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Lest ihr euren Kindern nicht auch gerne etwas vor, wenn sie zu Bett gehen? Kleine Geschichten, schnell erzählt, abwechslungsreich und spannend? Damit sie danach ruhig und friedlich schlafen und vielleicht einen schönen Traum haben? Wenn das so ist, solltet ihr dieses Buch nicht kaufen.... denn vermutlich lesen sie es eh schon....heimlich....unter ihrer Bettdecke....
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Veröffentlichungsjahr: 2021
16.06.2014, 21:41 Uhr
[email protected] schrieb:
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich wende mich an Sie, weil ich nicht weiß, an wen ich mich sonst wenden kann. Ich bin ehrlich und sage ganz klar, dass ich generell an solche Sachen nicht glaube. Aber hier geschehen in letzter Zeit Dinge, die ich mir nicht so ganz erklären kann und die einfach auch an mir und meinen Kindern (13 und 11) nagen. Ich möchte es mal kurz umreißen:
Mein Name ist Erik Jansen, ich bin 41 Jahre alt, von Beruf Industriemechaniker in Cuxhaven und habe 2 Kinder, Yannic (13) und Lucie (12). Derzeit arbeite ich nicht und bin zuhause, da meine Frau vor kurzem bei einem Autounfall verstarb und ich momentan einfach für die Kinder da sein möchte und muss. Ich saß damals mit im Auto, habe aber nur einige Knochenbrüche und ein Koma von 2 Wochen davongetragen. Das Ganze ist jetzt 8 Monate her.
Seit dem Tod meiner Frau ist es in unserem Haus irgendwie "anders" geworden. Das ist schwer zu beschreiben. Natürlich ändert der Tod eines Elternteils alles und wirbelt die ganze Familie durcheinander, schafft Traumata. Das ist mir bewusst, aber ich meine eher andere Sachen.
Ich bin seit dem Unfall mit den Kindern alleinerziehend. Die Schwester meiner Frau und meine Mutter unterstützen mich, wo es nur geht. Aber das Kernfamilienleben findet zu dritt statt. Ich und meine Kinder.
Seit einiger Zeit schlafen die Kinder schlecht. Ich habe jetzt einige Male erlebt, dass ich abends nach ihnen gesehen habe, wenn sie schon schliefen, und sie haben sich unruhig im Bett umhergewälzt oder im Bett gesessen und geweint oder wirkten verängstigt. Allerdings wollten sie mir nicht sagen, ob etwas war oder nicht.
Gleichzeitig, und das ist auch der Grund, aus dem ich mich an Sie wende, merke sogar ich, der eigentlich sehr fest auf dem Boden der Realität steht, dass sich die Atmosphäre im Haus verändert hat. Es gibt Stellen und Momente im Haus, wo ich mich beobachtet fühle oder mir unwohl ist oder wo es sich kühler anfühlt. Unser Haus ist gut isoliert. Und dort war jahrelang alles in Ordnung. Ich wüsste nicht, was da jetzt wo kaputt sein sollte. Ich habe mich natürlich an einen Kinder- und Jugendtherapeuten gewandt, denn ich glaube schon, dass der Tod meiner Frau den Kindern sehr zu schaffen macht. Aber ich möchte schon mal herausfinden, woher dieses Unwohlsein im Haus auf einmal herkommt.
Manche Stellen im Flur oder im Wohnzimmer kommen mir auf einmal richtig feindselig vor. Und unser Haus war eigentlich immer ein Ort mit sehr viel Freude und Liebe.
Haben Sie da irgendwelche Ideen zu?
Ich würde mich freuen, wenn Sie Sich melden würden.
lg
E. Jansen.
23.06.2014, 12:54 Uhr
[email protected] schrieb:
Hallo, Herr Jansen.
Vielen Dank für Ihre Email. Zuerst einmal möchte ich Ihnen mein Beileid ausdrücken für Ihren Verlust. Das muss Sie alle hart getroffen haben und es ist klar, dass ein solches Ereignis das komplette Familienleben aus der Bahn wirft. Es ist ganz natürlich, dass gerade Ihre Kinder nicht sofort zur Tagesordnung übergehen können. Gerade Mütter sind ein extrem wichtiger Teil des Sozialisationsprozesses und ein so abrupter Verlust wird ganz sicher nicht spurlos an den Kindern vorübergehen. Selbst wenn sie den Trauerprozess, der auch zeitlich ein Prozess ist, durchlaufen, ist es nicht ungewöhnlich, wenn Kinder ganz eigene Wege der Trauerbewältigung suchen und finden. Auch Ängste, Nachtängste, Verlustängste können solche Wege sein. Darum ist es gut, dass Sie sich zuerst an einen Therapeuten gewandt haben, bevor Sie uns geschrieben haben. Denn diese Fachleute können sich sehr genau mit den Kindern beschäftigen und sie durch den Trauerprozess begleiten. Ob da nun etwas Metaphysisches oder Übernatürliches hintersteckt, wäre höchstens in einem zweiten Schritt herauszufinden. Wir als Ghosthunterteam haben da einen professionellen Anspruch.
Anders sieht es da schon mit Ihrem Empfinden von Unwohlsein und Kälte aus. Es können natürlich Kältebrücken sein, die auf undichte Stellen im Haus hinweisen, und auch dass "sich beobachtet fühlen" oder "sich unwohl fühlen", kann tatsächlich auch mit Trauerbewältigung einhergehen. Allerdings haben wir immer mal wieder Fälle, in denen sich Angehörige von Verstorbenen nach deren Tod an uns wenden, weil sie das Gefühl haben, dass diese Person noch nicht ganz fort ist und vielleicht noch etwas zu erledigen hat. Das ist nicht auszuschließen. Ebensowenig ist es auszuschließen, dass solche Empfindungen von Ihnen selbst ausgehen, wenn etwa Sie das Gefühl haben, sie können ihre Frau noch nicht gehen lassen und müssten ihr noch etwas sagen. Die Psyche geht oft seltsame Wege, wenn sie uns etwas mitteilen will.
Aber all das können wir gerne gemeinsam herausfinden. Es ist gut, dass Sie sich an uns gewandt haben und wir im Gespräch sind.
Ich schicke Ihnen mal als .PDF im Anhang mit, wer wir eigentlich sind, wie wir arbeiten und vor allem was wir unter Spuk, Geistern und Übernatürlichem verstehen, damit Sie sich mal ein Bild von unserer Arbeitsweise machen können. Und ich würde vorschlagen, wir bleiben in Kontakt.
Für den Anfang würde ich mich freuen, wenn Sie mir mal eine Art Spukprotokoll der nächsten Woche erstellen. Schreiben Sie einfach alles, was Ihnen merkwürdig vorkam oder seltsam war, auf, damit wir ein genaueres Bild bekommen, was bei Ihnen los ist.
Bei akuten Problemen können Sie uns auch jederzeit telefonisch erreichen.
MfG
Eike Kurz.
02.07.2014, 17:07 Uhr
[email protected] schrieb:
Hallo, Herr Kurz.
Ich schicke Ihnen heute das besprochene Protokoll und hoffe, dass Sie vielleicht weitere Ideen haben, denn leider muss ich sagen, dass die Situation hier nicht besser geworden ist. Leider im Gegenteil.
23.06., 22:15 Uhr etwa: Ich habe nach den Kindern gesehen. Die Kleine schlief. Als ich in Yannics Zimmer gegangen bin, nachdem ich angeklopft hatte, lag er weinend unter seiner Bettdecke. Ich konnte ihn nicht trösten. Er rollte sich einfach zusammen und schwieg, bis ich wieder ging. Ich bin dann nach unten ins Wohnzimmer gegangen und habe dort Poltern aus dem Schlafzimmer von mir und meiner Frau gehört. Ich bin hochgegangen, doch habe nichts gehört. Die Kleine schlief weiterhin und Yannic weinte weiter im Bett. Ich habe noch eine halbe Stunde abgewartet und nochmal nach ihm gesehen. Er schlief. Sonst hätte ich die Oma angerufen.
24.06., 8:50 Uhr: Heute waren die Kinder in der Schule und ich bin in die Küche gegangen, um mir Kaffee zu holen. Als ich wieder ins Wohnzimmer ging, standen die Hochzeitsfotos von mir und meiner Frau umgedreht im Regal. Also so, dass man sie nicht mehr sah.
25.06., 22:11 Uhr: Ich war gerade bei den Kindern. Yannic schlief. Lucie war wach und strahlte mich an und erzählte und erzählte. Sie drückte mich und winkte mir noch nach, als ich das Zimmer verließ. Das war das erste Mal seit dem Unfall, dass ich sie so fröhlich erlebt habe. Es war halt ein total merkwürdiger Zeitpunkt. Als ich wieder unten im Wohnzimmer war, hörte ich oben eine Tür schlagen. Ich ging nachsehen. Der Junge saß im Bett und starrte mich erschrocken an. Lucie lag schlafend im Bett. Ich habe Yannic gefragt, wer die Tür geknallt hat. Er sagte "Mama."
25.05., 23:20 Uhr: Ich fühle mich sehr unwohl. Ich sitze im Wohnzimmer auf meinem Sessel und habe das Gefühl, angestarrt zu werden. Es ist niemand da. Ich habe sogar laut "Hallo?" gesagt, doch ich haben niemanden gehört. Das Gefühl, jemand wäre da, ist total merkwürdig.
27.06., 23:30 Uhr: Ich lag im Bett und merke auf einmal, wie sich die Matratze bewegt, und höre eine Stimme, die sagt "Weg!"
29.06., 00:11 Uhr: Ich habe vorhin nach Yannic sehen wollen. Ich habe die Tür geöffnet und er warf ein Buch nach mir und schrie dabei. Meine Mutter kam wenige Minuten später von selbst rüber und setzte sich zu ihm ins Zimmer.
01.07., 22:14 Uhr: Wieder Schritte aus dem Schlafzimmer über mir. Im Wohnzimmer roch es nach Kerzendochten.
Vielleicht hilft Ihnen das schon mal weiter? Ich habe das Gefühl, hier staut sich irgendwas auf und ist kurz davor zu explodieren. Vielleicht können Sie ja weiterhelfen.
LG
E. Jansen
03.07.2014, 12:36 Uhr
[email protected] schrieb:
Hallo, Herr Jansen.
Danke für Ihre Mail und Ihre Aufzeichnungen.
Ich bin ehrlich: Das ist in der Tat merkwürdig. Ich schlage vor, dass wir uns mal bei Ihnen Zuhause treffen, damit wir uns mal ein Bild vor Ort machen können. Wir können ein erstes Treffen auch gerne so legen, dass die Kinder in der Schule sind, damit sie nicht zusätzlich belastet werden. Wenn wir dann weitere Schritte unternehmen sollten, können wir sie ja immer noch einbeziehen.
Wir würden gerne mit Ihnen herausfinden, woran das, was Sie wahrnehmen und erleben, liegt. Das müssen nicht immer Geister sein. Oft gibt es auch ganz profane Erklärungen, auf die man nur einfach schwer kommt. Doch wir wären nicht Ghosthunter, wenn wir nicht auch davon ausgehen würden, dass es eben auch Fälle gibt, die sich nicht naturwissenschaftlich erklären lassen. Wir haben ja Ihre Nummer. Ich würde mich gerne die nächsten Tage mit Ihnen in Verbindung setzen, dass wir einen Termin ausmachen.
MfG
Eike Kurz
13.07.2014, 19:04 Uhr
[email protected] schrieb:
Hallo, Herr Kurz.
Ich hatte gehofft, von Ihnen zu hören, aber leider haben Sie sich bei mir noch nicht gemeldet. Allerdings würde ich mich wirklich freuen, wenn Sie sich melden können, denn hier gerät grad alles aus den Fugen.
Mein Sohn entgleitet mir total. Ich bin vorgestern Abend zu ihm ins Zimmer gegangen. Er lag schon im Bett und schlief. Ich bin noch an sein Bett gegangen, um ihn wieder richtig zuzudecken, da er nur halb unter der Decke lag. Yannic ist davon wach geworden und fing an zu schreien. Er wollte garnicht mehr aufhören. Und dann ging plötzlich das große Licht in seinem Zimmer an. Ich habe keine Ahnung wie. Es war niemand sonst im Zimmer. Dann stürzte auch schon meine Mutter, die seit einigen Tagen hier schläft, in Yannics Zimmer und kümmerte sich um ihn. Ich lief derweil rüber zu Lucie. Sie saß im Bett und sagte "Hallo Papa." Ihr ging es anscheinend gut.
Ich wollte runter ins Wohnzimmer, die Notrufnummer der Therapeutin wählen, doch oben im Flur blitzte es und rumpelte es. Aber es war niemand da. Es hört sich aber an, als wär da jemand.
Ich glaube, meine Frau ist noch hier. Sie sucht uns heim.
Bitte helfen Sie uns.
E. Jansen
14.07.2014, 21:13 Uhr
[email protected] schrieb:
Hallo, Herr Kurz,
ich hoffe, Sie lesen die Mails. Ich glaube, dass es vielleicht meine Frau ist. Ich habe heute ihre Stimme gehört. Im Wohnzimmer. Sie sagte meinen Namen. Ich rief "Ich liebe dich", hörte dann jedoch einen Mann sagen:" Hast du das?". Ich habe mittlerweile große Angst. Wenn es meine Frau ist, die hier ist, ist sie nicht allein.
Bitte melden Sie sich.
E. Jansen
15.07.2014, 12: 04 Uhr
E.Jansen@Hotmailcom schrieb:
Hallo,
auch heute wurde es nicht besser. Ich habe Stimmen im Wohnzimmer gehört. Stühle wurden umhergeschoben und ich roch Zigarettenrauch. Jemand ist eindeutig hier, und ich habe keine Ahnung, was los ist. Wenn ich oben bin, blitzt es ganz komisch. Türen sind auf, auch wenn ich sie schließe und ich höre eindeutig einen Mann meinen Namen sagen. Das macht mir Angst.
Bitte melden Sie sich.
E.Jansen
15.07.2014, 12:12 Uhr
[email protected] schrieb:
Hallo, Herr Jansen.
Sie haben Recht. Es war gut von Ihnen, uns zu kontaktieren.
Es ist bemerkenswert, dass wir beide in Mailkontakt sind. Was ich Ihnen jetzt sage, wird für Sie schwierig sein. Lesen Sie es durch, nehmen Sie sich Zeit, das sacken zu lassen, und schreiben Sie dann gerne wieder.
Sie sitzen sicher gerade im Wohnzimmer an Ihrem Laptop. Ich sitze in genau diesem Moment über Ihnen in ihrem Schlafzimmer und maile Ihnen. Wir haben direkt nach Ihrer zweiten Mail Kontakt mit Ihrem Zuhause aufgenommen. Allerdings sind nicht Sie ans Telefon gegangen, sondern Ihre Frau. Sie ist aus allen Wolken gefallen, als ich ihr sagte, ich hätte Mails von ihnen bekommen, denn, Herr Jansen... nicht sie ist es, die bei dem Unfall gestorben ist. Es tut mir sehr leid, das zu sagen: Sie sind gestorben.
Nicht Ihre Frau ist es, die nachts ihren Sohn ängstigt. Wenn Sie in sein Zimmer kommen und sich an sein Bett setzen, dann sind Sie es, die iIhm Angst machen. Denn Sie sind es, der in diesem Haus umgeht.
Unser Team hat versucht, mit Ihnen auf die herkömmliche Weise Kontakt aufzunehmen. Über Kameras, Tonbandaufnahmen, Gespräche. Das Blitzen, was Sie gesehen haben, wird der Kamerablitz gewesen sein. Doch der einzige Weg, der funktioniert, ist dieser Mailaccount.
Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen möchte?
MfG
Eike Kurz
15.07.2014, 12:17
[email protected] schrieb:
Herr Jansen?
Kommen Sie dort gerade die Treppe herauf?
MfG
Eike Kurz
Regen fiel sanft auf den Trauerzug,
Als man Florean Radu zu Grabe trug.
Freund Hein war still in das Dorf gekommen
Und hatte sich Floreans Seele genommen.
Als Sklav´ und Gefährte in Freud und in Not,
Freund Hein brachte Florean Fieber und Tod.
Er lag auf dem Laken und kämpfte sechs Tag,
Bevor er der Hitze des Fiebers erlag.
Im Fieberwahn hörte man Floreans Flehen:
"Ihr Engel all, helft mir. Ich will noch nicht gehen!"
Es half nichts, drum starb er, entkräftet und hager
Und Hein schwang die Sense an Floreans Lager.
Sechs stumme Männer trugen den Mann
und dumpf schepperte die Kapelle voran.
Der Himmel war Grau am Begräbnistag,
Und die Frauen, sie weinten an Floreans Sarg.
Mit dem Tode Florean Radus begann es. Er war ein ehrenwerter Mann, ganz ohne Zweifel. Bis ins hohe Alter war er engagiert im Dorf und in den Winternächten erzählte er den Kindern die alten Fabeln und Märchen am Kamin. Die Kleinen des Dorfes saßen mit offenen Mündern und Staunen im Gesicht um ihn herum, während er mit leuchtenden Augen von Baba Jaga erzählte, von den verwunschenen Völkern im bodenlosen Land und von Kobolden und Geistern.
Florean kannte all diese Geschichten und er schaffte es, sie mit seiner warmen Stimme zum Leben zu erwecken. Beinahe erwartete man den fleißigen Bartosch mit seinem Koboldbesen hinter dem Kamin hervorkommen zu sehen, wenn der alte Herr Radu begann seine Geschichten zu erzählen. Oder man meinte, in der Ferne die Schritte von Baba Jagas wandernder Hütte zu hören. Und Frau Radu, die gütige alte Frau, die man im Sommer immer in ihrem Gemüsegarten sah, sie buk Bratäpfel dazu. Das war eine herrliche Zeit.
Herr Radu war in unserem Dorf aufgewachsen und hatte immer hier gelebt. Jeder kannte ihn, jeder mochte ihn und als das Fieber kam, legte sich eine bleierne, dunkle Schwere auf die Reetdächer, die Gemüter und die erleuchteten Butzenscheiben. Der Schnee fiel auf ein stilles Dorf und die Leute redeten nurmehr im Flüsterton.
"Hab ihr gehört? Der alte Herr Radu ist krank. Ja, gewiss. Bruder Hein streift übers Feld und fährt seine Ernte ein.", sagten sie und schauten betroffen auf den Boden.
Es waren auch andere krank geworden in diesem Winter. Der Krieg war noch nicht lange vorbei und viele Menschen im Land litten Hunger. Unser Dorf hatte es noch gut, denn jeder hatte seinen Garten. Doch richtig satt waren wir in diesen Zeiten selten. Und immer wieder schlichen abgemagerte, zerlumpte Gestalten übers Land. Sie klopften an die Fenster und Türen und bettelten um Essen. Sie brachen in die Ställe ein und stahlen das Vieh und schliefen im Heu. Sicher, was man übrig hatte gab man ihnen.....doch wer hatte schon etwas übrig zu der Zeit?
Es war allenthalben schwer und man tröstete sich mit der Hoffnung auf bessere Zeiten und solange Florean Radu seine Märchenstunden hielt, war die Welt ein kleines bisschen weniger düster.
Bis das Fieber in unser Dorf kam.
Zuerst schüttelte es die kleine Maria und zehrte sie auf. Sie war kaum sechs Jahre alt und sie kämpfte tapfer. Die Frauen des Dorfes kamen zusammen um für sie zu beten. Vergeblich. Als sie starb, waren ihre Eltern ganz grau vor Trauer und zu ihrer Beerdigung kam das ganze Dorf zusammen. Sie war ein gutes Mädchen gewesen und man betete gemeinsam und hoffte, dass sie einen guten Platz am Tisch des Herrn erhielte.
Doch das Fieber machte bei ihr nicht halt. Es schlich sich von Familie zu Familie und überall erkrankten Menschen. Sie lagen schwitzend und schreiend auf ihren Betten, wälzten sich hin und her und wurden von Fieberträumen geschüttelt. Kein Sud oder Trank vermochte ihnen zu helfen. Es war, als wäre der Tod in unser Dorf eingekehrt.
Auch ich erkrankte und lag niedergedrückt und von einem inneren Feuer erfasst im Bett. Es war ein heftiges Fieber. Ich hatte Visionen und sprach mit fremden und unheilvollen Gestalten. Doch mich verschonte Bruder Hein. Ich kam wieder zu Kräften.
"Die Fiebermuhme streicht um die Häuser.", munkelten die Leute. "Heut Morgen fand ich ihre Spuren im Schnee. Verschließt eure Fensterläden, denn Nachts schaut sie durch die Fenster hinein und wen sie erblickt, den schlägt sie mit Fieber und Tod."
Die Menschen verlossen ihre Fensterläden und stellten Buß- und Bittgaben vor die Fenster. Schälchen mit Milch und Teller mit Keksen oder Brot. Das Muhmenbrot, so nannten wir es. Alles, um die Fiebermuhme milde zu stimmen.
Herr Radu erzählte uns von ihr. Sie war eine arme, alte Frau gewesen. Als Hexe verschrien und verjagt lebte sie vor langer Zeit weit ab vom Dorf am Waldrand. Als sie Fieber bekam und krank wurde, kam sie ins Dorf um um Hilfe nachzubitten, doch man verschloss vor ihr die Türe und jagte sie fort. Und so starb die Fiebermuhme einsam und verlassen . Sie erfror am Fluss, nachdem sie auf dem Rückweg zu ihrer Hütte zusammengebrochen war, so erzählte man. Doch der Geist der Fiebermuhme fand keine Ruhe. Er streift im Winter übers Land, zieht in der Nacht um die Häuser und klopft an die Türen. Öffnen sie sich nicht, schaut sie durch die Fenster und wen sie erblickt, dem schickt sie ein Fieber. Darum stellt man im Winter kleine Gaben vor die Türen und vor die Fenster, damit die Fiebermuhme Frieden findet und weiterzieht. So war das. Und die Kinder drückten sich aneinander, erfüllt von einem wohligen Grusel und genossen die Wärme des Kamins und den Geruch der Bratäpfel.
Und dann lag er im Sterben. Der alte Florean Radu. Alle waren bedrückt und alle wünschten sich, er würde es schnell überstehen. Doch insgeheim befürchtete man das schlimmste, denn er war schon alt. Das Fieber kam und es schüttelte ihn. Sein ganzer Körper verbrannte von innen und ein fürchterlicher Husten plagte ihn. Tagelang tobte der Kampf zwischen Florean und dem seinem inneren Feuer. Die alte Frau Radu und ihre Tochter Dorina pflegten ihn. Tag und Nacht. Sie machten ihm Essigwickel, kühlten seine heiße Stirn und rieben ihn mit Ölen ein.
Dann gewann das Fieber die Oberhand. Doch Herr Radu konnte nicht loslassen. Er klammerte sich mit jedem Atemzug an sein Leben und schrie und weinte fortwährend. Es war grauenhaft, denn man hörte es bis in die Nachbarschaft. Er war nicht bereit zu gehen. Und der sonst so sanfte alte Mann kämpfte verzweifelt um sein Leben und verfluchte mit rasselndem Atem das Fieber und den Tod. Bis es übermächtig wurde und aus seinen Flüchen und seinem Toben wirre, zusammenhanglose Sätze wurden. Rasselnde, heiserne Wortfetzen eines Sterbenden. Entrückt von der Realität. Mit eingefallenen Augen und fahlem Gesicht, die wenigen Haare wirr zerzaust redete er fremde Gestalten an, lallte und weinte ins Ungewisse.....das Totengrinsen schon erahnbar. Gruselig anzuhören, gruselig anzusehen. Als der Priester kam um ihm die letzte Ölung zu geben, stand das ganze Dorf stumm in den Hauseingängen und alle beteten für den alten Mann.
Bruder Hein war stärker als Herr Radu. Er stand wohl an seinem Bett mit der Sense in der Hand, während Herr Radu mit ihm rang und um sein Leben flehte. Es war fürchterlich sein Sterben mit anzuhören und die Leute im Dorf verboten es ihren Kindern in die Nähe des Hauses zu gehen und wer mit seinem Kindern am Haus vorbei musste, der hielt ihnen die Ohren zu.
Dann, an einem regnerischen Montagmorgen war auf einmal alles still. Nur der Regen fiel mit einem Rauschen auf die Wege und Dächer. Und als wir den Priester durch den Matsch zum Haus der Radus gehen sahen, wussten wir, dass der alte Florean seinen Kampf gegen Bruder Hein verloren hatte. Er hatte ihm mit seiner Sense den Lebensfaden durchgeschnitten und seine Ernte eingefahren. Die Frauen verschleierten sich und wir alle kamen in seinem Haus zusammen, um zu weinen, zu essen, zu trinken, sich an ihn zu erinnern und Totenwache zu halten.
Mit Floreans Tod war auch das Fieber verschwunden. Niemand erkrankte mehr. Es war, als hätte nicht nur der Tod seine Ernte gefunden, sondern als hätte auch die Fiebermuhme ihren Begleiter übers Jahr gefunden und Herrn Radu mit sich genommen in ihre Hütte im Wald. Alle atmeten auf. Nun war Zeit zu trauern und zu beten.
Floreans Begräbnis war ein großes Ereignis. Das ganze Dorf kam zusammen. Die Kapelle spielte und der Bürgermeister ging dem Leichenzug voran. Herr Radu war eine Institution im Dorf gewesen und mit seinem Tod verloren wir alle ein Stück von uns selbst. So viele von uns hatten schon als Kinder bei ihm gesessen und ihm zugehört. Und so war seine Beerdigung etwas, von dem wir noch lange erzählten.
Doch bald schon machten Gerüchte die Runde. Ein Huckup sei gesehen worden. Er habe den alten Emil aufgelauert, als er aus dem Nachbardorf kam. Angesprochen habe er ihn auf dem Weg und ausgesehen wie ein normaler Mensch. Dass er ihn begleiten wolle ins Dorf, wo er Rüben kaufen will, habe er gesagt. Und der alte Emil sei dann mit ihm durch den Hohlweg gegangen, doch der Begleiter sei immer größer und schattenhafter geworden. Seine Augen hätten gierig und lodernd auf ihn herabgeblickt und eine lästerliche Stimme ihn mit Flüchen und Obszönitäten belegt. Emil berichtete, er sei losgerannt, doch der riesige Schatten sei auf ihn gesprungen und hätte sich Huckepack auf ihn gesetzt und ihm dabei teuflische Dinge ins Ohr geflüstert.
Der Emil muss wohl in Panik gewesen sein, denn er rannte, während sich der Huckup an seinen Rücken klammerte. Bis der Emil dann keine Kraft mehr hatte und am Wegrand zusammenbrach. Dort lag er, bis die Nacht hereinbrach und seine Söhne ihn fanden. Sie schleppten den Entkräfteten ins Dorf, wo er mit letzter Kraft vom Huckup erzählte, bevor sein Herz erschöpft aufhörte zu schlagen. Darum gingen ab da die Leute nurmehr zu Zweien, wenn sie das Dorf verlassen mussten.
Die Leute bekreuzigten sich und beteten Rosenkränze in der Dorfkirche. Dorina, die Tochter des alten Herrn Radu, sah zunehmend müde aus. Entkräftet. Sie hatte tiefe Ränder unter den Augen und ich frug sie, was los wäre.
Ein Geist suche sie heim, gestand sie. Ein Geist, der durch ihr Haus wandele. Wie ein Schatten. Der sie anstarre und ihr die Lebenskraft aussauge.
Die Zeiten waren generell bedrückend, doch was Dorina erzählte, versetzte uns alle in Unruhe. Zuerst das Fieber, dann der Tod von Herrn Radu, der Huckup im Hohlweg und nun ein Gespenst? War das Dorf verflucht? Hatte irgendwer Schuld auf sich geladen?
Ich ging Dorina oft besuchen und schaute nach, wie es ihr ging. Sie war blass, eingefallen und kraftlos und nahm mich kaum mehr wahr.
"Er sucht mich heim.", murmelte sie. "Jede Nacht. Er lauert in den Schatten der Zimmer und er hockt sich auf meine Brust und saugt mir das Leben aus."
"Aber wer, Kind?", fragte der alte Ohm. "Sag es uns...wer sucht dich heim? Wer geht um in deinem Hause?"
Doch Dorina schüttelte bloß den Kopf. Sie konnte es nicht erkennen.
Die Männer des Dorfes kamen in der Schänke zusammen um sich zu beraten. Es war zu viel passiert. Jemand musste das Dorf verflucht haben. Oder verhext. Vielleicht eine der armen, zerlumpten Gestalten, die auf der Suche nach Obdach und Essen an einer Tür abgewiesen wurden?
Man streute Salz auf die Türschwellen und vergrub Banngaben auf den Wegen, damit kein Geist und kein Mensch der Böses im Sinn hatte, jemals mehr die Grenzen des Dorfes überschreiten konnten. Und die Frauen behängten die Türen mit Misteln und Zeichen gegen den Bösen Blick.
Das Haus der Radus wurde gesegnet und dann wartete man ab.
Als die Nacht kam, gingen die Männer Wache. Die Frauen blieben im Haus. Der Mond schien fahl auf die Dächer und Ställe. Nichts geschah. Niemand schlich um die Häuser.
Doch dann, tief in der Nacht, zur Wolfsstunde, hörte man aus Dorinas Haus einen entsetzten und grausigen Schrei.
Wir rannten so schnell wir konnten und fanden Dorina Radu mit aufgerissenen Augen auf dem Bett. Blut lief ihr aus der Nase und sie atmete schwer. Ihre alte Mutter beugte sich weinend über sie. Dorina zeigte mit wildem Blick zur Tür, bevor sie das Bewusstsein verlor und in einen tiefen, erschöpften Schlaf fiel. Sie war blass, aufgezehrt und abgemagert.
Es musste ein Wiedergänger sein der all das auslöste, sagten die Frauen. Einer der Toten des Dorfes, dessen Seele keine Ruhe gefunden hatte. Er würde des Nachts durchs Dorf gehen und Unheil stiften. Er lauert den Reisenden auf und springt auf ihren Rücken und er zehrt an Dorina Radu. Ob es der alte Florean selbst war? Hatte er so mit seinem Tode gerungen, dass seine Seele keine Ruhe fand?
Unruhe machte sich breit.
In der nächsten Nacht ging ich alleine Wache Zur Wolfsstunde schaute ich nach dem Rechten und sah, dass die Tür von Dorinas Haus offen stand. Leise, von einem unvermittelten Schauern erfüllt, betrat ich das Haus und horchte. Es war nichts zu hören. Die Treppen knarzten, als ich die Stiege zu Dorinas Schlafzimmer hochging. Das ganze Haus schlief. Leise öffnete ich ihre Tür und erstarrte. Ein kalter und grausiger Schauer durchfuhr mich, denn über der erschöpft schlafenden Dorina Radu stand gebeugt ein Schatten. Er sah mich an und legte einen Finger über die Lippen. In diesem Moment riss Dorina die Augen auf und schrie.
Ich floh und kam schwer atmend an meiner Haustür zum stehen. Aufgewühlt und zitternd legte ich mich neben meiner unruhig schlafenden Frau ins Bett und fand keine Ruhe.
Ein Strigoi, ein Untoter. Ein Wiedergänger. Im Dorf gab es Tags drauf kein anderes Thema. Alle redeten von dem Geist der Dorina heimsuchte und dem Dorf Unheil brachte. Florean Radu hatte keine Ruhe im Tod gefunden. Er hatte sich anscheinend zu erbittert an sein Leben geklammert. Wir alle erinnerten uns an sein Jammern und Flehen als es mit ihm zu Ende ging. Er musste es sein der Dorina die Lebenskraft aussaugte weil er nicht gehen konnte. Die Dorfbewohner schwiegen bedrückt. Allen war bewusst was das hieß.
Der nächste Tag zog grau und regnerisch herauf. Sechs stumme Männer mussten es sein und Sechs sündenfreie Frauen, die Gebete sprechen und Dorina auf dem Weg zum Friedhof stützen sollten. Auch ich ging mit. Heimlich hinterher. Ich wollte sehen was geschah und verbarg mich hinter Hecken und Zäunen, während ich der Gruppe folgte.
Dorina jammerte entkräftet und redete wirr. Der Geist von Florean hatte sie so ausgezehrt, dass fast nichts mehr von ihr übrig war. Als die Gruppe den Friedhof und Florean Radus Grab erreichten, schrie sie und sackte in sich zusammen.
"Hört ihr nicht? Hört ihr es nicht?", rief sie verzweifelt.
"Was hörst du, Frau?", frug die alte Witwe Milo und streichelte Dorina übers Haar.
Ich schlich leise näher und verbarg mich hinter einem Grabstein.
"Wie sie in ihren Gräbern rumoren. Sie winden sich in ihren Särgen unter unseren Füßen. " Dorina wand sich und bäumte sich auf, als würde sie von unsichtbaren Mächten gepeinigt. Sie schrie einen spitzen, entsetzten Schrei. "Oh dieses Grauen. Sie schmatzen! Sie schmatzen, während sie an ihren Leichentüchern kauen. Mit wilden Blicken und einem Totenlächeln. Weh mir, Wehe mir! Hört ihr das Schmatzen der Toten nicht?"
Die Gruppe schwieg und lauschte. Und sie hörten es. Leise..... ein Schmatzen, das aus der Erde drang. Ein Schmatzen und Kauen. Florean Radu war nicht zur Ruhe gekommen. Er lag in seinem Grab und kaute an seinem Leichentuch und ging Nachts durch das Dorf, um seiner Tochter die Lebensenergie auszusaugen. Florean Radu war ein Untoter. Ein Nachzehrer.
Entsetzt sahen die Dorfbewohner sich an, während leise das Schmatzen und Kauen aus der nassen Erde drang.
Die Frauen stimmten ihre Gebete an. Die Männer bekreuzigten sich und fingen an, den untoten Florean auszubetten. Dorina kniete entsetzt wimmernd inmitten der Frauen und betete ein Avemaria.
Je tiefer die Männer gruben, desto lauter wurde das Schmatzen und Kauen und als der erste Spaten auf das Sargholz stieß, verstummte es. Von Grauen gepackt hielten die Männer inne. Die Frauen umstanden die Grabstelle und verspritzen betend Weihwasser auf den Sarg des alten Mannes. Ein tiefes, rasselndes Knurren drang aus dem Sarg. Und als die Frauen das Amen sprachen, rührte sich nichts mehr.
"Es ist jetzt sicher.", hörte ich Witwe Milo sagen.
Die Männer nickten und öffneten den Sarg. Als sie den Deckel abnahmen, atmeten sie geschockt ein und bekreuzigten sich.
Im Sarg lag Florean Radu eingefallen und bleich. Die schütteren, weißen Haare wild und zerzaust, tiefe Ringe unter den eingefallenen Augen. Seine dürren Hände umklammerten sein Leichenhemd das er sich in den Mund geschoben hatte. Auf den blauen Lippen lag ein finsteres und wildes Grinsen. Er hatte die milchigen Augen aufgerissen und sein Blick fiel auf Dorina, als der Sarg geöffnet wurde. Dann schien das Tageslicht auf den Untoten und seine Augen erstarben. Sie schlossen sich.
Die Männer des Dorfes legten ihm einen geweihten Stein zwischen die Zähne, entfernten sein Herz, um daraus einen Trank zu brauen und dann legten sie ihn mit dem Gesicht nach unten wieder in den Sarg, als sie ihn erneut zur Ruhe betteten. Das Unheil war gebannt. Der Terror vorbei.
Ich verbarg mich, als die Gruppe ihren Heimweg antrat und blieb aufgewühlt auf dem verregneten Friedhof zurück. Unfähig zu begreifen, was ich erlebt hatte. Ein unfassbarer Schrecken durchfuhr mich, als ich spürte, wie eine Hand sich auf meine Schultern legte.
Ich fuhr herum. Eine Gestalt stand hinter mir in einem schwarzen, zerschlissenen Kapuzenumhang. Er hielt eine Sense in der Knochenhand. Die andere lag auf meiner Schulter. Bruder Hein war gekommen. Zu mir.
"Nun, mein braver Marian...." Seine Stimme klang staubig, trocken..... als würden schwere Mühlsteine Knochen mahlen. "Bist du nun bereit zu gehen?"
Ich verstand nicht.
"Schau." Hein zeigte auf den Grabstein, hinter dem ich mich verborgen hatte.
Ich ging um ihn herum und ein tiefes Entsetzen packte mich, als ich darauf meinen Namen sah.
"Ich..... ich bin tot?" Ich konnte es nicht glauben.
"Nein...", antwortete Bruder Hein dumpf. "Höre doch."
Ich lauschte. Aus der Tiefe unter mir hörte ich ein leises Schmatzen und Kauen. Von tiefer Angst geschüttelt sank ich auf die Knie.
"Bist du gekommen, mich mit dir zu nehmen?" Es fiel mir schwer, diesen Satz herauszukriegen.
"Nein....", sagte Hein erneut und ich sah zu ihm auf. Er trat einen Schritt zur Seite und zeigte auf das Friedhofstor. Dort stand, bevor der heilige Boden begann, eine alte Frau im Regen.
"Ein Jahr musst du ihr dienen. So ist die Abmachung, damit sie deine Frau verschont. Ein Dienstjahr und dann kannst du mit mir gehen." Heins Stimme klang dumpf und schauderhaft.
Und ich erinnerte mich wieder an das Fieber, das meine Frau geschüttelt hatte bis sie kurz davor war zu sterben. Ich erinnerte mich, wie ich hilflos an ihrem Sterbebett saß, unfähig ihr zu helfen und wie ich die alte Milo bat, ein gutes Wort bei der Fiebermuhme einzulegen. Wenn nur meine Frau überlebte, würde ich statt ihrer mit ihr gehen.
"Nun geh...", sagte Bruder Hein dumpf. "Und beginne deinen Dienst."
Ich erhob mich entsetzt. Vor dem Friedhofstor wartete meine neue Herrin.
Die Fiebermuhme.
Es fällt mir schwer, über all das hier zu reden. Ganz allgemein. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch zumindest ein mulmiges Gefühl dabei. Normalerweise halte ich mich diesbezüglich komplett bedeckt. Versuche mein Leben zu leben, unauffällig zu sein, nicht aufzufallen. Es ist dieses nagende Gefühl, dass einem etwas Schlimmes droht. Ich weiß an sich, dass das nichts Reales oder Greifbares ist. Ich habe mit einer Ärztin geredet, ohne konkret auf das Thema einzugehen. Und sie meinte, dass so Bedrohungsszenarien normal sind, wenn man eine paranoide Grundstruktur hat. Das bedeutet nicht, dass man zwangsläufig paranoid ist, aber dass man empfänglich ist für solche Bedrohungsgefühle. Und wenn diese Gefühle da sind, muss man sie zurückstellen, sagt sie. Zurückstellen, normal weitermachen und sich davon überzeugen lassen, dass nichts geschehen wird.
Das ist natürlich nicht einfach. Aber ich glaube, ich habe im Geschichten schreiben ein gutes Ventil gefunden, um über das Ganze mal reden zu können. Immerhin kann man es so hübsch poetisch verpacken und alle denken dann, es ist eine Geschichte. Ist mir recht. Aber dann habe ich es wenigstens mal von der Seele. Denn es kotzt mich an, dass ständig dieser Scheiß neben mir läuft und mich in jeder Situation meines Lebens daran erinnert.
Zu Beginn sage ich euch einen Satz, den ihr hier schon tausendmal gehört habt. Ob ihr ihn nun glaubt, oder ihn als Teil einer Geschichte wahrnehmt, bleibt euch überlassen. Wie gesagt, mir geht es tatsächlich nur darum, mein Gewissen zu erleichtern. Die Geschichte ist wahr. Sie ist so geschehen. Ich verpacke sie nur so, dass sie wie eine Geschichte klingt. Glaubt es, oder halt nicht.
Es klingt echt nach dem typischen Saw-Setting, ich weiß. Aber das macht es eigentlich noch leichter, das hier wie eine von den ganzen Storys hier aussehen zu lassen.
Okay, das Ganze hat sich vor einiger Zeit abgespielt, aber dieses Jahr.
Die Situation war so, dass zwei Leute in einem Raum aufwachen. Der Raum war weiß, komplett mit Plexiglas oder Plastik oder so verkleidet. Es gab kein Fenster darin, keine Bilder an den Wänden, nicht mal eine Tür war in der Wand sichtbar... vermutlich war irgendwo eine verborgen. Aber wenn, dann sollte man sie nicht sehen. In dem Raum standen 2 weiße Stühle aus demselben Material. Sie waren im Boden festmontiert. Ein weißer Plexiglastisch stand dazwischen. Darauf lag ein Briefumschlag und eine durchsichtige Box mit einem elektrischen Zahlenschloss. In der Box lag eine Pistole.
Wie gesagt, das hier ist ausdrücklich KEINE Fiktion. Auch wenn sich hier jetzt schon jeder denken kann, wie sich die Geschichte entwickelt. Aber ich bin auch nicht hier, um euch irgendeinen Spannungsbogen aufzubauen.
So, wo waren wir? Ach ja. zwei Männer waren in dem Raum. Der eine, ich nenne ihn Person 1, war noch bewusstlos oder schlief oder so, keine Ahnung. Er sah aus wie ein Typ, der versucht, sich normal zu kleiden und normal auszusehen, aber wo man sofort sieht, dass er irgendwie punkig ist. Bei manchem Leuten ist das einfach Teil der Persönlichkeit. Seine Klamotten versuchten zwar normal auszusehen, also schwarze Jeans, Sneakers, ein schwarzer Kapuzenpulli, aber sie waren irgendwie schlabberig. Es wirkte halt punkig. Er hatte einen Undercut, schwarze Haare und trug eine Brille. Ich würde sagen, er war so um die 40. Groß, kräftig.
Person 2 war eine Mischung aus Grufti und Punk. Er hatte Chucks an, eine kurze, abgeschnittene Armeehose, Tattoos auf den Unterschenkeln, trug ein Shirt der Band Ministry und hatte einen Totenkopf auf dem Unterarm tätowiert. Im rechten Ohr hatte er drei Piercings. Um den Hals trug er einen Thorshammer und sah von den Gesichtszügen her eigentlich ähnlich aus wie Person 1. Er hatte auch eine Brille und einen Iro, der in der Mitte einen türkisen Streifen hatte.
Soviel zum Setting. Und soviel auch vorab schon mal zu dem Grund, aus dem ich mich hier angemeldet habe und das hier schreibe. Ihr könnt euch denken, dass es hier darum geht, dass in diesem Zimmer jemand stirbt. Und zwar einer von den beiden Typen, von denen sicher keiner geplant hat zu sterben. Beziehungsweise kann ich an dieser Stelle mal deutlicher werden: In diesem Zimmer ist einer gestorben. Und ich weiß darüber Bescheid und kann es einfach niemandem sagen.
Person 1 wurde zuerst wach. Er wirkte etwas benommen, fasste sich an den Kopf und murmelte etwas. Dann realisierte er, dass etwas nicht stimmte, und war von einer Sekunde zur anderen hellwach. Er sah sich im Raum um, sah Person 2, sah dann zum Tisch, auf dem er die Pistole in dem Glaskasten entdeckte. Sein Gesicht wurde weiß. Er sprang auf, und man sah einfach, dass er Panik hatte. Er tastete die Wände ab, um eine Tür zu finden, fand aber keine.
Ich kann an dieser Stelle nur mutmaßen, wie es in den beiden ausgesehen hat, nur um das noch eben zu sagen. Wenn ich versuche, euch das hier zu erzählen, muss ich natürlich auch versuchen, euch die Situation irgendwie zu schildern. Ich kann nicht in die Leute rein,gucken. Wenn ich sage "Person 1 hatte Panik", ist das nur ne Mutmaßung.
Person 1 hatte aber Panik und vermutlich auch ein Gefühl von Platzangst. Das hatte er schon immer gehabt, seit einer Geschichte, wo sein Vater ihn in eine Holzkiste gesperrt hatte. Seitdem bekam er sogar Panik, wenn die U-Bahn mal im Tunnel steckenblieb. Und er war jetzt in ner Situation, wo keine Bahn nach einigen Sekunden wieder anfahren würde. Er war tatsächlich gefangen in einem Raum ohne Tür.
Person 1 sackte in einer Ecke des Raumes zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. Er atmete heftig und schwitzte.
In diesem Moment wurde auch Person 2 langsam wach. Auch er wirkte erst benommen und war sofort hellwach, als er merkte, dass irgendetwas an der Situation komisch war. Er sah sich ebenso im Raum um. Er bemerkte die Pistole, sah Person 1 in der Ecke kauern und bekämpfte einen Anflug von Panik, als er keine Tür im Raum bemerkte.
"Was soll der Scheiß?" In der Stimme von Person 2 schwang Angst mit.
Person 1 schreckte aus seiner Panik auf, als er die Stimme von Person 2 hörte und sah ihn erschrocken an.
"Was soll das hier?", wiederholte Person 2 und sah 1 an.
Person 1 konnte nichts sagen. Er war viel zu überflutet von Panik und Angst und schüttelte nur den Kopf und zuckte die Schultern.
Person 2 zwang sich, ruhig zu bleiben. Es brachte jetzt nichts, durchzudrehen.
"Ist das hier so ein Saw-Ding?", fragte er. "Beobachtet uns hier wer und lacht sich einen ab, oder was?"
Natürlich kam keine Reaktion von außerhalb des Raumes. Die beiden wussten weder, ob der Raum unter der Erde war oder über der Erde, ob er in einem Haus war oder nicht, ob sie beobachtet wurden oder nicht. Der Raum war still, leise, unbelebt bis auf die beiden Männer darin, deren Stimmen sich an den kalten, weißen Wänden brachen.
"Vielleicht ist das ja auch so ein abgefahrenes Experiment." Person 1 schien sich etwas gefangen zu haben. Noch immer saß er in der Ecke, und auf seinem Pulli sah man Schwitzflecken, aber zumindest redete er wieder. "Ich meine, das wär doch plausibel."
"So ein Scheiß ist ethisch gar nicht machbar." Person 2 schaute sich immer noch im Zimmer um.
Person 1 nickte in Richtung des Tisches. "Was steht in dem Brief?"
Person 2 ging zum Tisch, nahm den Briefumschlag, öffnete ihn und zog ein Blatt Papier hervor. Seine Lippen bewegten sich, als er las, was darauf stand. Sein Gesicht wurde kreidebleich. Person 1 bemerkte das. Panik kroch in sein Gesicht und er schien sich noch tiefer in die Ecke zu kauern als ohnehin schon. Ein tiefes Bedrohungsgefühl stieg in ihm auf.
"Was steht da?", fragte er mit brüchiger Stimme.
Das Gesicht von Person 2 war aschfahl. Er sah zu Person 1 und gab ihm den Brief.
< Endgame: Zwei gehen rein, einer geht raus. Ihr habt eine Stunde Zeit zu entscheiden wer. Entscheidet ihr euch dafür, euch nicht zu entscheiden, sterbt ihr beide. Die Kombination für das Zahlenschloss ist 5555 >
Es piepte. Auf der Wand erschien eine grüne Digitalanzeige einer Stoppuhr. 00:59:58. Die Zeit lief ab.
"Waaaas??" Person 1 sprang auf und schlug gegen die Wand, und boxte gegen die Zeitanzeige. Nichts passierte. Die Wand gab nicht nach.
Kennt ihr das, also dieses Gefühl, wenn man so krass Angst hat, dass sie jeden Knochen, jede Faser, jeden Muskel eures Körpers ausfüllt und ihr euch anfühlt, als wären eure Arme und Beine aus Gummi? So fühlten sich beide sicherlich. Einer Situation ausgeliefert, die sie nicht kontrollieren konnten, die andere für sie inszeniert hatten und die potentiell tödlich war.
Panik flackerte in den Augen von 1. Er blickte gehetzt zu Person 2. Person 2 stand auf der anderen Seite des Zimmers und hatte nicht weniger Panik.
"Du entscheidest nicht, ob ich sterbe oder nicht. Du nicht", rief Person 1. Todesangst schwang in jedem seiner Worte mit. "DU NICHT!!", schrie er und rannte auf Person 2 zu und schubste ihn gegen die Wand. Person 2 versuchte auszuweichen, doch er war der Wucht des Ansturms von 1 nicht gewachsen. Er krallte seine Hände in den Pulli von Person 1 und versuchte ihn von sich wegzudrücken. Beide fielen zu Boden. Person 1 schlug auf 2 ein. Aber ungezielt. Ohne ihn wirklich außer Gefecht setzen zu können. Es war pure Panik. Person 2 duckte sich unter den Schlägen weg und schaffte es, sich zu befreien. Er entwand sich Person 1, krabbelte außer Reichweite und trat ihn mit dem Fuß.
"EYYYY!!!", brüllte er. "KOMM MAL KLAR, MANN!"
Person 1 lag auf dem Boden und schluchzte.
2 hatte auch Angst. Natürlich hatte er Angst. Wer dabei keine hat, ist ein Psychopath. Aber er war zumindest klar genug, um zu wissen, dass sie die Situation in den Griff kriegen mussten. Er sah an die Wand.
00:55:13
00:55:12
00:55:11
Person 1 lag noch immer schluchzend auf dem Boden. Dann realisierte er anscheinend, dass er wehrlos war. Er schreckte hoch und setzte sich auf, mit dem Rücken an die Wand und sah zum Tisch und dann zu 2. Person 1 saß jetzt zwischen dem Tisch und Person 2, der schwer atmend an der Wand saß. Er hatte eine aufgeplatzte Lippe.
"Alter, dreh jetzt bitte nicht durch! Wir müssen versuchen, klar zu bleiben, okay?" Person 2 versuchte betont ruhig zu klingen und machte beschwichtigende Gesten mit der Hand. "Atme jetzt ein paar mal tief durch! Ich bleibe hier sitzen. Nichts passiert. Aber beruhige dich jetzt erst mal!"
Person 1 sah 2 an und glaubte ihm. Er atmete durch und versuchte sich zu konzentrieren.
"Es ist scheiße schwer, ruhig zu bleiben, in ner Situation, die dich töten kann." Die Stimme von 1 klang jetzt etwas gefestigter. 2 sah ihn an und erkannte sich in der Art und Weise zu reden ein bisschen in ihm wieder.
"Ja, Mann. Aber es nützt uns beiden nichts, hier jetzt komplett durchzudrehen. Wir müssen gucken, ob wir das irgendwie lösen können. Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?"
Person 1 dachte nach. "Ich war... keine Ahnung... Ich hatte Therapie und bin nach Hause und hab mich kurz hingelegt. Das ist das Letzte, an das ich mich erinnere."
"Was für eine Therapie?", fragte 2.
"Naja, um was zu klären für mich."
Person 2 hatte das Gefühl, dass 1 der Frage auswich, um nicht zu viel von sich zu sagen. Er hatte Verständnis dafür. Alles konnte in dieser Situation der entscheidende Nachteil sein.
"Und du?", fragte 1.
"Ich war zuhause. Ich hatte Nachtschicht und war müde. Ich hab mich noch mit Freunden getroffen gehabt vorher. Und hatte mich dann auch kurz hingelegt. Ich hab aber echt kein Gefühl mehr dafür, wie lange das jetzt her ist oder wie lange ich jetzt hier bin." 2 sah nachdenklich auf den Boden. "Ich hab auch keinen Plan, wer oder was das hier sein könnte. Echt nicht."
00:49:22
"Vielleicht ist das hier eine dieser abgefahrenen Gameshows?" 1 war entschlossen, einen Sinn in allem zu finden.
"Nicht in Deutschland. Ich glaub auch nicht, dass das ein Experiment ist. Dafür ist das ..." 2 unterbrach sich. Er wollte eigentlich das Wort "Traumatisch" benutzen, hatte aber Angst, dass es 1 wieder an seine Panik erinnern könnte.
"Was?", wollte 1 wissen.
"Ich hab echt keine Ahnung. Aber die können nicht von uns verlangen, dass einer von uns stirbt und wir entscheiden müssen, wer."
"Wir können uns dazu entscheiden, uns nicht zu entscheiden". 1 sah 2 an. Der entgegnete seinem Blick. Was waren sie für einander? Feinde? Oder ein Team in einer Situation, aus der es zu entkommen galt?
"Wenn wir uns nicht entscheiden, sterben wir beide. Ich hab keinen Bock, heute zu sterben."
Person 1 horchte auf. "Was soll das heißen? Also dass ich sterbe, oder was?"
Person 2 machte eine beschwichtigende Geste. "Nein, das habe ich nicht gesagt. Nur, dass ich nicht sterben will. Vielleicht ist das hier ein großer Bluff."
"Ja vielleicht. Die Sache ist halt, ob man das rausfinden will", sagte 1.
00:46:05
"Vor allem, wie sollen wir das entscheiden?" Person 2 sah nachdenklich zum Tisch.
"Wenn wir darüber diskutieren, bedeutet das, wir steigen auf ihr Spiel ein", entgegnete 1.
"Was ist denn die Alternative?"
"Ey, ich hab viel Scheiße hinter mir. Ich hab mich mein Leben lang durchgeknüppelt, gegen alle Widerstände, und mir hat nie jemand irgendwas geschenkt. Ich sehe es nicht ein, dass jetzt jemand kommt und derartig über mein Leben und Weiterleben entscheidet." Person 1 klang fast wütend. "Ich sehe nicht ein, dass irgendwer entscheidet, dass mein Weg hier zu Ende sein soll. Dazu hab ich zu viel überwunden."
Person 2 sah 1 an. Der wirkte auf den ersten Blick überhaupt nicht wie jemand, der viel erlebt hatte. Aber man kann halt nicht in Menschen hineinschauen. "Ich habe einfach auch noch viel vor. Pläne, weißt du?"
"Pläne", sagte Person 1 zynisch. "Hatte ich auch mal."