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Carl Hedin hat sich in kürzester Zeit zu einem der beliebtesten Reiter Schwedens entwickelt. In seiner Autobiografie "Der Pferdejunge" spricht er über seine Reise von dem kleinen Jungen, der gemobbt wurde, weil er gerne mit Stockpferden spielte, über den Teenager, der verbarg, dass er in den Reitstall ging, bis hin zu seinem Erfolg als bekannter Dressurreiter. Er beschreibt seinen Weg, der von Beharrlichkeit und Mut geprägt ist und bietet viel Identifikation für alle, die sich schwer tun, ihren Platz im Leben zu finden.
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Seitenzahl: 255
Inhalt
Einführung | 2021
Kapitel 1 | Strawberry – ein Tritt in die richtige Richtung
Kapitel 2 | Classic Memory – höher, schneller, weiter
Kapitel 3 | Arthur – ein Hundeleben im Hause Hedin
Kapitel 4 | Petit Fleur – Träume und Alpträume
Kapitel 5 | Solid – schon wieder ein Dressurpferd
Kapitel 6 | Wictory D – der beste Sommer aller Zeiten
Kapitel 7 | Östra Plugghästen – vom Amateur in Richtung Profi
Kapitel 8 | Kavaler – auf dem Weg zum Bereiter
Kapitel 9 | Brilliant – ein Unfall mit weitreichenden Folgen
Kapitel 10 | Feu d’Or – Begegnung mit einer Legende
Kapitel 11 | Kataleis Vilja – aus der Traum?
Kapitel 12 | Simmebros Chabot – ein Ausritt bei den Royals
Kapitel 13 | Memphis – Kickstart ins Unternehmertum
Kapitel 14 | Mr Grey – ein Vortrag im „Circus maximus“
Kapitel 15 | Lily de Debois – die Schattenseiten der Öffentlichkeit
Kapitel 16 | Fortunity S – vom Rohdiamant zum funkelnden Edelstein
Kapitel 17 | Lucas – mein ganz persönliches Wunder
Kapitel 18 | Iris – erwachsen werden und immer man selbst bleiben
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EINFÜHRUNG
2021
Wir haben den 11. Juli 2021. Sanftes Abendlicht liegt über dem riesigen Turniergelände von Falsterbo. Einige wenige Besucher drücken sich hier noch herum und schlendern im Messebereich zwischen den Verkaufsständen umher. Vielleicht hoffen sie auf ein letztes Schnäppchen, bevor sich die Turnier-Tore bis morgen schließen.
Doch dieses Jahr ist alles anders. Wegen der Coronapandemie finden die klassischen Wettbewerbe bloß in deutlich kleinerem Rahmen und mit nur 500 Besuchern pro Tag statt. Aber selbst, wenn es nicht so ist wie immer, konnte sich trotzdem das berühmte Falsterbo-Gefühl einschleichen, und über allem liegt ein Duft von Sommer, überteuertem Cateringessen und Pferd. Gedämpfte Geräusche dringen vom Lkw-Parkplatz herüber und im Park wimmelt es vor Pferden, die zum Grasen geführt werden. Alles genauso, wie es sein soll.
Ich gehe schnellen Schrittes über das Gelände, das sich immer weiter leert. Mein Hund Iris trabt brav neben mir her. Sie findet nie, dass ich zu schnell bin. Ich habe gerade der Agria Tierversicherung ein Fernsehinterview über nachhaltige Pferdehaltung gegeben und bin jetzt auf dem Weg zu einem Treffen mit der Miteigentümerin meines Pferdes, Ulrika Bynander. Wir wollen bei einem Abendessen im Restaurant Badhytten am Strand von Skanör feiern, dass unser gemeinsames vierjähriges Pferd seine erste Prüfung gewonnen hat. Meine Pferde und ich sind dieses Jahr stark in die Saison gestartet. Sowohl Rufus, Dantes und Specter als auch mein Augenstern Lucas sind ins Finale gekommen. Ich hole rasch mein Telefon raus und schreibe eine knappe SMS: „Komme etwas später, stell schon mal den Champagner kalt.“
Jetzt erst sehe ich, dass Mama mir gesimst hat: ein Herz und ein Frosch-Emoji.
Sie schreibt immer, nachdem ich eine Prüfung geritten bin. Ich schicke ein Herz zurück, damit sie weiß, dass ich ihre Nachricht gesehen habe.
Kurz bevor ich das Tor erreiche, durch das ich das Turniergelände verlasse, komme ich an einem riesigen Reklameschild für die Reitbekleidungsmarke Maya Delorez vorbei, auf dem ich in Überlebensgröße abgebildet bin. Gerade habe ich bei denen eine eigene Kollektion herausgebracht und auf dem Foto trage ich Kleidung, an deren Entwurf ich über ein Jahr gearbeitet habe. Shit, auf dem Bild sieht meine Nase irgendwie größer aus als ich selbst, schießt es mir durch den Kopf, während ich weiterhaste.
Nach einigen Metern werde ich von einer Mutter angesprochen, die auf mich zugeeilt kommt. Hinter ihr steht ein Teenager, der schüchtern zu Boden schaut.
„Mein Sohn Anton folgt dir auf Instagram. Hast du kurz Zeit für ein Foto mit uns?“, fragt sie.
„Sicher doch, so viele ihr wollt“, antworte ich.
Wir machen ein paar Selfies, dann frage ich Anton, ob er selbst auch reitet und ob es ihm Spaß macht. Als wir zu Ende gequatscht haben, merke ich, dass Iris weg ist. Ihr war es wohl zu langweilig.
Ich muss sie ein paarmal rufen, bevor sie mit einer Serviette in der Schnauze unter der Tribüne hervorkommt. Ich will lieber nicht wissen, was in dieser Serviette vorher drin war, denke ich und eile weiter.
Bevor ich mich auf den Drahtesel schwinge – das Fahrrad, das ich von Familie Jönsson, meinen Vermietern, bekomme habe -, rufe ich noch schnell Ida und Alvida an, die die Pferde im Stall versorgen. Sie versichern mir, dass alles in bester Ordnung ist und wir uns gleich im Restaurant sehen, denn natürlich feiern sie mit uns.
Ich radle Richtung Restaurant durch den Sommerabend und als ich an einem Schulhof vorbeikomme, sehe ich zwei Jugendliche, die schaukeln und sich unterhalten. Ich muss an meine eigene Schulzeit denken und es kommen teilweise ganz schön düstere Erinnerungen hoch: Wie meine Klassenkameraden mich schief angesehen haben, wenn ich lieber Pferd spielen wollte, weil ich Fußball nicht mochte. Wie ich mich für meine Begeisterung für Pferde geschämt habe und wie ich so getan habe, als sei ich ein Weltklassereiter, obwohl ich eigentlich bloß ein Junge war, der mit Steckenpferden spielte.
Ich trete schneller in die Pedale. Iris rennt neben mir her und ich schaue hinunter auf ihre Pfoten. Faszinierend, wie schnell sie vorankommt, obwohl ihre Beine bloß 30 Zentimeter lang sind. Von unten herauf breitet sich ein Gefühl von Wärme in mir aus. Fast wie eine Welle schwillt es in mir an und ich realisiere, dass mir gleich die Tränen kommen. Ich bin so unglaublich dankbar, im Leben dort zu stehen, wo ich stehe, dass ich mich selbst in den Arm kneifen muss, um mir zu versichern, dass es kein Traum ist. Denn davon, genau dort zu stehen, wo ich es jetzt tue, habe ich so wahnsinnig lange geträumt.
KAPITEL 1
STRAWBERRY — EIN TRITT IN DIE RICHTIGE RICHTUNG
Der Unterricht war gerade zu Ende. Ein Trupp nachmittagsmüder Fünftklässler sammelte seinen Kram zusammen und machte sich bereit heimzugehen. Im Klassenzimmer herrschte wie immer ein ziemliches Chaos, es war laut und einige Kinder rannten herum, schrien und lachten. Ein Junge in einem ausgewaschenen blauen Hoodie holte eine Spraydose hervor. Rechts auf seiner Brust war in Weiß mit schwarzem Rand „Champion“ eingestickt. Ein Zischen ertönte, gefolgt von einem Schrei und noch mehr Gelächter. Mitten im Raum stand unsere Lehrerin. Ein großer Klecks weißer Schaum klebte ihr im Gesicht und tropfte auf ihren Pullover herab. Ob es sich dabei um Rasierschaum oder Sprühsahne handelte, weiß ich nicht. Nur dass das nicht ins Gesicht unserer Lehrerin gehörte, war glasklar. Ich sah mich also gezwungen, mich einzumischen, und sagte etwas Spöttisches zu dem Jungen, der die Lehrerin angesprüht hatte. Er wandte sich mir zu und ich konnte sehen, wie seine Augen aufblitzten. Plötzlich verschob sich die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse von dem weißen Zeug im Gesicht unserer Lehrerin auf den Jungen, der einen Baseballschläger aus seinem Rucksack holte. Da kapierte ich, dass ich mich schleunigst davonmachen sollte.
Ich rannte zur Tür, stieß sie mit aller Kraft auf und stürzte mich in den Schulflur. Ich lief so schnell, dass meine Schritte auf dem Steinfußboden hallten, gefolgt von dumpfen, schweren Schritten. Mir fiel ein, dass ich den Schleichweg durch die Aula nehmen könnte, dann die Wendeltreppe hinauf, die schon Hunderte Paar Kinderfüße hinuntergerannt waren. Die Treppenstufen waren nach all den Jahren stark abgenutzt und man konnte leicht darauf ausrutschen. Kleine Fossilien waren in den Steinplatten zu erkennen. Ich musste an die Erdkundestunde denken, die wir einmal dort verbracht hatten, um die kleinen prähistorischen Tierchen abzumalen und sie danach in unterschiedliche Kategorien einzuteilen. Und jetzt konnten sie die Verfolgungsjagd, die sich über ihnen abspielte, aus erster Hand mitverfolgen. Schließlich war ich am Haupteingang angekommen. Völlig außer Atem stieß ich die schwere Glastür auf. Wenn er eine Chance hatte, mich einzuholen, dann jetzt. Denn selbst wenn ich schneller war als er, war ich mir nicht sicher, ob ich ihm auf offenem Gelände entkommen konnte. Er war größer, stärker und vermutlich ausdauernder als ich. Wie sehr ich auch rannte, verfügte ich doch nicht über die Schnellkraft, um mich im Sprint gegen ihn durchzusetzen. Ich lief über das Baseballfeld, vorbei am Spielplatz und über den Radweg in Richtung der Grünanlage mit dem Hügel und dem Wasserturm, wo wir im Winter immer rodelten. Wieselflink schlüpfte ich zwischen die Büsche und Bäume und atmete tief durch. Das hier war mein Revier, hier war ich überlegen. Ich kannte jeden Pfad, jedes Erdloch, jeden tiefhängenden Zweig, der einem das Gesicht zerkratzen konnte, denn hier hatten die Mädchen aus meiner Klasse und ich jahrelang in den Hofpausen Pferd gespielt. Und ich wusste genau, wo ich mich verstecken konnte.
Leise schlich ich weiter, ließ mich in die Hocke sinken und spähte zwischen den Zweigen hindurch. Während ich noch nach Luft schnappte, erkannte ich etwas Blaues, das sich dem Gebüsch näherte. Das war er, der Typ mit dem Hoodie. „Ich weiß, dass du da drin bist. Komm raus, damit ich die Scheiße aus dir rausprügeln kann, du verdammte Schwuchtel!“, rief er. Dann sah er sich noch mal um, aber anstatt ebenfalls ins Gebüsch einzutauchen, drehte er sich um und verschwand in Richtung Schule. Ich war davongekommen, dieses Mal zumindest. Als ich mich wieder aufrichtete, um nach Hause zu gehen, fiel mir ein, dass meine Schultasche noch über meinem Stuhl im Klassenraum hing. Aber jetzt konnte ich sie unmöglich holen gehen. Also machte ich mich auf den Heimweg, fest entschlossen, nie wieder hierher zurückzukehren.
Im schwedischen Ort Borås der Zweitausenderjahre waren Pferde das Lächerlichste, mit dem man sich beschäftigen konnte. Vor allem, wenn man ein Junge war. Die Jungs in Borås spielten Fußball, sie ritten nicht. Und sie spielten auch ganz bestimmt nicht mit Steckenpferden, so wie ich. Außerdem hatte sich in der fünften Klasse innerhalb kurzer Zeit eine ganze Menge verändert. Vorher hatte sich niemand sonderlich darum geschert, was andere machten. Wir waren Kinder und spielten einfach, so oft wir konnten. Was man spielte oder mit wem, war nicht wirklich von Belang. Soziale Codes kannten wir da noch nicht. Doch jetzt steckten wir plötzlich alle in einer neuen Phase, in der sich jede und jeder seiner selbst viel bewusster war, in der auf einmal zählte, was andere von einem dachten. Es herrschte plötzlich eine starke Herdenmentalität in der Schule und man wollte am liebsten so sein wie alle anderen. Wer irgendwie aus der Masse herausstach, wurde ganz leicht zur Zielscheibe.
Selbst wenn ich zu den kleineren Jungs in der Klasse gehörte, hatte ich immer schon viel Raum eingenommen. Ich saß seit jeher in der ersten Reihe und sprach mit lauter, heller Fistelstimme. Viele in meiner Klasse empfanden mich wohl als Störenfried, und das war ich sicher auch, frech obendrein. Es gab immer mal wieder Konflikte, weil ich Dinge auf meine Weise machen wollte oder ich mich weigerte, Sachen zu machen, die mir nicht wichtig erschienen.
Ab der Fünften wurde zudem deutlich, dass ich mit den anderen Jungs aus meiner Klasse nicht viel gemeinsam hatte. Ich passte nicht richtig rein, weil ich mich noch nie für Ballsportarten interessiert hatte oder dafür, mit Waffen aus Plastik Krieg zu spielen. Sicher war ich – wie alle – eine Weile im Fußballverein, doch ich konnte das ganze Gerangel bei Strafstößen nicht leiden und trat schnell wieder aus. Ein paar Tennisstunden nahm ich auch, aber da machte es mir mehr Spaß, mit dem Ballwagen rumzufahren, als meine Vorhand zu trainieren. Dass ich lieber mit den Mädchen abhing, triggerte die anderen Jungs in der Schule. Und mein Interesse für Pferde gab ihnen einen weiteren Anlass, mich zu ärgern oder zu provozieren.
Wenn es in der Schule richtig schlimm war, versuchte ich, auf krank zu machen, bloß um nicht dorthin zu müssen. Ich erzählte Mama morgens, wenn sie mich weckte, ich hätte Bauchschmerzen, obwohl das nicht stimmte. Manchmal zog ich mir auch mit dem Fieberthermometer unter der Achsel die Decke über den Kopf. Wenn ich nur lange genug darunterblieb, würde mir schon so heiß werden, dass ich als krank durchging und zu Hause bleiben durfte. Aber das funktionierte nicht so richtig gut.
Beinahe jeden Tag gab es in der Schule Stunk. Wir hatten eine Klassenlehrerin, auf die niemand hörte und die es auch nicht schaffte, die Klasse zur Ordnung zu rufen. Sie vermittelte eher den Eindruck, dass das, was sie sagte, nicht weiter wichtig war. Wieder und wieder forderte die Klasse sie heraus und ich war ganz eindeutig ein Teil des Problems. Wenn jemand Streit mit mir anfangen wollte, ließ ich mich drauf ein. Es war zwar nicht so, dass wir uns im Klassenzimmer prügelten, doch ich setzte mich zur Wehr und hielt – stur wie ich bin – immer dagegen, was es natürlich nur umso schlimmer machte. Wenn ich in meiner Widerrede nicht überzeugend genug war und Unsicherheit zeigte, machten die anderen nur umso lieber weiter. Ein Teufelskreis entstand. Ich war in der Klasse nicht gut aufgehoben und an dem Tag mit dem Baseballschläger eskalierte der Konflikt.
Später an diesem Tag berichtete ich Mama und Papa, was vorgefallen war. Sie hatten schon mitbekommen, dass irgendwas schieflief, aber nicht, wie schlimm es bereits war. Ich schämte mich für die ganze Situation, betrachtete es als eine peinliche Niederlage, dass ich nicht in die Klasse passte. An diesem Abend riefen sie ein paar Bekannte an, deren Kinder andere Schulen besuchten, um sich nach Alternativen umzuhören. Papa führte ein ernstes Gespräch mit der Schulleitung und war sehr aufgebracht, dass die Schule nicht früher eingegriffen hatte. Es war nämlich nicht das erste Mal, dass meine Klasse zur Sprache kam, und es gab wohl noch ein paar andere Kinder, die unter unseren Mitschülern zu leiden hatten. Meinen Eltern war sehr daran gelegen, etwas an der Situation zu ändern, und das führte schließlich dazu, dass ich die Schule wechseln durfte.
In der Sechsten fing ich an einer Montessorischule in Borås an. Der Wechsel sollte zu einem wichtigen Wendepunkt in meinem Leben werden, denn ich hatte einen Entschluss gefasst: In der neuen Klasse würde ich vom ersten Tag an ganz ich selbst sein, geradeheraus einfach nur Carl sein. Ich war zwar erst 13 Jahre alt, aber mir war bereits vollkommen klar, dass sich mein Leben einmal ganz um Tiere und Pferde drehen sollte. Und dieses Mal sollte mir das niemand nehmen oder dafür sorgen, dass ich mich deswegen schlecht fühlte.
Am ersten Schultag wollte Mama mich hinbringen und sie sah ein wenig besorgt aus, als ich in einem braunen Cord-Jackett und mit einer roten Mütze auf dem Kopf die Treppe herunterkam. Ich stieg ins Auto, und als wir da waren, bat ich sie, mich bloß abzusetzen. Sie wollte nämlich eigentlich mit reinkommen, doch ich bestand darauf, allein zu gehen. Zwar wusste ich weder, wo mein neues Klassenzimmer war, noch, auf wen ich dort treffen würde, doch ich wusste, dass dies meine Chance auf einen Neustart war. Und die wollte ich nutzen – auf meine Weise.
Später hat Mama mir mal erzählt, wie nervös sie an diesem Tag gewesen ist. Sie war den ganzen Vormittag nur sinnlos auf und ab gegangen und hatte auf einen Anruf aus der Schule gewartet oder darauf, dass ich plötzlich vor der Tür stehen würde. Doch als sie mich einige Stunden später abholte, war ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht vom Schulhof galoppiert gekommen und hatte sogar noch das Cord-Jackett und die Mütze an. Da konnte sie endlich durchatmen.
Vieles wurde an der neuen Schule besser. Ich fand dort ein integrativeres Umfeld und die Chemie zwischen den anderen Kindern und mir stimmte einfach. Und ich habe gelernt, keine Zeit mehr auf die Energieräuber in der Klasse zu verschwenden, sondern mich mit Leuten zu umgeben, in deren Gesellschaft ich mich wohlfühlte.
Aber selbst, wenn meine Schulzeit manchmal ganz schön belastend war, habe ich mich zu Hause bei meiner Familie immer vollkommen aufgehoben gefühlt. Wir wohnten in einem gelben Einfamilienhaus neben einem Park nahe der Innenstadt von Borås. Wir, das waren neben mir Mama Hélen, Papa Joakim, meine beiden Schwestern Madelene und Cecilia, die sieben und vier Jahre älter sind als ich. Und natürlich unser Hund Douglas.
Meine Eltern und meine Schwestern waren es gewohnt, dass ich die meiste Zeit unser gesamtes Erdgeschoss zu einem Springparcours umfunktionierte. Sowie sich die Gelegenheit bot, baute ich Hindernisse aus Stühlen, Tischen, Stoffballen, Staubsaugern und Besenstielen und galoppierte mit meinem schwarzen Steckenpferd drauflos.
Beim Hindernisbau war mir wichtig, dass die Sprünge genauso aussahen wie bei den Parcours, die ich im Fernsehen gesehen hatte. Und da standen immer Blumen neben den Hindernissen. Also nahm ich Mamas Blumentöpfe. Mindestens ebenso wichtig war, dass die Sprünge von Fangständern umrahmt waren, die möglichst auch noch dieselbe Farbe haben sollten. Mama hingegen liebt es, ganz unterschiedliche Pflanzen und Blumentöpfe zu haben, daher war es eine ziemliche Herausforderung, je zwei gleiche Pflanzen zu finden. Gelegentlich verwendete ich auch zwei riesige Hundefiguren aus Porzellan als Fangständer, denn ich hatte gehört, dass man mit Pferden üben musste, über optisch beeindruckende Hindernisse zu springen. Und was wäre wohl beeindruckender als zwei einen halben Meter hohe Scotch Terrier aus Porzellan? Da Teppiche auf den glatten Böden böse Stolperfallen darstellten, schob ich sie sicherheitshalber in einer Zimmerecke zusammen – sofern ich sie nicht als gruselige Wassergräben unter meinen Hindernissen verwendete. Alles, was halbwegs als Hindernis taugte, zerrte ich hervor und verwandelte es in Kreuzsprünge, Ricks oder mächtige Oxer und bedachte dabei sogar, wie viele Galoppsprünge Abstand ich zwischen den einzelnen Hindernissen einhalten musste. Dann zog ich mir Shorts an, denn die erlaubten mehr „Schulterfreiheit“ als jedes andere Kleidungsstück, und ritt an die Startlinie heran.
Die Hindernisstrecke begann mit einer Umrundung unseres ovalen Küchentischs, gefolgt von einem Sprung über eine ausgezogene Küchenschublade, auf der ein Stoffballen lag. Dann ritt ich hinaus in den Flur, wo zwei scharfe Kurven auf mich warteten. Hatte ich das Steckenpferd in der ersten nicht unter Kontrolle, lief ich Gefahr, die Kellertreppe hinunterzustürzen. Und wenn ich in der zweiten Kurve nicht auf den äußeren Zügel aufpasste, landete ich im Hauseingang mit der dunklen Holztür. Aus der zweiten Kurve heraus musste ich das schwierigste Hindernis anreiten: einen Oxer von etwa 80 Zentimetern (gefühlte Höhe: ein Meter fünfundfünfzig). Er bestand aus zwei parallelen Stoffballen, die ich zwischen den Glastüren zu unserem Wohnzimmer festgeklemmt hatte. Da musste ich echt Acht geben. Mehr als einmal blieb ich mit dem linken Bein an der hinteren Stange hängen. Oder aber das Bein verhakte sich an einer der Glastüren, was sich in etwa so anfühlte, als ob mein restlicher Körper einfach ohne das Bein weiter durch die Luft segelte. Gelegentlich schaffte ich es auch nicht, mein anderes Bein rechtzeitig für die Landung auszustrecken und schlug so hart mit der Kniescheibe auf dem Boden auf, dass der Schmerz bis in den Oberschenkel ausstrahlte. Und kam ich zu schnell angeritten, konnte es vorkommen, dass ich die Kurve nicht kriegte und direkt in den Türrahmen krachte. Doch das musste ich in Kauf nehmen, wenn ich den Parcours schnell und fehlerfrei reiten wollte. Zum Glück ging dabei aber nie eine der Glastüren kaputt. Oder noch schlimmer: Papas heißgeliebter Bang & Olufsen Fernseher. Im Esszimmer ließen sich die Teppiche nicht wegräumen, also konnte ich dort nicht ganz so hoch springen. Stattdessen legte ich vier Sofakissen hintereinander zu einer Sprungreihe. Schließlich war es auch wichtig, die Reaktionsgeschwindigkeit der Beine zu trainieren. Danach wendete ich, umrundete noch einmal den Fernseher und war wieder am Anfang angekommen. Runde um Runde sprang ich, bis ich klitschnass geschwitzt war. Ich trainierte mit den unterschiedlichsten Abständen, legte einen Galoppsprung drauf oder nahm einen weg, grübelte darüber nach, wie sich das auf den Sprung auswirkte, und spürte nach, wie es sich im Körper anfühlte. Ich testete, wie es war, zu überspringen oder im Sprung nach hinten auszuschlagen, so wie es manche Pferde im Fernsehen machten. Mit einer Eieruhr maß ich, wie viele Sekunden ich pro Runde brauchte. In den ersten Umläufen war ich immer am schnellsten, dann schoss die Milchsäure in meine Muskeln und es wurde immer schwerer, präzise zu springen.
Da ich mir jedoch das Haus mit vier anderen Familienmitgliedern teilen musste, hatte ich immer nur begrenzt Zeit zum Üben. Also stand ich an den Wochenenden zeitig auf und sprang meine Runden, bevor noch jemand anderes im Haus wach war. Manchmal waren die anderen auch unterwegs und wenn ich Glück hatte, riefen sie an und sagten, dass es spät werden würde. Das fand ich immer am besten, denn dann wusste ich, dass ich reichlich Zeit und das Haus ganz für mich hatte.
Mama rief manchmal auch nur an, um zu fragen, was ich machte. „Nichts“, antwortete ich dann. Aber sie wusste ganz genau, dass ich dann mein Steckenpferd ritt.
Das war meine eigene Welt und am liebsten hätte ich niemand anderen dorthinein gelassen. Doch im Teenageralter wusste ich schließlich, dass ich nun zu alt war, um mit Steckenpferden zu spielen. Doch obwohl ich mich dafür schämte, machte ich weiter.
Erst als Erwachsenem wurde mir bewusst, dass die Nachbarn und alle anderen, die an unserem Haus vorbeigegangen waren, mich durch die Fenster gesehen haben mussten. Die haben sich bestimmt über den kleinen Wildfang mit den dünnen Beinen und dem üppigen blonden Haarschopf gewundert, der stundenlang von Zimmer zu Zimmer gesprungen war.
Im Sommer verlegte ich meinen Springparcours immer nach draußen. Wir verbrachten dann viel Zeit in unserem Sommerhaus in Glommen, außerhalb von Falkenberg, und dort konnte ich meine Hindernisse im Garten aufstellen. Gelegentlich fuhren dort Autos vorbei, dann tauchte ich ab und versteckte mich, bis sie weg waren. Aber natürlich haben alle kapiert, was ich da machte. Schließlich stand ein vollständiger Hindernisparcours in unserem Garten. Und wer sollte den schon absolvieren? Unser fauler Mischlingshund Douglas jedenfalls nicht. Der lag die ganze Zeit unter dem Apfelbaum und sah gelangweilt zu, wie ich unermüdlich im Garten trainierte. Und das war der Punkt, den die Leute nie kapierten: Das war kein Spiel, das war Training.
Allerdings interessierte ich mich nicht ausschließlich für Steckenpferde, sondern für alles, was mit Tieren zu tun hatte – und meine Fantasie kannte keine Grenzen. Lange bevor ich mit dem Steckenpferdreiten begann, wurde schon aus dem Sandkasten ein Tierpark mit Krokodilen, Giraffen und Löwen. Darin kleine Inseln zu schaffen, ein kleines Delta aus Flüsschen und Bächen, die die einzelnen Lebensräume voneinander trennten, war die halbe Miete. Die Antilopen brauchten größere Areale, denn sie leben in der Steppe, und die Koalas kamen mit weniger Platz aus, weil sie hauptsächlich auf Bäumen leben. Ich setzte Pflanzen und plante sehr genau, wie mein Tierpark aussehen sollte, damit sich die Tiere darin so wohl wie möglich fühlten. Ebenso spielte ich mit Playmobil und stellte den Spielzeugpferden Springparcours im Miniaturformat auf. Aus Tackern, Büchern und Videokassetten wurde ein Querfeldeinparcours, mit Wasser gefüllte Brotdosen funktionierte ich zu Wassergräben um. Der eigentliche Spaß bestand im Planen und Bauen – wenn meine Parcours fertig waren, riss ich alles wieder ein und fing von vorne an.
Sobald ich etwas älter war, verlegte ich das Planen und Bauen auf den Computer, indem ich das strategische Computerspiel Zoo Tycoon spielte. Darüber hinaus habe ich als Kind unzählige Naturdokus gesehen. Dass Papa im Vertrieb von National Geographic Schweden arbeitete, war dabei ein großes Plus. Ich bin buchstäblich mit Arne Weises tiefer Stimme im Kopf aufgewachsen. Wenn ich die Augen schließe, höre ich sofort, wie er von den verschiedenen Tierarten und ihren spezifischen Eigenheiten spricht. Wenn es nicht um Bären in Alaska ging, waren es Orcas in den Gewässern der Lofoten. Ich war vollkommen fasziniert von der Tierwelt und wollte mich unbedingt mit ihr auskennen. Warum waren Pferde Beutetiere und Hunde Raubtiere? Wie war es dazu gekommen? Und wie wirkte es sich auf ihr Verhalten aus? Was unterschied uns Menschen, die wir ebenfalls Tiere waren, von all unseren Mitgeschöpfen? Waren sich Tiere ihrer selbst bewusst oder lebten sie rein instinktiv? Und was bedingte, dass manche Tiere als „intelligent“ bezeichnet wurden?
Sobald sich die Gelegenheit bot, mit irgendeiner anderen Spezies als dem Menschen in Berührung zu kommen, war ich sofort dabei. Und in meiner Kindheit war ich auf allen Seiten umgeben von Tieren, nicht bloß in meiner Fantasie. Meine Schwester besaß ein Pony, das ihr unser Großvater, Tore Carlerbäck, geschenkt hatte. Er war ein waschechter Reitersmann und hat seinerzeit den Reitverein von Borås mit ins Leben gerufen. Außerdem hat Opa in den 1960er Jahren unser Sommerhaus in Glommen gekauft. Neben dem Haus gab es noch einen einfachen Stall und genug Grund, um ein paar Pferde darauf zu halten. Über den Sommer stand das Pony meiner Schwester dort immer mit den Pferden meiner Cousine Viktoria Carlerbäck auf der Weide.
Meine erste Begegnung mit einem echten Pferd hatte ich mit fünf Jahren, allerdings verlief die nicht sonderlich gut.
Die Reitstunde im Reitverein von Borås geht gerade zu Ende. Die Reiterinnen und Reiter lenken ihre Pferde auf die Mittellinie und halten. Meine große Schwester Madelene ist eine von ihnen. Mama und ich verlassen die Tribüne in Richtung Stall, um Madelene dort abzuholen. Wir schlendern durch die Stallgasse, spitzen in die leeren Boxen und warten. Hufgeklapper auf dem Stallboden und Stimmengewirr zerreißen die Stille. Alle, die an der Reitstunde teilgenommen haben, kommen mit ihren Ponys gleichzeitig zurück in den Stall und es geht recht turbulent zu. Die Pferde werden eins nach dem anderen an mir vorbeigeführt. Sie sind echt groß und ich weiß nicht so recht, wo ich mich hinstellen soll, um nicht im Weg zu sein. Mama legt mir die Hände auf die Schultern. Eines der Pferde, das mit schweren Schritten an mir vorbeischreitet, ist das Fjordpferd Strawberry. Es hat eine dicke Stoppelmähne und kaut bedächtig auf dem Gebiss, das ein bisschen zu weit am Maulwinkel sitzt. Es ist Frühherbst, doch Strawberry ist bereits am ganzen Körper geschoren. An ihrem rechten Oberschenkel hat jemand versucht, den Umriss einer Erdbeere ins Fell zu rasieren. Doch es sieht eher wie eine Beule mit Haaren aus, fast schon wie ein behaartes Muttermal.
Als Strawberry an einem anderen Pferd vorbeigeht, das bereits in seiner Box steht, legt sie die Ohren an. Wahrscheinlich sind sich die beiden Pferde zu nahe gekommen und es entsteht gerade ein kleiner Rangordnungsstreit, wie er hin und wieder innerhalb einer Herde vorkommt. Strawberry bleibt ruckartig stehen und das junge Mädchen, das sie am Zügel führt, begreift nicht, was hier gerade abgeht. Jetzt dreht sich Strawberry zu dem anderen Pferd um, gibt ein Quieken von sich und schlägt mit der Hinterhand aus. Nur leider stehe ich zwischen den beiden Pferden und der Huf trifft mich mit einem dumpfen Schlag in die Magengrube. Ich habe das Gefühl, als ob alle Luft plötzlich aus meinen Lungen entweicht, wie bei einem Furzkissen, auf das sich jemand setzt. Ich ringe nach Luft, ein brennender Schmerz macht sich breit, und anstatt Luft zu holen und neue Energie einzusaugen, verfalle ich in einen stummen Schrei. Jetzt sterbe ich, da bin ich ganz sicher. Doch nichts passiert. Mama fährt zu mir herum, beugt sich zu mir herab und sieht mich erschrocken an. Ich bekomme zunächst kein Wort heraus, doch dann lässt der Schreck langsam nach. Ich bekomme wieder Luft. Und ich bin noch ganz. Mama ist ganz schön abgebrüht. Ich bin der Jüngste in der Familie und als sie merkt, dass alles mit mir in Ordnung ist, versucht sie, das Ganze routiniert runterzuspielen: „Na ja, ist ja noch mal gut gegangen. Komm, Carl, wir gehen schon mal raus“, sagt sie beruhigend und geht mit mir aus dem Stall.
Es war kein gefährlicher Tritt, den ich da abbekommen hatte, aber ich habe mich doch ganz schön erschreckt. Ich fing zwar nicht an zu weinen, hatte aber seitdem Angst vor Pferden und wollte künftig nichts mehr mit ihnen zu tun haben, geschweige denn in ihre Nähe kommen. Nach diesem Vorfall weigerte ich mich, Mama und Madelene in den Reitstall zu begleiten. Da ich aber noch zu klein war, um allein zu Hause zu bleiben, wartete ich stattdessen im Auto auf sie und spielte Gameboy oder mit dem Griff der Autotür. So ging das zwei Jahre lang. Jede Woche blieb ich im Auto sitzen, sogar wenn meine Schwester an einem „Blaubeerspringen“, einer Springreitstunde mit Wettkampfcharakter, teilnahm.
Aus sicherer Entfernung blieb ich dennoch fasziniert von Pferden und spielte weiterhin in meiner Fantasie mit ihnen. Ich sah mir Naturdokus über amerikanische Wildpferde an, baute Stallungen und spielte Turnierreiter, wann immer sich die Gelegenheit ergab. In meiner Fantasiewelt ging ich mutig und selbstsicher mit den großen Tieren um, die „Angst riechen“, doch in Wirklichkeit traute ich mich nicht, mich ihnen zu nähern.
Allerdings war es schwierig, sie ganz zu meiden, wenn wir in unserem Sommerhaus waren. Meine Cousine und ihre Mutter bewohnten das Nachbarhaus und luden oft zu Kaffee und Erdbeeren ein. Um zu ihrem Haus zu gelangen, musste ich zwangsläufig über eine Pferdekoppel gehen. Genau genommen waren es zwei Koppeln, die unmittelbar an unserem Haus durch einen vier Meter breiten Übergang miteinander verbunden waren. Nur diese schmale Passage trennte mich von den Erdbeeren. Natürlich standen die Pferde immer genau dort, im kühlen Schatten des Hauses, doch mit der Zeit entwickelte ich eine ausgeklügelte Technik, um die Koppel zu überqueren. Ich schlich mich vorsichtig an, blickte nach rechts, blickte nach links und baldowerte aus, wann ich am besten unter dem Zaun hindurchtauchte. Aus einer Naturdoku hatte ich gelernt, die Körpersprache der Pferde zu lesen und zu erkennen, wann sie am entspanntesten waren. Waren ihre Augen offen oder halb geschlossen? War eines der Hinterbeine angewinkelt? Hing die Unterlippe schlapp herunter? Nach diesen Anzeichen hielt ich Ausschau. Und ich hatte eine Riesenangst, dass die Pferde plötzlich die Ohren anlegen und mich angreifen würden. Doch wenn ich endlich beschloss, dass die Luft rein war, sprang ich leichtfüßig über die Koppel zum Garten meiner Cousine, wo die Erdbeeren auf mich warteten. Für dieses Mal war die Gefahr gebannt. I lived to see another day.
Als ich sechs war, besuchte ich im Herbst mit ein paar Klassenkameraden eine Sportschule. Ein ganzes Halbjahr lang durften wir unterschiedliche Sportarten ausprobieren. Man konnte Kanu fahren, Basketball spielen oder turnen. Ziel des Ganzen war, dass auf diese Weise mehr Kinder eine Sportart fanden, die sie dann regelmäßig weiterbetrieben. Nach ein paar Wochen stand Reiten auf dem Stundenplan. Ich würde also noch einmal in den Reitverein von Borås zurückehren müssen, den Ort, an den ich die allerschlechteste Erinnerung hatte. Und dieses Mal würde ich überdies hineingehen und mich – noch schlimmer – den Pferden nähern müssen. Alle anderen Kinder wollten reiten, und wie das so ist mit dem Gruppenzwang, hatte ich keine andere Wahl, als mich anzuschließen, die Ärmel hochzukrempeln und mich meiner Angst zu stellen, indem ich mich in den Sattel schwang. Und dieses Aufsitzen sollte mein Leben von Grund auf verändern.