Persönlichkeitsstörungen - Philipp Martius - E-Book

Persönlichkeitsstörungen E-Book

Philipp Martius

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Beschreibung

Patienten mit Persönlichkeitsstörungen sind im klinischen Alltag eine Herausforderung, da ihre Symptomatik wechselhaft und vielfältig ist und dadurch die Diagnosestellung erschwert wird. Dazu kommt häufig eine Komorbidität mit anderen psychischen Störungen. Das Buch stellt in einem gründlichen Überblick Konzepte zum Verständnis dar und zeigt Möglichkeiten der Diagnostik und Behandlung im klinischen Alltag auf. Es hilft dabei, Menschen mit Persönlichkeitsstörungen im häufig wechselvollen Therapieverlauf angemessen und ohne Verlust der eigenen therapeutischen Haltung behandeln zu können.

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Der Autor Prof. Dr. Philipp Martius

•  Arzt, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Zusatztitel Sozialmedizin, Ärztliches Qualitätsmanagement

•  Lehrtherapeut und Supervisor (Ärztekammern Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg)

•  Balintgruppenleiter, TFP-Trainer und -Supervisor

•  Professur Hochschule München für angewandte Wissenschaften, Fakultät Soziale Arbeit

•  Lehrtätigkeit u. a. am WePP Mainz, HIP Heidelberg, Lindauer Psychotherapiewochen, GePs Hamburg, TFP-Institut München, Schweizer Gesellschaft für TFP (SSTFP)

•  Vor der Niederlassung u. a. chefärztliche Tätigkeit in der Abteilung Psychosomatik der Klinik Höhenried gGmbH der Deutschen Rentenversicherung Bayern Süd, Bernried/Oberbayern

•  Leiter TFP-Institut München e. V.

Philipp Martius

Persönlichkeitsstörungen

Eine Einführung für die psychotherapeutische Praxis

Mit einem Geleitwort von Peter Buchheim und Otto F. Kernberg

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-038374-6

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-038375-3

epub:        ISBN 978-3-17-038376-0

Geleitwort

 

 

Dieses Buch bietet einen grundlegenden und klaren Überblick über den gegenwärtigen Stand von Entwicklung, Psychopathologie, neurobiologischen Grundlagen, psychotherapeutischem Verstehen und Behandlungsansätzen bei schweren Persönlichkeitsstörungen.

Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen sind eine Herausforderung nicht nur in der Psychotherapie, Psychosomatik und Psychiatrie, sondern eigentlich in allen Bereichen der Medizin. Ihre Tendenz, sich und andere unbewusst in große Schwierigkeiten im Miteinander und in der eigenen Lebensführung zu bringen, löst bei den Helfern oft Unbehagen, Ängste oder sogar Ärger aus, mit der Folge, dass diesen Menschen nicht immer die nötige oder bestmögliche Unterstützung zukommt. Die Kenntnisse, die dieses Buch in erfrischender Weise vermittelt, erlauben zu verstehen, wie professionell erfolgreicher und zufriedenstellender mit diesen eigenwilligen Menschen umgegangen werden kann.

Philipp Martius unterscheidet verschiedene Sichtweisen im Hinblick auf ätiologische Faktoren, theoretische Konzeptionen und therapeutische Herangehensweisen. Deutlich werden in seinen Beschreibungen die Vorteile, die sich aus einer Integration von Grundkenntnissen in der Klassifikation, Differenzialdiagnostik und Psychodynamik, von psychiatrischen Versorgungsansätzen und von störungsspezifischen Behandlungsmodalitäten ergeben: Sie ermöglichen einen gleichermaßen flexiblen und kompetenten Zugang zu angemessenen therapeutischen Maßnahmen, und helfen gleichermaßen, sich vor den oft als »heroisch« bezeichneten Unterstützungsversuchen zu schützen, mit denen alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Feld immer wieder an die Grenzen ihrer Möglichkeiten (oder darüber hinaus) gelangen. Fallbeispiele illustrieren dabei auf eine sehr anschauliche Weise das Grundverständnis des Autors.

Philipp Martius hat sich schon seit den 1990er Jahren in den kontinuierlichen beruflichen und persönlichen Kontakten mit uns stets mit großem Interesse und klinischem Engagement der Diagnostik und Therapie von Persönlichkeitsstörungen gewidmet.

In diesem Buch vermittelt Philipp Martius mit fundiertem Verständnis von Psychopathologie, Persönlichkeitsstruktur und Neurobiologie auf eine klare Weise die Vielfalt der Störungsbilder und vor allem die Herausforderungen an eine umfassende Diagnostik und Bewältigung therapeutischer Probleme und informiert über aktuelle psychotherapeutische Methoden und Behandlungsansätze.

Wir empfehlen dieses Buch allen Therapeuten, die unabhängig von ihrem eigenen theoretischen Hintergrund Patienten mit Persönlichkeitsstörungen behandeln. Da die psychopathologischen Gesichtspunkte und ihre klinisch-methodischen Folgerungen in diesem Buch in sehr anschaulicher Weise herausgearbeitet werden, stellt es einen fundierten Beitrag für alle dar, die sich für das Erleben, Verhalten und die psychologischen Bewältigungs-Strategien von Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen interessieren.

Prof. Dr. Peter Buchheim, Innsbruck

Prof. Dr. Otto F. Kernberg, New York

Inhalt

 

 

Geleitwort

Vorwort

1   Grundlagen

1.1   Persönlichkeitsstörungen aus psychiatrischer Perspektive

1.2   Persönlichkeitsstörungen aus psychotherapeutischer Perspektive

1.2.1   Psychodynamische Perspektive

1.2.2   Verhaltenstherapeutische Perspektive

1.3   Persönlichkeit und Bindung

1.3.1   Grundlagen

1.3.2   Bindung und Borderline-Persönlichkeitsstörung

1.4   Modellvorstellungen der Persönlichkeit

1.4.1   Einleitung

1.4.2   Fünf-Faktoren-Modell (FFM)

1.4.3   Zirkumplex-Modelle

1.4.4   Modelle persönlichkeitsimmanenter psychologischer Funktionen

1.5   Persönlichkeitsstörungen: Epigenetik und Risikofaktoren

1.5.1   Epigenetik

1.5.2   Risikofaktoren

1.5.3   Zusammenfassung

1.6   Persönlichkeitsstörungen in der Perspektive der Lebensphasen

1.6.1   Persönlichkeitsstörungen bei Jüngeren

1.6.2   Persönlichkeitsstörungen bei Älteren

1.7   Narzissmus und Persönlichkeit

1.7.1   Grundlagen

1.7.2   Klinische Typen des pathologischen Narzissmus

1.7.3   Psychotherapie narzisstischer Persönlichkeits- störungen

1.8   Persönlichkeitsstörungen: Die Forensische Perspektive

1.8.1   Grundlagen

1.8.2   Perspektiven der Begutachtung

2   Diagnostik

2.1   Drei Fallgeschichten

2.2   Kategoriale und dimensionale Diagnostik

2.2.1   Einleitung

2.2.2   Die kategoriale Diagnostik (DSM und ICD)

2.2.3   Die psychodynamische Diagnostik

2.2.4   Kategorial-dimensionales Hybrid-Modell nach Kernberg

2.2.5   Daten zu den Persönlichkeitsstörungen

2.3   Persönlichkeitsstörungen im neuen Gewand: Das Alternative Modell der DSM-5 und die Diagnostik nach ICD-11

2.3.1   Alternativmodell der DSM-5

2.3.2   ICD-11

2.3.3   Anwendung der ICD-11 auf die Fallgeschichten aus Kap. 2.1

2.4   Testverfahren und Strukturelles Interview nach Kernberg

2.4.1   Testverfahren

2.4.2   Klinisches Interview: Das Strukturelle Interview nach Kernberg

3   Therapie

3.1   Einleitung: Die Tatsachen sind freundlich!

3.2   Therapeutische Überlegungen oder störungsspezifische Verfahren für Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10 und DSM

3.2.1   Cluster A

3.2.2   Cluster B

3.2.3   Cluster C: ängstlich-vermeidend

3.3   Psychotherapie für Borderline-Persönlichkeitsstörungen

3.3.1   GPM: Good Psychiatric Management

3.3.2   TFP: Übertragungsfokussierte Psychodynamische Psychotherapie

3.3.3   DBT: Dialektisch-behaviorale Therapie

4   Schlussworte

4.1   An die Lesenden

4.2   Danksagungen

4.3   Es gibt keine Alternative zum Optimismus

Literatur

Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

Dieses Buch entstand infolge einer langjährigen Beschäftigung mit der Behandlung von Menschen, die auf eine mal faszinierende, mal schwierige Art Unterstützung benötigen oder einfordern und für die gilt, was der amerikanische Psychiater John Gunderson für Patienten mit Borderline-Störungen sinngemäß so formuliert hat: »Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die sich ernsthaft um die Behandlung dieser Patienten bemühen, werden ihre berufliche Kompetenz erheblich erweitern, und einen persönlichen Zuwachs an Toleranz und Einfühlungsvermögen erfahren. Sie werden außerdem eine tiefgreifende, lebensverändernde und letztlich dankbar angenommene Rolle im Leben dieser Menschen spielen.«

Menschen mit einer speziellen Ausprägung ihrer Persönlichkeit stellen im Gebiet zwischen Psychiatrie und Psychotherapie immer noch eine erhebliche Herausforderung dar. Studien und eigene Erfahrungen belegen, dass diese Patienten zweierlei benötigen: einerseits sind Therapeuten gefordert, eine Haltung einzunehmen, die zuallererst darum bemüht ist, ein gemeinsames, langfristig tragfähiges Bündnis zu schaffen. Das erfordert Geduld, Ausdauer und eine gewisse innere Freiheit für ungewöhnliche Lösungen. Andererseits sollte kein Therapeut ohne »Schwimmweste und Rettungsring« arbeiten: es bedarf einer strikten Orientierung an präzisen therapeutischen Konzepten und Vorgehensweisen. In diesem Rahmen aber, in einem Spannungsfeld von Zuwendungsbereitschaft, Verantwortungsübernahme und therapeutischer Kompetenz, werden Menschen mit Persönlichkeitsstörungen sehr gut profitieren können.

Die 1990er und die 2020er Jahre wurden in den USA bzw. in Deutschland zu Jahrzehnten des Gehirns erklärt. Auch für den Bereich Persönlichkeitsstörungen hatte dies einen enormen Wissenszuwachs zufolge. So haben wir heute genauere Vorstellungen über die Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung, oder auch, »wie das Gehirn die Seele macht« (Roth 2015) Außerdem wissen wir heute mehr über therapeutische Prinzipien und wirksame Behandlungen, insbesondere im Bereich der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ergebnis dieser Entwicklungen ist, dass in den nächsten Jahren die Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen auf eine neue, wissenschaftlich fundiertere Grundlage gestellt wird, abzulesen insbesondere an den neuen diagnostischen Kriterien der internationalen Klassifikationssysteme.

Dieses Buch möchte daher aus klinischer Perspektive einen aktuellen Überblick über das Thema vermitteln. Es wird getragen von der Idee, dass mittels gut eingeschlagener Wissens-Pflöcke Therapeuten1 verschiedener professioneller Orientierung in der Lage sein werden, Menschen mit diesen Beeinträchtigungen kompetent zu helfen, ohne sich selbst dabei aufzureiben. Das gemeinsame Ziel der Patienten und Therapeuten sollte vielmehr sein, miteinander an der Bewältigung der vor allem emotionalen Schwierigkeiten zu arbeiten, damit Menschen mit Persönlichkeitsstörungen ihr Leben weniger konflikthaft, zufriedener und erfolgreicher gestalten können.

Bezüglich der geschlechtergerechten Sprache habe ich mich dieses Mal dafür entschieden, die inkludierende männliche Form zu verwenden, weil sie mir besser lesbar erschien. Die Sprachformen sind aber im Fluss, und ich nehme an, dass zukünftige Auflagen gegebenenfalls diesbezüglich anders sein werden, auch weil mir dieser Stil dann selbst vertrauter und selbstverständlicher werden wird. Ich bitte dafür alle Leserinnen und divers empfindende Menschen um Verständnis.

Bad Kreuznach/München, im Juli 2021Philipp Martius

1     Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in der Regel die neutrale bzw. männliche Form verwendet. Diese gilt für alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers).

1          Grundlagen

 

 

1.1       Persönlichkeitsstörungen aus psychiatrischer Perspektive

Wir beginnen mit einem Rückblick in die Psychiatrie-Geschichte. Dabei können wir lernen, wie die anfänglichen Themensetzungen die Wahrnehmung der Störungsbilder bis heute beherrschen, aber auch, wieviel Mühe bei deutlich geringeren Forschungsmöglichkeiten sich Fachleute schon vor über 100 Jahren gemacht haben, in der Hoffnung, diese Art von Störung zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Seit Beginn der psychiatrischen Klassifikationen gab es immer Versuche, diejenigen Menschen in psychiatrischen Kategorien zu fassen, die wunderlich und absonderlich, wesensgeändert, anstrengend oder bemitleidenswert bis hin zu reizbar und sozial unverträglich erlebt wurden, verbunden mit therapeutischen Überlegungen, häufig auch erzieherischer Art.

Beim Münchner Psychiater Emil Kraepelin, einem der Väter der psychiatrischen Klassifikationen, liest sich das im Kapitel »XVI. Die psychopathischen Persönlichkeiten« so (Kraepelin 1915, S. 1972 f.):

»Die unsichere und schwankende Umgrenzung des Begriffes der Entartung bringt es mit sich, dass wir bei denjenigen Formen des Irreseins, die aus krankhafter Veranlagung hervorgehen, auf ein breites Zwischengebiet zwischen ausgesprochen krankhaften Zuständen und jenen persönlichen Eigentümlichkeiten stoßen, die wir noch dem Bereich des Gesunden zuweisen. Würden wir in strengstem Sinne alle diejenigen angeborenen Eigenschaften als Ausfluss der Entartung betrachten, die der Erreichung allgemeiner Lebenszwecke hinderlich sind, so würden wir deren Spuren nirgends vermissen. Die Bedeutung des Krankhaften können wir aber den persönlichen Abweichungen von der vorgezeichneten Entwicklungsrichtung erst dann zuschreiben, wenn sie eine erhebliche Bedeutung für das körperliche oder psychische Leben gewinnen; die Abgrenzung ist also eine rein gradweise und deswegen in gewissem Spielraum willkürliche. […] Wir sind heute geneigt, den Maßstab der psychiatrischen Beurteilung an eine Reihe von Menschengruppen zu legen, die man früher unter wesentlich anderen Gesichtspunkten zu betrachten gewöhnt war. Es handelt sich dabei gewissermaßen um psychische Missbildungen, deren Krankhaftigkeit nicht aus der Veränderung gegen frühere, gesunde Zeiten, sondern nur aus ihrer allgemeinen Abweichung von der Gesundheitsbreite erkennbar ist. […] Wie schon heute die Psychiatrie in vielen Erscheinungen des gesunden Lebens den Schlüssel zum Verständnis krankhafter Störungen findet, so würde umgekehrt unsere Kenntnis des Menschen eine außerordentliche Vertiefung erfahren, wenn wir die feinen Wurzeln des Krankhaften in der Einzelpersönlichkeit überall klarzulegen vermöchten.«

Bemerkenswert an diesem Zitat sind mehrere Stellen: Zunächst, dass es um Menschen geht, die bei der »Erreichung allgemeiner Lebensziele« behindert wirken; dann, dass die Abgrenzung »gradweise« oder »willkürlich« stattfindet; schließlich, dass die Beurteilung zeitlichen Veränderungen unterliegt. Außerdem nimmt Kraepelin an, dass ein vertieftes Verständnis der »Abweichungen« für die Menschenkenntnis bedeutsam sein könnte.

Weiter heißt es in seinem Lehrbuch:

»Die Gruppierung der psychopathischen Persönlichkeiten […] stößt auf die allergrößten Schwierigkeiten. Die Mischungen von gesunden und krankhaften Zügen aller Arten und Abstufungen bieten eine noch weit größere Mannigfaltigkeit als schon die gesunden Persönlichkeiten. Überdies ist von schärferen Abgrenzungen keine Rede. Irgendwie kennzeichnende Krankheitserscheinungen gibt es nirgends. Alle die verschiedenen Einzelstörungen finden sich immer wieder, nur hier stärker, dort schwächer ausgeprägt. Somit handelt es sich zumeist lediglich um Verschiebungen im gegenseitigen Verhältnisse der gleichen Krankheitserscheinungen, von denen bald diese, bald jene im klinischen Bilde stärker hervortritt. […] Für die [von Kraepelin getroffene] Auswahl maßgebend ist dabei lediglich ihre psychiatrische Wichtigkeit. Nur solche Formen sollen berücksichtigt werden, die tatsächlich mit einer gewissen Häufigkeit der irrenärztlichen Beurteilung zugeführt werden, während zahlreiche andere, […] nicht minder interessante […] vernachlässigt werden, so die Wirrköpfe, die Ästheten, die Schwärmer und Fanatiker, die Überspannten und viele andere.« (S. 1978f.)

Was wir hier finden, sind folgende heute noch gültigen Aspekte bei der Betrachtung von Persönlichkeitsstörungen, die ich entlang des zitierten Textes herausarbeite:

a)  Die Probleme, Schweregrade bzw. Abgrenzungen zum sog. Gesunden zu definieren;

b)  die Bewertung des Leidens danach, wie sehr sich daraus eine klinisch relevante Bedeutung als Abweichung von einer angenommenen Entwicklungsrichtung ergibt;

c)  die Veränderung des psychiatrischen Bewertungsmaßstabs über die Zeit (wohl am ehesten als Ausdruck sich ändernder gesellschaftlicher Umstände);

d)  das breite Spektrum an »Krankheitserscheinungen« in ganz unterschiedlicher Kombination und Abstufung, somit auch eine gewisse Unschärfe in der Unterscheidung;

e)  und letztlich die Auswahl von Störungsbildern nach der Häufigkeit des Auftretens im klinischen Setting.

Kraepelin beschreibt in seiner Klassifikation die Gruppen der Erregbaren, der Haltlosen, der Triebmenschen, die Verschrobenen, die Lügner und Schwindler, die Gesellschaftsfeinde (Antisozialen) und die Streitsüchtigen. Auch wenn die verwendeten Begriffe heute teilweise befremdlich wirken – allerdings auf beiden Seiten (!): der »Wirrkopf« und der »Ästhet«, aber eben auch der »Irrenarzt« –, ist doch gleichzeitig bemerkenswert, dass sich einige Grundkonstanten der Persönlichkeiten nicht geändert haben.

Lange Zeit prägend im deutschen Sprachraum für den Bereich der Psychopathien (oder heute Persönlichkeitsstörungen) waren die Schriften des Heidelberger Psychiaters Kurt Schneider (Schneider 1946). Seine Definition, wonach psychopathischePersönlichkeiten an ihrer eigenen Abnormität leiden oder die Gesellschaft an ihnen, geht ebenfalls von einer angenommenen, aber nicht näher beschriebenen Gesundheitsbreite (Kraepelin) von Persönlichkeiten aus, und beschreibt anhand von klinischen und symptomatischen Merkmalen die klinischen Untertypen. Schneider nennt sein Vorgehen »systemlos«: dies mache seine Typenlehre ebenso »bescheiden« wie »unangreifbar« (Schneider 1946, S. 41). Er betont: »Typen sind erste und im Hinblick auf das Individuelle stets grobe Orientierungspunkte von grundsätzlicher Einseitigkeit.« (Schneider 1946, S. 43). Wegen seiner prägenden Wirkung wird seine psychopathische Typologie mit einer Zusammenfassung seiner Beschreibungen und weiteren Angaben hier ausführlich tabellarisch referiert (Tab. 1.1).

Tab. 1.1: Psychopathologische Typologie bei K. Schneider (modifiziert nach Schneider 1946)

Psychopathische KategorieKlinische BeschreibungSonstiges

Beeindruckend an diesen Beschreibungen ist die enorme Differenziertheit der Symptomschilderungen und das geradezu unermüdliche Wiederholen vieler symptomatischer Verästelungen. Wir finden in den Beschreibungen Symptome und Beschwerden, die im heutigen Klassifikationssystem Platz gefunden haben, wenn auch z. T. in anderer Zuordnung. Insofern hat das »Systemlose« von Schneiders Ansatz System bis in die Moderne. Das inzwischen veränderte Verständnis grundlegender Dimensionen der Persönlichkeit sowie die Einbeziehung psychodynamischer Perspektiven wird daher die bisherige Systemlosigkeit grundlegend überwinden. Befremdlich ist allerdings bei Schneider seine erhebliche therapeutische Skepsis: bei vier Unterformen, den Fanatischen, den Geltungsbedürftigen, den Stimmungslabilen und den Gemütlosen wird jede Verbesserungsmöglichkeit in Abrede gestellt. Bei den anderen wird überwiegend auf Möglichkeiten hingewiesen, zu stützen, zu schützen oder zu erziehen. Nur bei den Selbstunsicheren wird erwähnt, dass man einzelne Zwangssymptome durch Hypnose heilen kann und dass eine Psychoanalyse durch Ungeübte »auf alle Fälle zu schaden scheint«, denn: »Freud selbst berichtet wenig optimistisch« (Schneider 1946, S. 78).

In der Tradition Schneiders erschien 1966 eine Langzeit-Katamnese von Patienten, die zwischen 1928 bis 1941 unter einer Psychopathie-Diagnose an der Tübinger Universitätsklinik aufgenommen worden waren (Tölle 1966). Von 539 Patienten (359 Männer und 180 Frauen, 67 vs. 33 %) konnten noch 115 ausfindig und nachuntersucht werden, 152 (28 %, 79 % Männer und 21 % Frauen) waren verstorben. Der Katamnese-Zeitraum bei den Untersuchten betrug durchschnittlich 28 Jahre. Auf methodische Fragen soll hier nicht eingegangen werden, da vor allem der klinische Bezug interessiert. Tölle stellt in seiner Katamnese einerseits die Verläufe getrennt nach den psychopathischen Typen im Sinne Schneiders dar. Andererseits orientierte er sich zusätzlich an einer dynamischen Betrachtungsweise in Anlehnung an die Anthropologische Psychiatrie (Peters 1990, S. 408). Dabei interessierten ihn Formen der sogenannten Daseinsbewältigung im Lebensweg. Damit konnte er berichten (Tölle 1966, S. 74 f.), dass Geltungsbedürftige sich in ihrem Leben v. a. »arrangierten«, und dass asthenische und selbstunsichere Persönlichkeiten je nach Unterstützung und Lebensumständen »erhebliche Anforderungen« bewältigen konnten. Für bestimmte Persönlichkeits-Typen seien bestimmte Problembereiche charakteristisch geblieben: Depressive hatten Probleme mit den Eltern, Selbstunsichere berichteten v. a. von beruflichen Konflikten, Asthenische kränkelten, Haltlose, sensitiv Selbstunsichere und Hyperthyme litten unter Beziehungsproblemen und Geltungsbedürftige hatten Kommunikationsprobleme, vermutlich durch ihr »unechtes« Verhalten. Tölle konnte ein Auftreten von Krisen als Folge der unzulänglich gefestigten Persönlichkeitsstruktur herausarbeiten, fand aber keine Persönlichkeits-typischen Krisen-bezogenen Reaktionsmuster. Im Laufe des Lebens aber seien die Krisen seltener geworden und zwei Drittel der Untersuchten hätte »im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine sinnerfüllte oder wenigstens erträgliche Daseinsform« gefunden. Tölle benannte in diesem Zusammenhang auch einige Formen der sogenannten »kleinen Psychotherapie« und widerlegte so Schneiders therapeutischen Pessimismus.

Eine bemerkenswerte Langzeit-Katamnese für Patienten mit Borderline-Störungen hat der amerikanische Psychiater und Psychotherapeut vorgelegt (Stone 1990, Tab. 1.2). Er konnte 502 von 550 (91 %) Patienten untersuchen, die zwischen 1963 und 1976 auf einer Spezialstation der psychiatrischen Klinik des Staates New York behandelt worden waren, die allgemein als »letzte Behandlungsmöglichkeit« für diese Patienten angesehen wurde. Die Nachuntersuchungen erfolgten überwiegend Jahrzehnte nach der Indexbehandlung. Das Setting der Klinik war eine intensive psychoanalytische stationäre Langzeittherapie mit mehrmonatigen Behandlungen, als Teil der fachärztlichen Weiterbildung von Assistentinnen, verbunden mit regelmäßiger Supervision durch sehr erfahrene Psychiater und Psychoanalytiker. Alle Patienten wurden nachuntersucht, indem zunächst die Krankengeschichte (inklusive der z. T. aufgezeichneten Erstinterviews) hinsichtlich der inzwischen eingeführten DSM-III-Klassifikation kritisch überprüft wurde. Anschließend wurden die Patienten entweder aufgesucht oder telefonisch befragt mit einem semi-strukturierten Interview, das die weitere Anamnese, berufliche und private Daten erfasste. Die Patienten waren bei Aufnahme zwischen 13 und 39 Jahre alt, der Anteil der Adoleszenten unter 18 Jahren betrug 143 (26 %), über 90 % waren alleinstehend.

Im Ergebnis zeigt Stone, dass sich etwa die Hälfte (248 von 502 Patienten, 49 %) der Patienten im Verlauf der Nachuntersuchung erholt. 9 % nehmen sich das Leben, 28 % bleiben sehr symptomatisch. Die Zahl der Suizide ist bei den Patienten mit psychotischen Störungen mit N=31 höher als bei den Patienten mit Persönlichkeitsstörungen (N=19; 62 zu 38 %). Bei den gebesserten Patienten sind dagegen die Patienten mit Persönlichkeitsstörungen gegenüber den Patienten mit einer Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis überrepräsentiert (N=182 von 299 (61 %) vs. N=66 von 238 (27 %)). Somit ist der Outcome der Persönlichkeits-gestörten Patienten prima vista günstiger.

Tab. 1.2: Studie PI-500: Übersicht über die Diagnosen (modifiziert nach Stone 1990)

Diagnostische KategorieAnzahl PatientenAnzahl FrauenAnzahl Männer