gesagt.
Warum freute sie sich dann nicht? Die ganze Woche, seit der Ankündigung, hatte Jennie ihre Arbeit bis zur Erschöpfung verrichtet, sich abends müde nach Hause geschleppt und sich gerade noch aufgerafft, nach dem Essen fernzusehen, wenn sie nicht gleich ins Bett gegangen war. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr los war. Sie war sogar zum Betriebsarzt gegangen, weil sie dachte, sie hätte vielleicht Anämie oder dergleichen. Nichts. Alles in Ordnung mit ihrem Blut. Die Krankenschwester hatte die ganze Zeit von Allan Lichtsturm gequatscht, dass er nach Poughkeepsie ziehen und ein Gnadenzentrum für die Mysteriengesellschaft des Mitthudson-Tals errichten würde.
Der Läuterertrupp kam nun zu dem Straßenstück vor Ron Millers und ihrem kleinen Rasen. Jennie war froh, dass sie nicht für das MEA arbeitete. Es war bereits so heiß, dass sie im Bademantel schwitzte, und diese Leute mussten Schutzkleidung tragen. Das Mitthudson-Elektrizitätswerk bezahlte zwar nicht sonderlich gut, aber wenigstens konnte man Shorts tragen.
Jennie wich einen Schritt vom Fenster zurück, als der Trupp vor ihrem Haus zögerte. Weshalb blieben sie stehen? Stimmte irgendwas nicht? Unwillkürlich dachte sie an den Tod ihres Vaters und die Erklärung ihrer Großmutter, wie »Daddy« (so hatte Jennie ihn nie genannt, immer nur »Jimmy«) in die Lebende Welt gegangen war.
Die Läuterer bewegten ihre Arme in weiten Schleifen, schwangen ihre Detektoren wie Schwerter, zunächst zum Himmel, dann zum Boden. Schließlich gingen sie weiter. Nicht einen Schritt hatten sie auf ihr Grundstück gesetzt. Jennie sackte auf ihr Bett, dann ließ sie sich nach hinten fallen, dass ihr Kopf über den Matratzenrand hing. Sie war sauber. Keine destruktiven Aspekte. Nicht besessen von unbekannten Wesen, wie es in der Amtssprache hieß. Was immer sonst mit ihr nicht stimmen mochte, besessen war sie zumindest nicht.
Sie stand auf, schloss die Gardinen wieder, zog den Bademantel aus und stellte sich vor den schmalen Spiegel des Toilettentischs gegenüber dem Bett. Sie sah so müde aus. Bekam sie einen Hängebusen? Ihr Gesicht wirkte fast ein wenig aufgedunsen.
Alt! Sie wurde alt, dabei war sie noch nicht mal dreißig. Das war nicht fair! Sie trat näher an den Spiegel. Ein Doppelkinn bekam sie auch. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Sie legte den Kopf zurück und spannte die Halsmuskeln. Vielleicht sollte sie mit einer Doppelkinnbinde schlafen. Tat das wirklich irgendjemand? Gab es so etwas überhaupt? Vielleicht könnte Lichtsturm ihr die Jahre abstreifen. Wie Ingrid Brennende Schlange es bei den Insassen des Altenheims getan hatte. Sie versuchte ihr Haar aufzulockern, aber das war vergebliche Liebesmüh. Sie hätte es lang lassen sollen. Die Friseuse hatte gesagt, es würde elastisch füllig sein, aber an den Seiten hing es schlaff herunter, und oben stellte es sich auf wie ein Hahnenkamm.
Vielleicht sollte sie verreisen. In Urlaub fahren. Das tat man doch im Sommer, oder? Erst mal durch den Tag der Wahrheit neue Kraft schöpfen und dann irgendwohin fahren. Aber wohin? Und mit wem? Sie wollte nicht allein verreisen, aber ihr fiel niemand ein, der sie hätte begleiten können.
Sie schlüpfte in einen verwaschenen Slip mit Tigerstreifen (Allan Lichtsturm zu Ehren, der einst den Tiger als sein Totemtier anerkannt hatte), darüber zog sie eine plissierte Bermudahose, die Beine zweimal hochgerollt, damit es sexier aussah, dann streifte sie sich ein T-Shirt mit V-Ausschnitt und angeschnittenen kurzen Ärmeln über den Kopf, ein blaues, das zur Hose passte. Wenn sie sich nicht beeilte, würde es nicht leicht sein, so rechtzeitig mit ihren Runden fertig zu werden, dass sie den Berg noch vor Beginn des Vortrags erreichte, auch wenn ihr Platz reserviert war. Jedes Jahr nach dem Tag der Wahrheit berichtete das Fernsehen von Krüppeln, die tanzten, von Blinden, die Porträts von den Erzählern malten, von impotenten Männern, die Drillinge zeugten.
Sie fragte sich, welches Bild Allan Lichtsturm ausgewählt hatte. Etwa die Flussgeschichte oder den Ursprung des Feuers oder vielleicht die Erschaffung der Welt durch die Erste Erzählerin aus ihrem eigenen Leib. Diese Geschichte hatte Jennie als Kind besonders gemocht. Sie hatte sich ganz fest an die Hand ihres Vaters geklammert, und Jimmy versprach ihr, dass sie gemeinsam durch das Dach fliegen würden.
Ein bisschen aufgeregter vor Vorfreude ging sie in das kleine Badezimmer. Während sie auf der Toilette saß, entsann sie sich, wie Mike sich immer beschwert hatte, wenn sie sich mit ihm unterhalten wollte, während er sich rasierte. »Warte, bis wir ein größeres Haus haben«, hatte er immer gesagt. In der Küche verzog Jennie das Gesicht über das schmutzige Geschirr in der Spüle. Sie zog eine kleine Schüssel und einen Suppenlöffel heraus, ließ heißes Wasser darüber rinnen und trocknete sie mit einem Geschirrtuch ab, das voll Fettflecken vom letzten Brathähnchen war. Muss wieder mal Geschirr spülen, sagte sie sich, während sie die Schüssel mit Geistbissen – gerösteten, zu Gesichtern geformten Haferflocken – füllte. Sie stellten angeblich Gütige dar, die einem beim Essen heilige Eingebungen schenkten. Gott mit den Zähnen zermalmen! Auf der Rückseite der Geistbissenschachtel befand sich als Teil einer Serie über gegenwärtige Erzähler ein Bild von Francesca Himmelsstolz. Jennie warf einen kurzen Blick darauf, ehe sie Magermilch aus dem Kühlschrank holte. Als sie die Milch über die Haferflocken gegossen hatte, starrte sie auf die Kaffeemaschine und fragte sich, ob sie noch genug Zeit und Energie hätte, frischen Kaffee zu machen. Sie schaltete sie ein und erinnerte sich daran, den Kaffeesatz vom Vortag herauszunehmen, damit er nicht noch einmal aufgekocht würde. Sie sollte sich einen Filter kaufen, wie alle anderen einen hatten. Aber Jennie mochte die altmodische elektrische Kaffeemaschine. Ihr gefiel, wie sie seufzte und wisperte und das Wasser blubbern ließ. Sie erinnerte sie an einen Erzähler, zu dessen Vortrag ihr Vater sie einmal mitgenommen hatte. Noch stehend murmelte sie einen Dank an das Essen und fing an, die Geistbissen zu löffeln.
Nun, da die Läuterer weitergezogen waren, hörte sie Geräusche aus den Nachbarhäusern und -gärten. Jemand – wahrscheinlich Gloria Rich – rief den Kindern. Ron sagte eine Beschwörung, vermutlich bat er um Vergebung, weil er den Rasen mähte. Da entsann sie sich, dass sie ihren von dem Kowski-Jungen (sie konnte einfach seinen Namen nicht behalten) mähen lassen wollte. Diesmal würde sie ganz sicher am Abend zuvor beten. Vergangene Woche hatte sie es völlig verschwitzt, woraufhin die eine Rasenhälfte gewelkt war, während in der anderen Unkraut gewuchert hatte, sodass sie ein Blutopfer bringen musste, ganz zu schweigen von den fünf Stunden, die sie zum Jäten und Düngen gebraucht hatte.