Patanjalis Yogasutra - Ralph Skuban - E-Book

Patanjalis Yogasutra E-Book

Ralph Skuban

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  • Herausgeber: Arkana
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Der wichtigste Grundlagentext spiritueller Weisheit

Die knapp 200 Verse des Yogasutra von Patanjali beschreiben in unvergleichlicher Dichte, Logik und Präzision den Entwicklungsweg unseres Bewusstseins, den man Yoga nennt. Dabei meint Yoga Weg und Ziel zugleich: als Ziel steht es für den Zustand der Selbstverwirklichung oder Erleuchtung, als Weg bezeichnet es die vielfältigen Methoden, die dorthin führen.

In vier Kapiteln erfahren wir, wie wir innere Freiheit erlangen, wie unsere tägliche, spirituelle Praxis aussehen kann, welche inneren Übungen – Konzentration und Meditation – die Transformation unseres Bewusstseins bewirken und wie wir schließlich lernen, all das wieder lozulassen, um wirklich frei zu werden. Undogmatisch und ohne moralisch-religiöse Vorschriften zeigt uns das Yogasutra den Weg zur Befreiung von den Fesseln des Ego-Bewusstseins.

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Seitenzahl: 317

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RALPH SKUBAN

Patanjalis Yogasutra

DER KÖNIGSWEG ZU EINEM WEISEN LEBEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen. Editorische Hinweise:

Bei allen fremdsprachigen Begriffen, die im Text nicht ausdrücklich einer anderen Sprache zugeordnet werden, handelt es sich um Sanskrit-Wörter.

Die Zahlen, die im Inhaltsverzeichnis in Klammern aufgeführt sind, bezeichnen die Nummern der Sutras.

Originalausgabe

© 2011 Arkana, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Lektorat: Claudia Göbel

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München

Covermotiv: © Brent Lewin/OnAsia.com

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-06815-8V005

www.arkana-verlag.de

Inhalt

Einführung

1 Meditation: Samadhi Pada

Was ist Yoga? (1–4)

Vrittis – die mentalen Muster (5–11)

Praxis und Loslassen – Abhyasa und Vairagya (12–16)

Samadhi (17–18)

Wege zu Samadhi (19–20)

Innerer Drang (21–22)

Hingabe an die Quelle des Seins (23–29)

Hindernisse (30–31)

Methoden zur Überwindung der Hindernisse (32–39)

Die Früchte der Meditation (40–51)

2 Praxis: Sadhana Pada

Kriya Yoga (1–2)

Fünf Kleshas – die Hauptursachen des Leidens (3–9)

Die Überwindung der Kleshas (10–11)

Kleshas und Karma (12–17)

Prakriti und Purusha (18–27)

Die acht Elemente des Yoga (28–29)

Yama: Fünf Regeln für das Verhalten im persönlichen Umfeld (30–31)

Niyama – fünf Regeln für den Umgang mit uns selbst (32)

Der Umgang mit negativen Gedanken und Emotionen (33–34)

Die Früchte der Yamas (35–39)

Die Früchte der Niyamas (40–45)

Asana – die Meditationshaltung (46–48)

Pranayama (49–53)

Pratyahara – der Rückzug der Sinne (54–55)

3 Loslösung: Vibhuti Pada

Konzentration, Meditation und Samadhi (1–3)

Samyama (4–8)

Transformation des Bewusstseins (9–15)

Vibhutis

Vibhutis I: Das Wegfallen von Begrenzungen (16–26)

Vibhutis II: Der innere Kosmos (27–35)

Vibhutis III: Sich erheben (36–42)

Vibhutis IV: Die Loslösung vom Körper (43–50)

Vibhutis V: Auf dem Weg zur Befreiung (51–56)

4 Befreiung: Kaivalya Pada

Natürliche Entwicklung (1–3)

Vasanas (4–11)

Die Einheit der Dinge im Wandel (12–14)

Objektive Existenz (15–17)

Die Unterscheidung von Chitta und Purusha (18–22)

Der Zweck von Chitta (23–24)

Das scharfe Messer Viveka (25–26)

Phasen der Ablenkung und ihre Überwindung (27–28)

Kaivalya – Befreiung (29–34)

Das Yogasutra in der Nussschale

1 Meditation: Samadhi Pada

2 Praxis: Sadhana Pada

3 Loslösung: Vibhuti Pada

4 Befreiung: Kaivalya Pada

Das Yogasutra in Sanskrit-Umschrift

1 Meditation: Samadhi Pada

2 Praxis: Sadhana Pada

3 Loslösung: Vibhuti Pada

4 Befreiung: Kaivalya Pada

Literatur

Danksagung

Glossar

Zu lieben, das heißt: MICH erkennen,

MEIN wirkliches Wesen,

die Wahrheit, die ICH BIN.

Durch diese Erkenntnis gehst du

augenblicklich ein in MEIN SEIN.

BHAGAVAD GITA

Einführung

Wir wissen nicht, wer Patanjali war oder wann er gelebt hat – es war wohl irgendwann zwischen 400 vor und 400 n. Chr. Manche Forscher glauben, es müsse sich um jenen Patanjali handeln, der auch zwei Werke über Medizin und Grammatik verfasst hat. Andere bezweifeln das. Wir sollten es also halten wie der christliche Mystiker Thomas von Kempen (1380–1471), der sagte: »Frage nicht, wer das gesagt hat, sondern achte auf das, was gesagt wird.«

Auf die Botschaft kommt es an. Und diese ist umfassend. Wissenschaft und Praxis des Yoga müssen bereits zu Patanjalis Zeiten seit Jahrhunderten existiert haben und so ist es sein Verdienst, erstmals eine strukturierte Darstellung des Yoga vorgelegt zu haben. Seine Schrift gilt bis heute als der Grundlagentext des Yoga überhaupt.

Die knapp 200 Verse – wir können sie auch Sutras oder Aphorismen nennen – sind aneinandergereiht wie Perlen auf einem Faden. Das ist es auch, was das Wort sutra meint: Faden. Es gibt keinen Text, der in vergleichbarer Dichte, Logik und Präzision den Entwicklungsweg des Bewusstseins beschreibt, den man Yoga nennt.

Yoga heißt »Verbindung« oder »Einheit« und ist ein Wort für Weg und Ziel zugleich: Als Ziel steht es für den Bewusstseinszustand des Zu-sich-selbst-gekommen-Seins, für den es viele Namen gibt: Befreiung, Nirvana, Himmelreich, Selbstverwirklichung, Friede, Stille, Erleuchtung und noch zahlreiche andere. Als Weg bezeichnet Yoga die Vielfalt der Methoden, die diesem großen Ziel dienen. Das Yogasutra gibt uns, frei von Dogmen und ohne den erhobenen Zeigefinger der Moral, in liebenswerter Anerkennung des Menschen und seiner Schwächen das Rüstzeug an die Hand, den höchsten Berg zu erklimmen, den es gibt: uns selbst.

Wer keine Flügel hat, kann nicht wissen, wie es sich anfühlt, ein Vogel zu sein. So versucht das erste Kapitel des Yogasutra eigentlich Unmögliches, nämlich das Unsagbare zu sagen. Patanjali gibt uns Hinweise, wie wir einen Seinszustand erlangen können, der uns jene innere Freiheit zurückgibt, die wir eigentlich nie verloren haben. Wir haben sie nur vergessen. Mit wissenschaftlicher Akribie entfaltet er den Wachstumsprozess des Menschen, einen Prozess, der das Abstreifen all dessen bedeutet, was wir nicht wirklich sind, um so zur Wahrheit unseres Seins zu gelangen, zu »wirklichem Wissen«, wie Patanjali auch sagt. Dies geschieht in der meditativen Gipfelerfahrung des Samadhi, und so heißt das erste Kapitel »Samadhi Pada«, also: »Kapitel über Samadhi«. Hier mit »Meditation« überschrieben, setzt es den großen Rahmen und stellt uns das Höchste in Aussicht: das Einswerden mit der Quelle.

Patanjali definiert Yoga als das Zur-Ruhe-Kommen aller mentalen Muster. Sie hindern uns daran zu erkennen, dass unsere wahre Natur reines Gewahrsein ist, jenseits allen Leides, reine Glückseligkeit. Zu dieser Erfahrung will das Yogasutra uns hinführen. Es ist ein Weg der Selbstentwicklung, der uns loslöst von der irrtümlichen und leidhaften Verstrickung in die Welt, deren Erleben vor allem von unseren Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen bestimmt ist. Am Ende des Weges steht die Befreiung von dieser großen Täuschung. Dies ist kaivalya – ein Seinszustand, der über alle Worte hinausgeht.

Im zweiten Kapitel geht es um Sadhana, das heißt »Übung« und meint unsere tägliche, konkrete spirituelle Praxis. Den Rahmen steckt Patanjali mit dem Begriff des Kriya Yoga ab – in kriya steckt kr, was »tun« bedeutet. Auf drei Säulen ruht der Übungsweg: auf der konkreten Bemühung, also den vielfältigen Methoden des Yoga, auf der Selbsterforschung, in der wir uns selbst verstehen lernen, und schließlich auf Isvarah-pranidhana, der Hingabe.

Patanjali spricht über das Leid des Menschen und seine Ursachen. Zu ihrer Überwindung entfaltet er ein Übungssystem aus acht Elementen, das Kriya Yoga mit konkretem Leben erfüllt. Er lässt uns auch wissen, wie bereichernd und wunderbar die Früchte sind, die wir bereits auf dem Weg ernten können. Fünf äußere Elemente stellt er uns in diesem Kapitel genauer vor: Dies sind Regeln für den Umgang mit uns selbst und der Welt, die Arbeit mit unserem Körper und seiner Lebensenergie, und der Rückzug der Sinne, jenes Loslassen in die Entspannung hinein, das zur Brücke wird für die drei inneren Elemente, die im dritten Kapitel folgen.

Oft wird das Yogasutra auf das zweite Kapitel verkürzt. Das ist einerseits bedauerlich, weil Patanjali doch so viel mehr zu sagen hat. Andererseits ist dies nicht so schlimm, weil mystische Texte immer gleichsam holografisch sind – so wie Gott und die Welt: Im Teil steckt schon das Ganze. Und so begegnen wir dem ganzen Gebäude gewissermaßen auch dann, wenn wir nur einen Teil studieren. Ich will den Leser dennoch ermutigen, das ganze Yogasutra zu lesen – es ist ein lohnenswertes Unterfangen, denn letztlich bedeutet es, uns selbst zu studieren.

Das dritte Kapitel – »Loslösung: Vibhuti Pada« – schließt die Darlegung der acht Elemente des Yoga ab – und entführt uns dann in eine Welt der Wunder. Es beginnt mit den drei inneren Gliedern des Yoga. Alle äußere Praxis, die Gegenstand des zweiten Kapitels war, dient allein dem Zweck, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, sich den inneren Übungen widmen zu können: Konzentration, Meditation und – als Gipfelpunkt – Samadhi. Sie sind innigst miteinander verbunden, ein Element fließt ganz natürlich zum nächsten hin. Gemeinsam bewirken sie jene Transformation des Bewusstseins, die wir Loslösung nennen können – ein Weg zu innerer Freiheit.

Der zweite, größere Teil des Kapitels beschäftigt sich mit den ungewöhnlichen Fähigkeiten, die sich auf dem spirituellen Weg entwickeln können. Die Yogis nennen sie vibhutis (oder auch siddhis), und so nennt Patanjali das dritte Kapitel vibhuti pada. Wir werden sehen, dass die Entwicklung besonderer psychischer Fähigkeiten eng verbunden ist mit dem zunehmenden Gewahrsein unseres inneren Kosmos und den Kräften, die in unserem Körper wirken. Am Ende des Prozesses steht die Loslösung von kaya und Chitta, also von Körper und individuellem Bewusstsein, und die befreiende Erfahrung, dass wir keines von beiden sind, sondern reines, absolutes Gewahrsein.

Das dritte Kapitel des Yogasutra gehört zu den faszinierendsten und geheimnisvollsten Texten der spirituellen Weltliteratur. Es ist zugleich jenes, das am wenigsten kommentiert wurde. Dabei transportiert es auf knappem Raum einen ungeheuren Reichtum an yogischen Ideen und weist zudem eine innere Bewegung und Struktur auf, die nach einem weitergehenden Aufschließen geradezu ruft. Diesem Rufen habe ich hier zu folgen versucht.

Das letzte, vierte Kapitel ist das kürzeste. Es heißt kaivalya, Befreiung. Patanjali stellt die spirituelle Evolution als natürlichen Prozess dar. Ob wir wollen oder nicht, ob es uns bewusst ist oder nicht: Wir sind hier, um uns von der Verstrickung in die Welt zu lösen und schließlich »nach Hause« zu gehen. Allein diesem Zweck dient die Welt: Uns erkennen zu lassen, dass wir nicht von ihr sind. Alles Üben dient nur dem Öffnen von Schleusen, dem Entfernen von Blockaden auf allen Ebenen unseres Seins, um diese natürliche Entwicklung ihren Gang nehmen zu lassen. Es gilt nicht, etwas auf dem Yoga-Weg hinzuzugewinnen, sondern Gepäck zurückzulassen. Wenn wir ganz nach oben wollen, müssen wir alles loslassen, was uns beschwert.

Patanjali zeigt sich als aufgeklärter Psychologe, wenn er uns über die Mechanik der tief in uns wirkenden Denk- und Verhaltensmuster belehrt. Er denkt wie die Avantgarde der Physiker, wenn er feststellt, dass auf der fundamentalen Ebene materieller Existenz alle Dinge eins sind. Er ist moderner Erkenntnistheoretiker, wenn er das Problem von subjektiver Wahrnehmung und objektiver Existenz thematisiert. Und er ist verwirklichter Geist im reinsten Sinne des Wortes, wenn er sich am Ende des Kapitels dem ultimativen Prozess des Loslassens widmet, dem Loslassen all dessen, was wir auf dem Yoga-Weg gewonnen haben. Auch das müssen wir loslassen, um wirklich frei zu werden.

1 Meditation: Samadhi Pada

In jedem Haus brennen Lichter, du Blinder!

Und du kannst sie nicht sehen.

Eines Tages aber, ganz plötzlich,

werden deine Augen sich öffnen,

und du wirst sehen.

Und die Fesseln des Todes

werden von dir fallen.

Kabir (1440–1518), indischer Yogi, Mystiker, Dichter und Musiker[1]

Was ist Yoga? (1–4)

1

Nun ist es so weit: Die Einführung in Yoga beginnt.

Umkehr

Mit A fängt das Alphabet an, und mit A beginnt auch Patanjali: »Atha« – »Nun also«, sagt er, und meint: »Angekommen an diesem aussichtsreichen Moment, auf den euch euer bisheriges Leben vorbereitet hat, beginnt jener Weg, der euch zur Erfahrung eurer wahren Natur führen wird: zum Zustand von Yoga, zum inneren Licht, zum reinen Gewahrsein.« Dieser Moment ist deshalb so aussichtsreich, weil er eine totale Richtungsänderung bedeutet: vom Außen zum Innen. Es ist jene Umkehr, jenes Ganz-neu-Denken oder griechisch metanoia, von dem auch Jesus spricht, wenn er uns auffordert, uns nach innen zu wenden, weil das Verstricktsein in die äußere Welt auf der Suche nach immer mehr und dauernd anderen Dingen so viel Leid mit sich bringt. Das Glück auf dem äußeren Weg zu erhoffen, ist ein Irrtum oder hamartia, wie es im Neuen Testament heißt.

Es ist eine traurige Wahrheit, dass aus hamartia und metanoia in Verkehrung der ursprünglichen Botschaft die Begriffe Sünde und Buße wurden: So wurden aus Irrtum und Umkehr Schuld und Strafe. Nur zwei Wörter genügen also, um eine Botschaft der Befreiung in eine der Knechtschaft zu verwandeln. Jesus sprach vom gleichen Grundirrtum, der Ausgangspunkt allen mystischen Denkens ist. In der spirituellen Tradition Indiens wird dies avidya genannt, was so viel heißt wie: Nicht-Sehen, In-der-Dunkelheit-Sein. Gemeint ist, dass wir glauben, wir wären bloß Körper, Gedanken und Gefühle und als solche getrennt vom Ganzen des Seins, in unserem Wohlsein vollkommen abhängig von einer Vielzahl von Dingen, die sich unserer Kontrolle entziehen. Da nehmen uns selbst die sporadischen Phasen von »Spaß« nicht das ungute Grundgefühl im Leben, dass es letztlich tödlich enden wird. Und dann? Vor allem: Was bis dahin? Patanjali schlägt vor: Wende dich der Methode des Yoga zu, um zum Zustand von Yoga zu gelangen: zur Selbst-Verwirklichung. Um nichts weniger geht es dabei. Mit anderen Worten: um alles. Auf dem Weg des Yoga mögen uns gute Dinge begegnen: mehr innere Ruhe und Klarheit, mehr psychische Balance und Stabilität, mehr Gesundheit auch für unseren Körper. All dies ist wunderbar und dennoch sind es bloß willkommene Nebenerscheinungen der Therapie, denn Yoga ist Gesundung: Er soll uns ganz und heil machen – bis auf den Grund unseres Seins. Und in diesem Sinne sind alle spirituellen Wege Heil(s)-wege, sie alle sind Yoga.

2

Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der dauernd sich verändernden mentalen Muster.

3

Dann ruht der Seher in sich selbst: Dies ist Selbst-Verwirklichung.

4

Zu anderen Zeiten, wenn wir nicht im Zustand der Selbst-Verwirklichung sind, nimmt der Seher die Form der mentalen Muster an: Es scheint, als wäre er identisch mit ihnen.

Der Zustand des Yoga

Vrittis sind die sich permanent verändernden mentalen Muster, mit denen wir uns bewusst oder unbewusst identifizieren. Yoga, sagt Patanjali, ist der Zustand der Selbst-Verwirklichung, den wir dann erfahren, wenn alle diese Muster endlich zur Ruhe gekommen sind (nirodhah). Zu ihnen gehören unser Wollen und Nicht-Wollen, unsere Ängste und Sorgen, unser Ärger und Zorn, all das oftmals so zwanghafte Denken, verbunden mit dem Auf und Ab von Gefühlen, unser mehr oder weniger gesichertes Wissen, unsere Urteile über Richtig und Falsch, unsere Erinnerungen – eben die vielen vergänglichen und fragilen Bausteine, die wir in ihrer Gesamtheit für das halten, was wir dann »Ich« nennen. Wenn alle vrittis in unserem Bewusstsein, Chitta, zur Ruhe kommen, wenn der See des Geistes still geworden ist, dann können wir auf seinen Grund blicken. Wir treten ein in die uns allen gemeinsame Stille, die unsere wirkliche, unsterbliche und glückselige Natur ist. Wir erfahren unser inneres Licht, Purusha. Nichts weniger als das also verspricht Patanjali.

Das Tao Te King sagt: »Die Stille offenbart die Geheimnisse der Ewigkeit« (Vers 16). Wenn wir dieser inneren Stille nicht gewahr sind, befinden wir uns im Zustand der Nicht-Verwirklichung. Dann identifizieren wir uns mit all den Bildern, Gedanken, Ideen, Erinnerungen und Emotionen, die vor uns aufziehen und vergehen. Wir setzen uns gleich mit allen Regungen auf dem Feld des Bewusstseins, mit den Bildern auf der Filmrolle, die wir Leben nennen. Wir glauben, wir wären, was wir wahrnehmen, denken und fühlen. Und so verhüllen wir das innere Licht, das wir wirklich sind. Wir leben in avidya (oder, mit Jesus gesprochen: in hamartia), in jener spirituellen Blindheit, die der letzte Grund aller Ängste und Sorgen ist, die Ursache allen Ärgers und Zorns, der fruchtbare Boden des Leidens und das Fundament unserer Angst vor dem Tod.

Vrittis – die mentalen Muster (5–11)

5

Es gibt fünf Arten mentaler Muster. Sie können mit Leid verbunden sein oder nicht.

6

Diese fünf sind: richtiges Wissen, falsches Wissen, Vorstellung, tiefer Schlaf und Erinnerung.

7

Richtiges Wissen kann auf drei Wegen erlangt werden: durch direkte Wahrnehmung, über logische Ableitung und mittels Zeugnis.

8

Falsches Wissen beruht darauf, dass wir eine Sache anders wahrnehmen, als sie in Wirklichkeit ist.

9

Vorstellungen sind mentale Muster, die nicht auf real existierenden Objekten beruhen.

10

Tiefer Schlaf hat die Leere zum Objekt.

11

Erinnerungen sind in der Vergangenheit entstandene Eindrücke, die nicht losgelassen wurden.

Chitta

Die Yoga-Wissenschaft bezeichnet mit Chitta das, wofür wir in mühsamer Annäherung die sehr unpräzisen Wörter »Geist« oder »Bewusstsein« verwenden müssen. Schon deshalb stiften Übersetzungen aus den philosophischen und spirituellen Traditionen des Ostens bei uns so oft Verwirrung.

Chitta heißt wörtlich »das, was gesehen wurde«. Alles Gesehene, Erlebte, Erkannte und so weiter wird Teil von Chitta. Es hinterlässt seine Eindrücke wie Fußspuren auf einem Feld. Und in der Tat wird Chitta im 13. Kapitel der Bhagavad Gita mit einem Feld verglichen. In der Sankhya-Philosophie, aus der Patanjali schöpft und von der noch zu reden sein wird, heißt es antahkarana, das innere Organ. Chitta umfasst alle Zustände des Bewusstseins: Wachbewusstsein, Traum und traumloser Tiefschlaf. Chitta ist unser Bewusstsein im ganz umfassenden Sinne und schließt damit auch jene Anteile ein, die uns nicht bewusst sind. Es speichert Erinnerungen, es nimmt wahr mithilfe der Sinnesorgane. Chitta denkt, ob logisch und klug oder zwanghaft und neurotisch: Es beherbergt unser kleines Ego-Ich genauso wie die Ebene komplex-logischen Denkens und intuitiver Erkenntnis. Auch Gefühle gehören dazu. Schließlich sorgt Chitta dafür, dass Entscheidungen gefällt und in Handlung umgesetzt werden. Es umfasst die gesamte psychomentale Vielschichtigkeit des Menschen.

Die Philosophie des Ostens hat die verschiedenen Dimensionen des Denkens und Fühlens noch nie so scharf getrennt, wie dies im westlichen Denken immer der Fall war. Es ist klug, da keine künstliche Trennung vorzunehmen, wo die Dinge im Leben zusammenfließen, genügt doch schon ein einziger unangenehmer Gedanke, um eine ganze Kaskade von Emotionen auszulösen, die ihrerseits neue Gedanken entstehen lassen. Andauernde negative Gedanken und Emotionen machen uns zu körperlichen und seelischen Wracks – jeder weiß das. Und dennoch geschieht dies bei so vielen Menschen.

Die vielen Facetten von Chitta weist man im Yoga drei Hauptbereichen zu, dies ist gleichsam eine begriffliche Verdichtung aller mentalen Funktionen. Da ist zunächst manas, für das wir im Deutschen leider kein passendes Wort haben. Der englische Begriff mind ist da schon treffender. Manas hat eine Vielzahl von Aufgaben: Zusammen mit den Sinnesorganen ist es für unsere Wahrnehmung zuständig. Es bearbeitet dabei grundlegende Fragen biologisch-instinktiven Charakters: Ist das, was ich wahrnehme, bedrohlich oder nicht? Bietet es mir Chancen? Es ist zudem die Ebene der Rationalität, was noch nicht Klugheit und schon gar nicht Weisheit meint. Auch das zweifelnde und sorgenvolle Denken, einschließlich der damit verbundenen Gefühle, ist manas. Schließlich ist es jene Instanz, die getroffene Entscheidungen in Handlungen umsetzt. Wenn wir Meditation praktizieren, dann ist manas der Acker, auf dem wir arbeiten.

An allen mentalen Prozessen ist zweitens ahamkara beteiligt, unser Ich-Sinn oder Ich-Gefühl. Ahamkara bündelt und integriert die Vielzahl der mentalen Vorgänge. Wir brauchen es zur Abgrenzung von anderen und zur Selbstbehauptung. Im spirituellen Sinne steht es zugleich für das letztlich illusorische Gefühl, ein separates und vom Ganzen des Seins getrenntes Ich zu sein.

Buddhi ist jener Bereich von Chitta, der für komplexes Denken zuständig ist – wir können ihn als höhere Intelligenz bezeichnen. Buddhi ist Wachsein, Weisheit und Intuition. Eines der wichtigsten Ziele im Yoga ist es, viveka, unterscheidendes Gewahrsein oder Unterscheidungskraft, zu entwickeln (2.15). Viveka kommt aus buddhi. Von buddhi inspiriertes Denken ist immer klug. Es ist nicht ichzentriert. Deshalb ist es weise. Buddhi ist jener Teil in uns, in den Purusha, der Seher, unser Reines Gewahrsein, hineinstrahlt. Unser ganzes Erleben und Handeln in der Welt wird bestimmt vom Zusammenspiel dieser drei Aspekte unseres Bewusstseins. Ist unsere Wahrnehmung klar oder voreingenommen? Leben wir ständig in der kleinen Welt, die wir »Ich« nennen oder können wir über den Tellerrand hinausblicken?

Man kann also sagen, dass Chitta alles an uns ist, was nicht bloß Körper ist. Noch ein Zweites ist es nicht: Jene Dimension von »Geist«, die wir meinen, wenn wir spirit sagen. Das lateinische spiritus heißt Atem – das ist es, was uns belebt. Chitta gibt uns kein Leben, vielmehr muss es selbst belebt (in-spiriert) werden. Chitta lässt uns leiden, nämlich dann, wenn es zu unruhig ist – wenn wir von ihm benutzt werden, anstatt es zu benutzen. Hat der See des Bewusstseins Wellengang, und den hat er fast immer, dann nennt Patanjali diese Wellen vrittis, was wörtlich heißt: Wirbel.

Vrittis

Vrittis sind die dauernd sich wandelnden Muster in Chitta. Vrittis sind unsere Wahrnehmungen. Sie sind, was wir denken und was wir träumen, unsere Erinnerungen und auch unsere Gefühle. Jede vorstellbare Regung in unserem Bewusstsein ist vritti. Vrittis können Leid erzeugen oder auch nicht.

Fünf Arten von vrittis benennt das Yogasutra, sie beschreiben das ganze Feld von Chitta: richtiges Wissen, falsches Wissen, Vorstellung, Schlaf und Erinnerung. Alles ist darin enthalten, jeder mentale Zustand: Wachen, Träumen, Sehen, Hören, Sprechen und Fühlen, jede geistige Regung, und sei sie noch so subtil oder erhaben. Die vrittis in unserem Bewusstsein machen uns zu der Person, die wir gegenwärtig sind. »Person« kommt vom lateinischen Wort persona: Maske oder Larve – ein im wahrsten Sinne des Wortes entlarvender Begriff. Er sagt nämlich, dass wir nicht wirklich sind, was wir glauben und vorgeben zu sein.

Pramana: Das erste vritti ist pramana: richtiges Wissen. Zu solchem können wir auf drei Wegen gelangen:

Wenn unsere Sinne intakt sind, können wir durch direkte Wahrnehmung (pratyaksha) sicheres Wissen erlangen: »Dort steht ein Haus. Ich weiß das, weil ich es dort stehen sehe.« Natürlich gilt das nur, wenn und insoweit unsere Wahrnehmung ohne Beeinträchtigung funktioniert. Und selbst dann noch ist klar, dass selbst das feinste Gehör nicht alles hören und auch das schärfste Auge nicht alles sehen kann.Zu richtigem Wissen können wir auch gelangen, indem wir logisch schließen (anumana): »Wo Rauch ist, da ist auch Feuer«.Der dritte Weg, auf dem wir es erlangen können, sind verlässliche Quellen oder Zeugnis (agama): Dies können spirituelle Schriften oder wissenschaftliche Texte sein und natürlich kann dies auch ein guter Lehrer sein.

Der Erkenntnisweg im Yoga verläuft normalerweise von der dritten zur ersten Form. Wir lesen zum Beispiel ein gutes Buch über Yoga oder jemand berichtet uns davon (Zeugnis). Dann stellen wir unsere eigenen Überlegungen an (logischer Schluss). Schließlich beginnen wir, selbst zu üben (direkte Erfahrung).

Die grundlegendste Form richtigen Wissens ist das Gegenteil von avidya. Es bedeutet zu wissen, wer wir sind.

Viparyaya: Falsches Wissen, viparyaya, das zweite vritti, ist ein mentales Muster, das durch eine Wahrnehmung ausgelöst wird, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die Yogis erzählen gerne die Geschichte vom Seil, das für eine Schlange gehalten wird: Die Reaktion (vritti), die beim Anblick der Schlange im Bewusstsein entsteht, ist als mentales Muster zwar real, ihr Inhalt aber stimmt nicht überein mit der Wirklichkeit. Falsches Wissen verursacht sehr oft Leiden, vor allem im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen. Die grundlegendste Form von viparyaya – und zugleich das Fundament allen Leidens – ist avidya.

Vikalpa: Vorstellungen, vikalpa, sind das dritte vritti. Sie sind Schöpfungen unseres Geistes, geformt aus mentalen Inhalten: Konzepte, Geschichten und Worte. Es ist eine Welt der Ideen, bloße Vorstellung, Einbildung und Fantasie, der keine objektive Wirklichkeit zugrunde liegt. Worte, Geschichten, Konzepte und mentale Erfindungen – mögen sie Leid verursachen oder auch nicht – sind nicht die Wirklichkeit. In diesem Sinne sind sogar die Yogasutras vikalpa: Sie sind nur Worte. Zwar wollen sie auf die Wirklichkeit verweisen, doch sind sie nicht die Wirklichkeit selbst.

Nidra: Auch der unbewusste Zustand des tiefen Schlafes, nidra, ist ein vritti, sagt Patanjali – es ist das vierte. Dabei ist der Gegenstand unseres Bewusstseins die Leere. Es ist eine süße Leere, die uns Erholung schenkt, fast so süß wie Samadhi, die meditative Gipfelerfahrung. Leider sind wir dessen nicht gewahr, da nidra die Wachheit des Samadhi fehlt. Wie nah (oder fern) sich nidra und Samadhi sind, können wir im Yoga-Vasishta nachlesen, wo wir über den zu Lebzeiten verwirklichten oder befreiten Menschen – den jivanmukti – lesen können: »Er ist wach und genießt die Stille tiefen Schlafes.«[2]

Smriti: Erinnerung, smriti, ist das letzte der fünf vrittis: Ein mentales Muster, das sich darin zeigt, dass ein in der Vergangenheit erfolgter und nicht verloren gegangener oder nicht losgelassener Eindruck reproduziert wird: Er steigt wieder auf an die Oberfläche des Sees unseres Bewusstseins und schlägt erneut seine Wellen.

Diese fünf vrittis lassen sich auf einfache Weise so zusammenfassen: Das erste ist richtiges Wissen, das zweite ist falsches Wissen, das dritte ist eingebildetes Wissen, und das vierte ist gar kein Wissen. Das fünfte schließlich ist vergangenes Wissen.[3]

Praxis und Loslassen – Abhyasa und Vairagya (12–16)

12

Diese mentalen Muster können durch Praxis und eine innere Haltung des Losgelöst-Seins zur Ruhe gebracht werden.

13

Praxis bedeutet, sich darin zu üben, einen stabilen Zustand mentaler Stille zu erreichen.

14

Wird eine Praxis lange Zeit ohne Unterbrechung und mit Hingabe verfolgt, dann wird sie zur stabilen Grundlage.

15

Losgelöst-Sein ist ein Zustand, in dem völlige Wunschlosigkeit erreicht ist in Bezug auf Gesehenes und Gehörtes, selbst im Blick auf das, was in den Schriften vermittelt wird.

16

Wenn es nicht einmal mehr ein Anhaften an den Grundbausteinen der Natur gibt, weil es zur Erfahrung reinen Gewahrseins, Purusha, gekommen ist, dann ist dies die höchste Form des Loslassens: das Große Losgelöst-Sein.

Das Loslassen üben

Losgelöst-Sein, vairagya, und Praxis oder Übung, abhyasa, sind wie zwei Flügel, die uns in die Stille tragen. Mit ihrer Hilfe können wir das innere Gefängnis verlassen, in dem unser Glück allein davon abhängt, ob die Dinge, denen wir im Leben begegnen, so sind, wie wir sie haben wollen – oder eben nicht so sind, wie wir sie nicht haben wollen, was auf das Gleiche hinausläuft.

Abhyasa ist die kontinuierliche Bemühung, sich in Richtung chitta vritti nirodhah zu entwickeln, dem Zur-Ruhe-Kommen der mentalen Muster (1.2). Abhyasa ist nicht bloß eine begrenzte Übung für begrenzte Zeit, das Leben selbst muss abhyasa werden. Es ist nicht von Bedeutung, welcher konkreten Praxis (Sadhana) wir folgen und welcher Tradition diese entstammt, denn Wege gibt es so viele, wie es Menschen gibt – der Übungsgegenstand ist immer einer: das Loslassen.

Vairagya meint: nicht anhaften an den Dingen, die wir mögen oder nicht mögen. Es ist ein Ausbrechen aus der Gefangenschaft äußerer Umstände, ein inneres Sich-Erheben über die mit Leid verbundenen Polaritäten des Lebens. Vairagya bedeutet nicht, dass uns das Leid anderer egal ist. Es bedeutet nicht, unser Mitgefühl aufzugeben, oder nicht mehr hilfreich sein zu wollen. Es ist vielmehr das Gegenteil: Ohne schmerzhafte Verwicklung in alles, was geschieht, ist unser Blick klarer, unser Mitgefühl tiefer und unsere Hilfe kraftvoller. Können wir annehmen, was wir nicht ändern können? Das ist vairagya. Können wir loslassen, was festzuhalten nur Schmerz bringt? Das ist vairagya. Können wir wirklich vergeben, etwas also nehmen, als sei es nie geschehen? Das ist vairagya. Können wir in der Welt sein, ohne unablässig auf alles mit Billigung oder Missbilligung zu reagieren? Das ist vairagya.

Nach der Erfahrung des inneren Lichts geht der Yogi über die mit Leid verbundene Zweischneidigkeit des Lebens hinaus: Freude und Schmerz, Wollen und Nicht-Wollen, Erfolg und Misserfolg. Das ist paravairagya: das große Losgelöst-Sein. Es ist ein Leben in vollkommener innerer Freiheit, es ist absolut im Sinne des lateinischen Wortes absolutus, das auch heißt: losgelöst. Es ist totaler innerer Friede, reine Stille – auch im Angesicht äußerer Stürme. Es ist der innere Zustand des Befreiten, der Yoga erreicht hat. In der Bhagavad Gita steht geschrieben: »Wenn dies erfahren wird, existieren keine Fragen mehr.« (Kap. 2, Vers 72)

Patanjalis große Aufforderung

Daher können wir vairagya, das Losgelöst-Sein, und kaivalya, die Befreiung, als eins sehen. Die Meditation selbst ist eine Übung in vairagya: Zuerst müssen wir unsere körperlich-mentale Anspannung loslassen und die Sinne nach innen wenden, um uns überhaupt konzentrieren zu können. Dann fokussieren wir ein Objekt allein, lassen also alle anderen Gedanken los. Wir vertiefen den Prozess zu Meditation, um eines Tages auch die Krücke des Meditationsobjektes fortzuwerfen und Samadhi zu erreichen.

So ist das ganze Yogasutra letztlich eine Anleitung zu vairagya. In den ersten vier Versen spannt Patanjali den Bogen: Yoga ist das Ziel, der Zustand, in dem alle vrittis losgelassen wurden. Dann werden wir über die vrittis belehrt. Schließlich folgt die große Aufforderung: Übe das Loslassen!

Vairagya – der Kern der ewigen Weisheit

Die Bedeutung des Loslassens ist der Kern aller spirituellen Traditionen, es ist philosophia perennis, wie es im Lateinischen heißt, ewige Weisheit. Die Bhagavad Gita ist übervoll davon. Als Arjuna seinen Lehrer Krishna fragt, was denn einen befreiten Yogi auszeichne, ist es die Haltung des Losgelöst-Seins, die Krishna als erstes und wichtigstes Merkmal benennt: »Wer alle persönlichen Wünsche losgelassen hat und vollkommen zufrieden in der Wirklichkeit seines wahren Selbst (Atman, Purusha) ruht, den nennt man einen vollkommenen Weisen.« (Kap. 2, Vers 55) Es ist genau diese Botschaft, die Jesus uns im Thomas-Evangelium bringen will, wenn er das Loslassen (die Vergebung) so wendet: »Werdet Vorübergehende.« (Logion 42) Meister Eckhart – nennen wir ihn einen in Gotha geborenen christlichen Yogi – wurde im 13. Jahrhundert beinahe zum Opfer der Inquisition, wie so viele, die zur befreienden Wahrheit gelangten und sich der Knechtschaft kirchlicher Unterdrückung zu entziehen versuchten. Er sagte in der ihm eigenen Sprachgewalt: »Du musst wissen, dass sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, dass er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen. (…) So weit du ausgehst aus allen Dingen, so weit, nicht weniger und nicht mehr, geht Gott ein mit all dem Seinen. (…) Da findest du wahren Frieden und nirgends sonst.«[4]

Alle Yoga-Wege sind Wege zu vairagya:

Bhakti Yoga ist »sich völlig lassen«, der Weg der Hingabe: sich hinzugeben bedeutet, das loszulassen, woran man noch immer festhält: sich selbst.Jnana Yoga bedeutet zu erkennen, was im absoluten Sinne wahr ist und was nicht, es ist der Weg der Weisheit. Weisheit besteht darin, das Vergängliche vom Unvergänglichen zu unterscheiden und falsche Identifikationen loszulassen.Karma Yoga, der Weg des Handelns, meint: In der Welt zu handeln, ohne sich an den Früchten des Tuns festzuhalten. Es ist ein Tun, ohne zu tun, genau das, was im Taoismus wu wei genannt wird: Losgelöst handeln.Raja Yoga, sich in die Meditation zu begeben, heißt: alle mentalen Konzepte loslassen, sich leer machen, so leer, dass der Seher in sich selbst ruht. Dieses Loslassen macht auch den Reichen »arm im Geist«, sodass er das große Ziel erreichen kann.

Lassen wir noch einmal Meister Eckhart zu Wort kommen: »Der Mensch«, sagt er, »hätte ein rechtes Himmelreich, der um Gottes willen auf alle Dinge verzichten könnte, was immer Gott gäbe oder nicht gäbe.«[5] Es ist gleichgültig, welchem (Yoga-)Weg wir folgen – er führt uns immer zu vairagya.

Samadhi (17–18)

Verwirrung um Samadhi

Es geht nun um Samadhi, das große Ziel. Vorweg sei gesagt, dass unter Fachleuten – unter Swamis, also hinduistischen Lehrern, genauso wie innerhalb der akademischen Zunft – ein fast schon amüsantes Durcheinander darüber herrscht, wie viele Stufen meditativer Gipfelerfahrungen (Samadhi) Patanjali nun eigentlich benennt, in welcher genauen Reihenfolge sie eintreten und welcher Aspekt sich im Detail wie zu welchem anderen verhält und so fort. Diese Unstimmigkeiten sind bemerkenswert, denn letztlich ist ja das Erreichen des höchsten Bewusstseinszustandes – nirbija samadhi – das Ziel des ganzen Unterfangens, das wir Yoga nennen (1.51). Alles, was Patanjali sagt, hat also dies im Auge. Die Vermutung liegt nahe, dass die wenigsten Yogis diesen Zustand je erreicht haben, und wenn doch, so ist die Präzision der Beschreibung, an der sich manche versuchen, dem Gegenstand wohl nicht angemessen. Wie sonst ließen sich schon in formal-logischer Hinsicht so viele Unstimmigkeiten feststellen? Aristoteles, Platons Schüler, wies schon vor etwa 2500 Jahren darauf hin, dass man sich einem Gegenstand wissenschaftlich nur in der Weise und auch nur insoweit nähern kann, als er es seiner Natur nach zulässt. Sterne lassen sich eben nicht mit Mikroskopen untersuchen. Und Samadhi ist nicht für das Reißbrett geeignet.

Der Kern dessen jedenfalls, was die Yogasutras ausdrücken wollen, ist klar: Dass es die Praxis des Yoga ist, die uns Schicht um Schicht näher an das Zentrum dessen führt, was oder wer wir wirklich sind: zu Purusha, dem Zeugen und Beobachter, zum inneren Licht reinen Gewahrseins. Ein Gewahrsein, das so unbegreiflich, unbeschreiblich, großartig und erlösend ist, dass manche Bücher allein davon handeln, wie es wohl sein mag, in diesem Zustand zu leben, so zum Beispiel die wundervolle Ashtavakra Gita: »Jenseits aller Form. Für immer still. Genau so bin ich.« (Kap. 7, Vers 3) Auch der bekannteste Teil der Bhagavad Gita (die letzten Verse des 2. Kapitels) behandelt die Frage, wie denn einer ist, der den höchsten Zustand von Yoga erreicht hat: »Er erfährt die Glückseligkeit von Atman und will nichts mehr sonst.« (Kap. 2, Vers 55) Mahatma Gandhi hat diese Verse täglich rezitiert.

Die Meditation nimmt Schleier um Schleier von unserer Wahrnehmung, bis wir in das Objekt der Konzentration so weit eingetaucht sind, dass wir eins mit ihm werden, so eins, dass wir uns selbst – gemeint ist: unser Ego-Ich – hinter uns lassen und auf den Grund dessen blicken, was so treffend »See des Geistes« genannt wurde.[6] Und dieser Blick ist transformierend.

Der philosophische Hintergrund des Yoga

Um die nun folgenden Sutras besser verstehen zu können, ist es sinnvoll, ein wenig über den philosophischen Hintergrund des Yoga zu erfahren: die Sankhya-Philosophie. Sie geht auf den legendären Weisen Kapila zurück und ist die theoretische Grundlage für den praktischen Weg des Yoga. Yoga und Sankhya gelten als untrennbar. Im 5. Kapitel der Bhagavad Gita lesen wir: »Narren, nicht aber Weise, sagen, dass Sankhya und Yoga verschieden wären.« (Kap. 5, Vers 5) Sankhya ist die Landkarte, Yoga das Fahrzeug. Das Yogasutra ist ganz davon durchdrungen, doch gleichzeitig gibt Patanjali dieser Philosophie eine durchaus eigenständige Note. Deshalb sprechen manche auch vom »Patanjali-Sankhya«.[7]

Sankhya hat sich, wie die anderen Denksysteme Indiens auch, aus den Veden entwickelt. Vor 2600 Jahren entstanden, ist es wohl das älteste philosophische System Indiens, vielleicht das älteste der Menschheit überhaupt. Die anderen Denkschulen (Darshanas) haben daraus geschöpft. Auch Buddhas Lehre ist davon beeinflusst, was nicht verwundert, war doch einer seiner Lehrer ein Sanhkya-Gelehrter namens Rishi Alar Kalam.

Wie in allen indischen Darshanas geht es auch im Sankhya um Befreiung durch Erkenntnis – jene Erkenntnis, welche die spirituelle Blindheit beseitigt. Das Yogasutra legt hierzu einen praktischen Übungsweg dar, denn nur den wenigsten Menschen ist es vergönnt, durch philosophische Kontemplation (Jnana Yoga) zur Erfahrung inneren Friedens und Losgelöstseins zu gelangen. Patanjalis Yoga will uns durch Praxis zu Samadhi führen, zu jenem besonderen Bewusstseinszustand, in dem die befreiende Erkenntnis aufscheint.

Samadhi geht sehr tief, wir könnten auch sagen: unvorstellbar tief. Es ist eine meditative Versenkung in die Grundbausteine des Seins, in das Fundament der Schöpfung selbst, das in der Sankhya-Philosophie Prakriti genannt wird. In Ermangelung eines vergleichbaren Begriffs wird Prakriti meist mit »Natur« übersetzt. Tatsächlich aber ist alles, was ist, Prakriti – außer Purusha, unserem inneren Licht. Prakriti ist die Welt, die wir sinnlich erfahren und in die hinein wir handelnd wirken. Sie unterliegt den Gesetzen von Ursache und Wirkung, ist veränderlich und unbewusst. Purusha dagegen ist reines Bewusstsein, unveränderlich und jenseits von Ursache und Wirkung – völlig losgelöst. Purusha gibt Prakriti Bewusstsein. Und Prakriti gibt Purusha die Erfahrung der Welt.

Der Weg des Yoga hat nur den einen Zweck: zu erkennen, dass wir nicht Prakriti sind. Indem wir erkennen, was wir nicht sind, erkennen wir, was wir in Wahrheit sind: alles durchströmendes, reines Gewahrsein. Es ist ein Prozess der Einswerdung mit der inneren Wahrheit durch die Trennung von falschen Identifikationen: Yoga, die Verbindung mit Purusha, geschieht durch viyoga, die Trennung von Prakriti. In dieser Beziehung ist Yoga der Selbst-Erforschung des Advaita-Vedanta ähnlich, die kontemplativ der Frage nachgeht, was wir nicht sind (neti neti – nicht dies, nicht das), weil es ebenso unmöglich ist, in Worten, die selbst zur Welt von Prakriti gehören, zu sagen, was wir in Wahrheit sind. Darin liegt der Grund aller Paradoxien in spirituellen Schriften. Besonders die Tradition des Zen hat es zur Meisterschaft im Ausdrücken des Unmöglichen gebracht mit Fragen wie dieser: »Wie klingt das Klatschen einer Hand?« Gibt es eine geeignetere Frage, um auf die innere Stille hinzuweisen?

Der große indische Weise Nisargadatta Maharaj (1897–1981) rät uns: »Um zu wissen, was du bist, musst du zuerst nachforschen und erkennen, was du nicht bist. Entdecke all das, was du nicht bist – Körper, Gefühle, Gedanken, Zeit, Raum, dies oder das. Nichts, was du wahrnehmen kannst, sei es konkret oder abstrakt, kannst du sein. Der Akt der Wahrnehmung selbst zeigt, dass du nicht das bist, was du wahrnimmst.«[8] Der christliche Mystiker Thomas von Kempen überschreibt ein Kapitel seiner berühmten Schrift Imitatio Christi (Die Nachfolge Christi) wie folgt: »Sich vom Geschaffenen loslösen, um den Schöpfer finden zu können«.[9] Der Leser möge bitte die Wörter »Geschaffenes« und »Schöpfer« durch Prakriti und Purusha ersetzen: Das ist viyoga.

Evolution

Prakriti, der »Urstoff«, ist unendlich feiner, als wir uns dies vorzustellen vermögen, viel feiner selbst als das, was wir im Westen allgemein unter »Geist« subsumieren (Bewusstsein, Vernunft, Denken). Wir können auch (Ur)Energie oder Shakti dazu sagen. Prakriti in dieser »formlosen Form« ist erster Grund (pradhana) und Wurzel (mula) der Schöpfung, selbst ewig und nicht geschaffen, avyakta. Avyakta prakriti ist der Ausgangspunkt der Evolution. Aus ihr entfalten sich weitere 23 tattvas oder Elemente: Sie sind bedingt, verursacht, geschaffen oder sie sind vyakta. Und deshalb sind sie vergänglich: die Welt unserer Erfahrung von Denken, Fühlen, Körper und äußerer Welt.

Mahat, kosmischer Geist oder kosmische Intelligenz, ist die erste Manifestation, die erste Vergröberung, Verdichtung und »Konkretisierung« der Urenergie von avyakta prakriti. Alles Weitere entfaltet sich nun von hier aus: Auf der Ebene des Individuums wird mahat zum höchsten Aspekt von Chitta, zur Weisheit, intuitiven Einsicht und Intelligenz, buddhi.

Das Rad der Verdichtung dreht sich weiter und der nächste Aspekt von Chitta tritt ins Sein: ahamkara, das Ich oder Ego. Aus ihm entstehen in einem schöpferischen Wurf einerseits manas und die dazugehörenden »zehn Fähigkeiten«: Das sind die fünf jnanendriyas oder Wahrnehmungsfähigkeiten (Gehör-, Tast-, Seh-, Geschmacks- und Riechsinn) sowie die fünf karmendriyas oder Aktionsfähigkeiten (Sprech-, Greif-, Bewegungs-, Fortpflanzungs- und Ausscheidungsfähigkeit). Andererseits entstehen die fünf tanmatras oder feinstofflichen Elemente (Klang, Berührung, Form, Geschmack und Geruch), aus denen sich schließlich die fünf mahabhutas oder grobstofflichen Elemente (Raum, Luft, Feuer, Wasser und Erde) entwickeln, welche die Grundlage der äußeren Welt, einschließlich unseres Körpers, bilden.

Also kennt die Sankhya-Philosophie 25 Bausteine auf drei Ebenen, um die Evolution von der »Ursuppe« zum Menschen und zur äußeren Welt zu beschreiben:

zwei Elemente auf der transzendenten Ebene (Purusha und avyakta prakriti)drei Elemente auf der individuellen Geistebene (mahat/buddhi, ahamkara und manas – zusammen: Chitta)20 Elemente auf der Körper-Welt-Ebene (fünf Sinne, fünf Aktionsmöglichkeiten, fünf feinstoffliche und fünf grobstoffliche Elemente).

Und eben dies besagt das Wort sankhya: Aufzählung – wenn wir es mit einem kurzen a aussprechen. Sprechen wir das Wort dagegen mit einem langen a aus, bedeutet es »Kenntnis der Wahrheit«. Genau diese ist das Ziel des komplexen Sankhya-Denksystems, dessen ausführliche Darstellung ein eigenes Buch erfordern würde.