Perry Rhodan Neo 273: Der Mahlstrom - Rainer Schorm - E-Book + Hörbuch

Perry Rhodan Neo 273: Der Mahlstrom E-Book und Hörbuch

Rainer Schorm

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Beschreibung

Vor sieben Jahrzehnten ist der Astronaut Perry Rhodan auf Außerirdische getroffen. Seither ist die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen und hat fremde Welten besiedelt. Dann versetzt eine unbekannte Kraft die Erde und der Mond in den fernen Kugelsternhaufen M 3. Rhodan will diesen Vorgang rückgängig machen, strandet mit dem Großraumschiff SOL aber in der Vergangenheit. Erst im Jahr 2017 kehrt er in die Milchstraße zurück. Während seiner Zeitreise haben die Überschweren unter ihrem Anführer Leticron die Welten erobert. Während Perry Rhodan einen Geheimeinsatz unternimmt, fängt man auf der SOL mysteriöse Impulse aus M 3 auf. Eine Fernexpedition bricht dorthin auf und findet eine chaotische Situation vor. Im Akonsystem entwickelt sich zwischen der Erde und dem Mond ein gefährliches Phänomen, das den Untergang der dortigen Menschheit und der Akonen zur Folge haben kann – es ist DER MAHLSTROM ...

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Seitenzahl: 216

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Zeit:5 Std. 53 min

Sprecher:Axel Gottschick
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Band 273

Der Mahlstrom

Rainer Schorm

Cover

Vorspann

Vergangenheit

1. Der Puls: 1. Mai 2102

2. Auris von Las-Toór: Ein Wrack und dessen Ende

Gegenwart

3. Sofgart: Der Antritt einer weiten Reise

4. Sofgart: Perforation im großen Stil

5. Sofgart: Das Stopfen von Löchern

6. Kammatock: Ein Gespräch und ein Auftrag

7. Sofgart: Ein Weg aus der Mausefalle

8. Kammatock: Unter Konkurrenten

9. Sofgart: Versuch einer Ablenkung

10. Kammatock: Das Aufnehmen der Fährte

11. Leibnitz: Scherben im Brunnen

12. Auris von Las-Toór: Neuer Pulsschlag

13. Sofgart: Das Ziel in greifbarer Nähe

14. Leibnitz: Neu geboren

15. Auris von Las-Toór: Die Pfütze als Übel

16. Sofgart: Gestellt

17. Laura Bull-Legacy: Frisch verstorben

18. Auris von Las-Toór: Eskorte

19. Kammatock: Vor dem Wall

20. Sofgart: Nicht in Sicherheit

21. Kammatock: Der Durchbruch und das Ende

22. Sofgart: Auf in den Abgrund

23. Gorrum Sedlak: Sprung in den Schlund

24. Sofgart: Katharsis und Kathexis

25. Sofgart: Nachtgedanken

Impressum

Vor sieben Jahrzehnten ist der Astronaut Perry Rhodan auf Außerirdische getroffen. Seither ist die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen und hat fremde Welten besiedelt. Dann versetzt eine unbekannte Kraft die Erde und der Mond in den fernen Kugelsternhaufen M 3.

Rhodan will diesen Vorgang rückgängig machen, strandet mit dem Großraumschiff SOL aber in der Vergangenheit. Erst im Jahr 2017 kehrt er in die Milchstraße zurück. Während seiner Zeitreise haben die Überschweren unter ihrem Anführer Leticron die Welten erobert.

Während Perry Rhodan einen Geheimeinsatz unternimmt, fängt man auf der SOL mysteriöse Impulse aus M 3 auf. Eine Fernexpedition bricht dorthin auf und findet eine chaotische Situation vor.

Im Akonsystem entwickelt sich zwischen der Erde und dem Mond ein gefährliches Phänomen, das den Untergang der dortigen Menschheit und der Akonen zur Folge haben kann – es ist DER MAHLSTROM ...

Der Flug der SLITHRUGTANNI ist legendär. Nach der Rückkehr der SOL aus der Vergangenheit trat der Langstreckenversorger die weite Reise in den Kugelsternhaufen M 3 an. Der Arkonide Sofgart begleitete die Expedition unter dem Kommando des Epsalers Gorrum Sedlak.

Die SLITHRUGTANNI startete im Wegasystem am 13. Oktober des Jahres 2107 und geriet mitten in die Geschehnisse, die das Blaue System zu zerreißen drohten.

Dies ist ihre Geschichte. Wie viele andere wurzelt sie in der Vergangenheit.

Kalaronns historisches Summarium, Aufgradung 6.7

Vergangenheit

1.

Der Puls: 1. Mai 2102

Ein Hammer schien das Raumschiff zu treffen. Die kinetische Energie musste gewaltig sein, wenn die Andruckabsorber einen derartigen Stoß durchließen. Die LOO'KAMM erbebte wie eine schwingende Glocke.

Jox von Eppen flog nach hinten, prallte auf den Boden und schlitterte weiter, bis der Sockel eines Positronikpults ihn aufhielt. Stechender Schmerz zuckte durch die linke Schulter, trieb ihm die Luft aus den Lungen und Tränen in die Augen.

Ringsum herrschte Hektik. Die Stammbesatzung der Zentrale war durch Prallfelder abgesichert. Nur er hatte offenbar Pech gehabt. Auch Besucher der Zentrale wurden üblicherweise vom Sicherheitssystem erfasst.

Ich hätte nicht im Traum damit gerechnet, dass es für Prallfeldprojektoren so etwas wie tote Winkel gibt, dachte er wütend. Statt sich bloß eine Prellung zuzuziehen, hätte er sich unter Umständen den Hals brechen könnten. Oder war die Ursache ein technisches Versagen?

Die Zentrale war in rötliches Alarmlicht getaucht. Der Kontrast zu dem strahlenden Kobaltblau, das die Hologramme der Außenbeobachtung zeigten, war beinahe psychedelisch.

»Was ist ... los?«, fragte er. Jede Bewegung schmerzte.

Dekorl von Muos biss sich auf die Unterlippe. Der Kommandant war breit, vor allem sein Oberkörper, und der mit dichtem, schneeweißem, kurz geschorenem Haar bedeckte Kopf wirkte immer, als habe ihn jemand zwischen die Schultern gedrückt. Dekorl war der Inbegriff der Zuverlässigkeit – wie Jox leider festgestellt hatte, aber auch der bürokratischen Pedanterie. Jox wollte nie an seiner Seite in eine Situation geraten, die Improvisation erforderte. Er hoffte, dass das nicht ausgerechnet diesmal der Fall war. Denn Dekorl schien ebenso ratlos zu sein wie Jox selbst.

Ein widerliches Knirschen dominierte die Geräuschkulisse, als reibe man zwei pralle Aluminiumballons aneinander.

»Gegenbeschleunigung!«, brüllte Dekorl. »Diametrale Trajektorie. Wir müssen weg von hier!«

Das blaue Licht flackerte.

Jox hörte, wie das Rumoren der Energiemeiler lauter wurde. Raumfahrzeugaggregate waren in aller Regel gut schallisoliert, aber die Pilotin jagte die Triebwerke in den Überlastbereich. Die dabei entstehenden Vibrationen zogen sich durch die ganze Stützstruktur. Die LOO'KAMM schüttelte sich wie ein verletztes Tier. Das Mittelklasse-Kontrollschiff hatte noch nie eine solche Belastung aushalten müssen. Neben den spürbaren Schlägen, die es trafen, schrien die Angaben der Messholos ihre Warnungen durch die Zentrale. Überall leuchtete es signalrot.

Vielleicht lag es nicht an den überlasteten Maschinen, sondern wurde extern induziert? Vielleicht durch Kraftfelder irgendeiner Art? Jox konnte nichts davon ausschließen, und das Tappen im Dunkeln machte ihn schier wahnsinnig.

Er rappelte sich auf. Als er sich auf den linken Arm stützen wollte, schrie er. Es fühlte sich an, als stecke ein sehr großes, sehr scharfes Messer in seinem Schulterblatt. Der Arm gab nach, um ein Haar wäre Jox erneut gestürzt.

Jemand packte ihn und hielt ihn fest. Happ von Jolt schob ihn vorsichtig auf einen Sessel. Der Waffenoffizier hatte momentan nichts zu tun. Sämtliche Energie wurde für den Schutzschirm und die Triebwerke gebraucht. Offenbar zog das Raumschiff sogar die Versorger der Geschützbatterien heran, ein deutlicher Beweis dafür, wie gewaltig die Kräfte waren, die auf die LOO'KAMM einwirkten.

»Ein Angriff?«, fragte Jox. Schmerzhaft verzog er das Gesicht. »Ich habe nichts ...«

»Das hat niemand«, sagte Happ düster. »Aber so, wie sich das Ganze anhört, pustet uns der nächste Schlag aus der Raumzeit.«

»Es ist der verdammte Schirm!«, schrie Sema von Kerk. »Der Blaue Schirm ist hochgradig instabil. Er pulsiert.« Die Pilotin mit der eigenartig nach hinten zugespitzten Frisur ruhte unter normalen Umständen in sich selbst. Jox hatte sie nie zuvor derart aufgeregt erlebt

»Der Blaue Schirm?«, hakte er nach. Er galt zu Recht als einer der fähigsten Transdimtechniker und Kaskatroniker der Akonen und kannte sich mit dem systemumspannenden Energiefeld bestens aus. Dieses Problem überraschte ihn daher vollkommen; nichts hatte auf eine Labilität dieser Größenordnung hingedeutet.

»Er scheint wieder zusammenzubrechen«, sagte Dekorl. Der Kommandant wurde von einem Band aus Holos umkreist, und die meisten Messanzeigen darin bewegten sich im tiefroten Warnbereich.

Das war kein gutes Zeichen. Nach der Ankunft der Erde und dem Verschwinden des Planeten Na-Thir war die Wiederherstellung des Schirms, der das Akonsystem schützte, das Wichtigste gewesen. Er selbst hatte geholfen, so gut ihm das möglich gewesen war. Der zeitweilige Zusammenbruch der riesigen Energiesphäre war ein zivilisatorisches Trauma, daran bestand kein Zweifel. Er spürte die Auswirkungen gerade selbst. Die Angst kroch unaufhaltsam in seinen Verstand, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.

Ich will meine alte Zegophenphobie wiederhaben, dachte er.

Zegophen waren zum Teil faustgroße Milbentiere, die man auf Drorahs Nordhalbkugel fand. Jox hasste sie seit den Tagen seiner Kindheit, als er während eines Ausflugs in eins ihrer Nester gefallen war. Das brennende Kribbeln Zehntausender Füße konnte er noch immer spüren.

Die LOO'KAMM bockte. Die Luft knisterte, die Atmosphäre lud sich mit statischer Elektrizität auf. Jox fühlte, wie sich seine Kopfhaare aufstellten.

Immerhin registrierte er, dass sich ein Prallfeld aufbaute und ihn sicherte. Auf einen weiteren Sturz legte er nicht den geringsten Wert.

Das Schiff schien zu kriechen, der systemumspannende Blaue Schirm verstärkte diesen Eindruck.

»Ist es vorbei? Welche Distanz benötigen wir, um sicher zu sein?« Er presste die linke Hand auf die schmerzende Schulter.

Der Kommandant schüttelte den Kopf. »Wenn ich das wüsste! Der Schirm verkleinert und vergrößert sich in rhythmischen Abständen, vielleicht stabilisiert er sich bald wieder. Falls er stattdessen zusammenbricht, könnten diese Schockwellen ebenfalls verschwinden. Aber ob uns das etwas nützt, ist eine völlig andere Frage. Die bisher maximal gemessene Radiusschrumpfung betrug gute fünfundzwanzig Millionen Kilometer. Das ist unfassbar. Nur ein paar mehr davon, dann hätte es uns erwischt und unsere Atome im System verteilt. Holen Sie alles aus den Aggregaten raus, was Sie können, Sema. Mit ausgebrannten Triebwerken und Meilern kann ich mich abfinden. Mit dem Tod eher nicht.«

»Wir sind bei guten zweihundert Prozent«, sagte Sema. Ihr dunkelkupfernes Haar war durchgeschwitzt.

Jox hatte bei den Menschen eine vollkommen neue Art der Steuerung kennengelernt. Sie nannten es eine SERT-Haube und den Piloten, der sie anlegte, einen Emotionauten. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, welche Nachteile diese Technik mit sich bringen mochte. Erlebte der Pilot Belastungen wie diese körperlich? Fühlte er sich unter Umständen verbrannt oder gar amputiert, wenn sein Schiff beschädigt wurde? Er konnte sich das kaum vorstellen. Amputationen waren sogar in der Zeit fortschrittlichster Prothetik ein Trauma für jeden Betroffenen. Der Verlust von Teilen seiner selbst war nicht nur eine medizinische Frage, sondern ein Schock für den Organismus. Was musste ein Emotionaut aushalten können?

Die LOO'KAMM durchmaß 150 Meter. Sie war weder das schnellste noch das stärkste Raumfahrzeug im Akonsystem, und es war gut möglich, dass dieser Umstand ihren Untergang bedeuten würde. Größe hieß nicht zuletzt meist leistungsfähigere Maschinen.

»Es reicht nicht!«, stieß der Kommandant zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. »Es reicht ...«

Wie eine hyperdimensionale Springflut schwappte eine ultrablaue Wand auf die LOO'KAMM zu.

»Sämtliche Energie in unseren Schutzschirm!«, brüllte Dekorl entsetzt. »Alles ...«

Dann war die Welle da, und eine höherdimensionale Struktur traf auf eine andere. Der blaue Systemschirm war von seiner Konzeption her zwar nicht primär als Schutz gegen feindlichen Beschuss ausgelegt, wie das beim Abwehrfeld etwa einer schweren Kampfmontur der Fall war. Welche Auswirkungen ein direkter Kontakt mit dem hochgespannten Schirm des Schiffs haben würde, mochte sich Jox dennoch nicht vorstellen. Ein hyperenergetisches Chaos dieser Art konnte nur katastrophale Folgen haben.

Er schloss die Augen. Er glaubte trotzdem, beinahe sehen zu können, was geschah.

Die Welle, die in Wirklichkeit aus einer hochkomplexen Mischung sub- und hyperdimensionaler Feldstrukturen bestand, kollidierte mit dem eher einfach gestrickten Schutzschirm der LOO'KAMM. Letzterer platzte wie eine Seifenblase, der Bewegungsimpuls des Blauen Schirms übertrug sich auf das Raumschiff und beschleunigte es mit irrsinnigen Werten.

Es wurde übergangslos dunkel. Jox hörte Akonen schreien, hörte Stahl reißen, als sei es nicht mehr als Papier. Leitungen barsten, und sofort stank es nach erhitztem Hydrauliköl, Kühlmittel und ausgeglühtem Metall. Die statisch aufgeladene Luft knisterte nicht mehr, sie zischte wie ein wütendes Giuffra.

Ein grellweißer Überschlagsblitz zuckte auf, badete die Umgebung in Licht. Jox stöhnte. Die Helligkeit, die so abrupt die Finsternis verdrängte, fraß sich schmerzhaft in sein Hirn. Bunte Flecken tanzten durch sein Blickfeld, und es dauerte eine ganze Weile, bis er erkannte, dass die Notbeleuchtung angesprungen war.

Das Prallfeld, das ihn gehalten hatte, verschwand. Nahebei stemmte sich der Kommandant aus seinem Sessel. Er schwankte. Die rechte Wange war aufgerissen und blutete stark. Ein Finger der linken Hand stand in absurdem Winkel von der Hand ab, aber Dekorl ignorierte beides.

Die Maschinen waren verstummt. Die Andruckabsorber allerdings hatten wohl funktioniert. Andernfalls wäre von den Lebewesen an Bord kaum mehr übrig geblieben als dickes, rotes Gavabeerenmus. Die Bordschwerkraft war weiterhin aktiv, die Lebenserhaltung tat ebenfalls noch ihren Dienst. Die Pumpen saugten Qualm und giftige Gase ab.

Sema lag verkrümmt am Boden. Jox beugte sich nach unten. Sie war lediglich bewusstlos, aber ein riesiges Hämatom auf Stirn und Schläfe machten eine Gehirnerschütterung wahrscheinlich.

»Keine Medoroboter?«, fragte Jox panisch.

»Nein«, sagte der Kommandant. »Das sieht übel aus. Außerdem sind wir beide anscheinend die Einzigen, die noch stehen.«

Zwei Mitglieder der Zentralebesatzung waren unverkennbar tot. Wie viele Opfer es insgesamt im Schiff gegeben hatte, würde sich zeigen.

Jox aktivierte das in der Montur der Pilotin integrierte Medosystem. Mehr konnte er nicht tun. Das würde die Verletzte vorerst stabilisieren.

»Schadensmeldungen?«, wollte er wissen. Der Gesichtsausdruck des Kommandanten erschreckte ihn. Sogar im roten Notlicht konnte Jox erkennen, dass Dekorl blass war. »Was ist los?«, hakte er nach. Ihm schwante Unheil.

»Die untere Hälfte des Schiffs ist ... ramponiert«, antwortete Dekorl. »Zusammengedrückt wie ein erhitzter Metallkanister, den man plötzlich abkühlt. Sollte dort noch jemand leben, wird das nicht mehr lange der Fall sein. Hüllenbrüche, kleinere Lecks und etliche komplett zerfetzte Schleusen. Dieses Schiff fliegt nirgendwo mehr hin.«

Jox hörte die Luftumwälzpumpen der Zentrale arbeiten. Schon das war ein schlechtes Zeichen, denn solche Bordsysteme arbeiteten üblicherweise gänzlich lautlos. Dann stotterte etwas, und eine halbe Minute später erstarb das Geräusch.

»Die Lebenserhaltung bricht zusammen«, erkannte Dekorl niedergeschlagen. »Können Sie versuchen, einen Notruf abzusetzen? Die Langstreckenemitter liegen im Polsektor der oberen Halbkugel. Vielleicht sind zumindest einige davon noch intakt.« Er deutete auf das Ortungs- und Kommunikationspult. »Einen automatischen Notruf hat die Hauptpositronik nicht mehr ausgelöst. Ich vermute, die Wirkung der aufprallenden Energien des Blauen Schirms hat die positronischen Neuronen in einer Nanosekunde ausgebrannt.«

Jox wusste nur zu gut, was das hieß. Sollte der Versuch scheitern, einen Funkspruch zu senden, würden sie sterben. Daran war nichts zu ändern.

Das leise Knacken sich abkühlenden Metalls war alles, was nun noch zu hören war. Kurz drauf begann auch die Notbeleuchtung zu flackern. Jox hustete. Da die Brandgase nicht mehr abgesaugt wurden, würden sie die Atmosphäre zunehmend vergiften. Er schleppte sich auf den Sessel vor der bezeichneten Arbeitsstation und nahm dort einige Schaltungen vor. Viele der positronischen Neuronalnetze waren tatsächlich zerstört. Der Kontakt mit dem pulsierenden Blauen Schirm hatte für die Bordtechnik furchtbare Auswirkungen gehabt.

Es dauerte für seinen Geschmack viel zu lange, bis er endlich die Emitter erreichte und eins der voreingestellten Bakensignale auslösen konnte. Der mit Maximalleistung in Dauerschleife abgestrahlte Hilferuf würde die wenigen noch intakten Energiespeicher der Sendeanlagen schnell leer saugen. Aber eine andere Möglichkeit hatten sie nicht.

Er ließ sich im Sessel zurücksinken, atmete schwer und musste sogleich erneut husten. Die Luft war zum Schneiden dick; es kostete Kraft, Atem zu holen. Wie ein Schreckgespenst stand die Vorstellung vor seinem geistigen Auge, in einem Schiff zu sterben, das bereits mit Toten überfüllt war.

Er hörte, wie Dekorl von Muos keuchte. Dann, als Jox schon glaubte, das Bewusstsein zu verlieren, erhielt er Kontakt. Eine akustische Warnung zeigte die Annäherung eines anderen Raumfahrzeugs an.

Mühsam stemmte er sich hoch und warf einen Blick auf die flackernde Anzeige. Vor Erleichterung verließen ihn die Kräfte. Er sackte in sich zusammen.

»Was ist ...«, war die schwache Stimme des Kommandanten zu hören.

2.

Auris von Las-Toór: Ein Wrack und dessen Ende

»Um Himmels willen ...«, entfuhr es Sarah Maas. Die Funk- und Ortungschefin der CREST II vergrößerte einen Sektor der Außenbeobachtung im Holodom.

Auris von Las-Toór verspürte mit einem Mal eine eisige Kälte. Als stünde ich ungeschützt auf der Spitze des Fárolon, dachte die Akonin. Aber das hier ist nicht erhaben oder friedlich, es ist grauenhaft.

»Das ist ... der Ausgangsort des Notrufs, den wir empfangen haben«, sagte Maas.

Was noch vor Kurzem eins der typischen akonischen Kugelschiffe mit abgeplatteten Polkalotten gewesen war, ähnelte nun einem Stück Schrott. Die untere Halbkugel war in den restlichen Schiffsrumpf gedrückt worden, Teile des Ringwulstes waren schwer deformiert.

»Das sieht aus, als sei ein Riese auf eine leere Konservendose getreten«, meinte Siobhan O'Sullivan. Der Waffenchefin, unter normalen Umständen eine Frohnatur, war das Lachen bei diesem Anblick vergangen. »Ein sehr, sehr großer und wütender Riese. Finn McCool steh uns bei!«

»Ich messe einzelne Lebenszeichen an«, verkündete Maas.

»Allein das ist bereits ein Wunder«, konstatierte Gabrielle Montoya. »Mister Levy?«

Ein Kommunikationshologramm mit dem Befehlshaber der Beibootflottille leuchtete auf. Der kräftig gebaute Israeli wirkte verkrampft. »Wir können nichts tun«, meldete er. »Wenn wir die Beiboote ausschleusen, werden wir sie verlieren. Dort draußen ist etwas, das man als hyperenergetische Stromschnellen bezeichnen könnte. Nur ist es nicht annähernd so harmlos wie Wasserwirbel. Verdammt, wir können den Leuten nicht helfen!«

Die Kälte in Auris wollte nicht weichen. Von purem Entsetzen erfüllt, starrte sie auf die positronisch aufbereiteten Holodarstellungen des Weltraums vor der CREST II. Es war nicht lange her, dass der Blaue Schirm für unerschütterliche Sicherheit gestanden hatte, für verlässliche Geborgenheit. Das hatte sich mit der Versetzung der Erde ins Akonsystem geändert. Zwar hatten ihn die Akonen gemeinsam mit den Menschen wieder instand setzen können, und diese Zusammenarbeit war ein Lichtblick. Aber das Gefühl der Verunsicherung war geblieben. Seit dem 17. April 2102 terranischer Zeitrechnung waren gerade mal zwei Wochen vergangen.

Es ist ein Trauma, dachte sie. Es wird uns lange begleiten ... wenn es überhaupt jemals wieder verschwindet. Und jetzt das!

Sie wusste, dass traumatisierte Gesellschaften schnell labil werden konnten. Im Geist wiederholte sie die Worte des Beibootchefs. Wir können den Leuten nicht helfen!

Das Holo, das Maas ins Zentrum ihres Blickfelds geholt hatte, verriet, was Levy meinte. Die Raumzeit selbst war in Unordnung geraten, wahrscheinlich durch die Labilität des Systemschirms. Gravitationswellen bildeten ein Muster, das den Verwirbelungen in einem Wildfluss ähnelte.

»Miss O'Sullivan, können wir die LOO'KAMM bei einer Transition mitnehmen?«, fragte sie.

Die Waffenchefin reagierte bereits. Die Traktorfelder des riesigen terranischen Raumschiffs zogen das akonische Wrack näher heran.

Vor dem Piloten Hamza Obafemi Azikiwe ballten sich die Anzeigen. Die Kommandantin Montoya musste keinen einzigen Befehl erteilen, ihre Leute wussten von allein, was zu tun war.

»Der Havarist ist arretiert und gesichert«, verkündete O'Sullivan. »Ich passe unsere Strukturfeldprojektoren an, um die LOO'KAMM mitzuerfassen. Beschleunigung in fünf Sekunden möglich. Vier. Drei. Zwei. Eins. Jetzt!«

Der Namibier fuhr die Triebwerke hoch. Die CREST II hatte sich schon zuvor der recht hohen Eigengeschwindigkeit der LOO'KAMM angeglichen. Das akonische Raumschiff war offenbar aus der Gefahrenzone geflohen oder hatte es zumindest versucht. Bis zum Erreichen der minimalen Transitionsgeschwindigkeit würde es daher nicht lange dauern. Ein taktischer Kurzstreckensprung war schneller möglich als eine Standardtransition. Die Belastung für das Material war dabei zwar sehr hoch, aber in Notsituationen kam es darauf nicht an.

»Zehn Millionen Kilometer Distanz!«, befahl Montoya. Sie wandte sich Auris zu. »Das wird uns in ruhiges Fahrwasser bringen und eine zweite Kurztransition dann recht nah an die ehemalige Position von Na-Thir. Hoffen wir, dass die Überlebenden lange genug durchhalten.«

Auris konnte die Gedanken der Kommandantin beinahe hören: Wenn wir sie nicht mit der Transition selbst umbringen.

Als die CREST II sprang, kam es Auris vor, als schüttele etwas das Schiff durch. Die Empfindung war beängstigend. Die Andruckabsorber sollten so etwas eigentlich verhindern. Wenn Gravitationskräfte durchschlugen, war bei einem Raumfahrzeug dieser Maschinenleistung der Punkt, an dem organische Wesen zerquetscht wurden, schnell erreicht.

Sie riss sich zusammen.

Nach der Rematerialisation nahm Azikiwe sofort abermals Fahrt auf. Kurze Zeit später erschien die CREST II in der Nähe der Erde. Wieder spürte Auris die Vibrationen, als säße ein altes Pochwerk in ihrem Magen. Irgendwann würde das Adrenalin sich abgebaut haben, dann würde ihr das ganze Ausmaß dieser Katastrophe vor Augen stehen.

»Kursabweichung!«, rief Maas. »Ich registriere fluktuierende Massewerte. Stark genug, um die CREST II zu beeinflussen. Die Traktorfeldkopplung mit der LOO'KAMM hält aber.«

»Ich will das sehen!«, verlangte Montoya. Dass sich zwischen Erde und Mond eine Art wildes Gravitationszentrum gebildet hatte, bewiesen die Anzeigen, die Ursache aber blieb rätselhaft.

Währenddessen lief die Bergungsaktion an. Das Wrack der LOO'KAMM hing seitlich an der CREST II, über einen von Prallfeldern gestützten Flextunnel gelangten Rettungseinheiten hinüber. Sie bestanden größtenteils aus Robotern.

Auris warf einen Blick auf die statischen Angaben. Das Wrack war so instabil, dass ihr beinahe übel wurde. Gleichgültig, wie viele Akonen noch an Bord waren, ihre Chancen standen schlecht.

»Ich gehe in den Hangar«, beschloss sie.

Montoya nickte nur.

Als die Hohe Rätin den Außensektor erreichte, vor dem das Wrack schwebte, herrschte dort Aufruhr. Techniker bauten zusätzliche Prallfeldprojektoren auf, um die Kopplung der zwei Raumschiffe zu verstärken. Offenbar wirkte sich das unheimliche Strudelphänomen aus Gravitationswellen sogar tief innerhalb des blauen Systemschirms aus.

Noch eine Unmöglichkeit, dachte Auris bitter. Das wird zur Gewohnheit.

Eine Antigravplattform mit etlichen fest darauf montierten Projektoren schoss an ihr vorbei. Die mit Prallfeldern gesicherte Hangarschleuse stand weit offen, draußen war eine Wüste aus zerfetztem und verformtem Metall zu sehen: der Schiffskörper der LOO'KAMM. Man hörte metallisches Knirschen, das einem durch Mark und Bein ging. Die Techniker hatten den großen Kopplungstunnel, der vom Hangar der CREST II zum akonischen Havaristen führte, mit Atmosphäre geflutet, welche die Geräusche nun übertrug. Fand man Verletzte, würde es vielleicht nicht möglich sein, sie in Schutzanzüge zu packen. Dennoch fragte sich Auris, warum man keine akustische Hemmung aufbaute. Diese Geräuschkulisse musste Auswirkungen haben – sie zerrte an den Nerven aller, die sie hörten.

Als ob die Belastung nicht groß genug wäre. Sie winkte einen Techniker zu sich, der beunruhigend nervös war. »Sehe ich das richtig? Das Schiff bewegt sich? Trotz der Fixierung durch Prall- und Traktorfelder?«

Der Mann, der wie ein Profisportler aussah, warf bei ihrer Frage einen verstörten Blick auf das Wrack. Er nickte. »Es tut mir leid, Hohe Rätin, aber wir schaffen es nicht, die Einflüsse von außen komplett abzuschirmen oder zu kompensieren. Das sollte innerhalb unserer Abwehrfelder eigentlich nicht passieren. Tut es trotzdem. Die zwei Transitionen waren nötig, aber sie haben diesen Schrotthaufen weiter durchgeschüttelt. Wer auch immer da drin noch am Leben ist, kann einem nur leidtun.«

Auris zuckte zusammen, als sich die zerstörte Oberfläche gut sichtbar nach links schob. Der Techniker fluchte und rannte auf eine kleine Schaltstation zu. Auris folgte ihm.

»Die Toleranzen werden überschritten«, stieß der Mann hervor, während er hektisch Befehle eingab und Felder justierte. »Das sollte unmöglich sein ... einmal mehr. Die Positroniken wissen das und halten es für einen Kommunikationsfehler. Scheiße. Gleich reißt die Feldstruktur ab. Wir verlieren das Schiff.«

Die Plattform, die gerade eben an Auris vorbeigeflogen war, hatte sich vor der Schleuse positioniert und aktivierte ihr Transportgut. Zwei weitere folgten. Die neu hochgespannten Felder erzeugten ein weiteres unangenehmes Geräusch, das sich wie ein Nagel in die Gehörgänge bohrte. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis die Akustikfelder sich daran angepasst hatten und es ausfilterten. Offenbar gab es sogar auf dieser technischen Ebene Dysfunktionen. Das war ein schlechtes Zeichen.

Die mikropositronische Ausstattung ihrer Bordmontur war nicht mit der eines Einsatzanzugs vergleichbar. Auris war empfindlich, was Geräusche anging – oder Stimmen. Die aktuellen Töne erinnerten sie an das grelle, harte Knattern elektrischer Entladungen. Gleich darauf sah sie einige kleine, bläuliche Flämmchen über Metallgrate wandern. Elmsfeuer nannten die Menschen dieses Phänomen. An Bord eines voll funktionsfähigen Raumschiffs sollte es etwas Derartiges nicht geben. Aber Unmöglichkeiten schienen der neue Normalzustand geworden zu sein.

Die Generatoren der Fesselfeldprojektoren fuhren in den Katastrophenmodus hoch. Ein hohes Singen mischte sich in die Kakofonie. Die zusätzliche Leistung schien auszureichen – vorerst zumindest. Die sichtbare Wandung der LOO'KAMM stand nun still. Die Rettungskräfte schnitten sich einen Weg ins Innere. Den Großteil der Arbeiten übernahmen Roboter – für Menschen war die Umgebung zu gefährlich. Wer auch immer in diesem Wrack feststeckte, hatte kaum eine Chance auf Rettung.

Wo es gefahrlos möglich war, setzten die Bergungsroboter Desintegratoren ein. Das war riskant, denn die ohnehin geschwächte Struktur des akonischen Raumfahrzeugs wurde dadurch weiter destabilisiert. SENECA, die Hauptpositronik der CREST II, nahm die Berechnungen für den Strahlereinsatz selbst vor; für Auris war das eine Beruhigung.

Es dauerte lange zehn Minuten, bis die Roboter fünf Akonen in den Hangar schafften. Alle wirkten mitgenommen, aber zumindest bei diesen Überlebenden waren keine schweren Verletzungen erkennbar. Lediglich bei einer jungen, ohnmächtigen Frau war der linke Ärmel blutdurchtränkt.

Das ist pures Glück, in einer solchen Umgebung, dachte Auris. Sie hatte bei der Ankunft der Erde miterleben müssen, wie ihr jüngerer Bruder unter einem zusammenstürzenden Gebäude begraben worden war. Auch das war kaum zwei Wochen her. Das derzeitige Geschehen ähnelte der Katastrophe von damals viel zu sehr, als dass sie ruhig bleiben konnte. Sie näherte sich in ihrer Vorstellung erneut den Trümmern des Kor'sheram und sah den äußersten Turm, der nach dem Zusammenbruch des Bauwerks noch stand. Der Geruch war wieder in ihrer Nase. Trocken wie Gips oder Zement, hinterließ er einen eigenartig metallischen Geschmack.

Sie legte die Hände übereinander, um das Zittern zu verbergen. Angst lag wie eine bleierne Decke auf ihrer Brust, sie musste sich zum Atmen beinahe zwingen. Noch mehr Bilder, die ich für den Rest meines Lebens nicht mehr aus dem Kopf bekomme.

Gabrielle Montoya meldete sich. Für Auris von Las-Toór war sie längst nicht lediglich eine offizielle Vertreterin der Menschheit, sondern eine Freundin. Zwischen ihr und der Schiffskommandantin stimmte die Chemie. Das war zwischen Menschen und Akonen nicht automatisch so. Die Fremden erschienen vielen als Bedrohung – oder Konkurrenz. Zwischen den Spezialisten der Raumschiffe allerdings klappte die Zusammenarbeit hervorragend. Ein gemeinsames Problem löste Vorbehalte schnell auf.

»Haben sie alle rausgeholt?«, fragte Montoya über ein vom Bordkommunikationssystem projiziertes Holo.

»Fünf Überlebende«, antwortete Auris. Montoya hatte fraglos deshalb sie kontaktiert, weil sie die Rettungsabläufe nicht stören wollte. Die Leute, die sich um die Verletzten kümmerten, hatten im Moment anderes zu tun, als die Schiffskommandantin mit Meldungen zu unterhalten.

Montoya riss die Augen auf. »Nur fünf? Um Himmels willen ...«

»Statischer Zusammenbruch im Innensektor fünf!«, hörte Auris jemanden schreien. »Lebenszeichen erloschen. Drei Medoeinheiten sind ausgefallen.«

Das folgende Knirschen war furchtbar. Sie versuchte krampfhaft, sich das unglückliche Opfer nicht vorzustellen. Nicht nur die Bilder, auch die Geräusche brannten sich in ihr Gedächtnis.

Die interne Struktur der LOO'KAMM war augenscheinlich unwiderruflich zerstört. Vielleicht hätte man die Trümmer stabilisieren können, wenn da nicht die externen Belastungen gewesen wären.

Woher kommt das nur?, dachte Auris. Hier sind nur Erde und Mond in der Nähe. Nichts, was solche Gravitationswellen auslösen könnte. Oder ist dieses Phänomen dafür verantwortlich? Aber Gravitation funktioniert nicht auf diese Weise. Das ist verrückt.

Sie sah einen der Überlebenden aufstehen. »Jox!«, rief sie.

Der Transdimtechniker, den sie seit Jahren kannte, hob den Arm und winkte. Ein Mediker verabreichte ihm eine Injektion, dann kam er auf sie zu. Er sah derangiert aus, und die eigenartige Tonsur, die er als Frisur bezeichnete, war es ebenfalls. Er bewegte sich langsam und ein wenig unbeholfen. Ein leichtes Schwanken deutete darauf hin, dass sein Gleichgewichtssinn gestört war.

Er hat Schmerzen, begriff Auris. Kein Wunder bei dem, was der LOO'KAMM zugestoßen ist. Dass seine Knochen überhaupt noch heil sind, ist kaum zu glauben. Aber Glück hatte er schon immer.

»Hohe Rätin, es ist mir eine Ehre«, sagte Jox. »Ein persönlicher Rettungseinsatz – womit habe ich das verdient?«

»Jox, du bist ein Idiot«, sagte Auris. »Es war purer Zufall, dass ich mich an Bord der CREST II aufgehalten habe und das Schiff so nah am Unglücksort stand. Nimm's nicht persönlich!«