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Sonderermittler Hagen Brandt erhält einen Brief, in dem der anonyme Schreiber den Mord an dem Bauamtsleiter Hartwig androht. Als Wolfram Hartwig wirklich tot aufgefunden wird, nimmt Brandt zusammen mit Kriminaltechnikerin Anne Pagels die Herausforderung an. „Pfingstschleier“ ist Hagen Brandts zweiter Fall. Dessen Schauplätze liegen im Landkreis Oberhavel in Nord-Brandenburg.
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Seitenzahl: 418
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Das Buch:
Sonderermittler Hagen Brandt erhält einen Brief, in dem der anonyme Schreiber den Mord an dem Bauamtsleiter Hartwig androht. Als Wolfram Hartwig wirklich tot aufgefunden wird, nimmt Brandt zusammen mit Kriminaltechnikerin Anne Pagels die Herausforderung an.
„Pfingstschleier“ ist Hagen Brandts zweiter Fall. Dessen Schauplätze liegen im Landkreis Oberhavel in Nord-Brandenburg.
Der Autor:
Harald Hillebrand (Jahrgang 1958) wuchs in Frankfurt (Oder) auf, lebte einige Jahre in Berlin, bis er 1998 in den Landkreis Oberhavel kam. Viele Jahre war er als Kriminalist tätig, ab 1992 als Ausbilder für Kriminalbeamte. Seit 1997 arbeitet er als Verwaltungsbeamter in Gransee.
Die Hagen-Brandt-Reihe:
Ochsenblut (2013, BoD)
Pfingstschleier (2014, BoD)
Brand(t)helfer (2014, BoD)
Weitere Roman-Veröffentlichungen:
Begegnung mit den Göttern (2006, Lerato-Verlag)
Jard – der Druidenlehrling (2005, Gipfelbuch-Verlag)
Eismenschen (2005, Lerato-Verlag)
Für alle, die immer wieder nachgefragt haben, wann der nächste Oberhavel-Krimi endlich fertig wird.
Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig. Den Ort Mühlhof gibt es nicht, ansonsten stimmen die Schauplätze des Buches im Wesentlichen mit bekannten Verhältnissen überein.
Alle verwendeten Markenzeichen verbleiben im jeweiligen Eigentum.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Epilog
„Herr Brandt, seit einem halben Jahr gehören Sie zu den prominentesten Einwohnern der Stadt Gransee. Wie fühlt man sich dabei? “
Hagen Brandt saß in einem der fünf Korbsessel, die man für die Live-Sendung im Fernsehstudio aufgestellt hatte. Im Hintergrund die für Brandenburg und Berlin so typischen Fehltritte des Geschmacks: eine Dekoration aus Palmen.
Aber sie haben gar nicht so unrecht, überlegte er, es soll schließlich wärmer und trockener werden in Brandenburg. Warum also nicht mit der Zukunft gehen, wenigstens im Bühnenbild? Er lächelte abwesend. Und als er seinen Schlips gerade rückte, polterte es in den Lautsprechern.
„Man fühlt sich gut dabei ...“ Verdammt, er hatte den Namen der Moderatorin vergessen. „Jedermann grüßt freundlich. Sogar die Mitarbeiter im Amt Gransee sind nett. Schließlich konnte das Amt von den Steuern meines Finderlohns das marode Bahnhofsgebäude sanieren. Ein Schmuckstück ist es geworden, kann ich Ihnen sagen. Ein wahres Kleinod, an dem man gern aus dem Zug steigt, weil es neugierig macht auf die Stadt Gransee. Nächsten Monat soll es eröffnet werden mit Coffee-Shop, Imbiss, Zeitungsstand und allem, was sich Pendler und Touristen wünschen.
Außerdem bekomme ich neuerdings seltener einen Korb. Wie wäre es denn mit einem Gläschen Champagner nach der Sendung? Darf ich Sie ...“
Im Studio wurde gelacht. Der erste Lacher im Publikum war Johann Paul, sein ehemaliger Chef bei der Kripo.
Hagen Brandt lächelte die Moderatorin an, obwohl ihn die beiden Frauen, die rechts und links neben Johann Paul saßen, sehr viel mehr interessierten. Die eine war Silke, seine nicht angetraute Frau, die andere Anne Pagels, mit der ihn einige Jahre gemeinsamer Arbeit bei der Kripo verbanden. Außerdem war sie seine erste große Liebe gewesen. Und sie war Pauls Tochter.
Die Moderatorin hatte unter dem dicken Puder Farbe bekommen und versuchte sich nun vor laufender Kamera mit einer scherzhaften Ablehnung, die ihr nicht recht gelingen wollte.
„Ich, also mein Mann ...“
Wieder tobte das kluge Publikum im Studio.
„Schaut er zu? Dann vielleicht ein anderes Mal“, setzte er nach. Der Mann mit dem Ruhe-Schild tobte wortlos hinter den Kameras. Die Moderatorin lächelte verzweifelt.
„Lassen Sie uns kurz über den Anlass Ihrer Berühmtheit sprechen“, sagte sie ernst. „Wohl jeder hat im Fernsehen vernommen oder in der Zeitung gelesen, dass Sie den Mörder Frank Steinert hinter Gitter gebracht haben. Wie nebenbei stöberten Sie außerdem zwei seit Jahrzehnten gesuchte NS-Verbrecher auf und lösten das Rätsel um den Schatz vom Stolpsee.
Unsere Zuschauerin Marita Platz aus Berlin möchte gern wissen, wie alles angefangen hat.“
Hagen Brandt begann dieses Frage-Antwort-Spiel Spaß zu machen. Er blickte ernst und nachdenklich in die Runde. Dann sah er die Moderatorin an und sagte: „Ich fand eine Leiche in meiner Küche.“
Die Moderatorin sah aus, als würde sie platzen. Ihre Augen sagten: Wir sind hier in einer ernsthaften Talkshow. Lassen Sie das Clownspielen. Aber sie sagte es nicht, sondern schaute auf ihren Spickzettel. „Die Zuschauerin wollte eigentlich wissen, wie Sie Sonderermittler wurden.“
„Der Anlass hätte trauriger nicht sein können: Erst fand ich die Journalistin Birgit Freier tot in ihrer Wohnung und dann fehlte qualifiziertes Ermittlungspersonal. Man hat mich gefragt, weil Mordermittlungen bis vor sechs Jahren meine Arbeit waren. Und was ich über die Leiche in meiner Küche sagte, stimmt wirklich. Sie lag unter dem Dielenboden und hieß Friedrich Bergmann.“
„Wirklich? War das nicht dieser Nazi?“ Sie hatte sich gefangen und nahm neuen Anlauf. „Wie haben Sie herausgefunden, dass das Skelett der, der ...“
„Bergmann hieß er. Von Bergmann existiert ein Fahndungsblatt aus dem Jahre 1946. Er hatte einen Goldzahn und Blutgruppe B. Und da wir ein Skelett mit Goldzahn und Blutgruppe B gefunden hatten, war der Rest nicht schwer.“
Die Moderatorin, er konnte sich noch immer nicht an ihren Namen erinnern, nickte bedeutungsvoll.
„Das muss eine spannende Arbeit sein. Und Sie hatten ja nicht nur mit Leichen und Nazis zu tun. Nur noch diese eine Frage: Wo haben Sie den Schatz vom Stolpsee gefunden?“
„Tut mir leid. Ich habe es vergessen. Das passiert in meinem Alter.“ Er lächelte gekonnt zerknirscht. „Äh, können Sie mir noch einmal Ihren Namen sagen?“
Jetzt lächelte auch sie zerknirscht, aber ernsthaft. Sie wollte jetzt nur noch fertig werden.
„Friedhelm vom Kraatzer Landleben e.V. fragt, was Sie von der Kulturpolitik der Oberhaveler Kreisverwaltung halten“, rasselte sie herunter.
„Darf ich mal zurückfragen? Was halten Sie davon?“
Die Moderatorin zuckte hilflos mit den Schultern.
„Sehen Sie, ich weiß auch nichts von irgendwelcher Kulturpolitik der Kreisverwaltung. Wie auch? Die haben wahrscheinlich alle verfügbaren Leute und Gelder in den Ausbau des Bauamtes gesteckt. Das Bauamt als Aufsichtsbehörde hat nämlich … Aber das war ja nicht die Frage.“ Er lächelte süffisant. „Und über die viel gerühmte und oft belächelte deutsche Verwaltungskultur werden Sie jetzt nicht reden wollen.“
„Erik, einundzwanzig Jahre, aus dem schönen Spreewald fragt, welche Voraussetzungen man mitbringen muss, wenn man sich bei der Kriminalpolizei bewerben möchte.“
„Zuallererst darf man nicht so vertrottelt sein wie ich.“
Als der Saal wieder tobte, hob er beschwichtigend die Hand. Er hatte das Publikum im Griff – es wurde still.
„Man braucht Abi mit sehr guten Noten. Man muss sportlich sein, kommunikativ und Gedächtnisakrobat. Letztlich hat man dann als junger Brandenburger Kriminalbeamter die Wahl, ob man lieber Grenzkriminalität, Autodiebstähle oder Wohnungseinbrüche bearbeiten möchte. Und das war jetzt mein voller Ernst.“
„Ist es denn so schlimm bestellt mit diesen ...?“
„Sehen Sie denn nicht Fernsehen? Früher gab es angeblich keine Grenzkriminalität, dann gab es keine Autodiebstähle und jetzt gibt es keine Wohnungseinbrüche, dafür Grenzkriminalität und so weiter.“
„Herr Brandt, warum so zynisch?“
„Ich? Zynisch? Nein. Ach ja, ich habe die Brandserien vergessen, die es auch nicht gibt in Oberhavel, obwohl seit vier Jahren eine Scheune nach der anderen abfackelt und inzwischen eine Belohnung von 10.000 Euro auf die Täter ausgesetzt ist. Das Einzige, was es den Medien zufolge an kriminellen Handlungen gibt, sind Kindstötungen, Männer, die ihre Frauen schlagen, Amokläufer, Gammelfleisch, bestechliche Politiker und Beamte und den BER. Warum laden Sie nicht eins dieser armen Schweine ein, die jeden Tag Autodiebstähle oder Wohnungseinbrüche bearbeiten? Die können Ihnen von der Wut der Opfer erzählen. Mehr als ich es könnte.“
„Vielen Dank für Ihre Abschlussworte. Kommen wir nun zu unserem nächsten Stargast. Hier ist Lena-Maria mit ihrem neusten Song Wann darf ich reisen - BER. Begrüßen Sie mit mir ...“
Der Kaninchenbraten schmeckte wunderbar nach Thymian. Nicht ohne Grund hatte Hagen Brandt im letzten Jahr zugelegt, so dass er sich widerwillig entschlossen hatte, demnächst ein neues Jackett zu kaufen. Aber die Jeans passten noch.
„Sag mal“, sprach er Silke an, „wollen wir nicht morgen eine Radtour machen? Vielleicht zum Glambecksee? Ich hätte mal wieder Lust darauf. Da gab es doch diese Badestelle.“
„Meinst du nicht, dass das Wasser noch etwas kalt ist?“
„Ich will ja nicht baden, sondern nur ein Stück Rad fahren.“
Gerade nahm er sich die zweite Kaninchenkeule, als Anne Pagels' rosaroter Käfer auf den Hof fuhr. Anne stieg aus, öffnete den Kofferraum und wuchtete einen Wäschekorb heraus.
„Will sie bei uns waschen?“, fragte Silke und ging nach draußen. Hagen ahnte, dass sie keine schmutzige Wäsche brachte.
„Hagen, keine Schmutzwäsche – Fanpost!“, rief Silke dann auch von der Tür her. Die beiden Frauen schleppten den Korb ins Wohnzimmer. Er zeigte geschäftig auf den Stuhl.
„Hallo Anne“, sagte er dann und umarmte sie.
Warum sollte er sie auch nicht umarmen? Bloß weil Silke daneben stand? Heute musste man schließlich jeden umarmen. Das war Sitte geworden und dabei war es völlig egal, ob man sich zuvor jemals gesehen hatte. In diesem Fall jedoch umarmte er ausgesprochen gern.
„Du siehst gut aus“, sagte sie und lächelte. „Hast du deinen Auftritt von vorgestern überwunden?“
„So leidlich. Aber eins kann ich dir versprechen. Am Dienstag geh ich hin und stelle sie zur Rede. Die Hansen und die ganze Bagage von der Presse kann mir gestohlen bleiben.“
„Ist ja gut, armer Hagen.“ Anne strich spöttisch über seine Wange. Silke, die hinter ihr stand, guckte scheel.
„Aber schau“, fuhr Anne fort, „wie viele das Interview gesehen haben. Das Beantworten wird dir Spaß machen. Die Hälfte sind bestimmt Liebesbriefe.“
Anne lachte. Silke nicht. Sie konnte mit solchen Scherzen nichts anfangen. Leider fehlten ihr der Sinn für derartigen Humor. Äußerlich waren sie sehr verschieden, aber beide hatten ihren Reiz für ihn und beide waren in jedem Fall wesentlich leistungsfähiger und fitter als er. Warum also meckern?
Anne verabschiedete sich recht schnell. Offenbar wollte sie Silke nicht über Gebühr reizen. Er hatte Silke zwar nichts von seinem vorjährigen Ausrutscher mit Anne erzählt, aber Frauen haben Ahnungen.
Was den Postkorb anging, schaute Silke genauso ratlos drein wie er. „Was willst du jetzt damit machen?“, fragte sie.
„Ich setze mich hin und lese. Wahrscheinlich kann man das meiste sowieso verbrennen.“
„Du könntest mir auch im Garten helfen oder mein Arbeitszimmer streichen. Abwaschen wäre ein Anfang.“
„Lass mich zuerst ein paar Briefe lesen. Ich bin neugierig.“ Ohne ein weiteres Wort ging Silke in die frisch sanierte Küche. Abwaschen machte darin aber auch nicht mehr Spaß als in der alten.
Die ersten Liebesbriefe machten ihm noch Spaß, dann nervten sie nur noch. Dagegen hatte die Werbung den Vorteil, dass er sie gleich in den Papierkorb werfen konnte, ohne sie öffnen zu müssen. Der Rest war diffiziler.
Nach erster Schätzung kam er auf etwa dreihundert Briefe. Der Stapel Beschwerden wurde schnell größer. Diese würde er an das Büro des Polizeipräsidenten weiterleiten, ebenso die Anzeigen wegen Einbruchs und Diebstahls, meist aus dem Osten Brandenburgs. Siebzehn Briefe blieben übrig, die er selbst beantworten wollte.
Silke kam herein. „Kannst du mit deinem Kram nicht wenigstens ins Büro umziehen? Ich muss hier noch schlafen.“
Das stimmte. Denn in ihrem Schlafzimmer hatten sie mit dem Renovieren begonnen. Trotzdem. Es wurde seit einiger Zeit immer schwieriger, mit Silke auszukommen.
Er schaffte wortlos alles ins Büro. Hier hoffte er, Ruhe zu finden. Er beantwortete Anfragen von Schulklassen, die ihn zu einer Diskussion einluden. Ein Psychologe, der an seiner Doktorarbeit schrieb, wollte sich mit ihm über Vernehmungstaktik unterhalten. Außerdem wollten einige Leute wissen, wie sie sich schützen könnten.
Ein Brief blieb übrig. Der Absender erwartete keine Antwort, jedenfalls nicht in Form eines Briefes. Die Frage war: Wie ernst musste man den Brief nehmen?
Hauptkommissar a.D. Brandt!
Du elende Beamtenseele! Deinesgleichen hat mein Leben zerstört! Jetzt muss der Erste sterben! Und so wird es jedem korrupten Schwein in diesem Land ergehen, das sich mir in den Weg stellt! Eure bepissten Gesetze sind einen Scheiß wert!
Im Namen aller durch Eure Bürokratie Unterdrückten verurteile ich zum Tod durch den Strang:
Wolfram Hartwig, Bauamtsleiter.
Das Urteil ist sofort zu vollstrecken und zwar mit Aussicht vom Ruppiner Tor in Gransee!
Der Henker
Hagen Brandt griff zum Handy.
„Hagen, was hast du? Ich will gerade Feierabend machen.“
„Hallo Anne. Hattet ihr heute einen Toten in Gransee?“
„Ja, einen Suizid. Warum fragst du?“
„Stranguliert am Ruppiner Tor?“
„Ja. Hast du deine Kristallkugel aus der Werkstatt zurück?“
„Nein, schlimmer. Gib mir ein paar Minuten. Ich komme.“
Als er aus dem Haus trat, war Silke noch immer im Garten.
„Ich muss noch einmal weg. Es kann länger dauern.“
Ihre Antwort hörte er nicht mehr. Beinahe hätte er Silke über den Haufen gefahren, so plötzlich stand sie vor dem Auto.
„Wo willst du denn jetzt noch hin? Wir haben Freitagabend.“
Sie war anscheinend ziemlich aufgebracht.
„Ich muss zum Revier. Hier, lies!“ Er hielt ihr die Klarsichtfolie mit dem Brief hin.
Sie überflog die wenigen Zeilen. „Na und? Ein Spinner!“
„Vielleicht. Aber einer, der auch wahr macht, was er androht.“
„Also, Hagen“, knurrte Anne, als er ausstieg. „Ich will wirklich nach Hause. Ich muss noch duschen und dann will ich zu meinem Papa. Der hat heute nämlich Geburtstag.“
„Da würde ich gern mitkommen. Ruf ihn an. Wir werden uns verspäten. Aber das hier ist wichtiger.“ Er hielt ihr die Klarsichtfolie hin. „Der war in deinem Wäschekorb.“
Sie überflog den Brief. „Scheiße!“, knurrte sie und tippte den Zugangscode zur Hintertür ein.
Annes Büro war jedenfalls unverändert. Schreibtisch, Konferenztisch, Sitzecke, Aktenschränke. Neuer waren eigentlich nur die Rosen auf ihrem Schreibtisch. Aber nicht viel.
„Hast du einen Neuen?“ Er zeigte auf die Trockenblumen.
„Nein. Die sind noch vom Frauentag.“
Er ließ sich in einen Sessel fallen. Anne knallte eine dünne Akte auf das Tischchen vor ihm. „Hier, lies.“
Im Aktendeckel befanden sich der Fundortbericht und der Totenschein des diensthabenden Arztes. Nicht natürlicher Tod war angekreuzt und Autopsie, Strangulation stand darunter.
Hagen Brandt ging zum Schreibtisch, rief die Pathologie an und schaltete auf Lautsprecher.
„Klein, Pathologie.“
„Kevin? Schön, dass du noch da bist.“
„Ich kann meine Arbeit ja schlecht mit nach Hause nehmen. Hagen, wieso rufst du von Annes Apparat aus an? Ach, warum frage ich so dumm? Der Suizid, der keiner war.“
„Du hast ihn schon beim Wickel?“
„Da sind Spuren von Fesseln an den Handgelenken und den Fußknöcheln, Mund- und Nasenschleimhäute sind stark gereizt. Irgendein Narkosemittel. Außerdem große blaue Flecke auf dem Brustkorb und zwischen den Beinen. Da hatte offenbar jemand eine Stinkwut auf den Herrn.“
„Das war es schon, was ich wissen wollte“, sagte Hagen und legte auf. Er ging zurück zu seinem Sessel und las den Fundortbericht.
Die Tür, die hoch zu den Ausstellungsräumen führt, war nicht abgeschlossen, hatte die Reinigungsfrau ausgesagt. Die Leiche war an der Außenmauer über dem Aussichtsbalkon aufgehängt. Ein Hocker aus der Galerie hatte darunter gelegen.
Der Revierleiter und eine Streifenbesatzung waren vor Ort gewesen. Eine Dame von der Touristeninformation: Am Donnerstag habe sich niemand den Schlüssel für die Ausstellung geholt. Und sie wusste nicht mehr, ob sie zum Feierabend die Tür zur Ausstellung kontrolliert hatte oder nicht.
Das war alles. Es hatte ganz nach Suizid ausgesehen.
„Haben die Kollegen geschludert?“, fragte Anne. „Ich habe das Protokoll noch nicht gelesen.“
„Nein, die Kollegen nicht, aber der Arzt ist nicht mal bis zum Brustkorb vorgedrungen. Jörg, Stan und Olli waren vor Ort. Es gab offenbar keine echten Anhaltspunkte. Hast du etwas auf dem Brief gefunden?“
Anne schüttelte den Kopf. „Ein Laserdrucker.“
„Erstaunlich finde ich, dass er mittags schon bei mir war.“
„Gar nicht erstaunlich“, erwiderte Anne und setzte sich zu ihm. „Meine Freundin arbeitet bei der Post. Spätestens um elf ist der Kollege wieder da, der die Briefkästen leert.“
„Aber wenn der Täter nicht damit gerechnet hat, dass das so schnell geht, haben wir vielleicht einen kleinen Vorteil.“
„Ich wüsste nicht, wo der Vorteil liegen soll.“
„Aber es gibt doch jede Menge Ermittlungsansätze. Wir wissen, wer das Opfer ist und wir haben einen Personenkreis, aus dem der Täter stammen könnte. Damit weiß die Mordkommission doch etwas anzufangen.“
„Ja, die Mordkommission“, seufzte Anne. „Hagen, das ist nicht wie früher, wo du ein Viertel in Bereitschaft hattest. Vor Dienstag wirst du jedenfalls niemand von denen hier sehen.“
„Du machst Witze!“
„Schön wär's. Ich rufe den Chef an. Los, geh Kaffee holen!“
Er ging hinaus auf den Flur und zog sich einen Becher Kaffee aus dem Automaten. Dann trat er in den dunklen Durchgang, der sich über der Hofeinfahrt befand. Von hier konnte er das Treiben an der Tankstelle beobachten. Aber er starrte auf eine menschenleere Straße. Plötzlich trat ein Schatten hinter der Autowaschanlage hervor und blieb dann stehen. Es schien Hagen, als würde der zu ihm hinaufstarren oder zumindest zu den erleuchteten Fenstern, wo Annes Büro lag.
Der Mörder? Der Schatten verschwand hinter der Waschhalle. Hagen hörte, wie ein Dieselmotor gestartet wurde. Dann fuhr ein Lkw vom Hof der Tankstelle.
Hagen schüttelte den Kopf. Er sollte auch besser abhauen. Da bekam er einen Brief, las drei Seiten Protokoll und schon verdächtigte er einen harmlosen Lkw-Fahrer. War er inzwischen vollkommen meschugge geworden. Sehnte er sich zurück nach diesem Stress? Acht Monate waren vergangen, seit er das letzte Mal dieses Elend erlebt hatte. Die Bilder der durchgeschnittenen Kehle tauchten in seinem Kopf wieder auf.
Nein, er wollte dieses Leben nicht wieder.
„Hagen?“, rief Anne vom Büro her.
Er wandte sich vom Fenster ab. „Ja, hier.“
„Komm ans Telefon, der Chef will dich sprechen.“
Zögernd folgte er Annes Aufforderung und nahm den Hörer. „Hagen Brandt.“
„Levian von Meerbusch. Guten Abend, Herr Brandt. Leider sind wir uns noch nicht begegnet. Deshalb möchte ich nicht versäumen, Sie zu mir zu Kaffee und Kuchen einzuladen. Mein Freund bäckt selber. Ein ganz vorzüglicher Kuchen.“
Talkshow-Smalltalk war jetzt das Letzte, was er brauchen konnte. „Herr von Meerbusch, es ist wirklich nett von Ihnen, mich einzuladen. Leider bin ich sehr beschäftigt. War es das, weshalb Sie mich sprechen wollten?“
„Oh nein, Herr Brandt. Das war nur die Einleitung. So eine Art Feldanalyse, wie der Polizist gemeinhin auf schwule Vorgesetzte reagiert.“
„Ich bin kein Polizist.“
„Ich weiß, aber Sie haben gelegentliche Rückfälle.“ Am anderen Ende der Leitung wurde herzlich gelacht. „Lassen Sie mich zur Sache kommen. Ich habe momentan kein Personal, das den Fall bearbeiten und aufklären könnte. Was muss ich tun, um Sie zu einem Beratervertrag zu überreden, wie Sie ihn bereits kennen?“
Hagen schnaufte. Natürlich konnte er sich alles Mögliche einreden. Aber wenn man ihn brauchte und wenn er sah, wie gespannt ihn Anne anschaute, was blieb ihm dann übrig?
Er holte tief Luft. „Bleiben Sie mir vom Hals und geben Sie mir Anne Pagels zur Unterstützung. Sollte sich das zu etwas Größerem entwickeln, brauche ich Lucio und Lück von der LESE. Das wäre es schon.“
Meerbusch lachte wieder. „Schon gut. Ich akzeptiere und will Sie nicht weiter von der Arbeit abhalten. Viel Erfolg.“
Hagen legte auf und sah Anne feixen.
„Bleiben Sie mir vom Leibe, ja? Du bist echt stark. Ich könnte mich wegwerfen vor Lachen.“
„Lass uns lieber mit der Arbeit beginnen“, knurrte er. „Ich bereue jetzt schon, dass ich zugesagt habe.“
Er schaute auf die Uhr. Fast halb zehn. Zu spät für irgendwelche Befragungen. Aber … „Kannst du mal heraussuchen, wo Hartwig gewohnt hat? Wurde er noch nicht vermisst?“
„Nein, bisher haben wir keine Vermisstenanzeige.“ Sie startete ihren PC. Hagen wanderte durch den Raum und holte sich den Inhalt des Briefs ins Gedächtnis. Wie bescheuert muss man sein, fragte er sich, einen solchen Brief abzufassen?
„Da ist er“, unterbrach sie seine Gedanken. „Hartwig, Wolfram, 26. Januar 1974, also neununddreißig Jahre ist er geworden, wohnte … Ach, schau her: Gransee, Baustraße 39b. Das ist gar nicht weit vom Ruppiner Tor.“
„Ist das nicht eins der sanierten Häuser?“, versuchte Hagen sich zu erinnern, bekam aber kein richtig scharfes Bild.
„Kann sein. Ich weiß nicht“, antwortete Anne Pagels.
„Ich bin mal dort gewesen. Ein wirklich altes Gemäuer, das man nach Denkmalschutz-Richtlinien ausgebaut hat“, sagte Hagen und ging in Gedanken die Baustraße auf und ab.
„Er fuhr er einen nagelneuen Mercedes“, erklärte Anne nun.
„Okay, lass uns hinfahren. Entweder ist jemand zu Hause, dann können wir ihm oder ihr die schlechte Nachricht bringen. Oder es öffnet niemand, dann kenne ich einen Schlosser. Jedenfalls sollten wir damit anfangen, und zwar jetzt.“
Hagen Brandt lenkte seinen Astra an den Bordstein. Ja, es war das sanierte Haus. Er musterte die Fassade. Alle Fenster waren dunkel. Anne stand schon an der Haustür und klinkte. Verschlossen. Mist.
„Er wohnt rechts oben“, rief sie. „Ich drücke mal.“
Er hörte es klingeln. Sie warteten. Nichts tat sich.
„Und jetzt?“, fragte Anne. „Soll ich unten klingeln?“
„Dafür ist es ein bisschen spät. Ich gehe hinten herum.“
Er nahm seine Taschenlampe und wandte sich nach links.
Während die drei Häuser, an denen er vorbeiging, auf ihre Sanierung warteten, hatte man das vierte abgerissen. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit im Altstadt-Sanierungsgebiet, wo die Amtsverwaltung auch dem letzten Kunststofffenster den Krieg erklärt hatte. Als er den ersten Schritt auf den Bauplatz setzte, stand er mitten in einer Pfütze. Ab jetzt war er vorsichtiger. Bei den drei Bauruinen hatte man die Nebengebäude abgerissen. Aber er erinnerte sich genau, dass bei dem sanierten Haus das ehemalige Stallgebäude stehen geblieben war. Richtig. Sogar eine Hoflampe brannte und in der linken Erdgeschosswohnung war das große Küchenfenster erleuchtet. Jedoch im Obergeschoss war alles dunkel.
Die Hintertür war nicht verschlossen. Ein Bewegungsmelder ließ das Licht aufflammen. Er ließ Anne hinein.
„Das hat ja gedauert“, murrte sie. „Warst du im Schlamm baden?“ Sie zeigte auf seine Schuhe und nahm die ersten Stufen, Hagen folgte.
„Hey, junger Mann. Wo wollen Sie denn hin?“
Er drehte sich um und stand einer rüstigen Rentnerin gegenüber. Den Krückstock, den sie bei sich hatte, trug sie wie sie es wohl in amerikanischen Filmen gesehen hatte: Geschultert wie einen Baseball-Schläger. Und das komische Kopftuch passte nun überhaupt nicht zu der kämpferischen Pose einer Bürgerwehr-Veteranin.
Anne trat schnell vor und zeigte ihren Dienstausweis.
„Anne Pagels, Polizei“, sagte sie, „und das hier ist Kriminalhauptkommissar Hagen Brandt. Wir wollen zu Herrn Hartwig. Wissen Sie, ob er zu Hause ist?“
Die Alte schob Anne zur Seite und schaute misstrauisch zu ihm herüber. Dann holte sie ein verschmitztes Lächeln hervor.
„Ja, Sie habe ich bei der Talkshow gesehen, wo Sie sich kräftig zum Affen gemacht haben, junger Mann. Sie sollten mehr Ernsthaftigkeit an den Tag legen, wenn es um die Belange von Mitmenschen geht.“
Dann schaute sie Anne an.
„Nein, Frau Pagels, Herr Hartwig ist nicht zu Hause. Dort oben ist kein Licht an, obwohl er sich selten vor Mitternacht schlafen legt. Geht es um eine Baustelle?“
„Lebt er allein?“, fragte Anne. Hagen hielt sich zurück.
„Ja, Herr Hartwig ist geschieden. Aber wenn ich ihn erwische, werde ich ihm gehörig den Kopf waschen.“
„Warum das denn?“, platzte er heraus.
Doch sie ignorierte ihn einfach und fuhr fort: „Gestern Abend hat er einen solchen Radau gemacht, dass ich die Vorabend-Krimis gar nicht richtig genießen konnte. In meinem Schlafzimmer klang es, als wäre er besoffen gegen einen Schrank gedonnert. Das hätte ich ihm durchgehen lassen. Doch dann ließ er mich mit dem Kartoffelsalat im Stich und die Bockwürste sind alle geplatzt. Ich war ziemlich sauer, zumal er einfach nicht ans Telefon ging, als ich bei ihm angerufen habe. Mit den Treppen habe ich so meine Probleme und bin nicht extra gucken gegangen. Die Knie, wissen Sie?“
„Haben Sie ihn danach noch gesehen?“, fragte Anne.
„Nun glauben Sie nicht, ich spioniere ihm nach. Aber … Ich weiß nicht. Gegen zehn war mir so, als hätte ich Schritte im Treppenhaus gehört. Aber ich bin nicht zur Tür gegangen. Ich war schon bettfertig und da empfängt man keinen jungen Herrn mehr. Nicht wahr.“
„Wohnen Sie und Herr Hartwig allein in diesem Haus?“, ging Anne vorsichtig weiter vor.
„Ja, ja. Der alte Herr Schuster, der hier nebenan wohnte, ist letzten Monat verstorben und für die zweite Wohnung oben hat sich kein Mieter gefunden. Wäre mein Herbert nicht so ein fleißiger Handwerker gewesen, hätte ich mir diese Wohnung auch nicht leisten können. Früher ...“
Anne unterbrach sie. „Haben Sie einen Schlüssel für Herrn Hartwigs Wohnung? Er ist nicht zur Arbeit erschienen.“
„Ja, ich habe einen. Warten Sie, ich hole ihn.“
Kaum war die Alte in ihrer Wohnung verschwunden, eilte Hagen die Treppe hinauf. Als er auf dem oberen Treppenabsatz ankam, blieb er abrupt stehen und machte dann kehrt.
„Ich hole deinen Spurenkoffer. Oben steht alles offen“, flüsterte er Anne zu, die ihm fragend entgegenblickte.
Anne hatte sich den Schlüssel aushändigen lassen und die Alte in ihre Wohnung zurückgescheucht. Sie zogen sich Latex-Handschuhe über und Hagen bekam auch noch ein paar Tüten über seine Dreckbotten gestülpt. Im Schräglicht der Handlampe suchte er die Bodenfliesen nach Schuhabdrücken ab. Direkt hinter der Türschwelle wurde er fündig und Anne markierte die Spur. Offenbar war auch der Täter bei Dunkelheit über den schlammigen Hof gekommen.
Links ging es zu Wohnküche und Balkon, rechts zum Bad. Beide Räume sahen sauber und ordentlich aus.
Während Anne schon den Schuhabdruck fotografierte und anschließend mit Klebefolie sicherte, ging er suchend weiter. Am Ende des Flurs sah er, dass die Türangeln halb herausgerissen und der Türrahmen am Schloss gesplittert waren. Hagen ging darauf zu und ignorierte die Kassettentür, die als nächstes hinter dem Bad folgte. Vor der lädierten Tür wartete er, bis Anne ihre Fotos gemacht hatte, dann öffnete er sie.
Der Raum war in zwei Ebenen geteilt. Über eine Treppe kam man auf eine kleine Tenne, wo das Bett stand, während unten ein Ankleidezimmer entstanden war. Im unteren Bereich hatte es anscheinend einen Kampf gegeben. Ein hölzerner Hocker lag zerborsten in der Ecke. Der Spiegel einer Schranktür war zu Bruch gegangen. An einigen Scherben klebte Blut.
Hagen überließ Anne das Feld und ging zu dem verbliebenen Raum. Das Arbeitszimmer. Ein Schreibtisch mit Bürosessel stand auf dem echt aussehenden Perserteppich, darauf Laptop, Drucker und viele Akten. Bücherregale standen an den Wänden. Hinter der Tür, dem Schreibtisch gegenüber, ein Gemälde hinter Glas, das bestimmt ein kleines Vermögen wert war.
Dem Mörder schien es nur um Rache gegangen zu sein. Eine Akte lag unterm Schreibtisch.
Die Alte hatte gesagt, der Lärm sei während des Vorabendprogramms gewesen, also zwischen 18 und 20 Uhr. Aber erst gegen zehn hatte sie Geräusche auf der Treppe gehört. Was hatte der Täter so lange getan?
Nachdenklich verließ er die Wohnung. Sofort ging das Flurlicht an. Die Tür hatte offen gestanden, aber das Schloss war unbeschädigt. Hatte Hartwig seinen Mörder gekannt? Aber lässt man einen abgewiesenen Antragsteller so einfach in die Wohnung? Hat er geklingelt?
Hagen drückte auf den Klingelknopf. Eine durchdringend laute Klingel ertönte. Unten bei der Alten ging die Tür auf.
„Was machen Sie denn da oben für einen Lärm? Was soll denn die Klingelei?“
Er ging die halbe Treppe hinunter.
„Haben Sie das Klingeln gestern Abend auch gehört?“
„Was? Nein. Hier hat gestern niemand geklingelt.“
„Sind Sie ganz sicher?“
„Hören Sie nicht, was ich sage? Gestern hat hier den ganzen Tag niemand geklingelt.“
„Schon gut. Ich hab's ja gehört. Aber sagen Sie, haben Sie gesehen, wie Herr Hartwig nach Hause kam?“
„Nein, gesehen habe ich ihn nicht, aber gehört“, sagte die Alte nun versöhnlich. „Im Flur schallt es so laut, dass man es gar nicht überhören konnte. Es wurde geflüstert.“
„Haben Sie gesehen, wen er bei sich hatte?“
„Nein, das habe ich doch gerade gesagt. Ehe ich aus dem Sessel hoch war, knallte oben schon die Tür zu. Was ist denn passiert? Sie haben mir doch einen Bären aufgebunden von wegen, er sei nicht zur Arbeit erschienen. Ist er tot oder was?“
Nun ging er doch die letzten Stufen hinunter.
„Wissen Sie: Ich will das nicht hier im Treppenhaus besprechen. Hätten Sie noch eine von Ihren aufgeplatzten Bockwürsten oder ein Glas Wasser?“
„Aha, endlich nimmt er mich ernst, der Herr Hauptkommissar. Dann kommen Sie mal rein.“
Sie wandte sich zu ihrer Wohnungstür um und ging mit wippendem Kopftuch vor ihm her in die Küche.
„Sie wollen doch nicht wirklich aufgeplatzte Bockwürste?
Darf ich Ihnen einen Kaffee machen, Herr Hauptkommissar?“
„Gern. Vielen Dank, Frau ...“
„Pütz, Eva Pütz ist mein Name. An der Straße nach Zehdenick, an einem alten Hausgiebel, da ist der Name noch zu lesen. Wie gesagt: Mein seliger Mann hatte goldene Hände.“
„In welcher Branche war er denn tätig?“
„Särge, Herr Hauptkommissar, Särge hat mein seliger Mann hergestellt. Das ist eine aufstrebende Branche. Und das Beerdigungsinstitut Herbert Pütz war das erste Haus am Platze.“
Der Kaffeeautomat ratterte heftig beim Mahlen der Bohnen, dann ging er zum Fauchen über und klang zum Schluss so, als hätte er Verstopfung.
„Ja, wenn das so ist, dann muss ich leider sagen: Ihr Mann hätte wieder Arbeit bekommen.“
„Junger Mann, ich ermahne Sie noch einmal: Sie dürfen über solche Sachen nicht scherzen.“ Sie sah ihn finster an.
„Er ist also wirklich tot?“, fragte sie jetzt nach, gab dann aber selbst die Antwort. „Wie der ganze Rest seiner Familie: Vater und Mutter sind vor zwei Jahren gestorben und sein Bruder, auch ohne Familie, hatte im vorigen Jahr einen Autounfall. Das ist schon ein Drama. Dabei war er ein so feiner Herr. Nur die besten Anzüge, ein schönes Auto und … Haben Sie das Gemälde in seinem Arbeitszimmer gesehen? Ach, und die Geldkassette steht im Bücherregal.“
Ihr Lachen glich dem Gackern von Amalie, der besten Legehenne, die Hagen je gehabt hatte. Schlagartig, als hätte sie seine Gedanken gehört, wurde sie ernst.
„War er noch in einem Stück?“
„Frau Pütz, Sie sehen entschieden zu viele Krimis. Ja, er war noch in einem Stück. Trotzdem frage ich mich, ob er fremde Besucher in die Wohnung gelassen hat. Zum Beispiel Leute, die eine Baugenehmigung brauchten.“
Frau Pütz kam mit dem Kaffee. Sie setzte sich zu ihm an den Küchentisch und dachte sichtlich nach.
„Ihre Frage ist schwer zu beantworten“, sagte sie schließlich. „Er hatte recht oft Besuch. Aber es waren wohl immer Bekannte oder Geschäftspartner, die er mitbrachte. Vorgestellt hat er sie mir nie, obwohl ...“ Sie verstummte, schüttelte dann den Kopf und sah ihn vorsichtig an. „Sie werden doch nicht von mir denken, dass ich tratsche?“
„Aber Frau Pütz, dies ist eine polizeiliche Ermittlung und kein Kaffeeklatsch. Alles ist wichtig, wissen Sie? Die geringste Kleinigkeit kann dazu führen, dass der Fall gelöst wird. Sie kennen das sicher aus dem Fernsehen.“
„Sie haben ja recht. Jedenfalls kamen so oft Männer zu ihm, dass man glauben konnte, er sei ... Na sie wissen schon. So ein- oder zweimal die Woche bekam er Besuch. In der Regel von jungen Männern. Aber diese Woche kam ein wirklich feiner Herr und klingelte bei Herrn Hartwig. Sein Gesicht kam mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher. Um die siebzig. Grauhaarig mit Goldrandbrille. Sah ein bisschen aus wie ein Bestatter oder Prokurist. Von einer großen Firma vielleicht. An mehr kann ich mich jetzt nicht erinnern. Aber mir fällt bestimmt noch etwas ein. Ich schlafe immer so schlecht, wissen Sie, und heute ist das ja nun besonders aufregend.“
Sonderermittler Hagen Brandt saß auf seinem Stuhl, hörte zu und schlürfte Kaffee. Dabei machte er sich Notizen. Er wollte die alte Frau nicht unterbrechen, solange sie beim Thema blieb. Und nutzlos waren ihre Informationen noch lange nicht. Wenn er auch noch nicht einordnen konnte, was davon wirklich zu gebrauchen war.
„Wie lange ist Herr Hartwig denn schon geschieden? Kennen Sie seine Ex-Frau?“
„Nein, er ist alleine hier eingezogen. Da war er wohl schon geschieden. Jedenfalls habe ich sie nie gesehen.“
Er trank seine Tasse aus und erhob sich.
„Vielen Dank, Frau Pütz, für den Kaffee und die Informationen. Sie waren wirklich sehr wertvoll für mich, beide.“
Sie lachte und er machte, dass er raus kam. Anne war inzwischen im Arbeitszimmer angelangt. Sie klebte den Bürosessel mit Klebestreifen ab.
„Hast du etwas gefunden?“, fragte er und blieb mitten im Zimmer stehen.
„Hinter dem Bild ist ein Safe. Außerdem Spuren jeder Art. Aber wir wissen ja noch nicht, welche vom Toten stammen.“
„Und von Miss Marple da unten ebenfalls. Von wegen die Knie machen es nicht mehr so. Sie war hier oben und wusste sogar, dass es eine Geldkassette gibt. Und der Safe? Hier?“
Er drehte sich zum Bild um.
„Stopp! Da war ich noch nicht“, rief Anne und trat neben ihn. Vorsichtig drehend schwenkte sie den Feenhaarpinsel mit Argentorat über den Glaskasten. Nach und nach begann die gesamte Scheibe silbergrau zu glänzen. An der linken oberen Ecke wurden besonders viele Spuren sichtbar. Dort hat Hartwig immer die Abdeckung aufgeklappt, vermutete er.
Als Anne fertig war, öffnete Hagen die Abdeckung samt Bild. Darunter kam der Safe zum Vorschein. Zum Öffnen brauchte man einen Schlüssel und den Zifferncode.
„Ich gehe mal runter zu Frau Pütz. Ich könnte wetten, dass sie den Code weiß.“
Er lief die Treppe hinunter und klopfte. Die Tür wurde sofort geöffnet, als hätte sie dahinter gehorcht.
„Frau Pütz, wissen Sie den Zifferncode vom Safe?“
„Klar weiß ich den. Wenn Sie das Geburtsdatum von Herrn Hartwig wissen, können Sie auch den Safe öffnen.“ Sie lächelte verschmitzt. „Sie glauben mir nicht? Ich habe es ausprobiert. Jetzt kann ich es ja sagen.“
„Vielen Dank. Dann möchte ich Sie nicht weiter vom Schlafen abhalten. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, kommen Sie doch bitte morgen Vormittag aufs Revier, um Ihre Aussage zu Protokoll geben. Die Bürokratie, wissen Sie?“
Nun fehlte noch der Schlüssel, aber den würden sie schon finden. Für heute war es jedenfalls genug. Kevin Klein, der die Liste mit den Sachen hatte, würde er jetzt nicht aus dem Bett holen. Und morgen musste er sowieso nach Oranienburg.
„Weißt du, Anne“, sagte er, als er wieder neben ihr stand, „da wir heute nicht fertig werden und der Safe-Schlüssel noch fehlt, sollten wir die Wohnung ordentlich sichern. Wir setzen einen Polizisten vor die Tür. Kannst du die Leitstelle anrufen, dass sie jemanden schicken?“
Sie nickte und kramte ihr Handy hervor.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis ein älterer, sehr fülliger Polizist auftauchte. Unter dem Arm hatte er Klappstuhl, Buch, Brotbüchse und Thermosflasche.
„Wachtmeister Fuchs, guten Abend. Ich bin Ihr Wachdienst für diese Nacht. Gibt es etwas Besonderes zu beachten?“
Hagen musterte ihn von oben bis unten. Er vermutete, dass Fuchs eher das Gegenteil von dem war, was sein Name versprach. Wahrscheinlich einer der Kollegen, die man immer für solche Einsätze in Reserve hielt.
„Nein, Wachtmeister Fuchs, nichts Besonderes. Rufen Sie die Leitstelle an, wenn jemand versucht, die Wohnung zu betreten. Mehr nicht. Alles klar?“
Von Fuchs kam keine Antwort mehr. Gemächlich stellte er seine Verpflegung auf dem Fußboden ab. Dann klappte er den Sitz auseinander und stellte ihn vor die Wohnungstür. Fuchs setzte sich mit dem Rücken gegen die Tür und streckte seine Beine von sich. Der Hocker ächzte, aber Wachtmeister Fuchs sah zufrieden aus. Der Flur war zu seinem Pausenraum geworden – oder zum Dienstzimmer. Je nach Sichtweise.
Anne und Hagen gingen zum Auto.
Es war bereits nach ein Uhr, als er Anne am Revier absetzte. Dann rollte er langsam vom Hof. Eilig hatte er es nicht und empfand es als entspannend, durch die Granseer Innenstadt zu fahren. Zeit zum Nachdenken. War es wirklich richtig, sich wieder so einspannen zu lassen? Natürlich war es eine wichtig, den Mörder von Hartwig schnellstmöglich zu finden. Schließlich musste man, wenn man den Brief richtig las, zu dem Schluss kommen, dass dieser Mord nur der Anfang einer ganzen Serie war.
Hagen sah plötzlich eine Bewegung und trat auf die Bremse. Nur eine Katze und sie war noch einmal davongekommen. Er gab wieder Gas, überquerte am Kreisverkehr die Bundesstraße und verließ ein paar Minuten später die Landesstraße 22.
In Mühlhof brannte noch eine einzige Straßenlampe. Langsam bog er in den Welsenweg ein. Fünfzig Meter weiter stand sein Hof abseits des Dorfes. Er bog in die Einfahrt ein. Im Wohnzimmer lief der Fernseher, doch Silke war sicher längst davor eingeschlafen. Ob sie ihn vermisst hatte? Vielleicht hatte sie, wie er selbst manchmal, mit den Händen in den Hosentaschen am Fenster gestanden und gehofft, dass er bald käme.
Er parkte den Astra zwischen der Gästewohnung und der großen Scheune, ging langsam zwischen den beiden Scheunen hindurch zur Obstbaumwiese und setzte sich auf die Bank unter dem Apfelbaum. Die Nacht war klar, Sterne leuchteten. Als er sich nach einer Weile eine Zigarette anzündete, blendete ihn das Feuerzeug. Er legte den Kopf zurück.
Hätte er ablehnen sollen, wieder für die Kripo zu arbeiten? Für seinen inneren Frieden wäre es definitiv besser gewesen, für sein Zusammenleben mit Silke auch. Sie würde ihm die Hölle heiß machen, wenn sie davon erfuhr.
Und seinem Geschäft als Immobilienmakler würde es auch nicht gut tun. Solange er als Ermittler unterwegs war, konnte er die Wünsche seiner Kunden kaum erfüllen. Aber von der Maklerei lebte er schließlich.
Doch eigentlich hatte es keinen Sinn, jetzt noch darüber nachzudenken. Er schnippte die Zigarettenkippe in die Nacht.
Eine Wahl hat man immer. Doch in diesem Fall: Nein. Es war alles längst entschieden.
Silke knurrte wütend neben ihm, als der Wecker seines Smartphones wilde Rhythmen von sich gab. Hagen beeilte sich, ihn auszuschalten. Er schnappte sich ein paar Sachen und zog die Schlafzimmertür leise hinter sich zu. Silke wird, gelinde gesagt, verärgert sein, ging es ihm durch den Kopf, als er zum Bad eilte. Aber er hatte zugesagt, sich um den Fall zu kümmern. Also tat er, was nötig war.
Um sieben saß er am Frühstückstisch, kaute an seiner Mischbrotstulle und wählte Kevin Kleins Handy an. Der würde sicher auch knurren. Tat er aber nicht.
„Hallo, Sonderermittler, auch schon auf den Beinen? Eigentlich hatte ich deinen Anruf noch in der Nacht erwartet.“
„Ich habe mich nicht getraut.“ Hagen lächelte still. Nun war ihm besser. Gute Kollegen konnten einiges wettmachen.
„Und wo drückt der Schuh?“
„Ich brauche die Liste der Sachen, die Hartwig bei sich hatte. Konkret suche ich einen Safe-Schlüssel.“
„Auf der Liste ist kein Safe-Schlüssel. Tut mir leid.“
„Mist. Ich hatte fest damit gerechnet. Dann muss ich eben in Hartwigs Wohnung suchen oder seine Nachbarin weiß, wo er versteckt ist. Die weiß alles.“
„Ja, eine solche Nachbarin habe ich auch. Ich möchte nicht wissen, was in den Köpfen solcher Menschen vor sich geht.
Kann ich dir sonst irgendwie helfen? Ich hätte Zeit.“
„Also, wenn du mich so fragst, ja. Wir müssen wissen, welche Bauanträge Hartwig seit Anfang des Jahres abgelehnt hat und welche zurückgezogen wurden, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hatten. Vielleicht findest du im Internet einen Namen.“
„Keine Sorge, ich finde jemanden. Bis später.“
„Wir brauchen auch noch die Fingerabdrücke des Toten.“
„Ja, gut. Ich suche mir jemanden aus dem Revier von nebenan und bringe die Finger dann mit. Bis später.“
„Ja, bis später und danke, Kevin.“
Draußen verabschiedete sich gerade die Morgensonne hinter dicken Wolken. Schade.
Mit dem Anorak über dem Arm ging er zum Auto. Die Luft roch frisch, die Wiesen leuchteten in sattem Grün.
Er sprang ins Auto, ließ die Seitenscheiben herunter und fuhr los. Heute nahm er den Feldweg, über den man zum Kraatzer Weg kam. Auf der Hügelkuppe hielt an. Der Ausblick zum Welsengraben faszinierte ihn immer wieder. Und an einem Maimorgen wie heute war er besonders schön. Da störten auch die Windräder hinter Kraatz nicht.
Langsam ließ er seinen Astra anrollen. An der Straße nach Gransee kamen die Gedanken an seine Aufgabe zurück.
Um halb acht bog er in die Baustraße ein, doch Anne war schneller gewesen. Ihr rosaroter Käfer stand vor der Tür.
„Moin, liebe Anne“, rief er laut, als er auf dem oberen Treppenabsatz ankam. Es hallte durchs ganze Haus.
„Was machst du denn für einen Lärm am frühen Morgen? Du weckst ja die gute Frau Pütz.“
„Soll doch jeder wissen, dass wir schon bei der Arbeit sind“, erwiderte er lachend. „Sag mal, hast du schon den Safe-Schlüssel gefunden? Bei der Leiche war er nicht.“
„Nein, habe ich nicht. Warst du etwa schon bei Kevin?“
„Ich habe ihn angerufen. Er hatte die Kleider-Liste zu Hause. Wie gesagt: Fehlanzeige. Und da er um Arbeit gebettelt hat, kümmert er sich um die Stellvertretung des Bauamtsleiters.“
Anne nickte. „Du kannst dich inzwischen um den Laptop kümmern. Mit Schreibtisch und Bürosessel bin ich fertig.“
„Mach ich. Und nachher werde ich Frau Pütz herausklingeln. Sie weiß bestimmt, wo der Safe-Schlüssel versteckt ist. Ob sie mit Kopftuch geschlafen hat?“
Als Anne nicht antwortete, setzte er sich an den Schreibtisch und klappte den Laptop auf, der sofort hochfuhr und die letzte Sitzung wiederherstellte. Die Passwort-Abfrage stoppte ihn.
„Mist“, fluchte Hagen, „wie war doch gleich Hartwigs Geburtsdatum? Wenn der Safe damit geöffnet werden kann, wird es ja wohl auch beim Laptop funktionieren.“
„26. Januar 1974“, sagte Anne, nachdem sie in ihrem Notizbuch nachgeschaut hatte.
„Danke. Ich probiere es mal.“ Er tippte: 260174. Enter.
„Pech gehabt. Weiter. Das Jahr zuerst ...“
Er tippte wieder und beim dritten Versuch verschwand das Anmeldefenster. „Die Da-Vinci-Methode“, rief er. „Spiegelverkehrt.“ Er machte sich eine Notiz. Dann öffnete er die Protokoll-Funktion. „Zuletzt ist eine Word-Datei ausgedruckt worden. Dateiname Unbenannt. Mal sehen.“
Er klickte auf Wiederholen. Der Drucker begann mit seiner Arbeit und kurz darauf hielt Hagen den Brief in der Hand, den er bereits kannte.
„Anne? Kannst du mal kommen?“
Sie schaute fragend von den Büchern auf, die sie allesamt abzustauben schien. Er hob den Brief hoch.
Anne kam heran und beugte sich über ihn. „Ach, das ist ja interessant. Daher die Zeitdifferenz zwischen dem Poltern und den Schritten auf der Treppe. Unser Täter hat es sich hier gemütlich gemacht und den Brief geschrieben. Solche Nerven muss man erst einmal haben.“
Hagen schaute wieder auf den Monitor. Der Druckauftrag war
vom 16. Mai, 22.40 Uhr.
„Hast du hier am Schreibtisch Fingerabdrücke gefunden?“
„Ja, einige“, antwortete Anne.
„Dann werden sicherlich auch ein paar vom Täter dabei sein. Bin gespannt, ob wir ihn in der Kartei haben.“
„Ich bin hier auch gleich fertig. Nur in der Wohnküche war ich noch nicht … und der Safe muss noch geöffnet werden.“
„Ich gehe Frau Pütz rausklingeln.“ Er stand auf und ging hinunter. Sie öffnete, bevor er die Tür erreicht hatte.
„Kann ich helfen, Herr Hauptkommissar?“ Sie schaute ihn erwartungsvoll an.
„Ja, Frau Pütz. Ich bin mir sicher, Sie wissen, wo der Safe-Schlüssel versteckt ist. Bitte sagen Sie es mir.“
„Weiß ich nicht“, sagte sie, verschwand wieder in der Wohnung und knallte die Tür zu. Er hatte sie verärgert.
„Fehlanzeige“, sagte er zu Anne, als er wieder oben ankam.
„Sie weiß es nicht, sagt sie. Hinten im Schlafzimmer hättest du ihn gefunden, stimmt's? Also schau ich mal in die Küche und inspiziere die beliebtesten Verstecke der Deutschen. Da sind wir doch gar nicht auf Miss Marple angewiesen. Nein.“
Er blieb mitten in der Küche stehen. Einbauschrank, Herd, Spüle, Kühlschrank. Wo anfangen? Mit der Nummer eins natürlich: dem Kühlschrank. Still in sich hineinlächelnd öffnete er die Kühlschranktür und beugte sich vor.
Hoppla! Der Schlüssel lag wirklich im Käsefach. Hagen kicherte in sich hinein. Manche Menschen sind berechenbar wie ein Monatskalender. Aber nun wurde es spannend.
Er ging zurück ins Arbeitszimmer. Triumphierend zeigte er Anne den Safe-Schlüssel. Dann klappte er die Abdeckung zur Seite, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn und tippte 471062. Als er anschließend die Klinke herunterdrückte, ließ der Safe sich öffnen.
Anne schob sie ihn zur Seite. Der Safe hatte einen Einlegeboden. Unten lagen irgendwelche Papiere. Sie fotografierte, nahm die Papiere heraus und legte sie auf den Schreibtisch. Er öffnete das obere Fach und erstarrte.
„Das glaube ich nicht. Schau dir das an. Reich! Wir sind reich“, tönte er. Doch Anne ging nicht auf seinen Scherz ein.
Wieder erhellte der Blitz ihrer Kamera den Safe. Sie musste sich dazu auf die Zehenspitzen stellen. Und als er die ordentlich mit Banderolen versehenen Geldbündel auf dem Schreibtisch gestapelt hatte, staunten sie beide. Er überprüfte seine Strichliste noch einmal.
„73.000 Euro. Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt. Das riecht mir aber gewaltig nach unlauteren Geschäften.“
„Stimmt. Eine Menge Scheine … Falls sie echt sind“, erwiderte Anne und blätterte misstrauisch das oberste Geldbündel durch. „Fühlt sich komisch an. Wir werden sehen.“
„Gut, dann einpacken“, kommandierte er sich selber.
Kurz darauf schleppten sie alles nach unten: Spurenkoffer, Papiere, Geld, Geldkassette mit Schmuck, Laptop und die Akten vom Schreibtisch. Anne blieb am Astra, während er noch zweimal laufen musste. Er verschloss die Wohnung und versiegelte sie anschließend.
Als er die Treppe hinunterging, stand Frau Pütz in Kopftuch und Regenmantel am Hauseingang und wartete auf ihn.
„Können Sie mich mitnehmen? Sie wollten doch meine Aussage protokollieren“, sagte sie. Diesmal war sie wieder die Freundlichkeit in Person.
„Ja, natürlich. Steigen Sie am besten bei Frau Pagels ein. Mein Auto ist voll.“
Während sich Anne um die Beweismittel kümmerte, nahm er Frau Pütz mit ins Vernehmungszimmer und ließ sie noch einmal ihre Aussage wiederholen. Aus der Aufzeichnung würden sie ein Protokoll erstellen.
„Frau Pütz, jetzt hätte ich noch eine letzte Frage.“
„Ja, natürlich. Fragen Sie ruhig.“
Hagen sah deutlich, wie sie auf der Hut war.
„Hand aufs Herz: Haben Sie zufällig und ganz ohne es zu wollen in den Safe geschaut?“
Sie schüttelte heftig den Kopf.
„Wirklich nicht?“
„Nein, was denken Sie. Ich schnüffele doch nicht in fremder Leute Sachen herum.“
Hagen lehnte sich zurück. Das Augenniederschlagen, die Empörung. Frau Pütz schauspielerte.
„Aber Sie wussten die Safe-Kombination und garantiert auch, wo der Schlüssel versteckt war. Denn Sie sagten, Sie haben die Kombination ausprobiert.“
„Das stimmt schon.“ Sie wand sich wie eine Schlange, die er dicht hinter dem Kopf gepackt hatte. „Und den Wohnungsschlüssel hatte ich ja auch. Ich gebe zu, dass ich eine neugierige alte Schachtel bin. Aber das ging selbst mir zu weit. Es muss Grenzen geben, da stimmen Sie mir sicherlich zu.“
„Ja, aber wenn Sie auch nicht hineingeschaut haben – können Sie sich vorstellen, was im Safe war?“ Würde sie über diese wacklige Brücke gehen? Hagen fand es merkwürdig, wie willig sie ihm folgte. Trotz der Schauspielerei und dem scheinbaren Nachgeben, war da noch etwas Anderes.
Sie dachte nach. Dann schaute sie ihn an. „Keine Fangfrage?“ „Nein, Frau Pütz. Sie wissen, dass Herr Hartwig tot ist. Ich bin einfach darauf angewiesen zu erfahren, was seine Mitmenschen über ihn wussten und von ihm dachten.“
Sie seufzte noch ein Weilchen vor sich hin. Dann erklärte sie: „Also gut. Es ist am vorigen Samstag gewesen, als ich ihm Abendbrot brachte. Er saß im Arbeitszimmer. Und als ich ihm die Putenschnitzel auf seinen Schreibtisch stellte, habe ich auch einen Blick auf den Safe geworfen. Der stand nämlich offen.“ Plötzlich lächelte die Pütz verschmitzt. „Das viele Geld konnten Sie nicht in der Wohnung lassen. Stimmt's?“
Hagen runzelte die Stirn. Er fragte sich, welche Worte Eva Pütz hinter den gesagten versteckte.
„Richtig. Aber was denken Sie, woher es stammt? Warum hatte Herr Hartwig so viel Bargeld zu Hause?“
„Ich kann natürlich nicht wissen, woher er das Geld hatte. Aber man macht sich seine Gedanken. Sie haben ja schon gemerkt, dass ich mir gern Krimis im Fernsehen anschaue. Deshalb konnte ich nicht mehr schlafen. Die tollsten Kriminalgeschichten gingen mir durch den Kopf. Aber zur Polizei gehen konnte ich nicht. Ich wusste ja nichts.
Jedenfalls bin ich nicht mehr nach oben gegangen. Wenn er Abendessen wollte, musste er es sich holen. Ich habe ihm das mit meinem Knie gesagt. Er hat es geglaubt.
Am Ende ist sicher alles ganz einfach. Wahrscheinlich hat er einen Teil seiner Erbschaft abgehoben für einen Urlaub.“
„Aber seitdem haben Sie mehr achtgegeben, richtig?“
„Ja, und mir ist aufgefallen, dass jeden zweiten Tag eine dreckige Schuhspur durch den Flur führte. Da muss sich einer über den Hof zu ihm geschlichen haben. Wäre er jetzt nicht tot, hätte ich Herrn Hartwig bestimmt zur Rede gestellt. Schließlich muss ich wieder sauber machen. Ist doch wahr.“
„Haben Sie mal einen der Besucher gesehen?“
Sie schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, nur die, die am Tage kamen. Von denen habe ich ja schon erzählt.“
„Frau Pütz, ich kann mich nur für Ihre Offenheit bedanken und für Ihre Zeit. Das Protokoll bringt Ihnen in den nächsten Tagen jemand vorbei zum Unterschreiben.“
Er geleitete Frau Pütz nach draußen und sah ihr hinterher, als sie das Haus verließ. Die gute Frau Pütz, überlegte er, hat noch längst nicht alles gesagt. Ihm mussten die richtigen Fragen einfallen, aber manches wollte sie offenbar für sich behalten. Um zum Beispiel das Geld im Safe sehen zu können, hätte sie sich, wie vorhin Anne, auf die Zehenspitzen stellen müssen. Was für einen Grund konnte Frau Pütz haben, ihm Märchen zu erzählen? Nachdenklich stieg er die Treppe hoch.
„Gibt’s was Neues?“, fragte er, als er Annes Büro betrat.
„Guten Morgen, Chef“, antworteten zwei Männerstimmen.
Er schaute hinter die Tür und begann zu grinsen.
Fernando Lucio und Jonas Lück hatten sich in die Nische hinter der Tür gequetscht, um ihn zu überraschen.
„Wie befohlen zur Stelle“, sagte Jonas.
Hagen lachte, dann strahlte er Anne an.
„Ich kann nichts dafür“, sagte sie. „Mich haben sie ganz schön erschreckt.“
Er wandte sich wieder an die beiden. „Ihr wisst ja gar nicht, wie sehr ich euch vermisst habe. Kommt, setzen wir uns an den Tisch. Erzählt, was es Neues gibt.“
„Eigentlich ist alles beim Alten“, erklärte Jonas. „Wir sind immer noch bei der LESE. Aber ich habe nächste Woche ein Gespräch beim Personal-Chef. Jedenfalls freut es mich, dass wir wieder hergeschickt wurden.“
„Und mich freut es auch. Da hat von Meerbusch schnell geschaltet, obwohl wir euch noch nicht angefordert hatten.“
Er erinnerte sich mit Grausen daran, wie viele Unterlassungssünden er und das Team beim vorigen Mal begangen hatten. Mit Jonas, dem behäbig wirkenden Ökonomen als Auswerter und Planer würde ihnen dies jetzt nicht mehr passieren. Und für die operativen Einsätze hatte er in Fernando exzellente Unterstützung. Hagen wunderte nur, dass man seinen Empfehlungen, sie in der Kripo einzusetzen, nicht gefolgt war. Ambitionierte junge Leute ließ man in den Einsatzhundertschaften versauern, während in den anderen Bereichen der Altersdurchschnitt längst über die fünfzig gestiegen war.
Hagen erhob sich und suchte auf Annes Schreibtisch die bisherigen Unterlagen zusammen.
„Dann lest euch erst mal ein“, sagte er. „In einer Stunde kommt Kevin Klein. Anschließend setzen wir uns zusammen und diskutieren das Ganze.“
Es klopfte und die Tür wurde aufgerissen. Klaus Papst stand auf der Schwelle, auch so ein Überfünfziger.
„Melde misch zum Dienst und stehe dem Herrn Sonderermittler zur vollsten Verfiegung.“ Alle hoben die Köpfe und schauten genauso verwundert, wie Hagen selbst.
„Nu guckt nich so bedeppert“, sächselte Klaus Papst. „Die Anne hat misch angerufen.“
„Stimmt“, kam es aus Annes Ecke.
Hagen nickte. „Klaus, tust du mir bitte zuerst den Gefallen und lässt die Vernehmung Pütz ausdrucken? Die Spracherkennung müsste längst durch sein.“
Klaus Papst tippte mit zwei Fingern an die nicht vorhandene Mütze und verließ das Büro. Hagen drehte sich zu Anne um.