Patrice Lumumba - Gerd Schumann - E-Book

Patrice Lumumba E-Book

Gerd Schumann

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Beschreibung

1925 geboren, aufgewachsen im »Herz der Finsternis« (Joseph Conrad), entkam er der Provinz und stieg auf zum ersten frei gewählten Premier des Kongo – Patrice Émery Lumumba. Er versuchte das Unmögliche, als er sein Land vom belgischen Kolonialsystem unabhängig machen und aus der kolonialen Umklammerung lösen wollte. Eine Treibjagd westlicher Geheimdienste folgte und endete am 17. Januar 1961 tragisch in Kongo-Katanga: Mit der Ermordung des charismatischen Redners, Denkers und erklärten Pan­afrikaners war ein Epochenwechsel hin zu einem vereinten, freien Afrika vorerst gescheitert. Auch das geostrategisch bedeutende, rohstoffreiche Land am Kongo-Strom würde in neokolonialen Strukturen verharren. »Tot, hört Lumumba auf, Person zu sein, und wird das ganze Afrika, mit seinem Einigungswillen, der Vielfalt seiner sozialen und politischen Systeme, seinen Spaltungen, seinen Zwistigkeiten, seiner Kraft und seiner Machtlosigkeit.« (Jean-Paul Sartre) Diese erste deutschsprachige Biografie des Freiheitskämpfers ­Lumumba rekonstruiert zugleich die dramatischen Vorgänge im »afrikanischen Jahr« 1960.

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Basiswissen

Politik / Geschichte / Ökonomie

Gerd Schumann

Patrice Lumumba

PapyRossa Verlag

Eine Übersicht aller Titel der PapyRossa-Reihe Basiswissen Politik / Geschichte / Ökonomie finden Sie unter shop.papyrossa.de/basiswissen

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-89438-829-4 (Print)

ISBN 978-3-89438-905-5 (Epub)

© 2024 by PapyRossa Verlags GmbH & Co. KG, Köln

Luxemburger Str. 202, 50937 Köln

E-Mail: [email protected]

Internet: www.papyrossa.de

Alle Rechte vorbehalten – ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

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Inhalt

Lumumba – presente!

Vorwort

I.

»Belgisch-Kongo«

Lumumbas Herkunftsland – eine Kolonie: Mit der Berliner Konferenz 1885/86 beginnt die Schreckensherrschaft von Leopold II.

II.

»Das ganze Afrika«

Patrice Lumumba – Annäherung an den kongolesischen Freiheitskämpfer

III.

Glanzstück des Antikolonialismus

Im Wortlaut: Die historische Rede Lumumbas am Tag der kongolesischen Unabhängigkeit

IV.

Das Ende der Hoffnung

Ermordet und zerstückelt: Die Rache Belgiens und der USA an Patrice Lumumba und seinen Gefährten

V.

Che Guevara und Lumumba

Eine kubanische Guerillagruppe mit Che Guevara als Comandante versucht, im Namen des Internationalismus am Kongo-Strom Fuß zu fassen

VI.

Der Kongo und wir

Über die Nachhaltigkeit von Lumumbas Ideen: Zum aktuellen Umgang des Nordens mit den Reichtümern und den Arbeitskräften des Südens

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Lumumba – presente!

Das Geschichtsbild eines Landes spiegelt sich immer auch in dessen Kultur. Als Kinder in der norddeutschen Tiefebene sangen wir Anfang der 1960er Jahre den beliebten, als ziemlich verrucht geltenden Schlager »Kriminaltango«, zu dem die Unterwelt nachts in der Taverne zu tanzen pflegte, in einer verballhornten Version. Aus der Musikbox der Kneipe um die Ecke schallte das Original des Hazy Osterwald Quintetts, einer Kapelle aus der Schweiz, wir übertönten unbedarft den Originaltext im Zeitgeistjargon: »Und sie tanzen eine Rumba / Kasavubu und Lumumba / Und die UNO kann nichts finden / Was daran verdächtig wär’.« Ob wir ahnten, was an Ideologie in unseren Worten steckte? Ich glaube nicht.

Auch nicht, warum ein lange Jahre gerne verzehrtes Modegetränk tatsächlich »Lumumba« heißt, ein Cocktail gemixt aus Kakao und Rum mit einer Haube aus Schlagsahne und Schokoraspeln. Im Netz fragen Spirituosen-Spezialisten auch in den 2020er Jahren noch verwundert, wie das sonderbar süße, klebrige, aber wirkungsstarke Gesöff zu diesem Namen gekommen war: »Warum nun ausgerechnet ein Rum-Kakao-Drink nach dem Politiker benannt wurde, liegt bis heute im Dunkeln.« Wie der ganze Kontinent hundert Jahre hindurch im Dunkeln lag, galt Lumumbas Kongo vielen als »Herz der Finsternis«, bewohnt von »Negern« aus »dem Busch«.

Das Afrikabild hierzulande war immer noch durch die Völkerschauen Hagenbecks, die Kolonialausstellung in Berlin-Treptow 1896 nebst weltanschaulicher Folgenutzung in Erziehung und Wissenschaft geprägt: 106 nichteuropäische Menschen werden fünfeinhalb Monate öffentlich vorgeführt, und die Bevölkerung glotzt wie im Zoo. Wieder zu Haus, in den eigenen vier Wänden, tummeln sich in den Köpfen dann »Wilde« und wilde Tiere, und der gütige weiße Mann bringt hoch zu Ross mit Tropenhelm und in weißer Uniform die europäische »Zivilisation« in Strohhüttendörfer.

Meine fröhlichen, unbeschwerten Kindertage, gebildet aus Naivität und Vorurteilen, gingen dann irgendwann zu Ende. Die Völker da unten im Süden wollten nicht mehr so wie ihre weiße Herrschaft es für sie vorgesehen hatte, das Imperium schlug in Vietnam zu, wir folgten den Märchen von der Zivilisierung nicht mehr so richtig und erfuhren die Wahrheit über vergangenes Verdrängtes. Da war der von uns so ahnungslos besungene Patrice Lumumba längst tot, der erste frei gewählte Premier Kongos ermordet, sein Körper zerstückelt und in einem Säurefass aufgelöst, und die verspotteten Kasavubu nebst der UNO waren nicht ganz unbeteiligt gewesen an der Tat, wie wir dann nach und nach bis zur Jahrtausendwende erfuhren. Der verantwortliche belgische Kolonialoffizier hatte sich Goldzähne aus dem Mund des Toten als Souvenir gebrochen und Finger abgeschnitten, die Lumumbas Nachfahren bei einer feierlichen Zeremonie in Belgien erst 2022 »zurückgegeben wurden«, wie 60 Jahre danach verlautete, als sei die Horrortat ein, vielleicht durchaus schändliches, aber doch ein Kavaliersdelikt gewesen.

Auch ein Teil der nach Deutschland verbrachten kolonialen Raubkunst und der einst in Deutsch-Ostafrika oder Deutsch-Südwest abgeschlagenen Köpfe werden heutzutage gnädig den Ururenkeln der Ermordeten zurückgegeben, streng wissenschaftlich begutachtet nach biologisch-ethnischer Art. Hier und da verschwindet sogar ein kolonialer Straßenname oder ein Sklavenhalterdenkmal. Doch der latente Rassismus im globalen Norden bleibt unangetastet und wird weiterhin als Staatsdoktrin gepflegt. Wer die Mittelmeerpassage aus Nordafrika überlebt, kann davon berichten, wenn er im Abschiebeknast hinter Gittern sitzt, um danach wieder auf seinem von den Erben des Kolonialismus ökologisch und ökonomisch dauermisshandelten Kontinent den alltäglichen Kampf um die Existenz zu überstehen. Black lives matter?

Ein immer noch geschichtsvergessener, gedankenloser Zeitgeist aus Oberflächlichkeit und Ignoranz hat die alten Klischees ersetzt, über historische Schuld oder gar heutige Fluchtursachen wird selten geredet. Und die Ausplünderung hält unverändert an, nur dass die Gier nach begehrten Bodenschätzen nicht mehr »Kolonialismus« genannt wird und die Folgen der alten und neuen Kolonialpolitik vollständig ignoriert werden. Die Sklaven von heute sind in der neuen Zeit überflüssig und dürfen ertrinken.

Der an Ressourcen reiche Kongo steht auf dem Weltarmutsindex im letzten Zwanzigstel, 70 Prozent der Bevölkerung verfügen heute über weniger als 2,15 Dollar täglich, verelenden wie einst ihre Vorfahren im »Freistaat Kongo« des belgischen Königs Léopold II., dessen Taten in den Geschichtsbüchern des Nordens so wenig eine Rolle spielen wie die deutschen Völkermorde auf dem schwarzen Kontinent.

Als 1960 Premier Lumumba antrat, befanden sich nicht nur der Kongo (ab 30. Juni 1960: Demokratische Republik Kongo; 1971-1997: Republik Zaire), sondern weite Teile Afrikas im Aufbruch zu einem alternativen Leben, standen an der Schwelle zu einer Art tatsächlicher »Stunde null« nach dem Kolonialismus, und die entscheidende Frage lautete, wie diese gestaltet werden würde. Das koloniale System glich einer »veralteten Maschine«, so Jean-Paul Sartre, »die so starr ist, dass sie zermalmen oder zerbrechen muss«. Es gehörte abgeschafft. Auf Lumumba bezogen konkretisierte der französische Philosoph seine Beschreibung der historischen Situation: »Wäre er länger an der Macht geblieben, so hätten ihn die Menschen und die Umstände vor die Entscheidung gestellt: Neokolonialismus oder afrikanischer Sozialismus.« Für Sartre stand fest: »Kein Zweifel, wofür er sich entschieden hätte.«1

1960 gilt bis heute als »Afrikanisches Jahr«. 17 Kolonien seien zwischen dem 1. Januar (Kamerun) und dem 28. November (Mauretanien) »unabhängig« geworden, heißt es, darunter das in jeder Beziehung gewichtige Land am Kongo-Strom, die ehemaligen französischen Besitzungen südlich der Sahara und mit Nigeria auch die bevölkerungsreichste britische Kolonie. Angetreten, es nach 80 Jahren Ausplünderung durch Belgien in ein neues Zeitalter einer tatsächlichen Unabhängigkeit zu führen, also einer, die dem Anspruch des Begriffs auch genügt, scheint Patrice Lumumba heute weitgehend vergessen zu sein. Eine der großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte – wie verdrängt aus dem Geschichtsgedächtnis im Norden.

Literatur zum Thema ist wenig erschienen, deutschsprachig erst recht nicht – außer in der DDR beispielsweise mit Kurt Rückmanns »Schlagzeile Mord« oder Heinrich Loths »Propheten – Partisanen – Präsidenten«. Aber das war früher. Wie auch die herausragende Analyse »Das politische Denken Patrice Lumumbas« von Jean-Paul Sartre, die immer noch Maßstäbe für eine Einordnung und Bewertung des Freiheitskämpfers auf nationaler Ebene und im internationalen Kräftespiel Maßstäbe setzt und sich zudem kritisch auch mit Lumumbas Politik der Gewaltlosigkeit beschäftigt. Für Sartre repräsentieren der Kongolese und Frantz Fanon »das ganze Afrika«.

Erhellend in jeder Beziehung auch die beiden Filmprojekte des Haitianers Raoul Peck (»Lumumba – Tod eines Propheten«, Dokumentarfilm von 1991, »Lumumba«, Spielfilm von 2000) sowie Éric Vuillards historischer Essay »Kongo« zur Berliner Konferenz. Aufschlussreich zudem David van Reybroucks Augenzeugenrecherche »Kongo« und die Reportagen von Peter Scholl-Latour, der Lumumba mehrfach interviewte. Schließlich ist da noch alles, was aus Lumumbas Feder selbst stammt – neben Reden und Briefen sein Werk »Congo. My Country« von 1956, in dem eine erste kritische Bestandsaufnahme der kolonialen Strukturen geleistet wird.

Als Grund für den unterbelichteten Umgang mit Lumumba wird häufig genannt, er habe ja nur einige Monate lang regiert und nicht prägend gewirkt. Konsequent ausgeblendet bleibt bei dieser arg kurz greifenden Argumentation Lumumbas zentrales Anliegen: Wie wohl kein anderer verkörpert seine Person die Übergangsphase aus der alten Kolonialzeit heraus in eine neue Epoche einer angestrebten Selbstbestimmung der Völker. Dass der imperialistische Norden zu deren Verhinderung seine ganze Repressionsklaviatur spielte und dabei nicht vor offenem Separatismus, Mord und Totschlag zurückschreckte, liegt in seinem Wesen. Die in diesem Buch skizzierte Biografie Lumumbas verdeutlicht das. Dass sie Rückschlüsse für heute herausfordert, macht sie wertvoll.

Erzählt wird sie hier als Rekonstruktion eines gescheiterten Epochenwechsels auch deswegen, weil Lumumbas Biografie Teil einer nicht beendeten Geschichte ist. Die Wahrheit über ihn zu verbreiten, stellt sich die hier vorgelegte Biografie auch deswegen als Aufgabe, weil sie davon handelt, wie eine vernünftige Zukunft erreicht werden könnte.

»C’est une histoire vraie« (Dies ist eine wahre Geschichte), heißt es schon im Vorspann des Spielfilms von Raoul Peck, und die derzeit international anhaltende Verwunderung darüber, dass der übergroße Teil des Südens sich misstrauisch und distanziert dem globalen Norden gegenüber zeigt, überrascht nur jene, die nichts davon wissen wollen, wieso der Zustand der Welt so ist, wie er ist. Die verstehende Menschheit indes freut es. Freiheit lässt sich nur gegen Ausplünderung, Ausbeutung und Unterdrückung verwirklichen. Lumumba – presente!

I.

»Belgisch-Kongo«

Lumumbas Herkunftsland – eine Kolonie: Mit der Berliner Konferenz 1885/86 beginnt die Schreckensherrschaft von Leopold II.

Der Einzug des staatlich organisierten Kolonialismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts markierte für den Kongo und alle, die dort lebten, eine Zeitenwende. Die Tragödie hatte damit begonnen, dass sich der belgische König Leopold II. das riesige zentralafrikanische Land Stück für Stück aneignete und es zu seinem Privateigentum machte. Bis heute heißt es über dessen Herrschaft, sie sei, historisch betrachtet, das extremste Beispiel für die Grausamkeit, die der Kolonialismus insgesamt hervorgebracht hat. Das stimmt so zwar nicht ganz, da es in dieser Absolutheit sonstige im Namen dieser Herrschaftsform begangene Menschheitsverbrechen relativierte. Doch zeitigte Leopolds Art, den Kongo auszuplündern, besonders schreckliche Formen von in zutiefst rassistischen Denkstrukturen verankerter Skrupellosigkeit.

Schon während dieser ersten, von offenem Terror bestimmten Epoche des Kongo als »Freistaat« (1885-1908) und ebenfalls danach als »Kolonie Belgisch-Kongo« (1908-1960) gab es auch Widerstand dagegen. Rebellionen, Aufstände und Meutereien innerhalb der Streitkräfte beschäftigten die Kolonialmacht. Indes: Sie geriet nie ernsthaft in Gefahr zu stürzen. Zu mächtig ihr Apparat und dessen Rigorosität, die jegliches Aufbegehren schon im Keim zu ersticken vermochte.

In diese Verhältnisse wurde Patrice Lumumba 1925 hineingeboren. Sie hatten das Leben seiner Eltern und von deren Vorfahren bestimmt. Genaueres zu den Wurzeln ist allerdings kaum bekannt. Lumumbas Familienbiografie lässt sich folglich zuallererst in historischem Kontext ausleuchten und gesamtgesellschaftlich verallgemeinert betrachten: Herkunft und Sozialisation der Familie sind mit einiger Sicherheit vergleichbar mit Herkunft und Sozialisation sämtlicher namenlos gebliebener Afrikaner. Deren Geschichte wurde nirgendwo schriftlich festgehalten, obwohl gerade sie es gewesen waren, die die afrikanischen Kulturen erst geschaffen hatten; und eben im Umkehrschluss weniger jene, die regierten – Häuptlinge, Könige, Geschlechter. Von denen ist einiges kolportiert.

Das gilt für die Geschichte ganz Afrikas und weltweit, und Lumumbas Biografie steht, wie über sie später häufig geschrieben wurde, tatsächlich für die Geschichte des gesamten kolonialen Afrika, besonders aber für jene ersten Jahrzehnte, in denen der Kongo auf der Berliner Konferenz zunächst verschachert und dann vom belgischen König zugerichtet wurde. Allein unter dessen Herrschaft von 1885 bis 1908 halbierte sich laut Schätzungen die Einwohnerzahl.

Dabei hätte das Land, aus dem Lumumba stammte, ein Paradies sein können, ausgestattet von der Natur mit einem üppigen, überbordenden Reichtum an allem, was der Mensch zum Leben braucht, und noch viel mehr. Allein der Kongo-Fluss, dessen Wasserkraftpotenzial auf ein Sechstel des weltweiten Gesamtpotenzials geschätzt wird, das gewaltigste hydrografische Becken Afrikas und das zweitgrößte der Erde, bietet mit seinem Geflecht aus Zuflüssen ein Netz von nahezu 11.000 Kilometern ein natürliches Transportsystem, das seinesgleichen sucht. An die Millionen Hektar Tropenwald mit Palmen, Lianen, Baumriesen schließen sich weite Savannen und Grassteppen an, bevölkert von ungezählten Wildtieren vielerlei Art. Die Vorkommen an Bodenschätzen sind mannigfaltig. Landwirtschaft verspricht üppige Erträge, ebenso die Fischerei.

Doch wurden gerade diese naturgegebenen Schätze, wie profan es auch immer anmuten mag, für das Land am großen Strom nach ihrer kolonialen Erschließung vom Segen, der er bei allen Widersprüchlichkeiten und Aufs und Abs der Geschichte in vorkolonialen Zeiten gewesen sein mag, zum Fluch, zum »Herz der Finsternis«, wie Joseph Conrad das tiefe Innere des Kontinents 1899 nannte. Die Handlung der gleichnamigen Erzählung2 war zwar fiktiv, basierte aber auf dessen autobiografischen Erlebnissen, angereichert um aus mehreren authentischen Personen geformten Protagonisten.

Als Steuermann war Conrad 1890 während eines sechsmonatigen Kongo-Aufenthalts auf dem Dampfboot »Roi des Belges« 1.600 Kilometer den Kongo hinaufgefahren, bis die gewaltigen Katarakte, die Stanley Falls (heute: Boyomafälle), eine Reihe von sieben wasserreichen Fällen und felsigen Stromschnellen, eine Weiterfahrt verhinderten. An der Siedlung Stanleyville (heute: Kisangani), benannt wie die Wasserfälle nach dem Forscher und Autor Henry Morton Stanley, war Endstation.

Stanley, geboren als John Rowlands 1841 in Wales, in die USA ausgewandert, dann in Afrika unterwegs, hatte sich dort zunächst 1871 im Auftrag des New Yorker Verlegers James Gordon Bennett Jr. auf die Spuren des verschollenen schottischen Arztes und Missionars David Livingstone (1813-1873) begeben. Dass er ihn fand und darüber schrieb, machte ihn berühmt. Später würde er noch die bis dahin unbekannte Route von Ostafrika zum Atlantischen Ozean über den Kongo-Fluss erkunden und die Region erstmals kartografisch erfassen.3

1876 stellte er einen Trupp von 356 Trägern, Soldaten und Bediensteten zusammen und zog im Zickzackkurs 12.000 Kilometer durch das Innere des Kontinents, bis er, kurz vor einem erzwungenen Abbruch der Expedition aus Erschöpfung, am 8. August 1877 doch noch die Mündung des Kongo erreichte. Nur 115 Männer hatten die Strapazen überlebt, auch Stanleys drei englische Reisegefährten waren unter den Toten. Auch ungezählte Einheimische starben, getötet bei den Angriffen der Kolonisatoren auf Dutzende Städte und Dörfer. Doch am Ende stand die Gewissheit, dass ein Wasserweg quer durch das Herz Afrikas existierte – eine Erkenntnis, die in Kolonialkreisen Furore machte, weil sich diese gerade intensiver als je zuvor um die Erschließung weiterer Märkte in Afrika bemühten. Besonders genau und begeistert las der König von Belgien, Leopold II., Stanleys Berichte.

Für den Schreiber waren Expeditionen zum »Akt der Besitznahme«4 geworden. In den betroffenen Gebieten führte er – neben den von Missionaren verbreiteten Geboten – ein elftes ein: »Ehre und achte Könige, denn sie sind die Gesandten Gottes.«5

Der König, das ist dann schließlich Leopold II., ein von Ehrgeiz zerfressener Monarch, der für sich und das von ihm repräsentierte Land Belgien Weltrang anstrebte. Auf dem Weg dorthin wurde er in der europäischen Geisteswelt allgemein geschätzt, weil er sich als engagierter Kämpfer gegen den Sklavenhandel und Philanthrop ausgab – eine Fassade, die nicht dauerhaft aufrecht erhalten konnte angesichts des hohen Maßes an Skrupellosigkeit um des persönlichen Erfolgs willen.

Vom rein Äußerlichen her wurde er bekannt durch seinen spatenförmigen, fransigen, langen Vollbart, dunkel zunächst, dann ins Graue und Weiße changierend, ein dünner, ungelenker Mann. Die Uniformen, die er trug, wirkten immer zu groß, der Kopf ebenfalls, die Proportionen, so der Eindruck, schienen nicht zu stimmen. Sein Vater Leopold I., der zum ersten »König der Belgier«, so der offizielle Titel, nach der Unabhängigkeit von den Niederlanden 1830 geworden war, war ein deutscher Fürst aus dem Haus Sachsen-Coburg-Saalfeld und eng verwandt mit der britischen Königsfamilie sowie anderem europäischen Hochadel. 1831 wurde er durch den belgischen Nationalkongress inthronisiert und stand nunmehr einer konstitutionellen Erbmonarchie vor.

Seine zweite Ehefrau Louise d’Orléans, eine Tochter des französischen »Bürgerkönigs« Louis-Philippe I., brachte 1835 in Brüssel Leopold Ludwig Philipp Maria Viktor zur Welt. Er wurde zunächst Herzog von Brabant und Prinz von Belgien und folgte später, nach dem Tod Leopold I., seinem Vater auf den Thron des Königreichs (1865-1908). Unzufrieden mit dem Status und dem mangelnden Renommee seines Landes als flächenmäßig kleinen Landes, das im internationalen Politikgeschäft wenig Einfluss hatte und eher belächelt als beachtet wurde, ausgestattet mit einem hohen Maß an Durchsetzungswillen und Schlitzohrigkeit, machte er sich als strammer Anhänger kolonialer Ideen früh auf die Suche nach Besitztümern in aller Welt.

»Er plante zuerst, jemandem, irgendjemandem, ein Stückchen Planet abzukaufen. Er dachte an eine Provinz in Argentinien; sie stand nicht zum Verkauf. Er hatte dann die Idee, den Niederlanden Borneo abzukaufen. Aber nichts da. Er wollte sich von Spanien die Philippinen ausleihen (…). Sodann machte sich seine Phantasie über China, Vietnam, Japan her«, fasst der Autor Éric Vuillard dessen vergebliche Bemühungen zusammen.6

Die geschichtsträchtige Epoche, in der das zum Kaiserreich zusammengeschlossene Deutschland und die USA nunmehr auf der Weltbühne mitredeten, sich der Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Imperialismus wandelte, in der die letzten, noch nicht erschlossenen Teile Afrikas südlich der Sahara erforscht wurden und der gesamte Kontinent mit Wucht ins Visier kolonialer Begierden der europäischen Großmächte geriet, hatte begonnen. Auch den nach Aufmerksamkeit und Ansehen suchenden Leopold quälte mehr und mehr der Gedanke, »die herrliche Chance zu verpassen, mir ein Stück dieses grandiosen afrikanischen Kuchens zu sichern«7.

War er bei seinen vorherigen Bemühungen um Besitznahmen in aller Welt stets gescheitert und als Leichtgewicht verlacht worden, so entwickelte er mit einigem diplomatischen Geschick, List, Tücke und einer Menge Geld seine Afrikapläne: Der König gehörte zu den wohlhabendsten Männern Europas, hatte beträchtliches Privatvermögen von seinen Eltern ererbt und dieses erfolgreich durch Spekulationsgeschäfte mit Anteilen des Suezkanals vermehrt. Es eröffnete ihm Möglichkeiten und Spielräume, um seine Ambitionen umzusetzen.

Als eine der ersten Maßnahmen finanzierte er die internationale Geographische Konferenz, die im September 1876 stattfand. Afrikakundige Koryphäen aus ganz Europa versammelten sich drei Tage lang im königlichen Palast zu Laeken, wurden vom Gastgeber hofiert und bestens auf üppigen Banketten versorgt, so dass sich der Eindruck aufdrängte, die Spezialisten in Sachen Landvermessung würden vom König für ihre Dienste zur Konkretisierung seiner kolonialen Pläne eingekauft. Diese kleidete er weiterhin in ein menschenfreundlich wirkendes, zivilisationsstiftendes Gewand, das auch den versammelten Wissenschaftlern gefallen musste. In seiner Eröffnungsrede sprach er von einem notwendigen »Kreuzzug« zur Missionierung Afrikas und der Etablierung einer »Zivilisation« nach europäischem Gusto. Das kam an.

Forscher und Geographen trugen ihre Erfahrungen vor, auf selbst erarbeiteten Landkarten markierten sie mögliche Standorte für zukünftige Stützpunkte, wobei sie nicht davon ausgingen, dass diese etwa militärisch genutzt werden sollten, wie es Leopold jedoch tatsächlich vorschwebte. Im Ergebnis des Kongresses entstanden handfeste Pläne für eine Kette von anzulegenden »Stationen«. Zudem wurde beschlossen, eine Internationale Afrika-Gesellschaft zur Koordinierung der Überlegungen zu schaffen, die sich als Komitee zur Erforschung des oberen Kongo (frz. Comité d’Études du Haut Congo – CEHC) mit dem Ziel formierte, die Gegenden am Kongo-Fluss bis weit hinein ins Innere Afrikas in Besitz zu nehmen.

Etwa zwei Jahre danach entstand daraus die Association Internationale du Congo, und Leopold II. beauftragte den inzwischen berühmten Bestsellerautor Stanley, die hierfür notwendigen Vorbereitungen durchzuführen. Dessen geheimgehaltene Aufgabe bestand darin, so viel Land wie irgend möglich »zu erwerben« und Elfenbein mitzubringen. In seinem Notizbuch notierte der König dazu: »Man kann davon ausgehen, dass es im Kongobecken etwa 200.000 Elefanten in etwa 15.000 Herden gibt, von denen jeder, sagen wir, im Durchschnitt 50 Pfund Elfenbein an seinem Kopf trägt, was, wenn es eingesammelt und in Europa verkauft würde, 5.000.000 Pfund entspräche.«8

Der Ende 1878 einige Monate nach ihrer ersten Begegnung in Brüssel zwischen dem König und seinem Angestellten geschlossene Fünfjahresvertrag garantierte Stanley jeweils jährlich die erkleckliche Summe von 25.000 Francs Lohn für dessen Arbeit in Europa und 50.000 Francs während der Erkundungen in Afrika – es war des Königs wichtigste Investition im Vorfeld der Berliner Konferenz von 1884/85, bei der im Übrigen auch Stanley für Leopolds Interessen auftreten würde.

Doch zunächst brach der Abenteurer erneut an den Kongo auf und schloss dort in den folgenden Jahren hunderte – von etwa 450 ist die Rede – sogenannte Vereinbarungen mit Häuptlingen in der gesamten Region, allesamt unerfahren, des Lesens unkundig und schon deswegen leicht zu manipulieren. Keinem einzigen Häuptling wurde der eigentliche Sinn der Verträge erläutert. Sie unterlagen skrupellosem Betrug, als sie »freiwillig« der königlichen Kongo-Association auf Urkunden verfasst in