Pfade der Sehnsucht - Victoria Alexander - E-Book

Pfade der Sehnsucht E-Book

Victoria Alexander

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Beschreibung

Der Auftakt zu einer neuen Serie voll sinnlicher Spannung

Nathaniel Harrington ist Londons begehrtester Junggeselle – doch ihn interessieren die unentdeckten Schätze ferner Länder weitaus mehr als die Frauen. Bis er die bezaubernde Gabriella trifft, die während einer Abendgesellschaft in der Bibliothek der Harringtons herumschnüffelt. Nathaniel ist begeistert. Gabriella, die seiner Familie die Schuld am Unglück ihres Bruders gibt, weniger…

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Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Die Autorin
Lieferbare Titel
Titel
Prolog
Erstes Kapitel
London, 1885
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Epilog
Copyright
Das Buch
Um das Unglück ihres verstorbenen Bruders Enrico zu rächen, begibt sich die unerschrockene Gabriella Montini in die Höhle des Löwen: Unter einem Vorwand verschafft sie sich Zutritt zu dem Anwesen der Harringtons – die sie verdächtigt, Enrico um einen wertvollen archäologischen Fund betrogen zu haben. Die gutmütige Hausherrin, die Mitleid mit der völlig mittellosen Gabriella hat, bietet ihr eine Bleibe unter ihrem Dach an, ein Angebot, das die junge Frau nicht ablehnt. Bald schon verliert sie allerdings ihre Mission völlig aus den Augen: Vom ersten Tag an fühlt sie sich unwiderstehlich zu dem unverschämt gutaussehenden Nathanial Harrington hingezogen – wider alle Vernunft, gehört er doch eigentlich zum engsten Kreis der Verdächtigen. Ein turbulentes Katz- und Mausspiel nimmt seinen Anfang …
Die Autorin
Die New York Times-Bestsellerautorin Victoria Alexander war in ihrem früheren Leben Fernsehreporterin, bis sie entdeckte, dass die historischen Liebesromane ihre Berufung sind. Heute schreibt sie Vollzeit – und ist manchmal immer noch selbst überrascht über ihren Erfolg. In ihrer Freizeit gehört ihre Leidenschaft dem Sammeln von alten Kochbüchern, Hüten und Weihnachtsschmuck.
Lieferbare Titel
978-3-453-40586-8 – Zauber der Versuchung
Dieses Buch widme ich in Liebe und Dankbarkeit Mariah Stewart, die mir Alistair McGowan und Shandihar lieh, Amy Mayberry, die ihr Bestes tut, mich bei der Stange zu halten, und meiner Freundin Irene Mercatante, die in so vielerlei Hinsicht herausragend ist.
Prolog
London, 1867
»Wir dürfen nicht hier oben sein«, sagte Sterling Harrington in jenem überlegenen Tonfall des älteren Bruders, den Nathanial in seinen acht Jahren allzu oft gehört hatte. Obgleich erst elf, klang Sterling bereits wie der Earl, der er eines Tages sein würde, zumindest für seinen jüngsten Bruder.
»Das macht nichts, solange wir nicht ertappt werden.« Quinton Harrington drängte sich an Sterling vorbei weiter auf den Dachboden. Da er die Kerze hielt, ließen seine Brüder nicht lange auf sich warten.
Quinton war zwei Jahre jünger als Sterling und ein Jahr älter als Nathanial. Während Sterling die Eskapaden der drei stets anführte, war es zumeist Quinton, von dem die Ideen zu ihnen stammten. Ihre Gouvernante Miss Thompson sagte, Quinton hätte eine Abenteurerseele, und auch wenn es sich für Nathanial nicht nach einem Kompliment anhörte, nahm Quinton es als solches. Sterling hingegen galt als der vernünftige Bruder, wie Miss Thompson häufig betonte, was sehr wohl als Kompliment gemeint war, entsprach es doch ihrer Meinung nach dem künftigen Earl of Wyldewood.
Sterling war auch derjenige, der die Verantwortung übernahm, wenn etwas schiefging. Er sagte, es wäre seine Pflicht, aber Nathanial sah gar keinen Sinn darin, warum jemand freiwillig die Schuld für etwas eingestehen wollte. Das war gewiss eines von den vielen Dingen, die er erst verstehen würde, wenn er älter war.
Nathanial hatte vorgeschlagen, dass sie Frösche in der Badewanne im zweiten Stock züchteten, aber Sterling behauptete, es wäre seine Idee gewesen, als die Hausmädchen die Wanne voller umherschwimmender Kaulquappen entdeckten. Was Mädchen für ein Theater wegen solcher Sachen machten! Als die Jungen einen Ball in den alten Brunnen hinten im Garten fallen ließen, hatte Quinton gesagt, sie sollten Nathanial in den Schacht hinunterlassen, weil er der Kleinste war. Nathanial würde seinen Brüdern niemals erzählen, dass es in dem Brunnen sehr viel dunkler gewesen war, als er gedacht hätte, und ziemlich furchteinflößend. Auch da war es Sterling gewesen, der dem Vater sagte, er hätte die Idee gehabt, und er hatte die Strafe einstecken müssen, obwohl Quinton zuvor gestanden hatte, dass der Vorschlag von ihm kam.
Miss Thompson sagte, der Spitzbube hätte wenigstens ein Gewissen, was immer das sein mochte; sie hielt es offenbar für etwas Gutes. Und als die Gouvernante ihnen eine Geschichte über einen griechischen Jungen vorlas, der versucht hatte, mit Flügeln aus Wachs und Federn zu fliegen, war es zwar Sterling gewesen, der spöttisch erklärte, sie hätten Leim nehmen sollen, aber Quinton, der Leim, Federn und Stöcke auftrieb, damit sie sich ihre eigenen Flügel bauen konnten.
Fast eine Woche hatten sie gebraucht. Als sie fertig waren, benutzten sie das alte Rosenrankgitter, um auf das Dach des Gärtner-Cottages zu steigen. Natürlich war Nathanial für den ersten Flugversuch auserkoren worden. Der Jüngste und Kleinste zu sein, hatte einige Nachteile. Hätten sie ihm kein Tau um den Bauch gebunden – damit er nicht wegfliegen könnte – wäre er womöglich verletzt worden. So baumelte er am Ende nur vom Dach, bis ein Erwachsener kam und ihn rettete. Für dieses Abenteuer waren sie alle bestraft worden. Das Rosenspalier wurde abgebaut, in den Badewannen durfte nur noch gebadet werden, und den alten Brunnen schüttete man zu. Nathanial aber folgte seinen großen Brüdern immer noch überall hin.
»Hier ist es viel zu dunkel. Man sieht ja gar nichts«, sagte er nun, als würde er lediglich eine Tatsache feststellen, nicht im Geringsten besorgt.
Der Regen trommelte auf das Dach von Harrington House, was sich in den unteren Stockwerken nicht annähernd so unheimlich anhörte wie hier. Wäre er allein gewesen, hätte Nathanial den düsteren, höhlenartigen Dachboden vielleicht ein bisschen beängstigend gefunden. An sonnigen Tagen boten der Garten des Londoner Stadthauses sowie die nahe gelegenen Parks reichlich Abenteuermöglichkeiten. Inzwischen jedoch war es seit drei Tagen regnerisch, und die Jungen konnten sich nur im Haus aufhalten. Wie Miss Thompson ebenfalls. Vielleicht war es der letzte Streich gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Miss Thompson war das einzige Mädchen, das sie kannten, das anscheinend gar keine Angst vor Fröschen hatte. Trotzdem war sie seltsam erschrocken, als sie heute Morgen einen in ihrer Pultschublade fand, was schon ein wenig komisch war. Sie hatte die Jungen mit Leseaufgaben weggeschickt und sich dann in ihren privaten Salon zurückgezogen. Was sie gelegentlich tat. Gemeinhin an Regentagen.
»Also.« Quinton hielt die Kerze in die Höhe und blickte sich auf dem Dachboden um. Er sah bereits wie ein Pirat aus, und sobald sie mehr Piratenkleider aufgetan hatten, würden die beiden anderen es auch. »Womit wollen wir anfangen?«
»Mit den Truhen«, antwortete Sterling. »In denen sind ganz bestimmt Piratensachen.« Er ging voraus in den hinteren Teil des Dachbodens, wo es, wie Nathanial dachte, ziemlich finster und gruselig war. Aber seine Brüder waren bei ihm, also brauchte er keine Angst zu haben.
»Welche?«, fragte Sterling, der die vielen Holztruhen betrachtete, die alle genau wie Piratenschatzkisten aussahen, nur größer.
»Mit der größten natürlich.« Quinton grinste seinen jüngeren Bruder an. »In der größten sind immer die besten Schätze.«
»Na schön.« Sterling klappte den Deckel der größten Truhe auf, und die Jungen sahen hinein.
»Da sind bloß Anziehsachen drin«, sagte Nathanial enttäuscht, hatte er doch gehofft, sie würden einen Schatz finden.
»Das hier sind nicht bloß Anziehsachen.« Quinton gab Nathanial die Kerze, griff in die Truhe und zog einen roten Gehrock heraus, der so aussah wie die aufgemalten ihrer Zinnsoldaten. »Das sind Kleider für Piraten und Ritter.«
»Und Abenteurer«, ergänzte Sterling. »Und Forscher.«
»Ich will ein Forscher sein«, sagte Nathanial rasch. »Oder ein Abenteurer.«
»Guckt euch das an.« Sterling holte noch etwas anderes aus der Truhe.
Quinton zog eine Grimasse. »Das ist ein Buch!«
»Ein Tagebuch.« Sterling ging näher zur Kerze und blätterte das Buch auf. »Es ist von Urgroßmutter.«
»Trotzdem ist es bloß ein Buch«, sagte Quinton.
»Ich weiß«, murmelte Sterling. »Aber es könnte doch ein gutes Buch sein.«
Quinton schnaubte verächtlich. »Wie kann denn ein Buch gut sein?«
»Du magst Bücher über Piraten«, gab Nathanial zu bedenken.
»Das hier handelt von Schmugglern.« Sterling blätterte immer weiter.
Nun trat ein Strahlen auf Quintons Züge. »Urgroßmutter kannte Schmuggler?«
»Ich glaube«, sagte Sterling langsam, »Urgroßmutter ist vielleicht selbst eine Schmugglerin gewesen.«
»Lies vor«, bettelte Nathanial.
»Ja, gut.« Sterling nickte.
Die Jungen hockten sich im Schneidersitz auf den Fußboden. Sterling gab die Kerze Nathanial, und der hielt sie so, dass mehr Licht auf die Seiten fiel. Die nächste Stunde lang las er seinen Brüdern von den Abenteuern ihrer Urgroßmutter vor, die offenbar wirklich eine Schmugglerin gewesen war, gejagt von einem Agenten der Krone, einem früheren Earl of Wyldewood.
Schließlich hörte es auf zu regnen, und Sterling klappte das Tagebuch zu. »Ich glaube nicht, dass wir Mutter hiervon erzählen sollten«, konstatierte er streng.
»Weil wir ihr dann verraten müssen, dass wir auf dem Dachboden waren?«, fragte Nathanial.
»Unsinn«, höhnte Quinton. »Weil es ihr bestimmt nicht gefällt, eine Schmugglerin in der Familie zu haben.«
»Ach so.« Nathanial fand es eigentlich eher spannend, eine Schmugglerin zur Verwandten zu haben. »Lasst uns Schmuggler statt Piraten sein.«
»Heute nicht mehr«, sagte Sterling. »Miss Thompson wundert sich sicher schon, wo wir sind. Aber wir können vielleicht noch mal herkommen, weiterlesen und Schmuggler spielen.«
»Denken wir uns dann auch Schmugglernamen aus?« Nathanials Stimme klang aufgeregt.
»Schmugglernamen!« Quinton lachte. »Was sind denn Schmugglernamen?«
»Dasselbe wie Piratennamen, nur für Schmuggler«, verteidigte Nathanial sich voller Überzeugung. »Und ich bin Black Jack Harrington.«
Seine älteren Brüder sahen sich an, und Sterling schüttelte den Kopf. »Der passt nicht zu dir.«
»Wieso nicht?«
»Zum Beispiel, weil du gar nicht Jack heißt. Wir spielen nämlich nicht bloß«, erklärte Quinton mit der Überlegenheit des Älteren. »Neue Namen sind eine ernste Sache, sogar Schmugglernamen. Der Schmugglername muss zum richtigen Namen passen.«
»Nate«, sagte Sterling. »Das klingt nach einem Schmuggler. Und du kannst Quint sein.«
Quinton runzelte die Stirn. »Der Name ist langweilig.« Er überlegte einen Moment. »Wie wär’s mit Holzbein-Quint oder Quint der Verwegene?«
»Wohl eher Quint der Spitzbube«, spöttelte Sterling.
»Und wie sollst du heißen?«, fragte Nathanial, neuerdings Nate. »Wie ist dein Schmugglername?«
»Ich bleibe Sterling.«
Quint schnaubte. »Das ist aber kein Name für einen Schmuggler.«
»Ha, ich bin auch kein Schmuggler«, erwiderte Sterling grinsend. »Ich bin der gefürchtete Earl of Wyldewood, Agent der Krone, furchtloser Jäger aller Schmuggler. Und ich bin der Retter der schönen Maid, der Held.«
»Mädchen können nicht spielen«, sagte Nate. »Sie sind Mädchen.«
»Dann bin ich Quint.« Quinton stemmte die Fäuste in die Hüften und streckte die Brust heraus. »Der wagemutige, kühne König der Schmuggler.«
»Und wer bin ich?« Nate blickte vom gefürchteten Earl zum König der Schmuggler. Das war nicht fair! Was sie auch spielten, immer durfte er erst als Letzter wählen.
»Na schön.« Sterling stieß einen langen, leidvollen Seufzer aus. »Ich gebe das mit furchtlos auf, und du kannst der furchtlose Schmuggler-Nate sein.«
»Ich möchte ›wagemutig‹ behalten, aber du kannst ›kühn‹ haben.« Quint grinste. »Dann bist du jetzt der furchtlose Schmuggler, Nate der Kühne.«
Der furchtlose Schmuggler Nate der Kühne. Ja, das gefiel ihm.
»Schmuggler und Schmugglerjäger zu spielen, wird richtig gut«, erklärte Sterling sehr ernst, als ginge es tatsächlich um eine höchst ernste Angelegenheit. »Wir erbeuten große Schätze, erleben spannende Abenteuer und retten hübsche Mädchen.«
»Und wir reisen um die Welt und entdecken neue Länder«, fügte Quint hinzu.
»Und … und …« Nate fiel nichts ein. Wieder einmal war er der Letzte. Aber das machte nichts. Auch er könnte große Abenteuer erleben und um die Welt reisen.
»Ich denke, wir brauchen einen Pakt«, sagte Sterling nachdenklich. »Einen Schmugglerpakt.«
Nate grübelte. »Schließen Schmuggler Pakte?«
»Weiß ich nicht«, antwortete Quint achselzuckend. »Du meinst, so wie Musketiere? Einer für alle und alle für einen?«
»Das ist ein Motto«, korrigierte Sterling. »Außerdem sind wir Brüder. Bei uns gilt sowieso immer einer für alle und alle für einen.«
Nate betrachtete ihn prüfend. »Für immer und ewig?«
»Ja, tat es immer und wird es immer«, sagte Sterling mit einem feierlichen Nicken, als gäbe er ein Versprechen ab, das ewig gelten sollte. »Brüder, einer für den anderen.«
»Einer für den anderen«, murmelte Quint.
»Einer für den anderen.« Nate grinste.
Das war ein sehr guter Pakt.
Erstes Kapitel
Sie sahen aus wie Herren, welche die Gesellschaft am liebsten gänzlich mieden, wäre es ihnen möglich. Und sie genossen weder deren Annehmlichkeiten noch Vergnügungen. Nein, nicht bloß die Gesellschaft widerstrebte ihnen, sondern die Zivilisation überhaupt. Ihre große Ähnlichkeit wies sie zweifelsfrei als Brüder aus, auch wenn sie eher dem Blick ihrer Augen, der Haltung ihres Kinns und der Zuversicht ihres Gangs geschuldet war als der Haarfarbe, der Breite der Schultern oder der überdurchschnittlichen Körpergröße.
In den Augen des Jüngsten erkannte man vornehmlich Intelligenz und Amüsement. Noch die am wenigsten empfindsame Dame wusste, begegnete sie diesen Augen, dass ihr ein Herr gegenüberstand, der weit mehr war, als er zunächst schien. Und sie erkannte überdies, dass er imstande wäre, der widerspenstigsten Dame das Herz zu stehlen.
Aber, ach, was für ein reizender Diebstahl wäre es!
Anmerkungen einer Dame zu ihrer Begegnung mit Nathanial Harrington und dessen Brüdern

London, 1885

»Mir scheint, die Einheimischen sind in diesem Jahr besonders rastlos.« Nathanial Harrington blickte von dem Balkon aus auf die Menge hinab.
»Nun, es ist Frühling«, sagte sein älterer Bruder Quinton mit einem Anflug von Amüsiertheit. »Die Paarungsrituale haben begonnen.«
»Ich würde meinen, dass die Spitzen der Londoner Gesellschaft ganz und gar nicht erfreut wären zu hören, dass du ihre Saisonfestivitäten als Paarungsrituale bezeichnest«, bemerkte Nate trocken.
»So angemessen die Bezeichnung auch sein mag.«
»Angemessenheit spielte bei gesellschaftlichen Aktivitäten noch nie eine tragende Rolle.« Nate sah seinen Bruder an. »Ebenso wenig wie, zu deinem Glück, Pünktlichkeit.«
Quint zuckte mit den Schultern. »Ich bin lediglich vornehm verspätet.«
»Du hast Ägypten geschlagene zwei Wochen vor mir verlassen, und dennoch bin ich seit fünf Tagen wieder in London«, sagte Nate und beäugte Quint prüfend. »Was hielt dich auf? Wo warst du?«
»Hier und dort. Und was die Frage betrifft, wodurch ich aufgehalten wurde, so ist es erstaunlich, wie zahlreich die …« Quint grinste auf jene verschlagene Art, die schon der Niedergang manch einer arglosen Dame gewesen war. »… Zerstreuungen sind, denen ein Mann ohne die Obhut seines Gewissens ausgesetzt wird.«
Nate lüpfte eine Braue. »Wenn du von Gewissen sprichst, meinst du mich?«
»Sehr richtig, kleiner Bruder.« Quint lachte leise. »Du bist mein Gewissen, der Hüter meiner Moral, der Wächter meiner Tugendhaftigkeit, der …«
Nate lachte. »Dann scheine ich meine Aufgabe sträflichst zu vernachlässigen.«
»Und dafür werde ich dir ewig dankbar sein.«
»Genau wie ich.« So ungern er es auch zugab, wusste Nate, dass sein Leben unsagbar öde wäre, müsste er auf Quints Hang zum Abenteuer und die Schwierigkeiten verzichten, die ihm beständig auf dem Fuße folgten.
Nachdem Nate sein Studium abgeschlossen hatte, war es Quint gewesen, der vorschlug, dass er ihn auf seinen Reisen und der Suche nach verlorenen antiken Schätzen begleitete. Gemeinsam hatten sie Länder und Orte besucht, von denen Nate sich nie erträumt hätte, sie jemals mit eigenen Augen zu sehen. So waren sie mal in Ägypten, mal in Persien oder Kleinasien, wo der Nil, der Tigris oder der Euphrat flossen. Wo immer Menschen einst lebten und Städte errichteten, die für die Ewigkeit geplant waren.
Sollte er ehrlich sein, hatte Nate eher erwartet, seine Tage in staubigen Museumsbibliotheken oder den geweihten Hallen der einen oder anderen Universität zu verbringen. Er hatte sich vorgestellt, sein Leben mit der Suche nach antikem Wissen auszufüllen. Stattdessen studierte er nun vergilbte Manuskripte oder in Stein gemeißelte Fragmente nach Hinweisen auf historische Schätze. Für Nate hauchten die Artefakte und Antiquitäten, die sein Bruder und er fanden, den längst untergegangenen Zivilisationen neues Leben ein und machten sie real. Quint indes interessierte eher der hohe Preis, den sie mit ihnen bei Museen oder Sammlern erzielen konnten. Doch trotz ihrer unterschiedlichen Philosophien, oder vielleicht gerade wegen ihnen, ergänzten sich die Brüder aufs Beste.
»Hast du …« Quint verstummte, denn im Grunde war es unnötig, die Frage laut auszusprechen.
Nate warf ihm einen resignierten Blick zu. »Die Bußgelder wurden gezahlt und die Passierscheine für die entsprechenden, wenn auch fiktiven, Daten ausgestellt. Alle betroffenen Behörden erhielten die üblichen, in einigen Fällen auch großzügigeren Zuwendungen. Und der französische Konsul ist nunmehr überzeugt, dass nicht du es warst, der beim Verlassen des Schlafgemachs seiner Gattin gesehen wurde. Die Aufmerksamkeit wurde auf einen der Amerikaner gelenkt.« Nate schüttelte den Kopf. »Es ist ein Jammer, fürwahr, denn ich mochte sie.«
»Ich wage zu behaupten, dass ihre Moral in Angelegenheiten dieser Natur nicht höher ist als meine. Und ganz gewiss nicht höher als die der französischen Konsulsgemahlin.« Quint schmunzelte ohne einen Funken Reue. »Deine Hilfe weiß ich zu schätzen.«
»Ja, das dachte ich mir«, sagte Nate seufzend. »Wie dem auch sei, mach dich auf Mutters Zorn gefasst. Was den angeht, kann ich dir nicht helfen. Sie war in größter Sorge, du könntest gar nicht wieder heimkommen.«
»Aber nein, ich würde doch niemals den ersten Ball unserer kleinen Schwester versäumen.« Quint zupfte an seinen Manschetten. Er sah aus wie ein Mann, der sich in Eile angekleidet hatte, was zweifellos auch der Fall gewesen sein dürfte. »Reggie würde mir den Kopf abreißen, wie Mutter gleichfalls und wahrscheinlich auch Sterling.«
»Ja, es ist offenbar ein ehernes Gesetz, dass alle Familienmitglieder anwesend sein müssen, wenn eine Schwester erstmals in die Gesellschaft eingeführt wird.« Nate blickte wieder hinab in die Menge. »Wann bist du in London angekommen?«
»Wie spät ist es jetzt?«, antwortete Quint grinsend. »Wie es aussieht, habe ich nichts von Bedeutung verpasst, und es klingt auch nicht, als wäre mir in Alexandria Interessantes entgangen.«
»Nein, eigentlich nicht.« Nach einer kurzen Pause sagte Nate: »Ach, jemand fragte nach dir.«
Quints Grinsen wurde breiter. »Es fragt immerzu jemand nach mir.«
»Ja, nun, dieses Mal war es weder ein misstrauischer Ehemann noch ein erzürnter Vater. Erinnerst du dich an Enrico Montini?«
Quint überlegte. »Vage.«
»Gewiss entsinnst du dich. Er behauptete, er hätte ein antikes Siegel entdeckt, akkadisch, wenn ich mich nicht irre, das sich auf das Jungferngeheimnis bezog, die verlorene Stadt Ambropia. Er war überaus vorsichtig und wollte uns das Siegel selbst nicht zeigen, einzig den Lehmabdruck von ihm.« Nate sah seinen Bruder an. Quint hatte mit dem Professor zusammengearbeitet, der vor Jahren eine führende Autorität auf diesem Gebiet war. »Du kannst es unmöglich vergessen haben, denn es war ein beachtlicher Fund.«
»Ja, natürlich.«
»Anscheinend ist er vor wenigen Monaten überraschend verstorben.«
»Wie tragisch«, murmelte Quint.
»Fürwahr. Sein Bruder, ein merkwürdiger kleiner Bursche, suchte mich einige Tage nach deiner Abreise auf. Er war ziemlich außer sich und beschuldigte uns, oder vielmehr dich …«
»Mich?«
»Dein Ruf eilt dir voraus.« Nate verzog das Gesicht. Während er alles daran setzte, ihre Aktivitäten im legalen Rahmen zu halten, hatte es Zwischenfälle gegeben, bevor er sich Quint zugesellte, die zumindest fragwürdig gewesen waren. »Montinis Bruder hegt den Verdacht, dass jenes Siegel durch eines von geringerer Qualität und Alter ausgetauscht wurde. Als er es ahnungslos dem Antiken-Begutachtungskomitee vorlegte, war man dort wenig amüsiert, wie du dir vorstellen kannst.«
»Sie sind überhaupt selten amüsiert«, raunte Quint.
»Montini wurde diskreditiert. Sein Bruder behauptet, dass die Beschädigung seiner Reputation maßgeblich zu seinem frühen Ableben beitrug, und will diejenigen finden, die dafür verantwortlich sind.«
Das Komitee zur Einschätzung und Zuordnung von Funden bei der Londoner Antikengesellschaft entschied über die Bedeutung von Funden der Mitglieder, die in den entferntesten Winkeln der Welt nach Kunstgegenständen suchten, und prüfte Vorschläge für künftige Arbeiten. Anhand der Bewertungen des Komitees entschied der Gesellschaftsvorstand, ob Expeditionen gefördert würden oder nicht. Dabei konnte die Förderung minimal sein, indem die jeweiligen Forscher sich nur mit dem Namen der Gesellschaft schmücken durften, aber auch in einer maßgeblichen finanziellen Unterstützung bestehen.
»Du solltest erfahren, dass ich seinem Bruder sagte, du hättest Ägypten verlassen und wärst auf dem Weg in die Türkei. Ich vermute, er wollte dir folgen.«
»Wie reizend.«
»Man tut, was man kann, für seinen Bruder.« Nate schüttelte den Kopf. »Ein Jammer um Montini.«
»Gewiss hat er bloß einen Fehler gemacht«, sagte Quint.
»Dennoch, wenn ich mich an den Abdruck erinnere, den er uns zeigte …«
»Solche Dinge geschehen fortwährend. Auch du und ich schätzten gelegentlich Funde höher ein, als sie es letztlich waren.« Quint schaute hinunter, nickte zur Menge unter ihnen und wechselte unvermittelt das Thema. »Wessen Idee war es, diesen Ball draußen abzuhalten?«
Nate lachte. »Was denkst du?«
»Und Mutter erlaubte es?«
»Die ganze Woche war sie in Sorge, es könnte regnen und was wir in dem Fall tun sollten. Aber du weißt, wie Reggie ist, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Und dies hier ist schließlich ihre Feier.«
Im zarten Alter von achtzehn Jahren besaß Regina Harrington bereits eine Charakterstärke, die eines Tages der Untergang eines armen Mannes sein würde. Ihre Schwester war das jüngste Kind und das einzige Mädchen, weshalb es weder die Mutter noch die Brüder je übers Herz gebracht hatten, ihr etwas abzuschlagen. Und Reggie hatte beschlossen, dass es eine großartige Idee wäre, unter den Sternen auf der Terrasse zu tanzen, während der Ballsaal für die Dinnertische und die vornehme Konversation herhalten sollte. Die Bedenken ihrer Mutter hatte sie mit der unerschütterlichen Zuversicht abgetan, wie sie einzig junge Damen in ihrer ersten Saison bewiesen. Der Himmel würde es nicht wagen, auf Lady Regina Harringtons Einführungsball herabzuregnen, und er tat es auch nicht. Es war ein idealer Frühlingsabend.
Nate lehnte sich auf die Balustrade und betrachtete die Gästeschar. »Wann waren wir das letzte Mal im Frühjahr in England?«
»Ich weiß es nicht genau.« Quint überlegte. »Im letzten Jahr um diese Zeit waren wir in Persien und das Jahr davor in Ägypten, glaube ich, oder vielleicht in der Türkei. Ich kann es dir beim besten Willen nicht sagen, doch es ist lange her.«
Nates Schätzung zufolge mussten mindestens sechs Jahre vergangen sein, seit sein Bruder und er länger als vier oder fünf Monate in England residiert hatten, in dem Londoner Haus der Familie oder auf dem Landsitz. Ungleich häufiger traf man sie auf der Suche nach den Schätzen in einer versunkenen Stadt in der Türkei, einem verschwundenen Pharaonengrab in Ägypten oder einem vergessenen Tempel in Persien an. Dieser Tage waren sie eher daran gewöhnt, unter den Sternen zu campieren als zu tanzen. Nate zog an seinem kratzigen gestärkten Kragen, der ihm den Hals einschnürte. Ohne Frage, bequemer hatten sie es auf ihrer Expedition allemal. Trotzdem tat es gut, zu Hause zu sein.
»So ungern ich es zugebe, mir hat die Londoner Saison gefehlt«, sagte Quint nachdenklich.
Nate schnaubte. »Das zu glauben, fällt mir schwer. Ich dachte, du hasst all dies.«
»Unsinn, lieber Bruder.« Quint blickte in die Menge. »Ich konnte mich lediglich nie für die unbarmherzigen Regeln erwärmen, die alles beherrschen. Dieses Ganze ›Du musst dies tun‹ und ›Du darfst jenes auf keinen Fall‹. Aber das Aufgebot an englischer Schönheit, das während der Saison zu sehen ist, ist unübertroffen. Es ist ein Fest, das jede Mühe lohnt.«
Nate schmunzelte. »Ein Fest?«
»Unbedingt.« Quint stützte seine Unterarme auf das Balkongeländer, faltete die Hände und suchte die Menge ab, bis er zu einer Gruppe junger Damen mit frischen, rosigen Gesichtern und weißen Ballkleidern nickte.
Nate folgte seinem Blick, doch seine Augen wurden von einer dunkelhaarigen jungen Dame angezogen. Sie trug ein Kleid in einem dunklen Apricot-Ton und schlenderte über die Terrasse, als würde sie nach etwas oder jemandem suchen.
»Dort hast du die Debütantinnen in ihrer ersten Saison. Sie sind sozusagen der erste Gang, leicht und den Appetit anregend. Eine zarte Andeutung dessen, was noch kommen wird.«
»Und der zweite Gang?« Die Frau hielt sich mit der Selbstgewissheit einer geborenen Schönheit, dennoch hatte Nate das absurde Gefühl, sie wäre hier irgendwie fehl am Platz. Was für ein dummer Gedanke! Er kannte nicht einmal die Hälfte der anwesenden Gäste und konnte folglich gar nicht wissen, wer hierher gehörte und wer nicht. Was ihm ohnehin vollkommen gleich war.
»Dort.« Quint wies auf eine weitere Gruppe pastellgewandeter junger Damen. »Es ist gewiss ihre zweite oder dritte Saison, mindestens. Die sind schon etwas vollmundiger, wenn auch immer noch eine Vorspeise. Was den Hauptgang betrifft …« Nachdenklich blinzelte er hinab. »Das Arrangement einer Speise, wie sehr sie das Auge anspricht, ist ebenso entscheidend wie der Geschmack. Ohne ein reizvolles Bild, das den Appetit anregt, geht es nicht. Die Damen in den kräftigeren Farben sind verheiratet oder verwitwet und längst über die Trauerzeit hinweg. Hier, mein Bruder, muss man sich aussuchen, von welchem Teller man vorsichtig kostet. Eine verheiratete Dame mag ein vorzüglicher Hauptgang sein, ein erboster Gemahl indes sorgt für unerfreuliche Nachwirkungen.«
»Verdauungsstörungen?«, sagte Nate abwesend, der immer noch die Unbekannte mit seinen Blicken verfolgte, die sich am Rande der Terrasse durch die Gäste schlängelte. Auch wenn er ihr Gesicht nicht allzu deutlich ausmachen konnte, kamen ihm ihre Züge seltsam bekannt vor. War er ihr schon einmal begegnet? Vor Jahren vielleicht? Oder auf einem seiner raren Besuche zu Hause? Unsinn, vom Balkon aus konnte er sie einfach viel zu schlecht erkennen.
»Mindestens. Aber eine Witwe, die sich mit ihrem Witwensein wohlfühlt und keinen Wunsch hat, nochmals eine Ehefrau zu werden, kann ein höchst vollmundiges und befriedigendes«, Quint grinste, »Speiseerlebnis sein.«
»Sehr geschmackvoll«, murmelte Nate.
Quint warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Hörst du mir eigentlich zu?«
»Was? Ja, selbstverständlich«, sagte Nate rasch und richtete sich auf. »Ich lausche jedem einzelnen deiner Worte. Ich glaube, du bist jetzt beim«, er räusperte sich, »Dessert.«
»Eine wichtige und entzückende Ergänzung jeder Mahlzeit«, fuhr Quint fort. »Obgleich das Dessert gänzlich vom individuellen Geschmack abhängt. Eine leichte, luftige Kreation aus Zucker und Luft …«
»Ähnlich dem ersten Gang?«
Quint nickte. »Könnte man sagen. Während sie der Zunge schmeichelt, kann solch eine Süßigkeit zu permanenter einseitiger Ernährung führen, was ich persönlich lieber vermeide. Und eine schwerere Nachspeise, beispielsweise ein Pudding, kann durchaus genüsslich sein, solange man achtgibt, keine Vorliebe für sie zu entwickeln.«
»Andernfalls könnte man für den Rest seines Lebens nur noch Pudding essen?«
»Richtig. Und so sehr ich Pudding mag, kann ich mir nicht vorstellen, ihn für den Rest meines Lebens täglich zu goutieren.«
»Ich auch nicht.« Allerdings vermutete Nate, dass er lange vor seinem Bruder zu einer ständigen Pudding-Diät bereit wäre. Nicht dass er jetzt schon nach Pudding verlangte – oder vielmehr nach Heirat. Dennoch fand er den Gedanken nicht annähernd so abstoßend wie Quint. Nein, er war gewiss, dass er die richtige Dame erkennen würde, sobald sie in sein Leben trat. Bis dahin war er gewillt, alle Desserts zu kosten, die sich anboten.
»Es scheint, dass Sterling meine Ankunft bemerkt hat«, raunte Quint aus dem Mundwinkel und schickte zugleich ein Lächeln sowie ein kurzes Winken in Richtung ihres Bruders, der seitlich auf der Terrasse neben ihrer Mutter stand. Der verärgerte Blick des Earls of Wyldewood war so gnadenlos wie die legendären Strahlen des Pharaos von Alexandria. »Wollen wir uns zu den anderen gesellen?«
»Ich schätze, das lässt sich nicht umgehen«, antwortete Nate lachend.
Quint schritt durch die Tür auf die Galerie, von der man den Ballsaal überblickte. Ein letztes Mal schaute Nate hinab in die Menge, dann folgte er seinem Bruder. Die Frau in dem Apricot-Kleid hatte er aus den Augen verloren, würde sie jedoch wiederfinden. Er lächelte vor sich hin, denn ihn erfüllte dieselbe kribbelnde Vorfreude, wie er sie beim Aufbruch jeder neuen Suche empfand, sei es nach den verlorenen Schätzen antiker Völker oder nach einer faszinierenden Dame. Könnte dieser Fund ein bedeutender sein? Oder erginge es ihm wie dem armen Kerl Montini, und er beging nichts weiter als einen furchtbaren Fehler?
Wie auch immer, er hatte Aprikosen stets gemocht.
Es war nicht so, als wäre sie noch nie auf einem Ball gewesen. Wenn ihr Bruder in London weilte, hatten sie den Jahresball der Antikengesellschaft besucht und gelegentlich auch andere Bälle von Organisationen, die einer Universität oder einem Museum verbunden waren.
So gelassen wie möglich, schlenderte sie am Rande der Menge auf der Terrasse entlang, als würde sie hierher gehören. Ihr Selbstvertrauen wurde durch das Wissen bestärkt, dass sie so schön aussah, wie es ihr irgend möglich war. Ihre Robe entsprach der neuesten französischen Mode: eine Extravaganz, auch wenn sie sich derlei leisten konnte. In ihrer Welt war eine größere Auswahl modischer Kleider eher nebensächlich. So oder so betonte dieses ihr angenehmes Äußeres, und sie besaß gerade genug Eitelkeit, um es zu schätzen zu wissen. Ihr war wohl bekannt, dass sie mit ihrem dunklen Haar und den tiefblauen Augen als hübsch galt, doch war ihr Aussehen für sie nie sonderlich wichtig gewesen.
Gabriella Montini lächelte und nickte Menschen zu, denen sie niemals begegnet war und auch nicht kennenzulernen erwartete. Dieses Unterfangen hier wäre zweifellos einfacher, hätte sie jemals zuvor einen Ball des Earls besucht. Und erst recht weniger, nun ja, merkwürdig, hätte man sie tatsächlich eingeladen und sie sich nicht durch die hintere Gartenpforte einschleichen müssen.
Dies also war das Zuhause jener verdorbenen Harrington-Brüder, und hier hoffte sie Beweise zu finden, dass einer oder wahrscheinlich sogar beide ihrem Bruder das Ambropia-Siegel gestohlen hatten. Bisher hatte sie noch nichts gegen sie in der Hand, doch die beiden standen ganz oben auf Enricos Liste möglicher Täter, und folglich war dies ein geeigneter Ort, die Suche aufzunehmen. Gabriella schritt durch die hohen Glasflügeltüren in den Ballsaal. Sollte sich je die Gelegenheit ergeben, müsste sie demjenigen danken, der auf die seltsame Idee verfiel, den Tanz draußen abzuhalten. Das machte ihr die Aufgabe um ein Vielfaches leichter – und diesmal hatte sie einen Plan.
Gabriella nahm ein Glas Punsch, das ihr von einem Diener angeboten wurde, und erkundigte sich nach dem Salon für die Damen. Nicht dass sie sich dorthin zurückzuziehen beabsichtigte, aber er böte eine exzellente Zuflucht, sollte sie entdeckt werden. Auch das hatte sie geplant. Zugegeben, ihr Plan war nicht herausragend, aber um einiges besser als der letzte, dem es fatal an wenigstens einem Quäntchen vernünftiger Voraussicht gemangelt hatte, was wiederum desaströs hätte ausgehen können. Überhaupt waren Katastrophen beinahe unausweichlich, handelte man impulsiv statt rational überlegt.
Was sie vor Jahren hätte begreifen müssen, ja, sogar längst begriffen zu haben glaubte. Nur hatte sie nicht ermessen, welcher Kummer und welche Wut sich über Monate aufstauen konnten, bis sie selbst den Vernünftigsten in den Wahn trieben. Dessen ungeachtet war es abenteuerlich gewesen und endete ohne ernste Zwischenfälle, wenn auch leider ohne nennenswerten Erfolg. Es war Jahre her, seit sie irgendeine Form von Abenteuer erlebt hatte, die sich nicht zwischen den Seiten alter, staubiger Manuskripte oder vergilbter Aufzeichnungen lang verstorbener Forscher fanden. Und wie sehr sehnte Gabriella sich danach, von den Büchern fortzukommen! Allein dafür dürfte sich die notwendige Täuschung lohnen.
»Emma, meine Liebe!« Eine ältere Frau in einer Wolke von Satinröcken kam aufgeregt auf sie zu. »Wie geht es Ihnen? Es scheint mir ewig her, seit wir uns sahen. Ich hörte, Sie und Ihre Frau Mama waren in Paris.«
Gabriella ignorierte die Angst, die ihr den Magen zusammenzog. Die Dame verwechselte sie offensichtlich mit jemandem, und es wäre klug, ihren Irrtum nicht zu korrigieren. Das Letzte, was Gabriella wollte, war, dass jemand sie als ungeladenen Gast entlarvte. Also rang sie sich ein strahlendes Lächeln ab. »Ja, es ist lange her.«
»Sie sind so liebreizend wie eh und je. Zumindest denke ich das.« Die Ältere blinzelte und beugte sich näher zu Gabriella. »Verzeihen Sie, meine Liebe, ich habe schon wieder meine Augengläser verlegt.« Sie seufzte tief. »Einer der Flüche des Älterwerdens. Dinge, die man ehedem für selbstverständlich nahm, verweigern auf einmal ihre angemessene Leistung. Aber ich werde Sie auf keinen Fall mit einer ganzen Liste langweilen. Belassen wir es dabei, dass mein Sehvermögen und das Vergessen, wo ich etwas hinlegte oder -stellte, zu ihnen zählen.«
Die Frau konnte sie nicht richtig sehen? Erleichterung und ein Anflug von Dankbarkeit überkamen Gabriella. Allerdings nicht so viel Dankbarkeit, als dass sie diese freundliche Dame darauf hinweisen würde, dass ihre Brille an der Juwelenbrosche auf ihrem üppigen Busen prangte. »Trotz allem sehen Sie wohl aus.«
»Oh, das bin ich, bin ich, danke. Und ich war schon immer schrecklich zerstreut, also darf ich dem Alter nicht allein die Schuld geben.« Sie beugte sich noch weiter vor und legte vertraulich eine Hand auf Gabriellas Arm. »Andererseits ist das Alter eine solch bequeme Ausflucht, nicht wahr? Züge, die früher als flatterhaft oder fahrig galten, machen uns plötzlich exzentrisch.« Nun richtete sie sich wieder auf und blickte sich im Saal um, was, wie Gabriella vermutete, eher zwecklos war. »Ist Ihr charmanter Gemahl heute Abend auch hier?«
»Ja, natürlich. Er ist …« Sie stockte. Da sie keinen Gemahl besaß, war sie nicht sicher, wie man glaubhaft die temporäre Abwesenheit von einem erklärte. Aber sie wusste, wo sie ihre Suche zu beginnen plante. »In der Bibliothek, glaube ich. Ja, ich denke, dort wird er sein. Wissen Sie, wo die Bibliothek ist?«
»Durch die Haupttüren auf den Korridor und dann nur ein paar Türen weiter.«
Vorbei am Damensalon, wie günstig. »Ich sollte ihn holen gehen.«
»Ja, das sollten Sie unbedingt.« Die ältere Frau schüttelte den Kopf. »Ich würde einen Gemahl, der so gut aussehend ist wie Ihr Lord Carpenter, lieber nicht aus den Augen lassen. Auch ich sollte mich auf die Suche nach meinem Gatten machen. Zwar ist er keine Augenweide wie Ihrer und vor allem nicht so jung, doch ihm steht das Alter allemal besser zu Gesicht als mir.«
»Das kann ich mir schwerlich vorstellen.«
»Ich mir auch nicht«, sagte die andere lachend. »Kommen Sie mich bald besuchen, meine Liebe. Es ist viel zu lange her.« Lächelnd nickte sie und ging.
Gabriella wünschte ihr, dass ihr jemand verriet, wo ihre Brille war, aber möglichst erst, nachdem Gabriella den Ball verlassen hatte. Sie eilte Richtung Bibliothek und hoffte, dort auf niemandes Gemahl zu treffen – oder auf irgendjemand anderen. Das Glück schien ihr hold, denn der Korridor war verlassen. Sie fand die Bibliothekstür, lauschte kurz und holte tief Luft, als sie nichts hörte, bevor sie die Tür weit öffnete. Sie musste auf jeden Fall den Anschein erwecken, hierher zu gehören, nicht den, ein ungeladener Gast zu sein.
Sie betrat die Bibliothek und schloss die Tür hinter sich. Tatsächlich war der Raum menschenleer und gut beleuchtet. Gabriella wäre es gar nicht recht gewesen, hätte sie im Dunkeln herumstolpern müssen. An den Wänden zu beiden Seiten der Tür hingen antike Schwerter und Pistolen. Weiter hinten im Raum stand ein großer Schreibtisch. Flankiert von zwei hohen Fenstern, dominierte er das Zimmer, so wie es sich wohl für den Schreibtisch eines Earls ziemte. Die übrigen Wände füllten große Bücherregale, die hier und da von Portraits längst verblichener Vorfahren unterbrochen wurden. Gabriella schnaubte verächtlich. Kein Zweifel, sie allesamt waren Piraten und Diebe. Ein kleinerer Schreibtisch, der gewiss vom Sekretär des Earls benutzt wurde, stand seitlich von dem seiner Lordschaft.
Gabriella schritt auf den kleineren Tisch zu und überlegte, wo sie ihre Suche beginnen sollte. Es war verblüffend einfach gewesen herauszufinden, dass der Sekretär des Earls nebenher die Korrespondenz seiner jüngeren Brüder erledigte. Ein paar beiläufige Unterhaltungen mit einigen älteren Mitgliedern der Antikengesellschaft, in denen sie sich beklagten, wie schwierig es war, Funde begutachten und Expeditionen finanzieren zu lassen, hatten ausgereicht. Und war es in früheren Tagen nicht sehr viel unkomplizierter gewesen, als sie noch diejenigen waren, die Kunstgegenstände und Schätze untergegangener Kulturen entdeckten? Fürwahr, dieser Tage konnte man kaum mehr etwas bewerkstelligen, ohne einen versierten Bürogehilfen anzuheuern, was wiederum eine finanzielle Belastung für alle darstellte, die über kein unabhängiges Vermögen verfügten. Oder die eine kluge Schwester hatten, die sich um derlei Angelegenheiten kümmerte – oder einen Earl zum Bruder, der bereitwillig die Dienste seines Sekretärs zur Verfügung stellte.
Falls die Harrington-Brüder Enricos Siegel hatten, könnte es entsprechende Korrespondenz geben. Das Siegel war ein bedeutsamer Fund gewesen, eines der wenigen Stücke, die jemals entdeckt wurden und die als Beweis für die Existenz der legendären Stadt Ambropia galten. Sofern seine Herkunft glaubhaft bestätigt wurde, verstand sich. Der Entdecker solch eines Artefakts würde großen Ruhm ernten, und seine Reputation, wie seine Zukunft wären gesichert.
Gabriella kniff die Lippen zusammen. Eine Reputation und eine Zukunft, die ihrem Bruder zugefallen wäre, hätte ihm nicht jemand das Siegel gestohlen. Nicht einmal ein Jahr war es her, seit Enrico mit dem Siegel nach London zurückgekehrt war. Gabriella lebte bei ihrem Halbbruder, seit sie zehn war und er sie bei entfernten Verwandten ihres zwei Jahre zuvor verstorbenen Vaters in Italien fand. Und noch nie hatte sie Enrico aufgeregter wegen eines Funds gesehen. Nicht dass er ihr das Siegel selbst gezeigt hätte, lediglich einen Abdruck in feuchtem Lehm, den er gefertigt hatte. In solchen Dingen war ihr Bruder außerordentlich misstrauisch gewesen. Er hatte gesagt, es brächte Unglück, das Siegel vorzeitig zu enthüllen. Schließlich war Ambropia von Mythen und Legenden umwölkt, unter ihnen ein Fluch, mit dem die jungfräuliche Schutzgöttin all jene belegte, die ihren Schlaf störten. Nun fragte Gabriella sich, ob Enrico Recht gehabt hatte.
Als er das Siegel vor dem Gutachterkomitee der Antikengesellschaft auswickelte, hielt er plötzlich ein weit minderwertigeres Fundstück in Händen. Seine Behauptung, das echte Siegel wäre ihm geraubt und durch ein relativ gewöhnliches ersetzt worden, konnte das Komitee nicht beschwichtigen, erst recht nicht, als Enrico die Beherrschung verlor und der Gesellschaft vorwarf, ihn diskreditieren zu wollen.
Danach war ihr Bruder nie wieder derselbe gewesen. Die Suche nach dem verlorenen Siegel hatte ihn vollends aufgezehrt. Funde wie dieser waren unter Forschern heiß begehrt, weshalb Enrico sicher war, dass einer seiner Rivalen das Ambropia-Siegel stahl. Er verließ London, um denjenigen nachzustellen, die er verdächtigte. In seinen Briefen an Gabriella schilderte er detailliert, welche Fortschritte er machte, und listete die Namen aller Herren auf, von denen er glaubte, sie könnten das Siegel selbst gestohlen oder einen Dieb beauftragt haben.
Allerdings wurden die Briefe zusehends irrationaler, verworrener, ja, ein bisschen wahnsinnig beinahe, was Gabriella sich zum fraglichen Zeitpunkt jedoch nicht eingestehen wollte. Ein Fehler, den sie später zutiefst bereute. Hätte Enrico Xerxes mitgenommen, den Diener, der ihn gewöhnlich begleitete, oder wäre sie mit ihm gereist, hätte er vielleicht … Aber sie hatte ihren Bruder schon lange nicht mehr auf dessen Expeditionen begleitet, nicht mehr seit jenem Ereignis, das sie als »den Zwischenfall« bezeichnete, und sie wusste, dass er es ihr niemals gestattet hätte, mit ihm zu reisen.
Dann, vor sechs Monaten, erhielt sie Nachricht, dass Enrico in Ägypten verstorben war, angeblich an einem Fieber. Das unpersönliche Schreiben eines niedrig gestellten britischen Konsulatsmitarbeiters war zusammen mit einer Kiste gekommen, in der sich die persönliche Habe ihres Bruders befand. Gabriella war am Boden zerstört gewesen. Enrico war zwanzig Jahre älter als sie und ebenso sehr ein Vater wie ein Bruder für sie gewesen. Abgesehen von den Verwandten ihrer englischen Mutter, die sie nie kennengelernt hatte, war er die einzige Familie, die sie besaß. Damals hatte sie sich geschworen, die zu finden, die verantwortlich waren, und den Ruf ihres Bruders wiederherzustellen.
Nun könnten Antworten auf ihre Fragen greifbar sein. Geistesabwesend nagte sie an ihrer Unterlippe und betrachtete den Schreibtisch. Wahrscheinlich war er abgeschlossen. Teufel noch eins, daran hätte sie denken müssen und vorbereitet sein sollen! Dieser Plan schien doch nicht wesentlich besser als der vorherige und wohl auch nicht viel klüger.
Erst nach Enricos Tod entdeckte Gabriella, dass sie finanziell erheblich unabhängiger war, als sie vermutet hätte. Es hatte sie regelrecht schockiert zu erfahren, dass ihr Vater den Großteil seines beträchtlichen Vermögens ihr vererbt hatte. Aus den Dokumenten, die sie nun erstmals in Händen hielt, war hervorgegangen, dass ihre Mittel nicht nur ihren Unterhalt finanziert hatten, sondern auch Enricos Arbeit. Das hatte ihr Bruder ihr gegenüber nie erwähnt, was er ja auch nicht musste. Da er die meiste Zeit gar nicht in London weilte, hatte sein Anwalt ihre Finanzen verwaltet. Der Anwalt arrangierte, dass alle Ausgaben gedeckt wurden, einschließlich der für Gabriellas Schule, ihr Studium am Queen’s College, für das bescheidene Haus in London, in dem sie wohnte, und für Miss Henry. Florence Henry diente Gabriella als Gesellschafterin, Anstandsdame und Freundin. Sie stand ihr zur Seite, seit Gabriella nach London zog.
Die erstaunlichen Entdeckungen nach Enricos Tod beschränkten sich indes nicht auf die Finanzen. Sie hatte außerdem ein Bündel Briefe gefunden, die an ihre Mutter gerichtet waren – die Mutter, die im Kindbett nach Gabriellas Geburt verstarb. Diese Briefe könnten sich eines Tages als nützlich erweisen, sollte Gabriella den Wunsch verspüren, ihre englische Verwandtschaft kennenzulernen. Was gegenwärtig nicht der Fall war. Jene Verwandten hatten bislang nicht nach ihr gesucht, also warum sollte Gabriella nach ihnen suchen? Trotzdem könnte besonders einer der Briefe dienlich sein. Und ihr neu entdeckter Reichtum war es jetzt schon.
Nicht dass sie exorbitant reich wäre; doch sie verfügte über ein recht ansehnliches Vermögen. Und sie war es nicht gewöhnt, Geld zu besitzen. Zwar war es angenehm zu wissen, dass sie sich alles leisten könnte, was sie wollte, aber der Gedanke an frivole Extravaganzen bereitete ihr Unbehagen. Dennoch machte es ihr die neue Situation sehr viel leichter, als ihr Kummer und ihre Wut sie zu der impulsiven Entscheidung verleiteten, nach Ägypten zu reisen und die Harringtons zur Rede zu stellen. Diesbezüglich plagten sie einige Schuldgefühle, denn sie hatte die gute Florence getäuscht. Was im Grunde zu Florences Wohl geschah, denn die Gute sollte sich nicht aufregen. Florence glaubte, dass Gabriella über Monate in einem friedlichen französischen Kloster saß, wo sie ihrer Trauer nachhing. Und sie glaubte außerdem, dass Xerxes und dessen Frau Miriam einen wohlverdienten Urlaub in einem Dorf unweit des Klosters machten, statt vergeblich in Ägypten nach dem Siegel zu suchen.
Gabriella wünschte, Xerxes wäre jetzt bei ihr. Zu den zahlreichen einzigartigen Talente von Xerxes Muldoon zählte auch, dass er jedes Schloss öffnen konnte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich derlei Fertigkeiten angeeignet hatte, aber sie waren überaus praktisch. Nur leider war es eine Sache, sich allein auf diesen Ball zu schleichen, eine ganz andere jedoch, unbemerkt in Begleitung Xerxes’ zu erscheinen. Der Sohn einer ägyptischen Mutter und eines irischen Vaters war groß, kräftig und eine äußerst exotische Erscheinung, die gewiss nicht unbemerkt geblieben wäre. Deshalb wartete Xerxes in diesem Moment in Gabriellas Kutsche nahe der hinteren Gartenpforte.
Nein, sie musste allein nachforschen. Vorsichtig zog sie an den Schreibtischschubladen, die tatsächlich abgeschlossen waren. Nach einem Schlüssel zu suchen, war gewiss zwecklos. Wer Schubladen verriegelte, ließ den Schlüssel nicht offen herumliegen. Auf dem Schreibtisch befanden sich lediglich ein Tintenfass, mehrere Federhalter und ein Brieföffner, dessen Griff einen ägyptischen Fayence-Skarabäus darstellte. Ein Geschenk seiner Brüder, zweifelsohne, und sicher gestohlen. Gabriella nahm den Brieföffner und wog ihn in ihrer Hand. Er könnte hilfreich sein.
Sie kniete sich hin und musterte die mittlere Schublade. Das Schloss in der Mitte müsste sämtliche Schubladen öffnen. Falls sie also den Brieföffner in den schmalen Spalt zwischen Lade und Tischplatte schieben könnte und den Riegel damit beiseitedrücken …
»Kann ich Ihnen helfen?«
Zweites Kapitel
Von ihrem Gesicht war nur die obere Hälfte über der Schreibtischkante zu sehen, wo sich ihre blauen Augen erschrocken weiteten.
Gut. Nate gefiel es, eine Dame zu überraschen, denn das verschaffte ihm einen anfänglichen Vorteil. Er hatte gesehen, wie sie den Ballsaal verließ und zunächst angenommen, sie würde sich in den Empfangssalon der Damen zurückziehen. Dort wollte er nahe der Tür warten, bis sie wiederkam, hatte dann aber beim Blick in den Korridor bemerkt, wie die Bibliothekstür geschlossen wurde, und beschlossen, diese Gelegenheit zu nutzen, die Bekanntschaft der schönen Fremden zu machen. Vorausgesetzt natürlich, sie traf sich nicht mit jemand anderem in der Bibliothek.
Er trat auf sie zu. »Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, aber danke.« Sie richtete sich auf. Nate stellte fest, dass sie größer war, als er gedacht hatte, wenn auch nicht viel. Sie war etwa einen halben Kopf kleiner als er, also die ideale Größe.
»Darf ich fragen, was Sie hier tun?«
»Was ich hier tue?« Sie zuckte mit den grazilen Schultern, die das Apricot-Kleid freiließ. »Da Sie mich ertappten, sollte ich wohl gestehen.«
Er bedachte sie mit jenem trägen, verschlagenen Lächeln, das ihm schon immer gute Dienste erwiesen hatte. Auch wenn er in Bezug auf das schöne Geschlecht weniger versiert war als Quint, hatte Nate noch nie Grund gehabt, an seinem Charme zu zweifeln. Und dieses besondere Lächeln war seine wirksamste Waffe. »Ah, ich mag Geständnisse. Ganz besonders solche von wunderschönen Damen.«
Sie blickte ihn einen Moment unverwandt an, dann lachte sie. »Ich fürchte, von diesem werden Sie enttäuscht sein«, sagte sie und kam mit einem Brieföffner in der Hand hinterm Schreibtisch vor. »Es ist kein sonderlich aufregendes.«
Nate musterte sie. In Modedingen kannte er sich wenig aus, doch dank der fortwährenden Unterhaltungen seiner Mutter und seiner Schwester über selbiges Thema, konnte Nate nun erkennen, dass es sich bei diesem Kleid um eine sehr modische französische Kreation handelte. Die Seide schmiegte sich hübsch an Kurven, die fraglos von einem Korsett verstärkt wurden. Dabei hätten ihre Brustwölbungen, die von dem tief ausgeschnittenen Mieder entblößt wurden, keinerlei Unterstützung bedurft. Nate dankte Gott, dass es die Franzosen gab. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie irgendetwas sagen könnten, was nicht aufregend wäre.«
An dieser Stelle schenkte sie ihm ein verführerisches Lächeln, bei dem Nates Mund trocken wurde. »Wie reizend von Ihnen, das zu sagen.«
»Nun, ich wüsste noch eine Menge weiterer reizender Dinge zu sagen.« Er ging langsam auf sie zu. »Beispielsweise könnte ich erwähnen, wie ausgesprochen gut die Farbe Ihres Kleids mit der Ihrer Augen harmoniert.«
»Ach, das ist wahrlich entzückend!«
»Und dennoch könnte ich es übertreffen. Ich könnte außerdem feststellen …« Sein Blick fiel auf den Brieföffner in ihren handschuhverhüllten Fingern. »Was tun Sie damit?«
Sie drehte den Öffner hin und her, und einen winzigen Moment lang dachte Nate, sie hätte vor, das Schreibtischutensil als Waffe zu benutzen. »Ich sah ihn auf dem Schreibtisch und wollte ihn mir genauer ansehen. Ungeschickt wie ich bin, ließ ich ihn fallen, und er landete unter dem Tisch.« Sie reichte ihm den Brieföffner. »Ist der Skarabäus echt?«
»So echt wie alles, was man auf einem Basar in Kairo kauft.« Er betrachtete den Öffner. »Ich erwarb ihn letztes Jahr als Geschenk für den Sekretär meines Bruders.«
»Dann sind Sie nicht nur charmant, sondern auch noch freundlich?«
Er lachte. »Ich kann es sein.« Dann warf er den Brieföffner auf den Schreibtisch. »Doch Sie versprachen mir zu gestehen, warum Sie hier in der Bibliothek sind.«
»Nein, ich habe mich dagegen entschieden«, erwiderte sie mit einem beiläufigen Achselzucken. »Es schien mir nicht ganz fair, dass ich Ihnen etwas gestehe, ohne im Gegenzug ein Geständnis von Ihnen erwarten zu dürfen.« Als er sie fragend ansah, ergänzte sie: »Gewiss haben Sie auch ein Geständnis abzulegen; eine Missetat, die schwer auf Ihrem Gewissen lastet?«
»Da fiele mir ad hoc nichts ein«, sagte er grinsend. »Obgleich ich zugeben muss, dass ich gehofft hatte, Sie wären nicht mit einem anderen Gentleman hier verabredet.«
Zunächst war sie fast erschrocken, dann seufzte sie theatralisch. »Sie haben mich durchschaut. Wie überaus beschämend, zumal mich der fragliche Gentleman offensichtlich versetzt.«
»Welch ein Glück für mich.« Er nahm ihre Hand, führte sie an seine Lippen und schaute ihr dabei in die Augen.
»Denken Sie?«
»Oh ja.« Immer noch hielt er ihre Hand ebenso fest wie ihren Blick. »Verzeihen Sie, aber kennen wir uns? Sie kommen mir erstaunlich bekannt vor.«
»Erinnern Sie sich nicht?« Da war ein seltsamer Unterton in ihrer Stimme, und Nate war nicht sicher, ob sie beleidigt oder erleichtert war.
»Ich bitte vielmals um Vergebung«, sagte er kopfschüttelnd. »Mir ist unvorstellbar, wie ich es vergessen konnte, aber …«
Sie entwand ihm ihre Hand. »Ich muss sagen, das ist ganz und gar nicht charmant.«
»Es tut mir leid, ich …«
»Erinnern Sie sich nicht, dass wir zusammen tanzten?«
»Nein, ich fürchte …«
»An wenige lauschige Momente während eines Spaziergangs in einem Garten ganz ähnlich dem hiesigen?«
»Ich wüsste nicht …«
»Einen gestohlenen Kuss im Mondschein?«
Er schluckte. »Ich muss ein Idiot sein.«
»Ja, müssen Sie«, bestätigte sie, klappte den Fächer aus, der an ihrem Handgelenk hing, und sah Nate nachdenklich an. »Andererseits würde ich vermuten, dass Sie mit vielen Damen tanzen, zahlreiche lauschige Spaziergänge in Gärten unternehmen und manch einen Kuss im Mondlicht stehlen. Da fällt es Ihnen sicherlich schwer, sich jedes einzelnen Vorfalls und jeder einzelnen Dame zu entsinnen.«
»Ja. Nein!«, rief er beinahe empört. »Ich habe noch keine Dame vergessen, die ich …«
Sie zog eine Braue hoch.
»Bisher nie«, lenkte er resigniert ein. »Sie sehen mich zutiefst beschämt.«
»Ach ja?« Sie lachte, was gleichermaßen gewinnend wie ansteckend wirkte. »Nun, das ist entzückend!«
Er lächelte verlegen. »Wer sind Sie?«
»Aber, aber, wenn ich Ihnen das verrate, würde es den ganzen Spaß verderben. Da Sie sich nicht an meinen Namen erinnern, halte ich es nur für gerecht, wenn Sie sich dieses Wissen verdienen müssen.« Ihre Augen funkelten amüsiert. »Vielleicht fällt er Ihnen ein, wenn wir noch einmal tanzen …«
»Oder im Garten spazieren gehen.« Er trat näher zu ihr und sah sie an. »Oder uns im Mondschein küssen.«
»Mag sein«, sagte sie leise.
Er neigte seine Lippen zu ihren.
»Doch ich küsse niemanden ein zweites Mal, der sich nicht erinnert, mich schon einmal geküsst zu haben.« Sie wich zur Seite aus und ging Richtung Tür.
»Dann ein Tanz«, sagte Nate hastig. »Gewähren Sie mir zumindest die Chance, mich an einen Tanz zu erinnern.«
Sie blickte sich über die Schulter zu ihm um. »Na schön. Ich würde es allerdings vorziehen, wenn wir die Bibliothek getrennt verlassen. Es wäre mir höchst unangenehm, für Gerede zu sorgen.«
»Dann sehe ich Sie auf der Terrasse?«
Sie warf ihm ein strahlendes Lächeln zu, worauf sich Nates Herz merkwürdig benahm. »Darauf dürfen Sie zählen.«
Mit diesen Worten rauschte sie aus dem Raum und ließ Nate allein zurück, der auf die geschlossene Tür starrte.
Wer war sie? Sie kam ihm bekannt vor, aber er konnte sie beim besten Willen nicht zuordnen. Auf keinen Fall hätte er eine solch bezaubernde Frau vergessen. Nate hatte stets eine Schwäche für hübsche Damen mit dunklem Haar und blauen Augen gehabt, ganz besonders wenn sie auch noch klug waren. Und dass Letzteres auf diese zutraf, stand außer Frage. Gewiss zählte sie nicht zu den diesjährigen Debütantinnen. Dafür trat sie viel zu sicher auf. Außerdem konnte sie nur wenig jünger als Nate sein. Vielleicht war er ihr auf einer seiner Reisen begegnet. Da war ein Hauch von Akzent in ihrer Stimme. Er – Sie war absolut bezaubernd. Nein, er würde sich erinnern, hätte er sie im Mondschein geküsst.
Und mit etwas Glück würde er es bald wieder tun. Und es diesmal nicht vergessen.
Gütiger Gott, was war über sie gekommen?
Gabriella eilte den Korridor entlang und zwang sich, ruhig zu bleiben, als sie in den Ballsaal zurückging. Dort mischte sie sich unter die Menge, blieb jedoch eher am Rand, bis sie die offenen Terrassentüren erreichte.
Natürlich hatte sie sich schon mit anderen Männern auf kleine Plänkeleien eingelassen, doch noch niemals so kühn. Sie hatte es bei Nathanial Harrington gar nicht vorgehabt. Es war einfach geschehen, wie von selbst. Und sie konnte nicht einmal behaupten, den Mann zu mögen. Vielmehr verachtete sie ihn und seinen Bruder. Dennoch konnte sie nicht leugnen, dass er charmant und gut aussehend war – mit seinem dunklen, teils sonnengebleichten Haar, dem teuflischen Funkeln in den braunen Augen und den breiten Schultern. Er hatte jenes verwegene Lächeln, bei dem eine Frau sich fragte, was er Unangemessenes denken mochte. Und warum diese unanständigen Gedanken so überaus faszinierend waren.
Sie hatte überhaupt nicht geplant, mit ihm zu sprechen. Ja, sie hatte sich nicht einmal überlegt, was sie sagen könnte, falls sie in der Bibliothek entdeckt wurde. Der Brieföffner lieferte ihr eine ideale Ausrede. Wäre Harrington einen Moment später erschienen, hätte er sie beim Aufbruchversuch ertappt. Und den hätte sie unmöglich erklären können.
Sie schlüpfte durch die Türen hinaus auf die Terrasse, wo sie auf die Stufen zusteuerte, die in den Garten hinunter führten. Er hatte gesagt, sie käme ihm bekannt vor, was nicht gut war. Hoffentlich lenkte ihn der ganze Unsinn über Tanzen und Küsse im Mondlicht ab. Er durfte nicht herausfinden, dass sie es war, die ihn in Ägypten angesprochen hatte. Dort nämlich hatte er sie für einen Mann gehalten, den Bruder ihres Bruders, und das sollte er auch weiterhin denken.
An der obersten Stufe blieb sie stehen und trat einen Schritt beiseite, um ein junges Paar vorbeizulassen, das offensichtlich seine eigenen unanständigen Gedanken hegte. Das Schlimmste an der Begegnung mit Mr Harrington war, dass Gabriella sie genossen hatte. Da war ein Hauch von Gefahr gewesen, der berauschend wirkte. Und mit ihm zu spielen hatte ihr sehr großen Spaß gemacht. Allein sein unglücklicher Blick, als sie ihm sagte, sie hätten sich einst geküsst, war höchst befriedigend gewesen. Und verdiente er es nicht? Hatte er ihr nicht gesagt, sein Bruder wäre in die Türkei gereist? Sie war entschlossen gewesen, ihm dorthin nachzureisen, als Xerxes erfuhr, dass beide Brüder getrennt auf dem Rückweg nach England waren. So oder so war jenes Unternehmen ebenso erfolglos gewesen wie das heute Abend.
»Hatte ich Sie missverstanden?«, fragte Nathanial Harrington hinter ihr und kam neben sie. »Wollten wir mein Gedächtnis mit einem Spaziergang im Garten auffrischen, nicht mit einem Tanz?«
»Ich denke, ein Spaziergang mit einem Herrn, der sich nicht an den Namen einer Dame erinnert, wäre recht gefährlich.« Teufel noch eins, warum war sie nicht gegangen, als sie noch die Chance dazu hatte? Aber an einem einzigen Tanz war im Grunde nichts auszusetzen. Eine winzige Stimme in Gabriellas Kopf sagte ihr, dass sie deshalb getrödelt hatte. Unsinn! Gabriella wischte den Gedanken fort, dass sie womöglich mit ihm tanzen wollte.
»Ja, selbstverständlich.« Er verneigte sich. »Eine Dame wäre fürwahr närrisch …«
»Ich meinte, gefährlich für den Gentleman.« Gott stehe ihr bei, aber dies hier war spaßig!
Er sah sie an und lachte leise. »Nun gut, alsdann«, sagte er und wies zur Tanzfläche. »Wollen wir?«
»Ich liebe es, Walzer zu tanzen«, murmelte sie und nahm seinen Arm. Es war das Ehrlichste, was sie bisher zu ihm gesagt hatte. Er führte sie unter die Tanzenden, und kurz darauf war sie verloren.
Sie liebte den Walzer wirklich. Sie genoss es, wie die Musik ihre Seele einfing und sie entführte an einen Ort, in eine Zeit und in ein Leben, die es einzig in ihren Träumen gab. Und nur für Menschen wie Regina Harrington, die einen Earl zum Bruder und eine Familie hatten, die bereitwillig alles taten, um ihr Glück und einen Platz zu geben, an den sie gehörte. Nicht für Leute wie Gabriella Montini, die einsam unter Verwandten aufwuchs, denen nichts an ihr lag, bis sie von einem Bruder aufgespürt wurde, der sie von einer Expedition oder Schatzsuche zur nächsten schleppte.