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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Die Menschen haben von der Erde aus das Weltall erobert. Auf Tausenden von Welten leben ihre Nachkommen, zahlreiche Raumschiffe reisen bis zu den entlegensten Sternen. Perry Rhodan ist mit seinem Raumschiff, der RAS TSCHUBAI, zu einer langen Reise ins Unbekannte aufgebrochen. Mit an Bord sind unter anderem seine Frau Sichu und einige seiner alten Freunde, darunter der Mausbiber Gucky und der Arkonide Atlan. Die Reise führt durch Raum und Zeit. Aber Perry Rhodan und seine Gefährten schaffen schließlich den Weg zurück in die heimatliche Milchstraße. Doch sie erreichen eine neue Zeit: die Cairanische Epoche. Vieles ist anders geworden seit ihrem Aufbruch, und als sie endlich wieder zwischen den heimatlichen Sternen kreuzen, werden sie schnell mit einer Legende konfrontiert – und diese erzählt vom MYTHOS ERDE ...
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Seitenzahl: 227
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Nr. 3000
Mythos Erde
Die Zeit verändert alles
Wim Vandemaan
Christian Montillon
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
1. Wessen Koffer? Welche Reise?
2. Giunas Verzweiflung
3. Der Gast
4. Giunas Überraschung
5. »Die Jagdhunde sprangen und wedelten«
6. Giunas Erkenntnis
7. Cairaner
8. Giunas erste Mission
9. Gespräch unter Freunden
10. Giunas Entdeckung
11. Der Start der BJO BREISKOLL
12. Giunas Zukunft
13. Ephelegon
Willkommen in einer neuen Zeit!
Vorwort
Mythos Orgonit von Kai Hirdt
Mythos Odemas von Uwe Anton
Mythos Reisen von Oliver Fröhlich
Mythos Atlantis von Verena Themsen
Mythos Glaube von Susan Schwartz
Mythos Märchen von Michelle Stern
Mythos Fans von Leo Lukas
Mythos Rhodan von Hubert Haensel
Mythos Terrania von Christian Montillon
Leserkontaktseite
Glossar
Impressum
Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Die Menschen haben von der Erde aus das Weltall erobert. Auf Tausenden von Welten leben ihre Nachkommen, zahlreiche Raumschiffe reisen bis zu den entlegensten Sternen.
Perry Rhodan ist mit seinem Raumschiff, der RAS TSCHUBAI, zu einer langen Reise ins Unbekannte aufgebrochen. Mit an Bord sind unter anderem seine Frau Sichu und einige seiner alten Freunde, darunter der Mausbiber Gucky und der Arkonide Atlan.
Die Reise führt durch Raum und Zeit. Aber Perry Rhodan und seine Gefährten schaffen schließlich den Weg zurück in die heimatliche Milchstraße.
Doch sie erreichen eine neue Zeit: die Cairanische Epoche. Vieles ist anders geworden seit ihrem Aufbruch, und als sie endlich wieder zwischen den heimatlichen Sternen kreuzen, werden sie schnell mit einer Legende konfrontiert – und diese erzählt vom MYTHOS ERDE ...
Perry Rhodan – Ein Terraner wappnet sich gegen das Unbekannte.
Atlan – Ein Arkonide versteht die Welt nicht mehr.
Giuna Linh – Eine Frau kann nicht vergessen.
Zemina Paath – Eine Frau, die offenbar viel vergessen hat.
Kondayk-A1 – Ein barnitischer Händler besucht Akonen und Cairaner.
Cyprian Okri
1.
Wessen Koffer? Welche Reise?
Wir sind angekommen, dachte Perry Rhodan.
*
Wir sind angekommen, dachte Perry Rhodan. Er war wieder da, körperlich wie geistig, an Bord der RAS TSCHUBAI, seines Raumschiffs. Noch flossen seine Gedanken träge, wie nach einem tiefen Schlaf.
Wie lange hatte er in der Suspension gelegen, in diesem Tiefschlaf, der kein echter Schlaf war?
Er atmete durch.
Sofort verspürte er eine kleine Verspannung in der Schulter, kein Schmerz, eher ein uraltes, eigentlich angenehmes Gefühl, das er aus Kindertagen kannte: wenn etwa eine Wunde heilte, die er sich bei einem Sturz mit dem Fahrrad zugezogen hatte, oder jene Platzwunde an der Stirn, als ihn der Baseball mit unerwarteter Wucht getroffen hatte.
Das alarmierte ihn. Ein Schmerz in der Schulter? Er hielt die Augen geschlossen. Er wollte niemandem zeigen, dass er wach war.
Wann und wie sollte er sich eine Verletzung zugezogen haben – während der Suspension? Nichts und niemand hätte ihn angreifen können. Alles in ihm drängte danach, aufzuspringen und nach dem Rechten zu sehen. Aber er unterdrückte diesen Impuls. Zunächst musste er seiner selbst sicher sein.
Während er die Lider geschlossen hielt, sondierte er weiter seinen Körper. Er lag noch im Suspensions-Alkoven, in dieser Maschine, die ihn entstofflicht gehalten und gespeichert hatte. Nur in der Suspension, in diesem Zustand zwischen Realität und anderer Dimension, konnte der Sturz durch Raum und Zeit überstanden werden, durch das chaotemporale Gezeitenfeld.
Er war nicht allein geflogen. Etwa 17.000 Besatzungsmitglieder waren mit ihm gereist, die Männer und Frauen, Menschen und andere Lebewesen an Bord.
Rund 18.000 hatten dagegen die RAS TSCHUBAI verlassen, bevor das Schiff aufgebrochen war – aus verschiedenen Gründen. Der Hauptgrund dürfte gewesen sein, dass der Einsatz zu etwas zu werden drohte, was man früher Himmelfahrtskommando genannt hätte: einer Reise ohne Wiederkehr. Jedenfalls ohne Wiederkehr in die eigene Zeit.
Menschen waren, wenn die Sache es ihnen wert war, zu vielem bereit, sogar dazu, sich selbst aufzugeben. Doch in diesem Fall hatte die Gefahr bestanden, dass sie Jahrzehnte oder Jahrhunderte übersprangen. Wer wollte das schon überleben und irgendwann vor den Gräbern seiner Familie stehen, seiner Kinder und Enkel?
Der Flug in das Gezeitenfeld war die einzige Chance gewesen, die kosmische Katastrophe zu stoppen, die die Milchstraße in den Untergang zu reißen gedroht hatte. Wer in ein solches Feld stürzte, wusste nicht, wie viel Zeit er verlieren würde.
Perry Rhodan hatte jeden Einzelnen verstanden, der von Bord gegangen war. Hoffentlich ging es ihnen gut.
Sie hatten das Mutterschiff im Leerraum verlassen, tief im Halo der Milchstraße, oberhalb des Orionarms, über 12.000 Lichtjahre vom Solsystem entfernt. Ob sich die RAS TSCHUBAI immer noch in dieser Region befand?
Konzentrier dich!, forderte er sich auf.
Als er den linken Arm bewegte, spürte er eine weitere Veränderung: Sein Multikom saß nicht, wo er es normalerweise trug. Es war nicht viel verrutscht, vielleicht zwei oder drei Zentimeter. Doch es hätte in der Phase der Entstofflichung überhaupt nicht verrutschen dürfen.
Rhodans Bewegung erstarrte. Der Schluss lag nahe: Dies war nicht sein erstes Erwachen nach dem Flug in das Gezeitenfeld. Und der wiederholte Gedanke, angekommen zu sein, war kein Déjà-vu gewesen.
Er musste bereits mindestens ein weiteres Mal wach geworden sein. Wie lange hatte dieser Moment angedauert?
Und dann?
Er lag still. Er bemerkte keine Bewegung, nahm nur eine Helligkeit wahr, die, wenn er sich nicht täuschte, nicht ganz so stark war, wie sie an Bord der RAS TSCHUBAI hätte sein sollen.
Er hörte Geräusche, ein stetiges, aber verhaltenes Summen wie von Maschinen. Lauter als sonst? Leiser? Schwer zu sagen. Irgendwie ungewohnt.
Vernahm er Schritte? Bewegte sich jemand durch das Schiff, der nicht vor Ort sein durfte? Sein Gefühl sagte ihm, dass einiges nicht stimmte.
Für einen Moment wünschte er, er hätte einen Extrasinn wie sein arkonidischer Freund Atlan.
Aber das, was sein Logiksektor dem Arkoniden hätte sagen können, konnte er sich auch selbst sagen: Sei auf der Hut!
Perry Rhodan schlug die Augen auf.
*
Rhodan blickte durch das Glassit der Abdeckungshaube. Eine Handbreit über ihm wölbte sich der innere Teil der Röhre, in die seine Suspensionsbank eingefahren war.
Rhodan lauschte mit allen Sinnen. Keine Stimme war zu hören, nur das allgegenwärtige, untergründige Summen arbeitender Maschinen.
»Den Alkoven ausfahren!«, befahl er.
Unverzüglich und mit einem sanften Anrucken setzte sich die Suspensionsbank in Bewegung. Das System arbeitete rein mechanisch. Das Verschlussstück des Alkovens öffnete sich; der Schlitten glitt etwa zwei Meter in die Halle hinein und führte die Suspensionsbank sacht in ihre Ruhebucht. Die Abdeckhaube hob sich und kippte nach hinten weg.
Für einen Moment tauchte eine Gestalt aus seiner Kindheit vor seinem inneren Auge auf: seine Oma Eli.
Oma Eli war eigentlich nicht seine Großmutter gewesen, sondern nur die Großtante seiner Mutter. Sie hatte nur wenige Meilen von ihrem Haus in Manchester entfernt gelebt und bei Bedarf als Babysitterin auf ihn achtgegeben.
Und sie hatte ihm Märchen erzählt.
Eines der Märchen hatte ihm lange zu denken gegeben. Dornröschen, das genau hundert Jahre in einem Schloss schlief, in dem auch alles andere in tiefen Schlaf gefallen war: die Menschen, die Pferde im Stall, die Jagdhunde im Hof, sogar – was ihn besonders erstaunt hatte – das Feuer im Kamin und der Wind. Dieses Bild eines ungeheuren Schlafs hatte sich irgendwann mit dem des schlafenden Schneewittchens vermengt, die in ihrem gläsernen Sarg schlummerte, ohne zu altern.
»Hundert Jahre? Wie geht denn das?«, hatte er gefragt.
»Das ist ein Zauber«, hatte Oma Eli ihm erklärt.
»Ach so«, hatte er gesagt und später doch darüber nachgedacht, ob der lange und alterungslose Schlaf der Prinzessin nicht eher einer Wirkung ihres von Zwergenhand gefertigten Kristallsarges zuzuschreiben war.
Zeit, aus dem Kristallsarg zu steigen, mein Prinz, befahl sich Rhodan.
Er schwang die Beine von der Suspensionsbank und hielt inne, lauschte und roch. Die Luft verriet nichts. Sie war frisch, als säße er in der Natur, sorgsam gereinigt von den allgegenwärtigen Maschinen des Raumschiffs. Und doch glaubte er, einen Beigeschmack wahrzunehmen, einen Hauch von Fremdartigkeit.
Langsam stand er auf, jeder Sinn war angespannt. Er fühlte sich frisch, so frisch jedenfalls, wie man sich nach einem Einsatz fühlen kann, der einem physisch wie psychisch alles abverlangt hatte.
In der Suspension ließ sich nichts wahrnehmen, sammelte man keine Erfahrungen, verstrich subjektiv gesehen keine Zeit.
Außerhalb der Suspension aber verging sie.
Wie viel Zeit wohl?
Perry Rhodan warf einen Blick auf sein Multikom. Die Anzeigen seiner biologischen Werte lagen sämtlich im grünen Bereich. Die Zeitangabe allerdings – der 15. Oktober 1552 NGZ – dürfte alles andere als verlässlich sein. Ohne die Reise durch das Gezeitenfeld hätte er nicht an der Messgenauigkeit des Geräts gezweifelt. Aber nun?
Kurz überlegte er. 1552 Neuer Galaktischer Zeitrechnung entsprach dem Jahr 5139 Alter Zeitrechnung. Alte Zeit, neue Zeit – in Gedanken winkte er ab.
An der Decke des Saals schimmerte das dreidimensionale Abbild der Milchstraße. Langsam drehte sich das Gebilde, ein unüberschaubares Mosaik aus Sternen. Erleuchtete Nebelschwaden wie der Atem der Ewigkeit, Kugelsternhaufen bewegten sich auf Jahrmillionenbahnen.
Rhodan hätte die Sterne stundenlang betrachten können, wie er das als Junge auf der Erde getan hatte. Blickte er in die Schöpfung, fühlte er sich manchmal wieder als Junge, verloren in Zeit und Raum, fasziniert von der Unendlichkeit.
Aber er hatte keine Zeit zum Schauen und noch weniger zum Träumen. Etwas stimmte nicht, da war er sich sicher.
»ANANSI?«, rief er.
Seine Stimme hallte im Saal nach. Sein Ruf blieb ohne Antwort. Wäre er nicht schon besorgt gewesen, hätte ihn spätestens dieses Schweigen alarmiert. Es war nicht normal, das Schweigen bedeutete Gefahr.
ANANSI war als Semitronik der Zentralrechner des Schiffes, sie steuerte das Schiff. ANANSI ging niemals in die Suspension. Sie musste nicht schlafen. Und sie durfte es nicht.
Wenn ANANSI nicht reagierte, hieß das für die RAS TSCHUBAI und ihre Besatzung: Das Schiff war steuerlos, konnte nicht reagieren. Und befand sich damit womöglich in höchster Gefahr.
Erneut blickte er zum Abbild der Galaxis hoch. Hunderte von Milliarden Sterne, eine Menge, die man sich kaum vorstellen konnte, auch nach Jahrtausenden nicht. Einer davon war die heimatliche Sonne, umkreist von einem kleinen blauen Planeten. Dachte Rhodan an die Erde, fühlte er sich, als hätte er Heimweh nach einer kleinen Stadt, in der er aufgewachsen war.
Der Alkoven, in dem Perry Rhodan gelegen hatte, stand am linken Rand einer Doppelreihe von zwei Dutzend weiteren Suspensionskammern. Der Suspensionssaal lag in unmittelbarer Nähe zur Hauptzentrale der RAS TSCHUBAI. In der Zentrale des Schiffes taten im Normalbetrieb gut zwei Dutzend Besatzungsmitglieder Dienst. Im Falle eines Vollalarms konnten es 70 Personen werden, denn alle Stationseinheiten waren für diesen Fall auf Dreifachbelegung eingerichtet.
Während eines Suspensionsflugs aber befand sich kein Lebewesen in der Zentrale. Sie musste schleunigst wieder besetzt werden.
Um zu wissen, wer in den anderen Alkoven lag, brauchte Rhodan die Angaben in den Monitoren der Verschlusskappen nicht zu lesen: Seine Frau Sichu Dorksteiger und seine Enkelin Farye Sepheroa-Rhodan ruhten in seiner unmittelbaren Nähe. Er blieb vor ihren Alkoven stehen, legte die Hand darauf und gönnte sich einen kurzen Moment, in dem er die Augen schloss. Er würde nicht allein sein, egal, was ihn erwartete.
Daneben lagen Atlan und Gucky, dann Cascard Holonder. Der riesenhafte Ertruser war der Kommandant der RAS TSCHUBAI. Irgendwer – vielleicht Holonder selbst – hatte eine seiner Kritzelzeichnungen an das Verschlussstück des Alkovens geheftet. Die grobe Skizze zeigte einen bartlosen Mann mit kurzen Haaren, die Augen erstaunt geöffnet. Wer das wohl sein mochte?
Holonder entwarf diese Bilder bei Besprechungen oder wenn er angestrengt über etwas nachdachte. Obwohl er Rechtshänder war, zeichnete er sie mit seiner linken Hand, die dabei ein Eigenleben zu entwickeln schien. Nach der Fertigung ließ er die Folie zumeist achtlos liegen. Andere Besatzungsmitglieder lasen diese Holonderiana auf, sammelten sie oder tauschten sie sogar manchmal.
Auch Rhodan besaß ein solches Holonderianum, eine kleine, liebenswert-versponnene Szene, die er in seiner Kabine neben jenem Holowürfel aufbewahrte, in dem Porträts seiner Kinder zu sehen waren.
Rhodan schritt die Reihe der Alkoven ab, die in einem doppelten Halbkreis neben und hintereinanderstanden. Die Infosäulen an den Ringspeichern, die das hyperenergetische Muster der suspendierten Körper verwahrten, zeigten an, dass alle Komponenten der Aggregate fehlerlos arbeiteten: die Transmissionsschock-Dämpfer und Hyperenergie-Feldleiter, die Strukturfeldgeneratoren mit ihren Kompensatoren, die Emitterkerne und Subdistributoren – alles lief im ungestörten Betrieb.
Was stimmt hier nicht?, dachte er.
Er glaubte, ein Geräusch zu hören, laute Schritte im Hintergrund des Saals, und erstarrte. Als er sich umwandte, sah er nichts Besonderes, nur die technisch-kühle Eleganz eines Raums, penibel saubere Oberflächen aus einem Material, auf dem kein Quäntchen Schmutz liegen blieb.
Da ist nichts, sagte er zu sich selbst. Aber das Unwohlsein blieb.
Vor dem Alkoven des Kamashiten Shalva Galaktion Shengelaia, des Ersten Betreuers ANANSIS, verharrte Rhodan. Warum meldet sich ANANSI nicht?, fragte er lautlos. Das Schweigen der Semitronik beunruhigte ihn immer stärker.
Der Kamashite befand sich – wie alle anderen – noch in der Suspension und gab deswegen selbstverständlich keine Antwort. Rhodan rief sich die schmale, schmächtige Gestalt vor Augen, die grünlich schimmernde Haut.
Warum hatte ANANSI nur ihn aus der Suspension zurückgeholt?
»ANANSI!«, rief Rhodan noch einmal. Er hätte einiges darum gegeben, sie endlich ihr »Wie geht es dir?« fragen zu hören, mit dem sie sonst Gespräche eröffnete.
Stille.
Perry Rhodan blieb am Ende der Reihe stehen. Eine komplette Zentralebesatzung lag dort, immer noch in Suspension.
Für einen Herzschlag hatte Rhodan die erschreckende Vorstellung, allein an Bord zu sein, der letzte Mensch in einem stählernen Globus, der durch das chaotemporale Gezeitenfeld in die fernste Zukunft gestürzt war.
Für einen Moment fragte er sich, wozu er diesen Rundgang gemacht hatte, warum er nicht sofort darangegangen war, die anderen zu wecken.
Ein Zugriff von außen war möglich, wenngleich schwierig ohne die Unterstützung ANANSIS. Er konnte das leisten.
Warum hatte er gezögert?
Weil das, was andere Menschen einen Instinkt genannt hätten, ihn warnte. Weil die in ihm verkörperte Erfahrung zahlloser Einsätze und zahlloser Gefahren etwas als unstimmig wahrgenommen hatte, als nicht geheuer. Erneut ließ er seinen Blick schweifen, über die Alkoven hinweg, die Wände entlang, hoch zur Decke, zurück zum Boden.
Hatte er richtig gesehen? Er kniff die Augen zusammen, schaute konzentriert hin.
Kein Zweifel. Dort, zwischen zwei Alkoven der hinteren Reihe, stand etwas.
Etwas, das nicht an diese Stelle gehörte und nicht in diesem Saal gestanden hatte, als sie alle sich in ihre Alkoven begeben hatten.
Das ist ein Koffer, dachte Rhodan.
Aber wessen Koffer?
*
Perry Rhodan trug eine einfache Bordkombination. Plötzlich fühle er sich schutzlos: keine Waffen, kein Schirmfeldgenerator, jedem Angreifer ausgeliefert.
Er eilte zum nächsten Versorgungsschrank. Nachdem er ihn mit den Fingerspitzen berührt hatte, öffnete sich die Tür. Er entnahm einen leichten SERUN, zog rasch den Schutzanzug an und überprüfte dessen Funktionsbereitschaft: Die SERUN-Positronik identifizierte ihn und erkannte ihn als verwendungsberechtigt an. Er checkte die Systeme. Die Lebenserhaltung, der Gravopak, die diversen Schutzschirmaggregate und der Deflektorschirmgenerator meldeten uneingeschränkte Einsatzbereitschaft.
»Nimm Kontakt zu ANANSI auf!«, befahl er.
»Kontaktaufnahme nicht möglich«, sagte die Positronik.
»Warum nicht?«
»Die Semitronik hat keine Abwesenheitsnotiz hinterlegt. Es liegen keine Informationen vor.«
Rhodan taste kurz nach dem Multifunktionsstrahler im Holster des SERUNS und nach dem Vibromesser. Er hatte eigentlich nicht das Gefühl, in einen Kampf ziehen zu müssen. Dennoch war er für den Ernstfall bereit.
Perry Rhodan ging zwischen den Alkoven zur hinteren Reihe.
Der Koffer stand hochkant. Er war ziemlich genau 1,60 Meter hoch, einen Meter breit und einen Meter tief. Seine Kanten waren ebenmäßig gerundet, aber mit keinem anderen Stoff verstärkt oder versteift. Seine blaue, fein gemaserte Hülle schimmerte metallisch.
Die Farbe war ... es war ein Blau, aber kein übliches. Für diese Farbe fehlte Rhodan das genaue Wort: ein merkwürdig entrücktes Kolorit, Fernblau, Nachtblau.
Eine gute Farbe für einen Koffer, dachte Rhodan unwillkürlich. Für den Koffer wie für den Reisenden.
Der SERUN maß lediglich eine thermische Ausstrahlung an, die deutlich, aber nicht bedrohlich über der Umgebungstemperatur lag. Rhodan streckte die Hand aus. Der Handschuh des SERUNS übermittelte ihm, dass sich das Material wie warmes Leder anfühlte. Wie Haut. Er las die Temperatur am Multikom ab: 37,7 Grad Celsius.
Es war kein Schloss zu sehen, nicht einmal eine Fuge oder eine Naht. Warum also hatte Rhodan vom ersten Augenblick an den Eindruck gehabt, es mit einem Stück Reisegepäck zu tun zu haben?
Einem Impuls folgend, schlug Rhodan mit der flachen Linken kurz auf das obere Teil des Objektes. Das Geräusch empfand er als angenehme Mischung aus Pauken- und Gongschlag.
Ein Schlag gegen die Seite des Gegenstandes rief einen tieferen Ton hervor.
Der SERUN legte die erste Analyse nach der Kontaktaufnahme vor: »Eisen, Aluminium, weitere Metalle, Kohlenstoff, Sauerstoff, Beimengungen organischer Hochpolymere und nicht identifizierbarer hyperkristalliner Spurenelemente«, flüsterte die Anzugpositronik ihm über ein Akustikfeld in die Ohren.
Insgesamt sei es ein Material unbekannter Komposition mit unbekannten Eigenschaften. Das Innere des Koffers entzog sich völlig jeder Analyse.
Rhodan funkte das Gebilde an. Es gab keine Reaktion. Für einen Augenblick dachte er daran, den Koffer von Robotern aus dem Schiff werfen zu lassen. Aber dann siegte die Neugierde.
Perry Rhodan legte die Hände an beide Seiten und spannte die Muskeln an. Der SERUN bemerkte es und verstärkte die Leistung. Rhodan hob den Koffer, hielt ihn einen Moment und stellte ihn wieder ab. Der SERUN ermittelte ein Gewicht von 55 Kilogramm.
Perry Rhodan trat einen Schritt zurück. »Wessen Koffer bist du?«, fragte er halblaut.
»Er gehört mir«, hörte er eine ruhige Stimme sagen. »Es ist mein
2.
Giunas Verzweiflung
Giuna Linh hielt den Atem an und tauchte unter.
Ihr blieben vier Minuten. Höchstens.
Das Wasser war klar, aber am Grund wuchsen trübe braune Algen, die wie lange Grashalme in der leichten Strömung hingen. Giuna schwamm hinein, presste sich dicht auf den Boden. Dank ihres dunkelgrünen Anzugs würden die Cairaner sie nicht sehen.
Hoffte sie.
Die Augen hielt sie offen, starrte hinauf. Höchstens zwei Meter über ihr trieben vereinzelt gelbe, welke Blätter. Die Silhouette eines Nannzabaums ragte am Ufer auf. Die silbergraue Krone schillerte im künstlichen Licht, das die angebliche Naturidylle als das entlarvte, was sie war: eine genau durchgeplante Erholungslandschaft in einer Raumstation.
Giuna atmete ein wenig aus, um ihre Lunge von dem zunehmenden Druck zu entlasten. Luftbläschen stiegen auf, inmitten der Algen kaum verräterisch.
Die beiden Cairaner erreichten das Ufer. Sie nahm die Umrisse durch das fließende Wasser nur verzerrt wahr. Die typisch langen Beine erkannte sie trotzdem. Die beiden Fremdwesen blieben stehen. Wahrscheinlich redeten sie, Giuna konnte nichts hören. Unter Wasser verharrte die Welt in Stille, bis auf das Wummern des eigenen Herzschlags.
Noch einmal ein wenig ausatmen, nur eine lächerliche Winzigkeit. Panik stieg in ihr hoch. Wenn sie auftauchen musste und die Cairaner sie entdeckten, war alles vorbei.
Aber vielleicht sehe ich dann wenigstens Lanko wieder.
Sie schloss die Augen. In ihrer Erinnerung sah sie ihren Mann genau vor sich – sein Lächeln, die Augen so dunkelblau wie bei niemand anderem. Fast spürte sie seine Berührung.
Sollte sie schwimmen? Möglicherweise erreichte sie die Biegung und konnte dort ans Ufer klettern, ohne dass ihre Jäger sie entdeckten. Oder sie verriet sich erst recht.
Die verzerrten Silhouetten gingen weiter und verschwanden hinter dem Nannzabaum. Giuna wartete ab. Nur noch ein bisschen. Als schwarze Flecken im Wasser tanzten, wusste sie, dass sie atmen musste, sonst würde sie das Bewusstsein verlieren und ertrinken.
Sie wollte auftauchen, doch durch die Bewegung gereizt, schlangen sich die Algenfäden um sie und hielten sie fest. Sie riss den rechten Arm los, nestelte an ihren Beinen, fühlte die glitschig-schmierigen Blätter, zerfetzte die dünnen Fäden.
Sie tauchte auf.
Die Luft schmerzte im Hals, im Brustkorb, aber sie gab Giuna Kraft und ließ die Panik verschwinden. Wenige Schwimmzüge brachten sie ans Ufer. Den Oberkörper halb aus dem Wasser, lag sie erschöpft auf Steinen und Erde. Die herrlich violette Blütenpracht direkt neben ihr erschien ihr wie Gespött. Ein Molanofisch, groß wie ihr Fuß, stieß sie an und schwamm weiter.
Sie zog sich ganz aus dem Bach und zwang sich, in Bewegung zu bleiben und weiterzulaufen. Welch ein Hohn wäre das, wenn die Cairaner zurückkämen und sie hier liegen sahen! Sie hinterließ zwar eine Spur aus feuchten Fußabdrücken, doch diese verlor sich bald.
Irgendwo, hinter dichtem Gestrüpp abseits der Wege, setzte sie sich auf den Boden. Ich werde wohl vorsichtiger sein müssen, falls ich das alles irgendwie zu Ende bringen will.
Giuna dachte nach. Offiziell arbeitete sie für die Akonen an diesem noch nicht fertiggestellten Etappentransmitter. Seit Jahrtausenden galten sie als Experten für Transmitter, als arrogant und fähig zugleich. Giunas Problem war, dass sie sich zu weit vorgewagt und die Cairaner auf den Plan gerufen hatte.
Ihr Kopf schwirrte, aber niemand hatte ihr gesagt, dass es einfach werden würde, Lanko zu befreien. Ebenso wenig hatte jemand das Gegenteil behauptet, weil sie nie über ihr Ziel sprach. Wem sollte sie sich auch offenbaren? Lanko, ihr einziger Vertrauter, saß auf der Ausweglosen Straße fest. Wenn er überhaupt noch lebte. Und es gab niemanden, dem sie sonst vertrauen konnte.
Die verfluchten Cairaner!
Ihre Kleidung war getrocknet. Sie fragte sich, wo das alles hinführen sollte. Sie stand auf, klopfte sich einige hartnäckige Blätter mit dornigen Spitzen vom Anzug und entdeckte einen dicken Käfer, den sie von sich schnippte. Die Naturierung dieses Parks lief offenbar bestens, das Ökosystem funktionierte.
Kaum zu glauben, dass sie sich noch vor einem Monat mit derlei Problemen herumgeschlagen hatte – in einem anderen Leben. Seltsam, wie so ein wenig Zeit die Dinge völlig entrücken konnte, bis nur eine blasse Erinnerung blieb.
Sie bahnte sich inmitten von dichtem Gestrüpp und blaublättrigem akonischen Riesenfarn einen Weg zurück zum Pfad, der sich auf insgesamt zwei Kilometern durch die Erholungslandschaft wand. Die Cairaner hatten sie nur aus der Ferne wahrgenommen, als sie sich an ihrem Arbeitspult zu schaffen gemacht hatte. Sie wussten nichts über Giuna, kannten nicht ihren Namen. Es drohte ihr keine Gefahr mehr.
Zumindest nicht von den Cairanern. Die Akonen durften nicht herausfinden, dass sie versuchte, in die Datenbanken einzudringen und Informationen über die Transmitternetze zu stehlen. Sie missbrauchte das Vertrauen ihrer Auftraggeber, und auch das konnte ihr zum Verhängnis werden.
Sie tat beschäftigt, indem sie meistens auf das kleine Display ihres Armbandkommunikators schaute, und eilte Richtung Ausgang.
Im Korridor traf sie einen Trupp akonischer Techniker, wie sie an den Uniformen erkannte. Zum Glück waren die Akonen wirklich beschäftigt, ein Holo schwebte vor ihnen und zeigte zahllose mikroskopische Details in Vergrößerung. Sie sprachen Giuna nicht an, was sie allerdings aufgrund ihrer fast sprichwörtlichen Arroganz auch bei großer Langeweile nicht getan hätten. Schließlich war sie eine Terranerin, eine dieser Verrückten, die sich selbst nach einem mythischen Herkunftsort benannten.
Illustration: Swen Papenbrock
Der Annäherungssensor ihrer Wohnkabine erkannte sie und öffnete automatisch. Giuna trat ein, und nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, fiel sie förmlich in sich zusammen.
Sie schleppte sich in die Hygienezelle und duschte. Sie wollte die Temperatur nach unten regeln, aber die Servosteuerung versagte, und so versuchte sie den lauwarmen Schauer zu genießen, der alles andere als erfrischte.
Kein kaltes Wasser, obwohl dich nur knapp hundert Meter von der Eiseskälte des Weltraums trennen! Willkommen in deinem Leben, Giuna Linh!
*
Sie lag auf der Seite, die Beine angezogen, die Decke zwischen die Knie geklemmt. Eine Haarsträhne fiel ihr über die Nase. Sie hasste das Kitzeln. Lanko hatte es geliebt, wenn sie sich das Haar vom Gesicht strich. Er war ein Schmeichler gewesen.
Giuna verkrampfte sich.
Nein! Er ist es immer noch!
Lanko mochte seit drei Wochen ein Gefangener der Cairaner sein und vor den tausend Gefahren der Ausweglosen Straße fliehen, aber er lebte! Drei Wochen würde er gewiss überleben. Oder?
Giuna rückte ihr Kopfkissen zurecht, zupfte die Bettdecke über die Hüfte und schloss die Augen. Sie brauchte Schlaf.
Lanko schnarchte oft leise beim Einschlafen. Ich atme lauter, nannte er es üblicherweise, wenn sie ihn zur Rede stellte. Sie versuchte sich das Geräusch vorzustellen, denn sie wollte es nicht vergessen. Ebenso wenig die Art, wie er sie ansah, wenn sie miteinander schliefen. Oder die Ausdauer, mit der er im Trivid die verrücktesten Schlachten gegen blödsinnig gestaltete Außerirdische schlug, als gäbe es in der Wirklichkeit dort draußen nicht genug feindliche Völker.
Die Cairaner hatten alle Hände voll zu tun, für Frieden zu sorgen. Sie waren die Friedensmacher in der Milchstraße, geliebt und bewundert von Milliarden.
Alle Hände voll.
Selbstverständlich kannten die Cairaner diese alte Redewendung nicht, und was würden sie wohl davon halten? Immerhin konnten sie auf gleich vier Hände zurückgreifen, und auf die Fähigkeiten ihrer Gespürhände bildeten sie sich zu Recht einiges ein.
Irgendwann schlief Giuna ein, und die Bedrückung wich besseren Erinnerungen an ihr Leben mit Lanko. An die Zeit, in der sie gemeinsam als Berater eine gefühlte Million Kleinigkeiten im Rohbau des akonischen Etappentransmitters überprüften.
Im Traum sah sie, wie sie mit ihm am Rand der obersten Plattform saß, die später als Sammelpunkt für die Reisenden dienen sollte, nur durch ein Energiefeld vom Weltraum getrennt, und die Beine ins Nichts baumeln ließ. Seine Finger berührten ihre Hand, es war wie ein Stromschlag, ehe er sie an sich zog.
Sie entspannte sich.
Als sie aufwachte, verpufften die angenehmen Traumgedanken, und sie erinnerte sich, wie Lanko eine Dummheit begangen hatte, zumindest in den Augen der Cairaner. Wie sie ihn verhaftet und zur Wahrung des Friedens auf die Ausweglose Straße geschickt hatten.
Sie musste ihn befreien, solange er trotz der ständigen Flucht und des Vital-Suppressors noch überleben konnte. Allerdings sollte sie es schlauer angehen als bei ihrem ersten Versuch, in die Transmitterdatenbank einzudringen. Sie bezweifelte ohnehin, dass die Gerüchte stimmten und es in der Ausweglosen Straße eine Empfangsstation gab.
Ihr fiel jedoch kein Plan ein. Wie auch? Sie war Beraterin für ein akonisches Bauvorhaben, keine Agentin. Sie hatte Kosmologistik studiert, nicht Kriminologie. Ihr mangelte es an jeder Erfahrung in abenteuerlichen Befreiungsaktionen, was sich am Vortag überdeutlich erwiesen hatte. Nur pure Verzweiflung trieb sie an. Sie war den Cairanern entkommen, aber es hätte genauso gut übel enden können.
Also entschied sie sich, weiterzuleben.
Abzuwarten.
Und darauf zu vertrauen, dass ihr das Leben früher oder später eine Idee zuspielte.
Sie überlegte, erneut zu duschen – vielleicht hatte sie mit dem Wasser diesmal mehr Glück. Aber noch ehe sie aufstand, gellte Alarm.
Die Restmüdigkeit verpuffte, und sie schlüpfte in Unterwäsche und Kleidung.
Der Alarm heulte durchdringend, erst klang der Ton langsam, dann schneller, und begann den Rhythmus von Neuem. Also drohte keine unmittelbare Gefahr, obwohl die Lage durchaus ernst war. Da die Hauptpositronik es in ihr Privatquartier durchstellte, musste es mindestens zu einem Zwischenfall der Kategorie Drei gekommen sein.
Vielleicht hatte jemand einen Anschlag verübt. Es wurde von Drohungen des Barniter-Konsortiums gemunkelt, von Plänen, den Terror in die Station zu tragen. Sie wusste nicht, was davon stimmte. Barniter waren Händler, keine Terroristen.
Giuna hetzte aus dem Raum, in Richtung des Laufbands, das sie rasch zur Zentrale bringen konnte, dann entdeckte sie eine freie Ein-Personen-Plattform. Besser.
Mit einem hastigen Sprung stieg sie auf und umklammerte die Haltestange. Sie identifizierte sich mit einem knappen »Giuna Linh« und wartete das positive Signal gar nicht erst ab, ehe sie das Ziel nannte. Das angefügte »Und zwar schnell!« änderte die festgelegte Höchstgeschwindigkeit nicht, gab ihr aber ein gutes Gefühl.
Die Plattform sauste den Korridor entlang, passierte einige Arbeitsroboter und erhob sich über eine Reinigungsdrohne, die den Alltagsdreck der an tausend Stellen laufenden Arbeit beseitigte.
Ein Antigravschacht brachte sie neun Decks höher, bis in unmittelbare Nähe der Zentrale ... oder dem seit Beginn der Bauarbeiten improvisierten Glaskasten, der direkt vor der Öffnung inmitten der kreisrunden Scheibe des Etappenhofs hing. Dieser angeflanschte, durchsichtige Kubus würde zugunsten der echten Zentrale bald abgebaut werden.