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Eineinhalb Jahre sind vergangen, seit der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond auf ein havariertes Raumschiff der Arkoniden gestoßen ist. Im Dezember 2037 ist die Erde kaum wiederzuerkennen. Die Erkenntnis, dass die Menschheit nur eine von unzähligen intelligenten Spezies ist, hat ein neues Bewusstsein geschaffen. Die Spaltung in Nationen ist überwunden, ferne Welten sind in greifbare Nähe gerückt. Eine beispiellose Ära des Friedens und Wohlstands scheint bevorzustehen. Doch sie kommt zu einem jähen Ende - das muss Perry Rhodan feststellen, als er von einer beinahe einjährigen Odyssee zwischen den Sternen zurückkehrt. Das Große Imperium hat das irdische Sonnensystem annektiert, die Erde ist zu einem Protektorat Arkons geworden. Widerstand scheint aussichtslos. Doch dann gelingt den Freiheitskämpfern ein Coup: Sie können Quiniu Soptor aus der Gewalt der Besatzer befreien. Wie sich erweist, besitzt die Halbarkonidin wesentliche Informationen, die über das Schicksal der Menschheit entscheiden können ...
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Seitenzahl: 220
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Band 82
Scherben der Vergangenheit
von Rainer Schorm
Eineinhalb Jahre sind vergangen, seit der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond auf ein havariertes Raumschiff der Arkoniden gestoßen ist. Im Dezember 2037 ist die Erde kaum wiederzuerkennen.
Die Erkenntnis, dass die Menschheit nur eine von unzähligen intelligenten Spezies ist, hat ein neues Bewusstsein geschaffen. Die Spaltung in Nationen ist überwunden, ferne Welten sind in greifbare Nähe gerückt. Eine beispiellose Ära des Friedens und Wohlstands scheint bevorzustehen.
Doch sie kommt zu einem jähen Ende – das muss Perry Rhodan feststellen, als er von einer beinahe einjährigen Odyssee zwischen den Sternen zurückkehrt. Das Große Imperium hat das irdische Sonnensystem annektiert, die Erde ist zu einem Protektorat Arkons geworden.
Widerstand scheint aussichtslos. Doch dann gelingt den Freiheitskämpfern ein Coup: Sie können Quiniu Soptor aus der Gewalt der Besatzer befreien. Wie sich erweist, besitzt die Halbarkonidin wesentliche Informationen, die über das Schicksal der Menschheit entscheiden können ...
Ich erinnere mich.
Targelon ist eine dunkle Welt. Nicht etwa finster. Eine dunkle Schönheit, die vieles verbirgt. Die Schwefelverbindungen in den oberen Atmosphärenschichten absorbieren einen Teil des elektromagnetischen Spektrums. Nur wenig Sonnenlicht erreicht den Boden. Es genügt, um den Wäldern ein Überleben zu sichern. Die Schirmkronen recken sich weit über den Stamm hinaus in die Umgebung. Die schwarzen Blätter nutzen alle Frequenzen, die es schaffen, die Wolken und die Lufthülle zu durchdringen. Der Waldboden gleicht eher einer großzügig gestalteten Säulenhalle als einem dichten Unterholz. Die Pflanzen, die sich daran angepasst haben, sind klein. Ihre Kraft erschöpft sich schnell. All das ähnelt einem dichten, weichen Teppich.
Ich sitze auf einer der mächtigen, verschlungenen Bogenwurzeln und starre auf die Oberfläche der Quelle. Ich warte. Die Vulkane des äquatorialen Rings haben längst ihre saisonale Tätigkeit aufgenommen. Es wird dämmriger. Bald werden die ersten Schneeschauer kommen. Der Schwefelschnee wird die Hänge der Berge in einen gelben Mantel hüllen. Auf den höchsten Gipfeln wird sich Pyrit ablagern. Wie poliertes Metall bedeckt der Schwefelkies den schwarzen Basalt; Gold oder Kupfer. Ich kenne das Bild und weiß, wie atemberaubend schön es ist. Doch in diesem Moment gilt meine Aufmerksamkeit der Quelle.
Das Eis darüber taut bereits. Die Temperatur des Wassers steigt. Es kann nicht mehr lange dauern. Noch ist das Wasser unter der gefrorenen Schale dunkel, torfig und trübe. Ich beuge mich nach vorn, um den Augenblick nicht zu verpassen. Dann ist es endlich so weit: Das hauchdünne Eis zerbricht in großen Scherben.
Das Wasser wird klar. Von der vulkanischen Hitze erwärmt, steigt ein gewaltiger Schwall nach oben. Die Gase sind längst entwichen. Es gleicht reinstem Kristallglas. Hitze und Druck schieben die trüben Wassermassen zur Seite.
Pico
Kreuzfahrt
John Marshall beobachtete sie seit einer ganzen Weile. Trotz der Maskerade merkte man Quiniu Soptor die Andersartigkeit an. Sie konnten nur hoffen, dass es für unbeteiligte Menschen, die Terra Police oder Arkoniden nicht zur Erkenntnis reichte, dass sie kein Mensch war.
Er lehnte an einem Verstrebungspfeiler. Sie befanden sich in einer der großen Suiten auf Deck 5 der »MS Hamburg III«. Das Kreuzfahrtschiff hatte vor einer knappen Minute am Pier des Hafens von Magdalena angelegt. Die Azoreninsel Pico präsentierte sich regnerisch. Wolken hingen tief über dem Vulkankegel, der sich trotzig dem schlechten Wetter entgegenreckte. Ein beeindruckendes Bild, obwohl der 2351 Meter hohe Ponta do Pico kaum mehr als eine Silhouette war. Eine bizarre Wolke zeugte von der Aktivität des Stratovulkans.
Marshall schaute durch das Panoramafenster der Suite über Schiff und Pier. Die Vorbereitungen waren in vollem Gange. Bald würden die Passagiere an Land strömen, um dort in ihren Unterkünften einzuchecken oder den Nachmittag mit Spaziergängen oder Shoppingtouren zu verbringen.
Marshall und seine Reisegefährtin suchten dort etwas anderes: die Zuflucht, die Free Earth ihnen versprochen hatte. Einen Ort, an dem sie zur Ruhe kommen konnten. An dem die Halbarkonidin das berichten konnte, was der Arkonide Jemmico ihr vergeblich zu entreißen versucht hatte.
Sie reisten offiziell als Passagiere, mit allen nötigen Ausweisen. Ihre Identitäten waren gefälscht, aber die Dokumente würden jeder Kontrolle standhalten. Operation Greyout hatte den Grundstein dafür gelegt, dass sich alle im Widerstand gegen das Protektorat etwas freier bewegen konnten. Eine enorme Erleichterung.
Dennoch war Marshall nervös. Jeder, der mit Quiniu Soptor zu tun hatte, spürte, dass sie ungewöhnliche Dinge erlebt hatte. Dinge, die sie weiter von anderen Menschen entfernten als ihr exotisches Äußeres.
Soptor drehte sich um und warf ihm einen fragenden Blick zu. Wahrscheinlich hatte sie bemerkt, dass er sie beobachtete. Marshall lächelte, um einem schlechten Eindruck vorzubeugen. Er war nach wie vor unsicher, was ihre Reaktionen betraf. Sie war eine Halbarkonidin. Arkoniden und ihre Abkömmlinge unterschieden sich in vielen Hunderttausend kulturellen Kleinigkeiten von Menschen. Im Falle Soptors kam eine persönliche Geschichte hinzu, von deren Abgründen er so gut wie nichts wusste – noch nicht. Ganz zu schweigen von den Traumata, die in ihr schlummern mussten.
Soptor machte allerdings nicht den Eindruck, als sei sie beleidigt oder fühle sich anderswie unwohl. Sie erwiderte sein Lächeln. Marshall stellte zum wiederholten Mal fest, dass sie auf eine ganz eigentümliche Weise unglaublich attraktiv war. Dabei wurde dieser Eindruck durch die Maske eher abgeschwächt. Ihre normalerweise blauschwarze Haut hatte sich in ein dunkles Kakaobraun verwandelt, eine Perücke mit kurzem, schwarzem Haar verbarg den targelonischen Kopfflaum. Lediglich der schwache Duft des Sekrets, den die Quilranfedern bisweilen absonderten, war nicht zu überdecken. Doch das würde als exotisches Parfüm interpretiert werden. Die Iriden ihrer Augen waren nicht mehr silbern, sondern von grünbrauner Farbe.
»Wir warten?« Soptors Stimme war leise, aber kräftig. Nichts erinnerte mehr an den jämmerlichen Zustand, in dem sie sich bis vor Kurzem befunden hatte. Sie war wieder gesund. Zumindest äußerlich.
»Ja. Wir warten bis zum Schluss. Wir könnten uns unter die anderen Passagiere mischen. Das wäre eine gute Tarnung, aber das Risiko steigt mit jedem unkontrollierbaren Kontakt. Der Zufall sorgt für Überraschungen, die man nicht einplanen kann.«
Soptor lächelte. »Das hat der Zufall so an sich ...«
Die Kontrolle beim Verlassen des Schiffs erwies sich als nur flüchtig. Keine Beamten der Terra Police, geschweige denn arkonidische Soldaten erwarteten sie. Stattdessen zog ein örtlicher Polizist, der Marshall eher an den Wächter eines Parkplatzes erinnerte, ihre Papiere durch ein Lesegerät. Es gab keine Probleme, wie Bai Jun, der militärische Anführer von Free Earth, ihnen versprochen hatte.
Wenig später fanden sie sich an der Hafenmole wieder.
»Und jetzt?« Soptors Stimme war leise.
Marshall wich einem kleinen, autonomen Gepäcktransporter aus, der viel zu schnell unterwegs war. »Wir werden abgeholt. Wir treffen unseren Kontaktmann in einer der Seitenstraßen in der Nähe des Hotel Caravelas. Es ist nicht weit. Dreihundert Meter vielleicht. Wir müssen uns rechts halten.«
Sie machten sich auf den Weg. Noch bevor sie den Hafen verlassen hatten, hielt Soptor unvermittelt an. Die Halbarkonidin starrte hinaus auf die Wasserfläche. In ihrem Gesicht arbeitete es.
»Was ist? Stimmt was nicht?«
Soptor ließ sich Zeit, bis sie antwortete. »Nein. Im Grunde ist alles in Ordnung. Ich musste nur daran denken, dass dort draußen alles für mich angefangen hat. Dort draußen in der Unterwasserkuppel Atlans am Grund des Atlantiks. Ich hatte gehofft, von dort aus die Erde verlassen zu können, die ganze Last meiner alten Existenz hinter mir zu lassen. Nicht mehr länger der von den reinblütigen Arkoniden verachtete Mischling zu sein. Das Ergebnis meiner Flucht war ... ein wenig anders, als ich mir das ausgemalt hatte. Der Preis war sehr viel höher. Ich frage mich: Was wäre anders gekommen, wäre ich hier geblieben?«
Marshall zögerte. Soptors Gedanken waren ihm keineswegs fremd. Er selbst hatte sich in den vergangenen Monaten häufig dieselbe Frage gestellt: Was wäre gewesen, wenn ...? Was, wenn er dem Drängen seines Lieblingsschützlings Sid standgehalten und nicht mit ihm nach Nevada Fields gefahren wäre, um den Start der STARDUST zu verfolgen? Würde er heute an dieser Stelle stehen? Und, noch wichtiger, wäre er glücklicher?
»Das ist müßig. Keiner weiß das. Es macht nichts ungeschehen, wenn man darüber nachgrübelt.« Er folgte ihrem Blick auf die anbrandenden Wellen des Atlantiks. »Die Arkoniden haben die Kuppel in den ersten Stunden der Invasion zerstört. Die Explosion löste Erd- und Seebeben und einen kleineren Tsunami aus. Die neuerliche Aktivität des Pico wird ebenfalls darauf zurückgeführt. Es war ein Exempel der Invasoren. Eine Demonstration der Macht. Jeder hat sie verstanden. Nichts davon hat mir dir zu tun.«
Soptor schloss für einen Moment die Augen. »Ja. Natürlich. Es ist trotzdem ein merkwürdiges Gefühl. Ich wollte fliehen, alles hinter mir lassen. Und eine Zeit lang ist mir das gelungen. Ich habe Orte und Zeitalter gesehen, auf die ich niemals auch nur ein Auge geworfen hätte, wäre ich auf der Erde geblieben und hätte mich Crest und Thora da Zoltral angeschlossen. Und jetzt bin ich zurück. Nach einem entsetzlichen Umweg stehe ich genau da, wo ich diese Flucht begonnen habe. Es ist ... verrückt!«
Einen langen Moment noch starrte Soptor auf den grauen Atlantik, dann gab sie sich einen Ruck.
Sie erreichten das Hotel keine drei Minuten später, betraten eine kleine Gasse, die sogar diesen Namen kaum verdiente. Mülltonnen standen herum. Durch eine Lücke zwischen den Gebäuden war der Gipfel des Vulkans zu sehen. Über der Spitze lag eine dichte Dunstwolke, die von Zeit zu Zeit einen rötlichen Schein reflektierte. Der Krater war aktiv. Leichter Regen setzte ein. Er war nicht so kalt, wie Marshall erwartet hatte. Selbst im Dezember blieb das Wetter auf den Azoren vergleichsweise mild.
»Wie lange müssen wir warten?« Soptor kratzte sich am Kopf. Wahrscheinlich empfand sie die Perücke als unangenehm.
Marshall zuckte mit den Schultern. Er wischte sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. »Man hat mir nicht sehr viel gesagt. Was wir nicht wissen, können wir nicht verraten, sollte man uns schnappen!«
Soptor legte den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund und schlürfte einige Regentropfen, wie Marshall dies in seiner Kindheit getan hatte.
Ein leises Ploppen war zu hören, dann erklang eine leise, helle Stimme. »Dreckswetter! Ich wette, ihr wärt gern anderswo!«
Im Regen stand eine kleine, pelzige Gestalt mit großen, runden Ohren, neugierig blitzenden Augen und einem Biberschwanz. Ihr Blick glitt über die schmutzige Gasse. »Ihr könntet ruhig mal aufräumen, wenn Besuch kommt! Ziemlicher Saustall hier. Außerdem schadet dieses Wetter meinem Pelz.« Die Gestalt pfiff entrüstet.
»Gucky!« Marshall war die Erleichterung anzuhören. Der Mausbiber war der Kontaktmann, den Bai Jun ihnen versprochen hatte. Marshall hatte den Ilt nicht mehr gesehen, seit er vor knapp einem Jahr beim vergeblichen Vorstoß der TOSOMA nach Arkon auf der Eiswelt Snowman verschwunden war.
Der Ilt verbeugte sich. Der Nagezahn blitzte auf. »Schön, dass du mich nicht vergessen hast.«
Er deutete auf Quiniu Soptor, die alle Gelassenheit verloren hatte. Sie starrte den Mausbiber an wie ein Gespenst. »Ist sie das?«
»Ja ... das ist Quiniu Soptor.«
Ihr Mund stand offen. »Ein ... ein Ilt!«
Gucky runzelte die pelzige Stirn. »Dass ich eine Berühmtheit bin, weiß ich ja. Aber das überrascht mich jetzt doch. Mein Ruhm ist universell, wie's aussieht. Ich nehme an, John hat dir von meinen Abenteuern erzählt?«
»Nein.«
»Nein? Woher weißt du dann, wer ich bin?«
»Ich kenne dich nicht, Gucky. Aber ich kenne die Ilts.«
»Du kennst die Ilts?« Ein Ruck ging durch den Mausbiber. Soptor hatte den wunden Punkt des Mausbibers berührt: Er war allein, das Schicksal seines Volkes war ungeklärt. »Woher?«
»Das ... ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir nachher, in Ordnung?«
»In Ordnung«, wiederholte Gucky tonlos. Er wirkte wie erstarrt.
Marshall streckte Gucky die Hand hin. »Also los! Warten wir nicht länger, sonst fängt dein Pelz an zu schimmeln!«
Gucky ergriff die Chance, wieder in seine Rolle zurückzufallen, schniefte entsetzt und fasste nach Quiniu Soptor.
Die Targelonerin sah ihn fragend an: »Wohin bringst du uns?«
Gucky grinste. Er deutete auf den gewaltigen Kegel des Pico im Hintergrund. »Dorthin!«
Sie rematerialisierten auf der Höhe des Kraters. Dicker Rauch verdeckte die Sicht nach Süden und Osten. Der kleinere Vulkankegel, der die Spitze des Berges bildete, war zumindest als Schattenriss zu sehen. Ringsumher reckten sich bizarre Lavagebilde aus dem Boden der Caldera, schwarzmetallisch glänzend. Zwischen ihnen waberte die Hitze, trieb die Rauchschwaden umher. Es war ein beeindruckendes, aber gleichzeitig erschreckendes Bild. Ein dumpfes Grollen lag in der Luft, drang aus dem Boden. Marshall hielt sich ein Taschentuch vor die Nase. Der Gestank nach Schwefel war penetrant. Soptor schien sich daran nicht zu stören.
»Na, was haltet ihr von unserem Versteck?« Gucky machte eine theatralisch umfassende Geste, als sei er höchstpersönlich der Besitzer dieser Hölle.
»Versteck? Was für ein Versteck?« Marshalls Hals war staubtrocken.
Gucky kicherte. »Na, für die IQUESKEL. Wofür sonst?«
»Was ist die IQUESKEL?«
»Das bareonische Schiff, mit dem wir zur Erde gekommen sind.«
»Bareonisch? Ich dachte, Ernst Ellert hätte dich und Thora, Julian Tifflor, Mildred Orsons und Orlgans von Snowman weggebracht.«
»Hat er auch. Aber ...«, Gucky brach ab und verdrehte die Augen, als er erkannte, dass hier oben keine Zeit für ausführliche Erklärungen war. Dann blitzte sein Nagezahn auf, als ihm eine Idee kam. »Ist eine lange Geschichte!«, rief er. »Erzähle ich euch später!«
Noch bevor Marshall oder Soptor etwas erwidern konnte, fasste er sie an den Händen und sprang.
Sie fanden sich in einem nüchternen Raum wieder.
»Willkommen in unserem bescheidenen Heim!« Gucky verbeugte sich. »Entschuldigt, wenn nicht überall Bilder an den Wänden hängen. Die Bareonen, denen wir das Schiff verdanken, waren Burschen, die nicht viel von Tand hielten.« Er winkte in Richtung der Tür. »Kommt, ich stelle euch meine Mitbewohner unserer kleinen Wohngemeinschaft vor!«
Der Erste, den sie trafen, war Julian Tifflor.
Es war über ein Jahr her, seit Marshall den jungen Mann gesehen hatte, der sich zusammen mit seiner Freundin Mildred Orsons auf Oldtimer-Motorrädern einst nach Terrania durchgeschlagen hatte, um an der Zukunft der Menschheit im All mitzuwirken. Tifflor, Anfang zwanzig, hatte zu seiner Überraschung nichts von seiner Jungenhaftigkeit verloren. Tiff, wie ihn seine Freunde nannten, erhob sich aus einem dick gepolsterten Sessel, der wohl nicht zur Originalausstattung des bareonischen Schiffes gehörte. Er blies eine Haarsträhne aus der Stirn. »Du hast sie?«
Gucky zog eine beleidigte Grimasse. »Ich sollte für jede dumme Frage eine Möhre verlangen – vielleicht hätte das erzieherischen Wert. Was dachtest du denn, was ich mitbringe?«
Julian Tifflor grinste. »Keine Ahnung. Irgendwas Nettes zum Beispiel?«
Gucky zeigte den Nagezahn. »Ich bin sicher, Mildred wird begeistert sein, wenn ich ihr verrate, was du so unter ›was Nettes‹ verstehst ...«
Tifflor begrüßte Marshall und Quiniu Soptor, ohne auf Guckys Bemerkung einzugehen. »Crest erwartet euch.« Er unterbrach sich kurz. »Nein, eigentlich warten wir alle auf euch. Wir sind sehr neugierig.«
Marshall runzelte die Stirn. »Das glaube ich gerne. Aber zuerst eines: Sind wir wirklich im Inneren des Vulkankraters? Free Earth hat uns nach Pico geschafft, weil es hier ein Versteck geben sollte ... aber damit habe ich nicht gerechnet.«
Tifflor bestätigte. »Mittendrin sozusagen.«
Soptor war trotz Guckys Vorführung überrascht. »Es ist ziemlich mutig, ein Schiff in einem aktiven Vulkan zu parken. Wobei ›mutig‹ eigentlich zu höflich formuliert ist!«
Tifflor schmunzelte: »Ja, ›verrückt‹ ist der korrekte Ausdruck. Aber Che'Den, unser Pilot, ist spezialisiert auf verrückte Kunststücke.«
Er führte sie in die Zentrale des Schiffs. Dort hielt sich die übrige Besatzung auf.
Mildred Orsons, Tifflors Freundin, wirkte auf Marshall unverändert: eine sportliche junge Frau mit langen, schwarzen Haaren und einem abenteuerlustigen Glitzern in den Augen.
Neben ihr standen zwei Männer, die Marshall unbekannt waren. Es waren Arkonidenabkömmlinge. Der eine von ihnen war ein muskulöser Riese, beinahe zwei Meter groß und mit für einen Arkoniden ungewöhnlichen braunen Augen, in denen ein Feuer zu brennen schien. Der andere erinnerte Marshall an einen Buddha, klein und dick, er strahlte inneren Frieden aus. Als hätte er seine Aufgabe im Leben gefunden.
Die beiden Männer stellten sich als Che'Den und En'Imh vor; ungleiche Zwillingsbrüder, denen gemein war, dass sie sich vom streng reglementierten Lotsendasein verabschiedet hatten, in das sie hineingeboren worden waren.
Che'Den hatte die Verwirrung der ersten Stunden der arkonidischen Invasion genutzt und hatte die IQUESKEL im Krater Picos versteckt – dezent vergrößert durch eine Salve der Bordgeschütze, die sein Bruder En'Imh ausgelöst hatte. Es war ein wahres Husarenstück. Möglich geworden durch die Überlegenheit der bareonischen Technik, die Meisterschaft der beiden Brüder in ihrer Beherrschung und die Tatsache, dass niemand mit ihnen gerechnet hatte: Die terranische Flotte war vor den Invasoren geflohen. Wenn überhaupt, hatten die Arkoniden mit Schiffen gerechnet, die versuchten, die Erde zu verlassen. Nicht mit einem, das sich dort verstecken wollte.
Marshall mochte die beiden auf Anhieb. Er wechselte einige höfliche Worte mit ihnen, dann wandte er sich dem letzten Anwesenden zu.
Crest da Zoltral räkelte sich in einem luxuriös wirkenden Liegestuhl, umgeben von weichen Kissen. Neben ihm stand eine Rotweinflasche auf einem kleinen Tisch. Marshall erkannte den Wein anhand des Etiketts als ein Erzeugnis Picos. Er konnte sich nicht erinnern, den Derengar, den verdienten Wissenschaftler des Großen Imperiums, jemals trinken gesehen zu haben.
Marshall musterte neugierig den alten Arkoniden, dem die Menschheit den Vorstoß zu den Sternen zu verdanken hatte.
Crest sah gut aus, zufrieden. Ein Mann, der in sich ruhte. Und auch wieder nicht. Marshall brauchte einen Augenblick, bis er darauf kam, was mit dem Arkoniden nicht stimmte: Die Falten waren in Crests Gesicht zurückgekehrt.
Der Arkonide erhob sich, trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Es freut mich, Sie wiederzusehen, John Marshall!«
»Die Freude ist ganz meinerseits«, erwiderte Marshall. Der Händedruck Crests war fest.
Der Arkonide wandte sich an Soptor: »Und es freut mich ganz besonders, Sie zu sehen, Quiniu Soptor!«
Soptor schwieg und beäugte misstrauisch den Mann, der einst als wissenschaftlicher Leiter der AETRON ihr Vorgesetzter gewesen war.
Crest wartete einige Augenblicke, dann überging er ihr Schweigen, als hätte er es nicht bemerkt. Stattdessen lächelte er verschmitzt in Marshalls Richtung. »Ich sehe, Sie sind nach wie vor ein aufmerksamer Beobachter, John.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ihr fragender Blick sagt mir alles, was ich wissen muss. Um Ihre unausgesprochene Frage zu beantworten: Ja, ich altere wieder.«
»Wie ist das möglich?«, fragte Marshall. »Versagt Ihr Zellaktivator?«
»Nein. Ich habe ihn abgelegt. Die Last war zu groß. Das Leben nimmt also wieder seinen normalen Lauf. Auf das Ende zu.«
»Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Wirke ich, als würde ich scherzen?«
»Nein, aber ...« Marshall suchte nach Worten. »Sie dürfen nicht sterben, Crest!«
»Ihre Einschätzung ehrt mich, John, auch wenn ich sie nicht teile. Aber ich kann Sie beruhigen: Noch ist es nicht so weit. In meinem Körper hat zwar die natürliche Alterung wieder eingesetzt, doch der Krebs, den der Aktivator geheilt hat, ist nicht zurückgekehrt.«
»Noch nicht, Crest! Was ist, wenn er es tut?«
»Dann werden wir sehen.« Crest machte eine wegwerfende Handbewegung. »Machen Sie sich keine Gedanken. Vielleicht hatte ES mit seiner Einschätzung recht: Ich war nicht würdig. Die Unsterblichkeit war zu groß für mich. Eine Erkenntnis, die nun, da ich die eigentliche Last kenne, sehr viel leichter zu ertragen ist, als ich es vermutet hätte.«
Marshall hörte, wie Quiniu Soptor neben ihm scharf die Luft einzog. Etwas an der Aussage Crests hatte einen wunden oder zumindest empfindlichen Punkt getroffen. Ob der Derengar ihre Reaktion bemerkt hatte, war nicht erkennbar. Die Frau von Targelon nahm die Perücke ab. Mildred Orsons reichte ihr den Nanoblocker. Ein kurzer Impuls genügte: Die Nanoteilchen der Schminke verloren die Kohäsion, verwandelten sich in immer feiner werdenden Staub. Die schwarze, bläulich glänzende Haut kam zum Vorschein; die rostroten Quilranfedern sträubten sich für eine Sekunde.
Soptor straffte sich, als müsste sie sich selbst einen Schubs geben, und sagte: »Sie sind ein mutiger Mann, Crest.«
»Ich danke Ihnen für das Kompliment. Aber ich glaube, ich bin lediglich etwas klüger geworden, in mehr als einer Hinsicht. Ich sehe das Universum nun in mehr Schattierungen als in jener Zeit, als wir uns gekannt haben, Quiniu Soptor.«
»Mir ergeht es ähnlich.«
»Sie haben viel erlebt, nicht?«
»Ja. So viel, dass es mich um den Verstand gebracht hat. Jemmico hatte einen Aramediziner auf mich angesetzt. Er nannte das, was mit mir geschehen ist, ein ›Mnemotisches Syndrom‹. Eine ungute Verbindung aus mnemonischen Vorgängen und einer psychotischen Denkschleife. Dank seiner Bemühungen bin ich wieder gesund.«
»Das sehe ich und es erfreut mich aus tiefstem Herzen. Wollen Sie uns berichten?«
Erdorbit
Wer andern eine Grube gräbt ...
»Sehr schön!«
Chetzkels Stimme zischte besonders stark, wenn er leise sprach. Er drehte Mias Hand und studierte die neuen Veränderungen. Sie war nun in der Lage, ihre Fingernägel etwas auszufahren. Nicht so weit wie eine Katze mit ihren Krallen, aber weit genug, um daraus eine unauffällige, aber gleichzeitig sehr effektive Waffe zu machen. Die Struktur des Horns wurde beim Aufbau im Nagelbett verdichtet. Es erreichte nicht die Qualität von Metall, würde aber einen simplen Schlag in etwas extrem Gefährliches verwandeln.
Mia gab ein leises Fauchen von sich, fuhr mit dem Nagel des linken Zeigefingers zärtlich, aber bestimmt über Chetzkels Wange. Der Reekha spürte, wie die Oberfläche der Schuppen geritzt wurde. Er zog den Kopf nicht zurück. Mias Fauchen wurde zornig. Die junge Frau näherte ihr Aussehen immer mehr dem einer Katze an. Ob dieses Fauchen, das sie während der letzten paar Tage häufiger hatte hören lassen, eine theatralische Farce war oder mit den Veränderungen zu tun hatte, wusste er nicht. Im Grunde genommen war es dem militärischen Befehlshaber der arkonidischen Besatzungstruppen gleichgültig. Er selbst wies in vielerlei Hinsicht die Eigenarten einer Schlange auf.
Chetzkel zischte. Die gespaltene Zunge glitt zwischen den Zähnen hervor. Er fragte sich, ob die zusätzliche Implantierung von Giftdrüsen und ausfahrbaren Injektionszähnen vielleicht doch einen Versuch lohnen würde. Die Augmentation seines Spielzeugs war beeindruckend, obwohl Mia sich über ihre wahre Rolle selbstverständlich nicht im Klaren war. Chetzkel hatte kein Interesse an einer tieferen Beziehung. Egal, welcher Art diese sein mochte.
»Gefällt es dir?« Ihre Stimme war einschmeichelnd, auch wenn sie mittlerweile wissen musste, dass der Reekha auf solche tonalen Feinheiten nicht reagierte.
»Es ist ... beeindruckend.«
Ein akustisches Signal wies auf einen Kontaktversuch aus der Zentrale der AGEDEN hin. Chetzkel aktivierte das Holo mit einem bejahenden Wink.
Der Kommunikationsoffizier verbeugte sich.
»Was ist, Orbton?« Chetzkel reagierte auf Störungen seiner spärlichen Freizeit meist sehr unwillig.
»Ein Anruf von Fürsorger Satrak, Reekha. Er verlangt, Sie umgehend zu sprechen.«
Chetzkel blinzelte. »Hierher!«, befahl er nur.
Im Hintergrund baute sich ein größeres Holo auf. Zu sehen war der behaarte Kopf des Istrahir mit den sich ausbreitenden grauen Stellen im ansonsten rotbraunen Fell. Die braunen, riesigen Augen verstärkten diesen Kontrast auf irritierende Weise.
Chetzkel suchte in der Erscheinung des Fürsorgers nach Anzeichen dafür, dass der Staubsturm Spuren hinterlassen hatte. Enttäuscht stellte er fest, dass Satrak nicht nur blendend aussah, er war darüber hinaus offenbar gut gelaunt. Eine Tatsache, die Chetzkel zu schaffen machte.
»Fürsorger. Ich sehe, Sie sind bei guter Gesundheit. Ich hatte dies gehofft.«
Es war eine glatte Lüge. Tatsächlich hatte sich Chetzkel vor einigen Tagen unverhofft eine Gelegenheit geboten, Satrak loszuwerden. Der Fürsorger war allein zu einem seiner Lieblingsprojekte aufgebrochen, der Aufforstung von Teilen der Great Plains Nordamerikas, die sich durch den unklugen Umgang der Menschen mit ihrer Umwelt quasi in Wüsten verwandelt hatten. Satrak hatte den Wald von Vesogh – so der Name des Projekts – auf sich allein gestellt und mit minimaler Ausrüstung betreten. Nur um dann, als ein Staubsturm den Schutzschirm des Projekts zum Zusammenbruch gebracht hatte, in unmittelbarer Lebensgefahr zu schweben.
Die überforderte Leiterin des Projekts hatte Chetzkel um Hilfe gebeten. Der Reekha hatte zugesichert, den Fürsorger retten zu lassen – um anschließend nichts dergleichen zu unternehmen, in der Hoffnung, dass es mit dem Weichling ein Ende haben würde.
Doch Satrak hatte irgendwie überlebt.
»Nichts anderes hatte ich erwartet«, entgegnete der Fürsorger, der durchblicken ließ, dass er sich keine Illusionen über den militärischen Befehlshaber des Protektorats machte.
Chetzkel ließ sich seine Gedanken nicht anmerken. »Fürsorger, dieser Sturm ist ein weiterer Beweis dafür, dass wir diesen Barbaren die Verwaltung ihrer Welt nicht überlassen können. Sie richten alles zugrunde, und Sie wären dieser Inkompetenz nun beinahe selbst zum Opfer gefallen. Dass Sie überlebt haben, ist lediglich der Großzügigkeit der Sternengötter zu verdanken. Die Menschen sind nicht nur unachtsam oder inkompetent: Sie trachten Ihnen nach dem Leben.«
Satrak gab ein gelassenes Brummen von sich. »Reekha Chetzkel. Ich rufe hauptsächlich an, damit Sie sich nicht weiter um mich sorgen. Das ist nicht nötig, wie Sie sehen. Es geht mir blendend!«
Chetzkel züngelte. »Wie haben Sie diese ... unglückliche Verkettung von Umständen überlebt, Fürsorger? Ich muss zugeben, dass ich überrascht bin.«
Satraks Mimik war für den Reekha nie einfach zu deuten, doch nun hatte er den Eindruck, dass sich der Fürsorger amüsierte.
»Der Wald von Vesogh gleicht dem meiner Heimat. Ich fühle mich dort nicht nur zu Hause, ich bin es.«
Chetzkel schloss kurz die Augen. »Aber Sie werden die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen! Ein Exempel wird verhindern, dass diese Art von ... Unachtsamkeit sich wiederholt. Oder zu einer schlechten Angewohnheit wird. Sie sind nicht irgendwer, Sie sind der Repräsentant des Großen Imperiums!«
Satrak öffnete den Mund und zeigte die kleinen, sonderbaren Zähne. »Es gab eine einzige Verantwortliche. Eine Menschenfrau, die auf den Namen Stacy Allen hörte. Sie ist ihrer eigenen Inkompetenz zum Opfer gefallen. Sie hat das Chaos im Gegensatz zu mir nicht überlebt.«
»In diesem Fall sollten Sie die anderen Mitglieder der Führungsebene zur Verantwortung ziehen. Wir können diese Art von Insubordination nicht dulden.« Satrak schien nachdenklich zu werden. Chetzkel war jedoch nicht in der Lage, diese Reaktion richtig einzuordnen. Er legte nach: »Wir müssen unsere Autorität stärken. Diese Menschen werden sich uns ansonsten bei jeder sich bietenden Gelegenheit widersetzen. Strafe muss sein!«
Satrak starrte ihn an. »Strafe wofür? Alle anderen sind unschuldig.«
»Es gibt keine unschuldigen Menschen! Sie werden Ihrer Verantwortung nicht gerecht!« Chetzkel spuckte an die Wand. Die Schuppen im Bereich der Schläfen spreizten sich ab. Der Oberkommandierende war kurz davor, die Selbstbeherrschung zu verlieren. Nicht nur war der Fürsorger seinen Fängen ein weiteres Mal ausgewichen, nein, er war sogar bei bester Gesundheit und Laune. Darüber hinaus ignorierte er die fundierten Argumente Chetzkels nach wie vor komplett.
»Sie vergessen sich, Reekha!«, sagte Satrak. »Und Sie vergreifen sich im Ton!«