Perfect Family - Martina Cole - E-Book

Perfect Family E-Book

Martina Cole

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kann ein Leben wirklich so perfekt sein? Nick Leary ist ein Vorzeigebürger: Erfolgreich im Geschäft, ein vorbildlicher Familienvater – er scheint alles zu haben, was man sich nur wünschen kann. Bis eine einzige Nacht alles verändert … Als ein Einbrecher im Haus der Learys einsteigt, ertappt Nick ihn auf frischer Tat. Dass die Begegnung für den 17-jährigen Dieb tödlich verläuft, bleibt ohne Konsequenzen für Nick – immerhin war es Notwehr. Doch seine Familie spürt, dass er seit diesem Tag wie ausgewechselt ist … Wird Nick seine weiße Weste behalten – oder wird die Enthüllung der Wahrheit auch seinen Untergang bedeuten? »Martina Coles Romane haben einen unverwechselbaren, kraftvollen Stil.« The Times Abgründige Spannung der britischen Bestsellerautorin – Fans von Catherine Shepherd werden begeistert sein!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 579

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Nick Leary ist ein Vorzeigebürger: Erfolgreich im Geschäft, ein vorbildlicher Familienvater – er scheint alles zu haben, was man sich nur wünschen kann. Bis eine einzige Nacht alles verändert … Als ein Einbrecher im Haus der Learys einsteigt, ertappt Nick ihn auf frischer Tat. Dass die Begegnung für den 17-jährigen Dieb tödlich verläuft, bleibt ohne Konsequenzen für Nick – immerhin war es Notwehr. Doch seine Familie spürt, dass er seit diesem Tag wie ausgewechselt ist … Wird Nick seine weiße Weste behalten – oder wird die Enthüllung der Wahrheit auch seinen Untergang bedeuten?

Über die Autorin:

Martina Cole ist eine britische Spannungs-Bestsellerautorin, die bekannt für ihren knallharten, kompromisslosen und eindringlichen Schreibstil ist. Ihre Bücher wurden für Fernsehen und Theater adaptiert und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Martina Cole hält regelmäßig Kurse für kreatives Schreiben in britischen Gefängnissen ab. Sie ist Schirmherrin der Wohltätigkeitsorganisation »Gingerbread« für Alleinerziehende und von »Women's Aid«.

Die Website der Autorin: martinacole.co.uk/

Die Autorin bei Facebook: facebook.com/OfficialMartinaCole/

Bei dotbooks veröffentlichte Martina Cole »Die Gefangene«, »Die Tochter«, »Kidnapped«, »The Runaway«, »Eine irische Familie«, »Die Ehre der Familie«, und »Die Abgründe einer Familie«.

***

eBook-Neuausgabe Januar 2025

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2004 unter dem Originaltitel »The Graft« bei Headline Book Publishing, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Das Abbild« bei Heyne.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2004 by Martina Cole

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2006 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung zweier Motives von © Ya Ali Madad / Being Imaginative / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98952-590-0

***

dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Martina Cole

Perfect Family

Thriller

Aus dem Englischen von Lilo Kurzmüller

dotbooks.

Widmung

Für Christopher Wheatley

Es ehrt mich, deine Freundin sein zu dürfen.

Für Ricky und Maria

Wisst ihr noch, als wir Kinder waren ...

Prolog

In dem Zimmer war es so heiß wie in einem Ofen. Er spürte, wie ihm die Schweißtropfen übers Gesicht liefen, und wischte sie achtlos weg. Wenn es doch nur regnen würde, dachte er, wenn das Gewitter nur endlich losbrechen und alles vorbei sein würde.

Der Gedanke brachte ein Lächeln auf Nick Learys Gesicht.

Er war unruhig und konnte nicht schlafen, obwohl er sehr müde war. Zu viel ging ihm durch den Kopf.

Im Bett neben ihm lag seine Frau und schlief tief und fest. Ihr sanftes Schnarchen schien laut in der Stille. Wie immer hatte sie sich zu einem Ball zusammengerollt, ihre Gesichtszüge waren entspannt, was sich mit Tagesanbruch ändern würde. Selbst im Schlaf war ihre Frisur makellos. Tammy sah überhaupt nie unordentlich oder schlampig aus. Nick glaubte, dass nicht einmal ein tödlicher Frontalzusammenstoß mit einem anderen Auto eine Locke verschieben oder ihr Make-up ruinieren könnte. Sie würde sterben wie ein Filmstar. Leise ließ sie einen fahren, und Nick musste in der Dunkelheit grinsen. Sie würde vor Scham sterben, wenn er ihr davon erzählte. Tammy hasste alles, was mit Körperfunktionen zu tun hatte, und sie tat, was sie konnte, um die Tatsache zu verschleiern, dass sie wie jeder andere rülpsen, furzen und kacken musste. Sie rollte sich im Schlaf noch fester zusammen, und er lächelte.

Nick lag auf dem Rücken. Einen Unterarm hatte er über die Augen gelegt. Alles an ihm war groß: sein Körperbau und sein Selbstbewusstsein. Ihm eilte der Ruf voraus, ein harter Geschäftsmann und treuer Freund zu sein. Er legte Wert auf diesen Ruf und kultivierte ihn.

Nur selten tat er etwas, ohne auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein. Deshalb konnte er sich dieses Landhaus mit acht Zimmern und diesen Lebensstil leisten, um den ihn viele beneideten. Aber Nick hatte dafür geschuftet, hatte sich und seine Familie aus eigener Kraft die soziale Leiter emporgezogen – so hoch er nur konnte.

Entferntes Donnern drang an sein Ohr, und sein ganzer Körper entspannte sich. Sekunden später trommelte Regen gegen die Fensterscheiben, und beinahe hätte er gejauchzt vor Freude. Dafür hatte er gebetet, darauf hatte er gewartet und gleichzeitig gefürchtet, es könnte vergeblich sein. Sein Kopf schmerzte vor Anspannung. Das kam bei Gewitter oft vor, aber im Moment hatte er auch besonders viel um die Ohren. Wieder wälzte er sich unruhig im Bett herum.

»Bleib doch mal ruhig liegen, Nick, bitte.«

Obwohl Tammy verschlafen klang, hörte er doch die Ungeduld in ihrer Stimme.

»Entschuldigung, Tam.«

Er zwang seinen Körper zur Ruhe. Ein nächtlicher Streit mit Tammy fehlte ihm gerade noch. Am Tage machte ihm ihr nasaler Singsang nichts mehr aus, schließlich liebte er sie von Herzen. Aber nachts klang sie wie eine greinende cholerische Todesfee mit Zahnschmerzen. Man ließ sie also besser schlafen, besonders in einer stürmischen Nacht wie dieser, wenn einen Nacken und Schultern schmerzten und die Angst von einem Besitz ergriff.

Er schloss wieder die Augen, obwohl er wusste, dass er nicht schlafen würde.

Dann hörte er es.

Er öffnete die Augen und rührte sich nicht. Sein Körper war immer noch schweißbedeckt, doch plötzlich fröstelte ihn. Er lauschte konzentriert, jede Faser seines Selbst alarmiert.

Direkt über ihnen krachte ein Donnerschlag und beinahe im gleichen Augenblick erhellte der Blitz den Raum. Leise glitt er aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen über das Parkett zur Schafzimmertür. Im Flur brannte das Nachtlicht, der Spalt unter der Tür war erleuchtet. Der Lichtstreifen reichte Nick zur Orientierung.

Lautlos erreichte er den Flur.

Der Regen war heftiger geworden, das Haus war vom Geräusch der trommelnden Tropfen erfüllt.

Als er wieder das schwache Geräusch einer Bewegung hörte, blieb er wie angewurzelt stehen. Jemand war im Erdgeschoss. Schubladen wurden geöffnet und wieder geschlossen. Das Herz schlug ihm so heftig in der Brust, dass er glaubte, jeder andere im Haus müsste es hören. Er kam an den Zimmern seiner Söhne vorbei und stellte erleichtert fest, dass die Türen verschlossen waren.

Am oberen Treppenabsatz blieb er wieder stehen und lauschte. Dann bewegte er sich so leise wie möglich die Treppe hinunter. Unten angekommen tastete er nach dem Schirmständer, fühlte den Griff des Baseballschlägers und zog ihn langsam heraus. Für eine Situation wie diese hatte er ihn einst dort bereitgestellt.

Das Haus war groß und stand auf einem fast sieben Hektar großen Grundstück, das nicht leicht zugänglich war. Die Tore waren elektronisch gesichert und gesteuert. Wer sich nicht vorher anmeldete, kam nicht herein.

Nick sah sich in der dunklen Diele um, von der drei Doppeltüren abgingen. Sie führten zum Wohnzimmer, zum Fernsehzimmer und zum Esszimmer. Eine weitere Treppe ging von der Diele aus in den Keller des Hauses. Zwei einfache Türen führten in die Küche und das Arbeitszimmer, neben dem noch eine gut bestückte Bibliothek lag. Die Geräusche aber kamen aus dem Arbeitszimmer.

Dort wo auch Nicks Safe war.

Er schlich über den Dielenboden. Er spürte seinen Herzschlag im Mund. Das Schlucken bereitete Mühe. Für einen Moment hatte das Gewitter innegehalten, um nun noch heftiger zuzuschlagen. Der Wind zerrte an den Ecken des Hauses und erfüllte es mit einem beängstigenden Heulen. Und Nick hatte weiß Gott Angst. Mehr Angst als je zuvor in seinem Leben.

Er wollte sich umdrehen und weglaufen, doch der Gedanke an Tammy und die Kinder hielt ihn zurück.

Die Tür zum Arbeitszimmer stand einen Spalt offen. Er versuchte hindurchzuspähen und stieß sie dann noch weiter auf.

Jemand stand am Kamin. Ganz in Schwarz und mit Skimaske. In der Hand eine große Pistole. Als Nick durch den Raum auf ihn zustürmte, wollte der Einbrecher die Hand mit der Pistole heben, aber Nick traf den Arm mit voller Wucht, und er hörte den Knochen brechen. Der Mann ging zu Boden, und Nick schlug wieder und wieder auf ihn ein, auf den Kopf, den Rumpf, so fest er nur konnte. Dieses verdammte Schwein würde nicht mehr aufstehen, dafür wollte er schon sorgen. Endlich ließ er schwer atmend von dem Einbrecher ab.

Der Mann bewegte sich nicht mehr. Nick trat einen unsicheren Schritt zur Seite, um die Schreibtischlampe anzumachen, und sah in diesem Moment Tammy flankiert von den Kindern in der Tür stehen. Die kleinen Gesichter der Jungs waren weiß vor Angst und Schock. Obwohl er noch unter dem schrecklichen Eindruck seiner Tat stand, wurde Nick bewusst, wie hübsch seine Söhne waren. Er ließ den blutigen Baseballschläger fallen, lief auf seine Familie zu und umarmte alle drei so fest er konnte.

»Es ist alles okay, keine Angst, alles ist okay.«

Er sagte das so oft, dass es wie ein Mantra klang, dabei zitterte seine Stimme. Dann schob er alle aus dem Arbeitszimmer durch die Diele in die Küche und betätigte auf dem Weg jeden Lichtschalter, an dem sie vorbeikamen. Licht. Sie brauchten jetzt unbedingt Licht. Die Jungs kniffen verwirrt die Augen zusammen, und Nick schenkte ihnen ein nervöses Lächeln.

»Es ist alles gut, Jungs. Ich bin ja da. Euch wird nichts passieren.«

Er drückte die beiden blonden Schöpfe an sich und fühlte das Beben ihrer schmalen Schultern.

»Was ist passiert, Nick? Was soll die Scheiße?«

Tammy zog die Kinder von ihm weg und starrte unablässig auf die Tür, als befürchtete sie, dass der unheimliche Eindringling jede Sekunde dort auftauchen könnte. Ihre Zähne klapperten.

»Nur ein Einbrecher, Liebling, ich hab ihn auf frischer Tat ertappt ... «

Nicks Stimme verlor sich in unverständlichem Gemurmel, und er griff nach dem Telefon an der Wand.

»Was tust du da?«

»Ich rufe die Polizei, Liebling.«

Tammy starrte weiter zur Tür.

»Und wenn er wieder zu sich kommt ...«

Erst jetzt fingen die Kinder richtig an zu weinen.

Nick schüttelte den Kopf und versuchte so gelassen und überzeugend wie möglich zu klingen. »Der kommt nicht wieder zu sich, Liebling, das verspreche ich dir.«

Eine Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung, und Nick hob die Hand um seine Familie zum Schweigen zu bringen.

»Hallo, ist da die Polizei? Wir haben einen Einbrecher im Haus. Ich hab das Schwein voll erwischt ...«

Er plapperte wirr drauflos, merkte, dass es sinnlos war, und gab den Hörer an seine Frau weiter.

»Red du mit denen, ich seh noch mal nach dem Kerl.«

»Nein!«

Tammy schrie, ließ den Hörer fallen und hörte gar nicht mehr auf zu schreien.

»Er hat eine Pistole, Nick, ich hab sie gesehen, er wird uns alle umbringen!«

Sie war vollkommen hysterisch und hatte sich in Nicks Armen gerade erst ein wenig beruhigt, als die Sirenen zu hören waren.

»Oh, Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

Mit den Kindern an der Hand rannte sie aus dem Haus über die Kieseinfahrt den Streifen- und Notarztwagen entgegen.

»Er hat eine Pistole ... er hat eine Pistole ...«

Sie konnte gar nicht mehr aufhören.

Die Polizisten nahmen sie in ihre Mitte, sprachen beruhigend auf sie ein und versuchten die Situation zu erfassen. War der Einbrecher immer noch bewaffnet und im Haus? Würde er versuchen, sich den Fluchtweg freizuschießen? Hielt er Tammys Ehemann als Geisel? Gab es Verletzte?

Aber Tammy war längst nicht mehr in der Lage, logisch und vernünftig zu denken. Und nachdem die Polizisten schnell gemerkt hatten, dass die Frau keine große Hilfe war, überließen sie sie dem Notarzt.

Es war Nick junior, der ältere der beiden Jungs, der den Beamten schließlich gefasst und knapp erzählte, was sie wissen mussten.

Nick stand inzwischen wieder im Arbeitszimmer und sah auf den am Boden liegenden Körper. Eine Blutlache hatte sich um dessen Kopf ausgebreitet. Er roch etwas Süßliches, Klebriges. Nick stolperte rückwärts aus dem Raum und ließ sich kraftlos auf einen Stuhl in der Diele fallen.

Dort fand ihn die Polizei wenig später.

Nick Leary hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und murmelte: »Was hab ich getan, mein Gott, was hab ich nur getan?«

Buch eins

Das wildste Tier kennt doch des Mitleids Regung.

William Shakespeare, Richard III. (Akt 1, Szene 2)

Freihandel ist kein Grundsatz, sondern ein Notbehelf.

Benjamin Disraeli, 1804-1881

Kapitel eins

Der Notarzt hatte Tammy etwas gegeben, und sie schlief immer noch. Die Jungs waren im Spielzimmer. Das Haus war still, und Nick fand diese Stille beängstigend. Das Morgengrauen war gekommen, dem Tag gewichen, der wieder vergangen war. Irgendwie. Die Polizei hatte Nick so lange vernommen, bis sein Arzt sie gebeten hatte, ihm etwas Ruhe zu gönnen. Schließlich würde er immer noch unter Schock stehen. Nicht dass das die Polizei interessiert hätte.

Doch nachdem sie die Identität des Einbrechers hatten klären können, wurden die Fragen der Polizei weniger aggressiv, fast einfühlsam. Erst hatte Nick schon befürchtet, sie würden nicht ihn, sondern den Einbrecher als Opfer ansehen. So lief das in dieser wahnsinnigen Welt ja immer öfter. Doch endlich schienen sie seiner Angst um die Familie Glauben zu schenken.

Seine Mutter Angela war gekommen. Sie sah ihrem Sohn fest ins Gesicht und sagte: »Du hast nichts zu befürchten, Nick. Kein vernünftiger Mensch würde dir die Schuld an der Sache geben. Du hast nur dich und deine Lieben verteidigt.«

Die Stimme seiner Mutter war ein rauer Cockney-Singsang und wirkte in der edlen Umgebung fehl am Platze. Sie wohnte im Haus ihres Sohnes, hatte die Schrecken der Nacht aber dank ihrer Vorliebe für Schlummer-Whisky verschlafen.

»Bitte, Mom, ich will nicht drüber reden. Mach uns lieber einen Tee.«

Sie fügte sich und stellte den Wasserkocher an, aber er erkannte an ihren steifen Bewegungen, dass sie wütend war.

Er musste lächeln.

Seine Mutter hatte Schneid. Und sie war eine ewige Unruhestifterin. Er vergötterte sie. Aber ihre lose Zunge hatte sie schon oft in Schwierigkeiten gebracht. Nicht nur bei ihrer Familie, sondern bei fast jedem, der ihre Umlaufbahn störte. Angela Leary hatte einfach kein Gefühl dafür, wann sie Ruhe geben musste.

»Der kleine Scheißer hätte früher oder später sowieso seine Abreibung bekommen.«

Wut und Abscheu ließen ihr Stimme schriller klingen. Mit einer Waffe in das Heim ihres Sohnes einzudringen! Diese Waffe machte ihr am meisten zu schaffen. Und die Tatsache, dass der Eindringling offenbar Drogen nahm und schon Einbrüche und Diebstähle verübt hatte. Nachdem der Notarzt ihm die Skimaske abgenommen hatte, konnten die Polizisten ihn sofort identifizieren. Jeder Polizist in der Umgebung kannte ihn. Er war nichts anderes als ein kleiner, gefährlicher Scheißkerl.

Angela ignorierte Nicks Sehnsucht nach Ruhe und Frieden und redete einfach weiter.

»Für was halten sich solche Typen eigentlich? Brechen bei anderen Leuten ein, bedrohen sie. Verletzen sie! Schleichen im Haus rum, während friedliebende Leute in ihren Betten liegen ... In Betten, die mit den Früchten harter Arbeit bezahlt wurden. Nicht gestohlen. Und dann noch mit einer Pistole, mein Gott. Wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können, wird mir ganz schlecht. Er hätte euch im Schlaf erschießen können.«

Nick hatte das Gefühl, sein Kopf würde jeden Moment explodieren.

»Ich hab’s kapiert, Mom, okay?«

Das hatte er schon fast geschrien.

Sofort kam sie mit Sorge im Blick zu ihm. Dabei sah sie so alt und zerbrechlich aus, dass er am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Ihr ganzes Leben hatte Angela Leary dafür gekämpft, Geld von dem erbärmlichen Säufer zu bekommen, den sie einst geheiratet hatte. Geld, mit dem sie ihrer Familie ein Dach überm Kopf und Essen im Bauch bezahlen konnte. Morgens um vier hatte sie schon für andere geputzt, geschrubbt und gewienert. Dann hatte sie ihre Kinder zur Schule gebracht, bevor sie loszog, um in einer Kunststofffabrik in Romford zu schuften. Nick liebte und bewunderte sie wirklich und hatte nie gegen sie die Stimme erhoben, aber an diesem Tag war eine Grenze erreicht. Er konnte sie nicht mehr ertragen.

»Es tut mir leid, Mom, aber es ist alles noch so frisch und ... «

Er konnte nicht weitersprechen.

»Nein, mein Junge, mir tut es leid. Ich sollte einfach meine Klappe halten, aber ich kann nicht verstehen, wie jemand uns so was antun kann. Wenn ich den in die Finger kriegen würde.« Sie zuckte mit den Achseln. »Na, hoffen wir mal, dass er überlebt. Dass er überlebt und in den Knast wandert. Aber heutzutage geht so einer doch gar nicht mehr in den Knast, oder? Wahrscheinlich schicken sie den zur Erholung nach Scheißafrika. Weil alle so viel Herz und so viel Verständnis haben.«

Fast hätte Nick gelacht. Während Angela den Tee bereitete, schimpfte sie weiter auf die Welt. Nick hörte nicht mehr zu und hing seinen eigenen finsteren Gedanken nach.

Der Junge lebte.

Etwas anderes konnte Nick nicht denken.

Der Junge lebte noch.

»Ihrem Sohn geht es sehr schlecht, Mrs Hatcher.«

Die Stimme des Arztes war leise. Sie sah ihm direkt ins Gesicht.

»Das überrascht mich nicht. Man hat ihm mit einem Baseballschläger auf den Kopf gehauen.«

Sie lachte mit hoher, nervöser Stimme und wurde dem Arzt sofort sympathisch.

»Sie sollten wirklich über eine Organspende nachdenken. Vielleicht könnte das Sie und Ihre Verwandten trösten. Es ist, als würde ein Teil des Menschen weiterleben und ...«

»Es wird nichts abgestellt«, sagte sie heftig. »Er wird wieder gesund. Mein Sonny ist ein starker Junge, ein Kämpfer.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Er wird wieder gesund. Ich liebe ihn. Er muss sich nur ein bisschen ausruhen und schlafen, das ist alles.«

Der Arzt tauschte einen Blick mit der Schwester, die neben der unglücklichen Mrs Hatcher saß, und schüttelte den Kopf.

Die Mutter nahm die Hand ihres Sohnes und sagte fröhlich: »Mein Sonny Boy wacht bald wieder auf. Er ist erst siebzehn. Teenager in dem Alter stehen doch nie vor Nachmittag auf, stimmt’s?«

Sie nickte der Schwester um Bestätigung heischend zu, und diese hätte angesichts der Verzweiflung der Frau fast selbst losgeheult.

»Ich hole Ihnen mal eine Tasse Tee.«

Die Krankenschwester und der Arzt verließen den Raum. Beide wussten, dass Sonny nie wieder aufstehen würde. Er war hirntot.

Jude Hatcher schloss die Augen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Ihr Gesicht war verhärmt, aber das war es schon länger. Alkohol und Drogen hatten dafür gesorgt. Das fettige blonde Haar hatte sie zurückgestrichen. Die blauen Augen waren fast so leer wie die ihres Sohnes. Ihr ohnehin schlanker Körper war durch Wodka und Kokain und Amphetaminen gewidmeten Wochenenden noch zusätzlich ausgezehrt worden. Aber ihre Lieblingsdroge war Heroin. Eigentlich sollte Methadon ihr helfen, davon loszukommen, doch dem Ersatzstoff fehlte der Kick, und er half ihr zu wenig, all die Probleme und düsteren Gedanken zu verdrängen.

Sie beugte sich vor, um noch einmal das Foto aus ihrer Handtasche zu nehmen.

»Hier, Sonny, schau noch mal. Das sind wir beide in Yarmouth. Weißt du noch? Du warst erst zwei.«

Die Hoffnung in ihrer Stimme betrog sie, weil sie selbst sich kaum an dieses Wochenende erinnern konnte. In diesem Urlaub war sie meist betrunken oder bekifft gewesen. Damals war Sonnys Vater noch mitgekommen. Ein gutaussehender Mann. Noch heute. Traurig betrachtete sie das Foto. Sonny war das Abbild seines Vaters, nur seine Haut war nicht so dunkel.

Jude hatte Tyrells Mutter eine Nachricht hinterlassen und hoffte, dass er sie hören und ins Krankenhaus kommen würde, bevor ... Nein, daran wollte sie nicht denken. Sie würde nicht zulassen, dass man Sonnys Apparate abstellte, egal was die Ärzte sagten. Tief in ihrem Herzen wünschte sie sich, Tyrell würde kommen und ihr diese Entscheidung abnehmen. Aber der war mit seiner zweiten Frau und seinen zwei Kindern in Jamaika, und die Rückreise würde lange dauern.

Dafür war Tyrells Mutter, die Gute, ganz aus dem Häuschen. Sie liebte den Jungen, aber traute sich nicht aus dem Haus. Jude wollte sie später noch mal anrufen und ihr sagen, wie es ihm ging. Verbana war eine gute Frau, ein echter Lichtblick. Fast war sie wie die eigene Mutter, die Jude nie gehabt hatte. Und sie liebte ihren ältesten Enkel abgöttisch. Natürlich tat sie das. Schließlich hatte sie ihn praktisch großgezogen.

Und Verbana war auch immer gut zu Jude gewesen. War immer besorgt gewesen, dass sie genug aß und auf sich aufpasste. Jude wusste nicht, was ohne Verbanas Unterstützung in all den Jahren aus ihr geworden wäre.

An Tyrells Mutter konnte sie sich immer wenden. Was auch immer sie getan, oder viel öfter nicht getan hatte, Verbana war für sie da. Die einzige Konstante in ihrem chaotischen Leben. Nie hatte Verbana den Stab über sie gebrochen, sondern stattdessen stets versucht, Verständnis aufzubringen.

Und für jemanden wie Jude Hatcher, die sich selbst nie verstanden hatte, war das keine Kleinigkeit.

Sie wünschte, Verbana wäre bei ihr. Sie wünschte, Tyrell wäre bei ihr, sie wünschte, irgendjemand wäre bei ihr und könnte diese Last von ihren Schultern nehmen. Entscheidungen zu fällen war nie ihre Stärke gewesen. Sie traf immer die falschen.

Sie bettete ihren Kopf auf das Kissen neben den ihres Sohnes und weinte. Es war das Einzige, was sie tun konnte.

»Er ist ein kleiner Bastard, so was musste doch mal passieren.«

Detective Inspector Rudde klang gelangweilt. Das Interesse der Polizei an dem Fall hatte schnell nachgelassen, als klar geworden war, wer das zerbrochene Häufchen Mensch auf dem Boden in Nick Learys Arbeitszimmer war: ein aktenkundiger kleiner Gauner mit einem Strafregister so lang wie sein Arm. Ein dummer, großmäuliger, kleiner Drecksack, der schon so ziemlich jede Art von Verbrechen begangen hatte. Bis auf Mord. Und dazu wäre es wahrscheinlich auch gekommen, wenn Nick Leary ihn nicht vorher erledigt hätte.

»Aber er ist trotzdem ein Mensch, und es ist nicht gesagt, dass er wirklich jemanden verletzen wollte.«

Rudde verdrehte entnervt die Augen. Sein fettes Gesicht drückte aus, dass er nicht glauben konnte, was er da hörte.

»Die Scheißpistole war scharf, und in dem Landhaus sind mehr Antiquitäten als bei Sotheby’s. Glaubst du, der war da nur so zum Spaß? Schalt mal dein Scheißhirn ein. Nein, ich werde die Sache nicht dem Staatsanwalt übergeben. Sonny Hatcher ist mit Anlauf gegen die Wand gefahren. He, dieser Nick Leary hat gerade die Kriminalitätsrate der Stadt um vierzig Prozent gesenkt. Wir sollten ihm einen Scheißorden verleihen.«

Detective Ibbotson seufzte. Sachlichkeit war seinem Boss fremd und darum konnte man auch nicht ruhig mit ihm reden.

Also änderte er die Taktik. »Du glaubst also ernsthaft, Sonny Hatcher versteht irgendetwas von Antiquitäten?«

»Na klar, der ist wahrscheinlich ein Scheißexperte. Wie ich den kenne, hätte der zuerst die Aschenbecher geklaut. Aber darum geht es gar nicht. Er dachte einfach, da gibt’s was zu holen, und das reichte ihm.«

Ibbotson blieb hartnäckig.

»Vielleicht hat ihm jemand den Auftrag für den Einbruch gegeben. Jemand der wusste, was sich zu stehlen lohnte.«

Rudde zuckte die mächtigen Schultern.

»Geht mir am Arsch vorbei. Der Fall ist für mich abgeschlossen. Meiner Meinung nach hat Nick Leary uns einen großen Gefallen getan. Selbst wenn – und das ist ein großes Wenn –, selbst wenn der kleine Wichser im Auftrag gehandelt haben sollte, würden wir das nie erfahren. Allerdings wüsste ich gern, woher er die Waffe hatte. Das wäre schon interessant. Jedenfalls sind weitere Ermittlungen reine Geld- und Zeitverschwendung. Ob die Staatsanwaltschaft mit mir da einer Meinung ist, werden wir ja sehen, aber ich denke schon. Sonny Boy Hatcher hat sich den Strick selbst gedreht. Tja, und gestern Nacht ist er endlich an den Falschen geraten.«

Er hielt seinem jüngeren Untergebenen den Zeigefinger vor die Nase.

»Erklären Sie mir mal, warum ein unbescholtener Bürger für die Verbrechen dieses Abschaums büßen soll. Wenn Hatcher nicht in diesem Haus gewesen wäre, würde er jetzt wie sonst im Pub große Reden schwingen und sich einen hinter die Binde kippen, statt mit eingeschlagenem Schädel im Krankenhaus zu liegen.«

Rudde wartete nicht auf eine Antwort.

»Das nennt man Gesetz der Wildnis, Kollege. Nur die Stärksten überleben. Nimm doch mal an, Nick Leary wäre eine zerbrechliche alte Dame gewesen. Dann wäre die Sache völlig klar für dich, stimmt’s? Natürlich wäre sie das. Aber es ist dasselbe Verbrechen.«

Er lachte sarkastisch.

»Dann würdest du nach Hatchers Blut schreien, genau wie alle anderen. Scheiß auf ihn, sage ich. Und scheiß auf all die anderen Wichser, mit denen wir’s zu tun haben. Ich hab jedenfalls die Schnauze voll.«

Rudde wusste, dass seine Argumente zu einer Tirade wurden, aber er konnte und wollte nicht aufhören. Er sprach jetzt für jeden, der schon einmal ausgeraubt und überfallen und betrogen worden war. Er ließ alles raus und hatte Spaß daran.

»Sonny Hatcher hat einen alten Mann ausgeraubt, der gerade seine Rente abgeholt hat. Er stand vor dem Kadi, weil er eine ältere Nachbarin bedroht hat. Dieser Ausbund an Tugend hat eine schwangere Frau geschlagen. Und jetzt erklären Sie mir mal, warum mir der Scheißkerl nicht egal sein sollte?«

Ibbotson wusste nicht, was er sagen sollte.

»Er kennt das Gesetz. Besser als jeder andere. Als er mit einer Pistole in dieses Haus eingebrochen ist, wusste er genau, dass er am Arsch wäre, wenn sie ihn schnappen würden. Für mindestens zehn Jahre. Pech für ihn, dass der andere die dickeren Eier hatte, und wenn du mich fragst, hätte das ruhig schon früher passieren können. Also erledige endlich den Papierkram und lass mich in Ruhe, okay?«

Ibbotson nickte.

Das Gespräch war beendet. Er konnte nur hoffen, dass der Staatsanwalt die Sache anders beurteilte, aber darüber machte er sich keine allzu großen Hoffnungen. Sein Boss spiegelte die Meinung des gesamten Reviers wider. Trotzdem blieb Ibbotson bei der Meinung, die er schon vorher in der Kantine geäußert hatte: Hatte ein Junge sein Leben verwirkt, nur weil er kriminell geworden war? Offenbar war das die Ansicht der meisten in der Stadt.

Tammy riss ungläubig die Augen auf.

»Du willst mich verarschen, oder?«

Nick schüttelte den Kopf.

»Die von GMTV wollen meine Version der Geschichte im Frühstücksfernsehen bringen.«

Tammy hatte den Schreck noch nicht verdaut, trotzdem richtete sie unwillkürlich ihre Frisur.

»O mein Gott. Du gehst doch hin, oder?«

Ihre Stimme ließ keinen Zweifel daran. Er seufzte.

»Du musst ihnen doch sagen, wie es wirklich war. Dass du hättest getötet werden können. Wenn sie dich wirklich anklagen wollen, ist es das Beste, ihnen deine Version zu erzählen, Nick.«

»Ach, ich weiß nicht, Tam. So bin ich nicht. Ich hasse es, im Rampenlicht zu stehen.«

»Keine Angst, Nick, ich komme mit.«

Trotz des Entsetzens, das ihr immer noch in den Gliedern steckte, überlegte Tammy schon, was sie für den Fernsehauftritt anziehen könnte und ob es gut wäre, davor noch einmal ins Sonnenstudio zu gehen, damit sie nicht so blass wirkte.

Immerhin würde sie das alles für ihren Mann tun. Sie wollte allen zeigen, dass sie anständige Menschen waren, die zwar Geld auf der Seite hatten, aber mit beiden Beinen fest auf dem Boden standen.

Auf ihre Art wollte sie nur das Beste.

Tyrell Hatcher saß schweigend im Flugzeug. Er wusste, dass er ein gutaussehender Mann war, wusste, dass man ihn ansah, aber er ignorierte die Blicke. Sein Aussehen und sein Charakter hatten sich immer widersprochen. Tyrells zweite Frau Sally akzeptierte inzwischen die Aufmerksamkeit, die ihr Mann auf sich zog, weil sie ihm blind vertraute. Dabei war er einem Seitensprung nicht grundsätzlich abgeneigt, aber dazu kam es höchstens nach einem heftigen Streit oder anderen Problemen in ihrer Ehe.

Sally war wie eine Königin, mit einer Haut wie Milchschokolade. Tyrell betete sie an, aber manchmal verspürte er den Drang nach der Berührung eines fremden Körpers. Tyrell kam der Gedanke, dass diese Charaktereigenschaft sich vielleicht auf seinen ältesten Sohn übertragen haben könnte. Er jedenfalls hatte einmal beinahe seine Ehe für einen schnellen Fick aufs Spiel gesetzt. Sally wusste davon nichts. Riskiert hatte er es trotzdem, und die Gefahr genossen. War es diese Freude an dem Gefühl der Gefahr, die sein Sohn geerbt hatte?

Seine beiden anderen Kinder waren geradlinig, selbstbewusst und konnten hart arbeiten. Was also war mit Sonny Boy los? Wie konnte es passieren, dass er bei einem versuchten Raub im Haus eines Fremden zu Brei geschlagen wurde?

Tyrell wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Er war müde, aber an Schlaf war noch nicht zu denken.

Es war schwer, seiner ersten Frau Jude nicht die Schuld an Sonny Boys Entwicklung zu geben. Er konnte sich noch gut an Zeiten erinnern, an denen er zu fast jeder Tages- und Nachtzeit angerufen worden war, um Sonny oder seine Mutter gegen Kaution aus der Zelle zu holen. Aber Jude tat einem dabei immer irgendwie leid. Daran sollte er denken, nahm er sich vor. Und ihr keine Vorwürfe machen. Sonny dagegen war immer wild gewesen, schien immer eine Last mit sich herumzuschleppen. Aber seine jüngeren Halbbrüder hatte er geliebt. Er hatte sich um sie gekümmert und sich immer gefreut, wenn er mit ihnen zusammen war.

Auch ihnen musste Tyrell nun die tragische Nachricht schonend beibringen. Musste sie alle mit der Wahrheit konfrontieren, dass sein Erstgeborener, sein Bestgeliebter ein gemeiner Dieb war. Und so gut wie tot. Er wusste, dass Jude nur auf seine Entscheidung wartete, die lebenserhaltenden Maßnahmen zu beenden. Allein könnte sie sich nie dazu durchringen, also musste er auch diese Bürde auf sich nehmen. Er hatte keine Wahl.

Jedoch zu erklären, wie und warum Sonny gestorben war, würde am schwersten werden. Bei einem bewaffneten Raubüberfall. Weil er ganz anders war als sie alle, anders dachte als sie alle. Am schwersten würde sich Tyrells Mutter tun. Sie hatte den Jungen praktisch großgezogen, war immer für ihn und Jude da gewesen. Warum diese fromme, jesustreue Frau Jude vom ersten Augenblick an so in ihr Herz geschlossen hatte, konnte Tyrell bis heute nicht verstehen. Aber diese Herzlichkeit beruhte auf Gegenseitigkeit. Vielleicht hatte Judes Hilfsbedürftigkeit an Verbanas Mutterinstinkte appelliert? Jude war die unglücklichste Frau, die er je getroffen hatte. Und sie forderte ständig irgendetwas. Sie brauchte Menschen, und zum Glück für Jude war Verbana ein Mensch, der gebraucht werden wollte. Besonders nachdem ihre eigenen Kinder sie nicht mehr brauchten. Sie hatte sie zur Selbstständigkeit erzogen, aber selbst das Haus seit über zwanzig Jahren nicht mehr verlassen.

Tyrell wünschte, er könnte die Augen schließen und wieder öffnen, und alles würde so sein, wie es einmal gewesen war.

Er wünschte, er hätte Sonny damals mit nach Jamaika genommen, obwohl diese Möglichkeit nie wirklich bestanden hatte. Sally hatte sich mit ihm wirklich Mühe gegeben, aber man konnte nicht behaupten, die beiden hätten einen Draht zueinander gefunden. Vier gemeinsame Wochen in Jamaika wären für beide mehr als anstrengend geworden.

Wütend schüttelte Tyrell den Kopf, und seine Rastalocken schlugen ihm auf die Wangen. Die kleinen Ohrfeigen brachten ihn zurück in die Gegenwart.

Sonny hätte alles von seinem Vater haben können. Er hätte nur zu fragen brauchen. Immer wieder hatte Tyrell ihm das versichert, und trotzdem war Sonny kriminell geworden. Er hatte Spaß daran, mit Leuten zusammen zu sein, die anständige Menschen dazu brachten, die Straßenseite zu wechseln. Fast schien es, als wäre er stolz gewesen auf seinen wachsenden schlechten Ruf. Drogen, Alkohol, Schlägereien: Er kannte keine Tabus. Kein Satz, den er sagte, ohne Fluch, kein noch so harmloses Gespräch ohne Wortgefecht. Immer kämpfte er gegen eine Welt, die gegen ihn war. Tatsächlich oder in seiner Einbildung.

Aber all die Gespräche mit Lehrern, Kautionsrichtern und Polizisten hatten nie etwas an der Tatsache ändern können, dass Tyrell diesen Jungen, der seinen Namen trug, aufrichtig liebte. Und nie hätte er ihn fallen lassen, nicht in einer Million Jahren.

Bewaffneter Raubüberfall?

Tyrell überlegte, wie es wohl war, ihm in einem fremden Haus, mitten in der Nacht mit der Waffe in der Hand zu begegnen. Er schauderte.

Der Schreck könnte einem den Verstand rauben. Er konnte den Mann verstehen, der sich so heftig verteidigt hatte. Wäre Tyrell an seiner Stelle gewesen, er hätte genauso gehandelt.

Aber warum hat sein Junge das getan?

Warum?

Sonny war ein kleiner Gauner gewesen, aber das war schwerstkriminell, und Tyrell hätte gewettet, dass Sonny nie so weit gehen würde.

Da hatte er sich wohl geirrt.

Und wenn er sich dabei geirrt hatte, wobei noch? Konnte er noch auf seine Menschenkenntnis vertrauen? Wie würde er es fertig bringen, seinen Sohn sterben zu lassen? Würde er die Kraft aufbringen, nachdem das Flugzeug gelandet war und er wieder festen Boden unter den Füßen hatte?

Er hatte plötzlich große Zweifel daran, dass sein Leben bisher richtig gelaufen war. Da war eine Leere.

Eine ganz bestimmte Leere.

Verbana Hatcher wusste, dass sie nicht würde schlafen können, obwohl sie sehr müde war. Also nahm sie die Bibel, hielt sie fest in ihren Händen und betete für ihren Enkel. Der Raum war gefüllt mit Bildern ihrer geliebten Familie: ihrer Kinder, ihrer Eltern, sogar ihrer Großeltern. An der Wand und auf den Möbeln war jeder Zentimeter besetzt von lachenden Gesichtern und wichtigen Momenten in Verbanas Leben: Taufen, Hochzeiten, Schulabschlussfeiern. Ein erfülltes Leben in Bildern.

Mitten in all diesen lachenden Gesichtern stand ein kleines Foto in einem Silberrahmen. Es zeigte Verbana und Jude, die den kleinen schlafenden Sonny Boy auf ihrem Schoß hielt. An diesem Bild liebte Verbana am meisten Judes Gesichtsausdruck. Wenn sie es ansah, beachtete sie Sonny Boy gar nicht. Jude schien glücklich. Einmal in ihrem Leben schien sie glücklich, vollkommen und uneingeschränkt glücklich. Verbana wusste, warum. Weil Jude mit ihrem kleinen Sohn endlich eine eigene Familie hatte. Verbana hatte den Arm beinahe schützend um Judes Schultern gelegt, als wolle sie verhindern, dass die Welt ihr etwas antat. Sie wusste, dass Jude das gleiche Foto in ihrer Geldbörse aufbewahrte. Auf ihre Art versuchte Verbana immer noch, sie zu beschützen. Sie und Judes Sohn, ihren Enkel.

Ihre Lippen beteten stumm und baten Ihn, Sonny Boy beizustehen in der Stunde der Not. Baten Ihn, Jude beizustehen in ihrer Trauer. Und sie baten Ihn, ihren über alles geliebten Enkel zu verschonen und stattdessen sie heimzuholen.

Ihre Tochter Maureen betrat den Raum mit einem Glas schwarzem Rum in der Hand.

»Hier, trink das. Das wird dir guttun.«

Verbana schüttelte den Kopf. Normalerweise fasste sie Alkohol nicht an.

»Bitte, Mummy.«

Da wusste Verbana, dass ihre Tochter schlechte Nachrichten hatte, nahm das Glas und stürzte es hinunter. Das Brennen war angenehm, und an den Geschmack konnte sie sich sogar erinnern. Und mit dieser Erinnerung wurde auch die an frisch gemähtes Gras wach, an Sonnenstrahlen durch klare Fensterscheiben und Transistorradioklänge von gegenüber. Sie erinnerte sich an die Geräusche des Sommers, an das Zirpen der Grillen. Fast hatte sie den Geschmack von Stockfisch auf der Zunge, fast hörte sie das Lachen ihres Vaters, der ihr am Freitagabend erlaubte, an seinem Glas mit schwarzem Rum zu nippen. Die Gerüche und Klänge des Sommers und der vergangenen Freude wurden verdrängt von der Wirklichkeit und der Verzweiflung.

Die Erinnerung war etwas Schönes, aber gleich würde sie von einer schrecklichen Nachricht für immer zerstört werden. Warum sonst hätte man sie mit Alkohol betäuben wollen?

»Maureen, hat Jude angerufen?«

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

»Ich habe nichts von ihr gehört. Aber ich fahre gleich ins Krankenhaus.«

Verbena nickte mechanisch.

Sie wusste, dass Maureen log. Es war nett gemeint, aber trotzdem eine Lüge. Die Nachricht musste irgendwie elektronisch gekommen sein. Jedenfalls hatte sie vorher irgendwo im Haus dieses Piepsen gehört, mit dem junge Menschen in diesen Zeiten mit anderen jungen Menschen irgendwo auf der Welt Kontakt aufnahmen.

Gegen das Sodbrennen, das sie von dem Rum kriegen würde, konnte sie Pillen nehmen. Gegen die Schmerzen in der Seele gab es kein Mittel.

Sie sah sich im Zimmer um, stellte sich vor, wie Sonny Boy auf dem Sofa lag und Beenie Man oder Bob Marley hörte, sah seine Augen voller Lebensfreude, sah seinen Körper, der von ihrer Liebe und ihren Kochkünsten lebte und gedieh. Alles umsonst. Aber für immer in ihrem Herzen.

Sie war jetzt bereit für die schlechte Nachricht.

Jude Hatcher hielt sich an Tyrell fest. Ihm haftete diese bestimmte Mischung aus Zigaretten, Heu und Deo an, die ihr so vertraut war. Er sah so gut aus wie er roch. Sie zitterte, und er hielt sie sanft in seinen Armen, während sie ihren im Koma liegenden Sohn betrachteten.

»Ruhig, Jude, alles wird gut werden.«

So einen Mist sagte man eben, weil man im Grunde wusste, dass nichts jemals wieder gut werden würde.

Nick Leary sah das Gesicht des Polizisten im Monitor und drückte auf den Toröffner. Bis der Beamte über die Auffahrt gefahren, ausgestiegen und zur Haustür gekommen war, schienen Stunden zu vergehen. Tammy bereitete kochendes Wasser für Tee und lächelte ihren Mann unsicher an. Es war lange her, dass er ihren Beschützerinstinkt geweckt hatte. Sonst war er es, der sie und die Familie beschützte. Aber jetzt sah sie, dass seine Hände zitterten und alles Blut aus seinem Gesicht gewichen war, und das rührte sie fast zu Tränen. In nur vierundzwanzig Stunden war ihr Leben auf den Kopf gestellt worden. Und alles nur, weil ein Halbwüchsiger sich entschlossen hatte, ihnen wegzunehmen, was sie sich hart erarbeitet hatten.

Es war nicht richtig, einfach nicht richtig, dass sie gezwungen waren, sich vor Gericht zu verteidigen. Aber ihr Anwalt hatte sie davor gewarnt.

Dass Nick kein Heiliger war, wusste Tammy. Aber das hatte er nicht verdient.

Der Polizist betrat in Nicks Begleitung die Küche, als Tammy gerade das kochende Wasser auf den Tee goss. Detective Inspector Rudde war in Ordnung. Er stand auf ihrer Seite, das wusste sie.

Er deutete eine Verbeugung an.

»Mrs Leary.«

Sie schenkte ihm ein Lächeln und hob eine perfekt gezogene Augenbraue. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Oder einen Scotch?«

»Sowohl als auch, bitte.«

Sie mussten alle grinsen, das Eis war gebrochen, aber immer noch zwischen ihnen fühlbar wie eine Wand aus Glas.

»Ich habe einen guten Malt in meinem Büro. Zwanzigjährig.«

Nick rannte fast aus der Küche. Das Herz pochte in seinen Ohren. Wenn es nur schon vorbei wäre. Das war für ihn die Hauptsache. Selbst wenn er verknackt würde: Hauptsache, es war bald vorbei. Alles war besser als die Ungewissheit, dieses sinnlose Warten.

In der Küche stand Tammy und blickte Rudde in die Augen.

»Was wird aus Nick?«

Er lächelte milde.

»Wenn’s nach mir ginge, wäre er aus dem Schneider, aber ich kann natürlich nicht für den Staatsanwalt sprechen. Jedenfalls hab ich ihm empfohlen, die Sache fallen zu lassen.«

»Und der Junge?«

»Man wird die lebenserhaltenden Maßnahmen beenden.«

Sie nickte. Schluckte. Dann fragte sie: »Dann könnte die Anklage also auf Mord lauten?«

Rudde nickte.

»Aber ich bezweifle das. Höchstens auf Totschlag.«

Sie nahm das Teesieb aus der Kanne. Die Angst, Nick zu verlieren, kam plötzlich wie eine Welle über sie.

»Was für eine Verschwendung.«

Der Detective hatte nichts dazu zu sagen. Er hatte in seinem Beruf schon zu viele verschwendete Leben gesehen, und inzwischen waren sie ihm egal.

»Nick und ich haben uns aus der Scheiße hochgearbeitet. Wir sind beide Waisen. Wir haben gearbeitet. Wir haben geschuftet. Das tun wir immer noch. So haben wir uns dieses Leben ermöglicht, aber es war verdammt hart. Wir schulden niemandem etwas, wir leben unser Leben, wie es uns gefällt. Und nur weil uns dieser Gauner bestehlen wollte, hängt jetzt dieses Damoklesschwert über unseren Köpfen?«

Tammy Leary schaute Rudde flehentlich an.

»Warum habe ich dieses Gefühl, dass wir etwas falsch gemacht haben? Dass wir in diesem Spiel die Bösen sind? Das sind wir nämlich nicht. Wir sind gesetzestreue, rechtschaffene Bürger. Wir sind die Guten. Und dieser kleine wertlose Bastard hat unser Leben ruiniert.«

Sie begann zu weinen.

»Er hätte niemals herkommen dürfen. Wir haben ihn nicht hergebeten. Das hier ist unser Haus. Wir haben es bezahlt. Er ist hier eingebrochen, soll ich mich deswegen schlecht fühlen? Mein Mann musste unsere Kinder und mich beschützen. Er ist ein guter Mann, da können Sie jeden fragen.«

Sie schluchzte vor Angst.

Rudde sah sie lange an und wusste nicht, was er sagen sollte. Es gehörte zu seinem Job. Er musste Eltern sagen, dass ihre Tochter nicht nach Hause kommen würde, weil jemand sie ermordet hatte. Er musste Leuten mitteilen, dass ihr Sohn leider bei einem Streit über eine Nichtigkeit im Pub erstochen worden war. Schon oft hatte er Menschen beibringen müssen, dass ihre geliebten Angehörigen bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Egal wie oft er diese traurige Pflicht hatte übernehmen müssen, es war mit den Jahren nie leichter geworden. Und nun würde diese Familie leiden müssen, weil der Vater von seinem Recht der Selbstverteidigung Gebrauch gemacht hatte.

Rudde hätte genau das Gleiche getan. Aber natürlich durfte er das nicht sagen. Stattdessen trank er seinen Tee, nippte er an seinem Malt und drückte stumm seine Solidarität aus.

Aber der Tee schmeckte nach lauwarmer Pisse, und der Scotch stieg ihm gleich zu Kopf. Er wurde wohl alt. Das fehlte ihm gerade noch.

Kapitel zwei

Das Interview bei GMTV war besser gelaufen, als alle gedacht hatten. Und Tammy war im Studio in ihrem Element. Der Schock des Überfalls hatte nachgelassen, und die unmittelbare Gefahr einer Verurteilung von Nick war zunächst einmal gebannt. Deshalb konnte sie ihrem neuen Status als Promi durchaus positive Seiten abgewinnen.

Und nach wie vor waren sie im Recht. Desto mehr, je länger sie über den Fall nachdachte. Und auch die Fernsehzuschauer schienen das so zu sehen. Jedenfalls hatte GMTV noch nie so viele Anrufe nach einer Sendung, und die allgemeine Ansicht war, dass Nick nur getan hatte, was jeder andere auch getan hätte.

Tammy war stolz auf ihn. Stolz darauf, dass er sich der Öffentlichkeit gestellt und gesiegt hatte. Aber nachts fiel ihre beherrschte Fassade, und sie hatte Angst. Angst vor dem Gedanken, dass Nick hätte tot sein können. So wie sie alle. Der Schock des ersten Moments, als sie die Pistole sah, war ihr immer noch gegenwärtig. Der Kerl war ein Gangster. Ein junger Gangster zwar, aber trotzdem einer. Er hätte wissen müssen, dass man für alles seinen Preis zahlen muss. Dass es der höchste Preis war, dafür konnten die Learys schließlich nichts.

Die Sache hatte inzwischen auch ihr Gutes. Seit dem Fernsehauftritt hatten sie Angebote von Zeitungen und anderen Sendern. Ihr Leben war nun von öffentlichem Interesse, und Tammy konnte gar nicht genug von dieser Aufmerksamkeit bekommen.

Während sie sich sorgfältig schminkte, malte sie sich aus, wie ihre Freundinnen später im Club reagieren würden. Am liebsten hätte sie sich selbst umarmt. In nur achtundvierzig Stunden hatte sich ihr Leben auf den Kopf gestellt und gerade jetzt wurde es aufregend. Zum Treffen im Club konnte sie auch endlich ihre neuen Jimmy Choos anziehen. Eigentlich hatte sie die für wichtigere Anlässe aufsparen wollen, aber sie musste nun besonders darauf achten, gut auszusehen, weil überall Fotografen lauern konnten.

Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass der Junge sterben würde und ihre Hochstimmung deshalb unpassend war. Aber Tammy gehörte zu den Menschen, die immer aus allem das Beste machen wollen und die jede Gelegenheit nutzen, egal, wem sie dabei auf die Füße treten. Tammy war nicht gefühllos, nur realistisch. Und sie sorgte für die Ihren.

Sie hätte allerdings auch nicht bestritten, dass die Sache begann, ihr Spaß zu machen.

Tyrell starrte in das Gesicht seines Sohnes. Sonny hatte immer noch ein hübsches Gesicht, aber mit all den Schläuchen und Kabeln und summenden Maschinen, die für ihn atmeten, sah er sehr verletzlich aus.

Er musste plötzlich daran denken, wie er Sonny fürs Wochenende geholt hatte, als der noch ein Baby gewesen war. Er wollte seinen Sohn so gern bei sich haben, aber er wusste, dass Jude diese Tage ausnutzte, um sich gehen zu lassen. Und das hatte es für Tyrell und Sonny verdorben. Wie so vieles andere auch. Jude hatte sich bei jeder sich ihr bietenden Gelegenheit aus der Gegenwart verabschiedet, und Vater und Sohn hatten darunter zu leiden. Doch Sonny hatte ihr immer verziehen, hatte sie trotzdem stets geliebt. Als Tyrell damals vorschlug, dass Sonny für immer bei ihm wohnen sollte, hatte der nur lächelnd gesagt: »Und was wird aus meiner Mom?«

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Der Kern seiner Existenz. Niemand sonst konnte es mit Jude aushalten, jeder hatte früher oder später das Handtuch geworfen. So war das mit Heroinabhängigen: Sie nutzten einen aus, bis man entnervt aufgab. Sie logen, betrogen, heulten und schlugen um sich, bis sie bekamen, was sie wollten.

So ernährten sie das Monster in sich.

Tyrell würde nie behaupten, dass Jude es nicht versucht hätte. Sie wollte sich wirklich zum Guten ändern, aber irgendwie hatte die böse Welt das nie zugelassen. Man sah es ihren Augen und ihrer Haltung an. An einem guten Tag sah sie zehn Jahre älter aus, als sie tatsächlich war. Was die Menschen nicht sahen, war ihr großes Herz, besonders, wenn es um ihren Sohn ging. Als sie die Hoffnung für sich selbst schon längst aufgegeben hatte, kämpfte sie immer noch um ihren Sohn. Tyrell hatte ihr dabei zur Seite gestanden.

Aber das gehörte der Vergangenheit an.

Seither hatte Sonny stets versucht, der Mann in Judes Leben zu sein, der auf sie aufpasste. Tyrell wusste, dass das Zeitverschwendung war bei einem Junkie. Junkie Jude, wie man sie in der Nachbarschaft nannte. Als ob ihre Eltern es geahnt hätten.

Junkie Jude. Jude der Junkie.

Sonny lebte mit diesem Mal.

Sei glücklich, so wie du bist.

Aus welchem dunklen Winkel der Erinnerung kam das plötzlich? Wahrscheinlich von Tyrells Mutter. Jedenfalls war Jude nie in ihrem Leben wirklich glücklich gewesen. Jude und Glück war ein Widerspruch in sich selbst. Sie hatte das Glück immer nur von außen gesehen, hatte sich nie nahe herangewagt, um nicht plötzlich einen Tritt ins Gesicht zu bekommen.

Und jetzt lag ihr Sohn nach einem versuchten bewaffneten Raubüberfall im Sterben.

Er war erst siebzehn Jahre alt.

Der Junge hatte seinem Vater schon sehr viel Ärger bereitet, sehr viel, aber trotzdem konnte Tyrell sich nicht vorstellen, dass Sonny so etwas tat.

Er hatte mit der Polizei gesprochen, aber offenbar gab es keine Zweifel an Sonnys Absichten. Die Pistole war geladen gewesen und schon einmal früher bei einem Überfall benutzt worden, ihre Herkunft aber war noch unbekannt.

Aber das mit der Waffe wollte Tyrell nicht in den Kopf. Es passte einfach nicht zu Sonny. Trotz all seiner Fehler, und davon hatte er mehr als genug.

Jemand anders musste hinter diesem Überfall stecken. Sonny wäre doch ohne Papier und Stift nicht einmal in der Lage gewesen, einen Wochentag für den Überfall festzulegen. Völlig idiotisch anzunehmen, er hätte den Plan für einen solchen Raubzug ohne Hilfe ausgeheckt und durchgezogen.

Jude kam den Gang heraufgeschlichen. Eigentlich schien sie immer zu schleichen. Tyrell blickte in ihr verhärmtes Gesicht und bekam sofort Mitleid mit ihr. Wie er sie kannte, war sie kurz hinausgegangen, weil sie einen Drink oder einen Schuss gebraucht hatte.

»Setz dich, Jude, und ruh dich aus.«

Sie lächelte ihn an, offenbar froh um jedes freundliche Wort von diesem Mann, der sie einst verlassen hatte, weil sie keine Stunde des Tages mehr ohne chemische Hilfsmittel auskam.

Sonny Boy hatte das nie gestört. Er hatte sich um sie gekümmert, als ob sie das Kind gewesen wäre und er ihr Vater. Sonny war immer so liebevoll und fürsorglich gewesen. Und er mochte auch seinen Halbruder sehr. Der hatte sich mit ihrem Lebensstil nur abgefunden, weil er Angst hatte, sie allein zu lassen. Deshalb hatte er sogar die Schule geschwänzt.

Tyrell wollte gar nicht daran denken, wie es für Jude weitergehen sollte, nachdem Sonnys Maschinen abgestellt worden waren.

Dabei war Sonny, sein Sonny, für ihn schon längst tot. Jetzt ging es nur noch darum aufzuräumen.

Jude sah ihn mit dem Blick eines gehetzten Tieres an. Das einstige Blau ihrer Augen war verblasst. Ohne Vorwarnung ging sie Tyrell an:

»Du willst die Geräte abstellen, stimmt’s? Ihn endlich loswerden.«

Tyrell gab keine Antwort.

Wenn Jude ihre fünf Minuten hatte, hielt er sich immer zurück, auch wenn er ihr liebend gern seine Meinung gesagt hätte. Sie wurde dann sehr verletzend. Aber immer noch besser, er bekam es ab als einer der Ärzte oder ein Polizist.

Sie schüttelte langsam den Kopf, als würde ihr Mitleid sie überwältigen. Mitleid war ihr natürlich fremd. Wenn Jude außer sich war, war alles Pose. Dramatische Pose, an die sie sich vierundzwanzig Stunden später nicht mehr würde erinnern können.

Wie war es nur damals gewesen, überlegte er, als sie sich das erste Mal trafen? Es geschah auf einer Party. Sie war stoned, aber zu der Zeit war das jeder. Alle rauchten Dope und wiegten sich träge im Rhythmus von Curtis Mayfield. Nur hatte ihn damals die Leere in ihrem Blick nicht gestört, im Gegenteil. Sie hatte befreit auf ihn gewirkt. Heutzutage erschreckte ihn dieser Blick. Tyrell hatte sie durchschaut, das machte sie hilflos. Sie wusste es, und er wusste es. Fast konnte er ihre Angst riechen.

Konnte sie auch seine riechen?

Tammys Auftritt im Country Club glich dem eines Filmstars. Sie behielt sogar ihre Sonnenbrille auf. Um sicher zu gehen, dass auch jeder sie sehen konnte, blieb sie einige Sekunden im Foyer stehen, nahm dann erst ihre Brille ab und schritt dann in Richtung Restaurant. Sie wusste, dass sie gut aussah. An diesem Morgen hatte sie sich bei Haaren und Make-up besondere Mühe gegeben.

Sie winkte ihrer Weiberbande zu, als sie sich dem Tisch näherte. Weiberbande. Nick nannte sie so und Tammy empörte sich darüber. Dabei wusste sie selbst, dass es übertrieben gewesen wäre, diesen Kreis als Freundinnen zu bezeichnen.

Diese Damen hätten eine Freundin nicht einmal erkannt, wenn sie ihnen frisch vom Baum auf den Kopf fallen würde. Aber sie hatten doch etwas gemeinsam, nämlich ein alles in allem doch recht angenehmes Leben: Männer, die sie aushielten, große Häuser und teure Autos. Und Tammy war die Königin unter ihnen, weil ihr Mann am reichsten war.

Die Krone stand ihr, und die anderen akzeptierten ihre Regentschaft.

»Alles klar, Tam?«

Das war Melanie Darby. Sie kam in der Hierarchie der Weiberbande gleich nach Tammy und war eigentlich ganz nett. Von allen war Melanie diejenige, die Tammy noch am ehesten als echte Freundin bezeichnet hätte. Melanies Mann hatte überall seine Finger im Spiel.

Tammy setzte sich mit einem dramatischen Seufzer.

»Kinder, das war ein Albtraum.«

Fiona Thomson drückte ihr ein Glas Champagner in die Hand. Tammy erkannte, dass es eine teure Marke war, und ihr fiel ein, dass sie an diesem Tag für den Lunch zahlen musste. Nick würde ausflippen, aber das sollte jetzt nicht ihre Sorge sein. Manchmal kostete so ein Weiberbanden-Lunch schon mal einen Tausender, und da hatten sie sich noch zurückgehalten. Trotzdem brachte es Nick zur Weißglut. Bei manchen Dingen konnte er ziemlich böse werden.

Er verstand einfach nicht, dass sie ein Image zu wahren hatte, und zu diesem Image gehörte eben auch hin und wieder das Spendieren eines teuren Mittagessens. Sie liebte es, besonders edlen Wein zu bestellen und dabei die Gesichter der Freundinnen anzusehen, die still vor sich hinrechneten.

Es war nicht billig, eine Königin zu sein.

Sie hatte die Geschichte ihres Fernsehauftritts kaum zu Ende erzählt, da sagte Fiona besorgt: »Nick wird also nicht eingebuchtet?«

Tammy stellt die Champagnerflöte auf den Tisch und bedachte Fiona mit einem Blick, der die meisten anderen Frauen auf die Bretter geschickt hätte. Aber Fiona war aus härterem Holz geschnitzt.

»Wie bitte?«

»Ich sag ja nur, was mein Alter gesagt hat, dass Nick nämlich wegen Totschlags drankommen könnte ... «

Man sah Tammy an, dass sie mit einem Glas mehr intus wohl handgreiflich geworden wäre. Die anderen Damen versuchten Fiona mit Blicken und Handzeichen zum Schweigen zu bringen.

»Und dein Alter kennt sich in solchen Sachen natürlich richtig gut aus, stimmt’s. Ich meine, als Bankräuber ... «

Fiona lachte.

»Das ist ja wohl kein Geheimnis, meine Liebe. Stimmt, er hat seine Zeit abgesessen und weiß, wovon er spricht. Und er hat gesagt, dass sich Nick einen guten Anwalt besorgt, wenn er schlau ist.«

»Keine Angst, mein Nick ist schlau genug. Du kannst also deinem Alten sagen, er soll sich mal lieber Sorgen um sich selbst machen, klar? Der steckt ja wohl selbst tief genug in der Scheiße, sagt jedenfalls mein Nick.«

Die Spannung zwischen den beiden war mit Händen zu greifen.

»Ganz wie du meinst, Tam«, sagte Fiona. »Ich sag’s ja nur.«

»Ah ja? Dann sag eben nichts. Mein Nick hat seine Familie verteidigt. Und dieser Wichser hatte eine geladene Knarre. Diese Kleinigkeit solltet ihr nicht vergessen, wenn ihr euch das Maul zerreißt. Der Kerl hatte nicht vor, einen kleinen Tacoladen auszunehmen. Da kenn ich andere auf dem Niveau.«

Keine der Frauen am Tisch sagte mehr etwas. Tammy wusste, dass sie zu weit gegangen war. Also gab sie dem Kellner ein Zeichen und bestellte noch mal zwei Flaschen Champagner. Vierhundert Pfund pro Flasche – die Lunchrechnung würde rekordverdächtig werden. Aber Tammy war das egal. Kurz vor dem Wortgefecht mit Fiona hatte sie schon gehen wollen, aber jetzt war sie entschlossen bis zum bitteren Ende zu bleiben.

Ihr Mann hatte mehr als genug Fehler, aber wenn Fiona hier das letzte Wort behielt, konnte Tammy einpacken.

»Solltest du nicht deine Mutter anrufen, Fiona, damit sie die Kinder von der Schule abholt?«, sagte Tammy mit zuckersüßem Lächeln. »Soweit ich weiß, habt ihr doch immer noch kein Kindermädchen, und es könnte heute später werden.«

Fiona grinste nur. Alles schien von ihr abzuperlen. Das machte Tammy wahnsinnig.

»Aber es sind doch Ferien. Die Kinder sind mit meiner Schwiegermutter in Spanien.«

Die Messer waren gewetzt. Die Damen lehnten sich zurück und genossen das Schauspiel.

Sie wurden nicht enttäuscht.

Nick war bei seinem Golfpartner Rudde auf der Polizeiwache. Die beiden kannten sich schon seit Jahren, und inzwischen waren sie so was wie Busenfreunde, allerdings zeigten sie das nie anderen gegenüber, das war ein ungeschriebenes Gesetz zwischen ihnen.

»Wie sieht es aus, Peter?«

Rudde seufzte.

»Wie’s aussieht, bist du mehr oder weniger aus dem Schneider. Ich hab denen gesagt, dass ich keine Gründe für eine Anklage gegen dich sehe. Dass Sonny Boy ein kleiner Gangster mit Vorstrafenregister war, den Einbruch mit einer geladenen Pistole beging und auch nicht gezögert hätte, diese zu benutzen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Verfahren eröffnet wird.«

Nick war sichtlich erleichtert.

»Mir geht es trotzdem nicht gut, Pete.«

»Versteh ich doch, Kumpel. Aber das ist so, weil du eben ein anständiger Mensch bist – was man von dem kleinen Mistkerl nicht behaupten kann. Er hatte eben nie eine richtige Chance. Seine Mutter ist ein Junkie, da gab’s in seinem Leben von Anfang an Probleme, die nur schlimmer werden konnten. Früher oder später musste das passieren, jetzt war’s halt früher.

Ich sehe hier doch die ganzen hoffnungslosen Fälle, Nick. Irgendwie tun sie mir leid, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass das alles tickende Zeitbomben sind. Und Recht und Gesetz sind auf unserer Seite. Die Mittel, mit denen man sich gegen einen Einbrecher wehren darf, sollen ›angemessen‹ sein. In deinem Fall war der Einbrecher bewaffnet, und du hast ihn mit angemessenen Mitteln entwaffnet.«

»Ich hab ihn nicht nur entwaffnet. Ich hab ihn verstümmelt. Und er wird es nicht überleben, oder?«

Peter Rudde gab keine Antwort darauf.

»Oder?«

Nick war lauter geworden.

»Ich muss das wissen, Peter. Wann werden sie die Geräte abstellen?«

Pete tätschelte beruhigend Nicks Arm.

»Sein Vater ist gerade aus Jamaica gekommen und kümmert sich jetzt darum. Die Mutter könnte sich nicht mal für Socken entscheiden, ohne sich vorher einen Schuss zu setzen.«

Nick sank wieder in seinen Stuhl zurück.

»Komm, wir gehen was trinken, okay?«, sagte Rudde.

»Aber du sagst mir Bescheid, sobald ... «

»Na klar, mach ich das. Aber jetzt erst mal ein guter Scotch, dann scheint doch gleich wieder die Sonne.«

Eine dumme Bemerkung, das wussten beide.

»Mom, können wir morgen wieder zur Schule gehen?«

Tammy blickte ihren Ältesten an, sah ihn aber nicht. Ihre Gedanken kreisten immer noch um die Beleidigung, die sie von einer ihrer so genannten Freundinnen beim Lunch hatte ertragen müssen.

»Was ist los?«

Nicholas Leary Junior schnaufte.

»Ich sagte: ›Können wir morgen wieder zur Schule gehen?‹«

Tammy nickte abwesend.

»Besprecht das nachher noch mal mit eurem Vater, wenn er zurück ist.«

»Es ist so langweilig, Mom. Das Leben muss endlich wieder seinen gewohnten Gang gehen.«

»Euer Vater entscheidet das, okay?«

Nicholas sah sie stumm an. Schließlich sagte er: »Früher oder später muss doch alles wieder normal werden.«

»Ich dachte, es sind Ferien.«

»Nicht für die Privatschulen, Mom. Wir hatten letzte Woche, erinnerst du dich?«

Er wollte sarkastisch klingen, und das konnte Tammy auf den Tod nicht leiden.

»Für wen hältst du dich eigentlich, Nicky?«, schrie sie. »Stephen Hawking? Für ein verdammtes Genie?«

Wieder schnaufte ihr Sohn laut.

»Ach, vergiss es einfach.«

Seine Geringschätzung machte sie rasend.

»Dein Vater könnte wegen Mordes im Knast landen, du egoistischer kleiner Scheißer!«

Nicholas Leary war zwar erst zwölf Jahre alt, aber bereits ein kleiner Machtfaktor in der Familie. Von der mütterlichen Seite hatte er die Gehässigkeit, von der väterlichen die Gleichgültigkeit gegenüber Mitmenschen geerbt. Seine eigene Mutter war oft hin- und hergerissen, ob sie Nicholas einen Kuss oder einen Tritt in den Arsch geben sollte.

An diesem Tag hatte sie erfahren, dass die Gefahr einer Verurteilung wegen Totschlags immer noch in der Luft lag, und entsprechend schlecht war ihre Laune. Und sie hatte Angst. Denn obwohl sie während ihrer gesamten Ehe immer so getan hatte, als wäre er ein Mühlstein an ihrem Hals, wusste sie, dass sie ohne Nick nicht zurechtkommen würde.

Ihre Freundinnen hatten es geschafft, sie zu verunsichern, denn sie schienen wirklich zu wissen, wovon sie sprachen. Konnten sie ihn wirklich einsperren?

Das erste Mal seit Jahren sah Tammy nun ihr Haus richtig an. Es war wunderschön. Allein Nick war dieses Leben zu verdanken, und sie hatte es nie zu schätzen gewusst. Weil Nick sie wahnsinnig machte. Er konnte flirten, er konnte ficken, er konnte eine Menge vertragen. Aber vor allem war er ein Arbeitstier. Für sie und die Kinder. Und jetzt versuchte sie sich zum ersten Mal ein Leben ohne ihn vorzustellen, und in dieser Vorstellung war nur Leere.

Nicholas war inzwischen wieder zu seinem Bruder James ins Zimmer gegangen. Das Kindermädchen hatte schon frei und war gegangen. Sie wohnte nicht im Haus, weil Nick es sich und Tammy nicht zu einfach machen wollte, sich nicht um die Kinder kümmern zu müssen. Er hatte Recht damit.

Nicholas Junior wusste so gut wie sein Dad, dass Mom die Kinder zwar liebte, aber trotzdem schon beim kleinsten Anlass gehen würde.

Inzwischen störte Nicholas Junior dieser Gedanke nicht mehr. Er fand, mit zwölf war er alt genug, um selbst auf seinen kleinen Bruder aufpassen zu können. In letzter Zeit verließ Mom sowieso das Haus, ohne irgendjemandem etwas zu sagen. Vor Jahren war Dad jedes Mal ausgeflippt, wenn er herausfand, dass Mutter sich verdrückt und die Kinder der Großmutter übergeben hatte. Mit durchdrehenden Rädern war er von der Auffahrt gerast, um »diese nichtsnutzige Kuh von einer Frau« zu suchen, und nicht einmal seine eigene Mutter konnte ihn aufhalten.

Nicholas seufzte.

Er wünschte, seine Eltern könnten glücklich miteinander sein. Aber er wusste, dass nur Gewohnheit sie noch zusammenhielt, und das machte ihn manchmal sehr traurig.

Dabei glaubte er fest daran, dass sie sich eigentlich liebten, obwohl sie bei Gesprächen oft wie Todfeinde wirkten. Es war schrecklich mit anzusehen, wie sie sich ständig erniedrigten. Die Verzweiflung seiner Mom war oft spürbar, und sein Dad wirkte vollkommen verwirrt und überfordert.