Wolfsruh - Harald Hillebrand - E-Book

Wolfsruh E-Book

Harald Hillebrand

4,4

Beschreibung

Eine Frau wird auf dem einsam gelegenen Hof Birkenhain bei Wolfsruh erschossen. Vom Ehemann keine Spur. Während sich die Granseer Kripo auf die Suche nach Mann und Mörder macht, wird Hagen Brandt von Ahnungen geplagt. „Wolfsruh“ ist Hagen Brandts vierter Fall.

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Das Buch:

Eine Frau wird auf dem einsam gelegenen Hof Birkenhain bei Wolfsruh erschossen. Vom Ehemann keine Spur. Während sich die Granseer Kripo auf die Suche nach Mann und Mörder macht, wird Hagen Brandt von Ahnungen geplagt.

„Wolfsruh“ ist Hagen Brandts vierter Fall.

Der Autor:

Harald Hillebrand (Jahrgang 1958) wuchs in Frankfurt (Oder) auf, lebte einige Jahre in Berlin, bis er 1998 in den Landkreis Oberhavel kam. Viele Jahre war er als Kriminalist tätig, ab 1992 als Ausbilder für Kriminalbeamte. Seit 1997 arbeitet er als Verwaltungsbeamter in Gransee.

Weitere Romane des Autors:

Eismenschen (2005, Lerato-Verlag)

Jard – der Druidenlehrling (2005, Gipfelbuch-Verlag)

Begegnung mit den Göttern (2006, Lerato-Verlag)

Ochsenblut – ein Oberhavel-Krimi (2013, BoD)

Pfingstschleier – ein Oberhavel-Krimi (2014, BoD)

Brand(t)helfer – ein Oberhavel-Krimi (2014, BoD)

Anderswelt (2015, BoD)

Für Janine und Alex sowie für Dora und Jørxn!

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

Den Ort Mühlhof und das Pflegeheim gibt es nicht, ansonsten

stimmt der Inhalt des Buches im Wesentlichen mit bekannten

Verhältnissen überein.

Alle verwendeten Markenzeichen verbleiben im jeweiligen

Eigentum.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

1

Der Fahrer des VW-Busses achtete nicht auf den wild hupenden Gegenverkehr, denn er war unterwegs, um Angst zu verbreiten.

Er zog den Kopf zwischen die Schultern und starrte angestrengt in die vom Fernlicht des Kleinbusses ausgeleuchtete Nacht. Oktobervollmond. Dunkle Alleebäume huschten vorbei. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte null Uhr dreißig. Seine Gedanken spiegelten das Düstere der letzten Wochen wieder, das sich seitdem immer mehr über ihm zusammenzog. Es waren Gedanken, die ihn dazu getrieben hatten, aus seinem Leben eine einzige wilde Abfallhalde zu machen. Und niemand kam, mit dem er darüber reden konnte. Niemand. Allerdings gestand er sich ein, dass er weder seinem Vater eine Schuld daran geben konnte, noch sonst jemandem. Er allein hatte es verbockt. Er allein hatte zugelassen, dass dieses Düstere über ihn kam und er jetzt durch die Nacht fuhr, um zu bestrafen.

Gransee. Er schreckte auf.

Runter vom Gas, an der Tankstelle links rein und weiter. Plattenbauten. Dann Stadtvillen. Wieder Alleebäume, wieder Vollmond, der zwischen den Streifenwolken dahinzurasen schien.

Fünfzehn Minuten später rollte er durch ein abgelegenes Dorf. An den Namen konnte er sich nicht erinnern, nur die Autowerkstatt am Dorfeingang erkannte er. Denn morgen würde er wieder fremder Leute Autos reparieren, in einer ähnlichen Werkstatt wie dieser.

Eine Rechtskurve. Da hinten musste er irgendwo links abbiegen. Jetzt. Das Dorf endete. Landstraße. Er fuhr langsam weiter. Hier irgendwo musste der Hof kommen. Hier war es.

Er fuhr daran vorbei, wendete ein Stück weiter hinten und hielt dann direkt vor der Haustür. Mit der rechten Hand tastete er hinüber zum Beifahrersitz. Zwei Steine lagen dort, beide etwas größer als seine Fäuste.

Der Motor tuckerte leise. Er würde ihn laufen lassen, erledigen, was zu erledigen war, und dann schnell verschwinden. Jetzt war keine Zeit mehr nachzudenken. Das hatte er den ganzen Weg bis hierher getan. Das Nachdenken. Dieses Sicherinnern an die Vollmondnacht nach Ostern.

An Franzi!

Er sah sie neben sich am Feuer sitzen, spürte ihren Atem an seiner Wange, als sie ihn bat, noch mit hinaufkommen zu dürfen in seine Wohnung. Das war nicht ungewöhnlich. Schon oft hatten sie gemeinsam Musik gehört oder Franzi hatte in einer Ecke gesessen und gelesen. Doch was an diesem Abend passiert war, würde ihr beider Geheimnis bleiben. Ein Geheimnis, über das sie beide nicht sprechen, das sie aber auch nicht ungeschehen machen konnten. Jedenfalls war sie ihm seitdem aus dem Weg gegangen. Warum nur?

Die Erklärung hatte er eine Woche später erfahren, an einem Samstagmittag. Er hatte ihre Stimme im Hausflur gehört. Während ihn das Gewissen plagte, lachte sie und scherzte mit diesem Mistkerl, vor dessen Haus er nun stand. Ihm hatte sie sich an den Hals geworfen.

Und deshalb, weil er endlich zu wissen glaubte, dass er den richtigen Weg gewählt hatte, deshalb stand er nun hier. Es musste der richtige Weg sein, die Schuld zu tilgen, die dieser… dieser geile Bock auf sich geladen hatte.

Woher war der so plötzlich aufgetaucht? Warum? Wie konnte er so einfach in ihre Liebe eindringen und sie ihm wegnehmen? Franzi!

Er riss die Autotür auf, zögerte noch einen Moment und schwang sich dann hinaus. Kaum stand er neben dem Auto, holte er aus und warf den ersten Stein.

Der Knall war laut, sehr laut. Glas splitterte. Drinnen krachte der Stein gegen irgendeinen Schrank. Schnell wechselte er den zweiten Stein in die andere Hand und warf ihn in Richtung des nächsten Fensters.

Er wartete nicht und saß schon halb auf dem Fahrersitz, als die zweite Fensterscheibe zerbarst. Eilig zog er die Autotür zu, legte den 1. Gang ein und fuhr los.

Weg hier, nur weg!

Bis es Zeit war, zurückzukehren.

2

Zwei Monate später…

Birkenhain hieß der Bauernhof und vielleicht hatte er ja wirklich früher in einem Birkenhain gestanden. Jetzt jedoch könnte er ihn auf Haus am Wald umtaufen, überlegte Simon Jörgens, als er den Spachtel sinken ließ, mit dem er gerade die alte Farbe vom Fensterrahmen abkratzte.

Sein Blick glitt über den dunklen Himmel. Von den Baumwipfeln gegenüber war kaum noch etwas zu sehen. Doch er wusste auch so, wie es dort aussah. Von der Topographie her hätte Haus am Wald sehr viel besser zum Hof gepasst, obwohl es hinter der Scheune noch immer einige Birken gab. Schließlich wuchsen die überall, wo man sie ließ.

Aber das mit dem Umtaufen war natürlich Blödsinn. Der Name Hof Birkenhain war so alt, dass es eine Schande wäre, sich ernsthaft einen neuen Namen zu überlegen. Völlig egal, welchen. Denn solche Namen hielten sich. Letztlich waren der Hof und dessen Name ein Stück märkische Geschichte. Und weil sie beide alles Alte und Geschichtsträchtige liebten, waren Alexa und er hier hergezogen nach Hof Birkenhain.

Hof und Grundstück hatten sie billig bekommen, zum einen weil die Immobilienkrise 2008 über den großen Teich geschwappt war und die Preise in den Keller gedrückt hatte, zum anderen waren Bauernhaus, Scheune und Ställe stark sanierungsbedürftig gewesen. Sonst hätten sie sich dieses Anwesen niemals leisten können. So aber, und weil er vor 30 Jahren bei seinem Ingenieurstudium auch mauern gelernt hatte, zögerten sie nicht lange und kauften. Große Bedürfnisse hatten sie sowieso nicht.

Alexa wollte in der Natur entspannen und arbeiten. Und er? Er wollte endlich so leben, wie er es sich immer erträumt hatte: Alternativ sozusagen. Eigenes Gemüse. Hühner, Enten, Kaninchen. Ein Schwein für Wurst und Schinken.

Und dreimal die Woche Sex mit seiner Alexa! Mindestens! Schließlich, auf sein Gesicht stahl sich ein Grinsen, bin ich noch keine achtzig.

Simon Jörgens lauschte. Auf der Straße vor dem Haus hielt ein Auto. Türklappen.

Wenn jemand etwas will, dachte er, wird er schon klingeln. Und die Steinewerfer, fiel ihm ein, werden es nicht wieder sein. Nicht vor dem Schlafengehen.

Erneutes Türklappen. Das Auto fuhr weiter. Er atmete auf. Wahrscheinlich nur Werbung.

„Simon, Abendbrot.“ Alexas Stimme hallte durchs Haus.

Ihre erprobte Lehrerinnen-Stimme. Grundschule ist beinahe so schlimm wie Rüttelplatte oder Presslufthammer, meinte sie immer. Da braucht man sowas.

„Bin gleich soweit“, rief er zurück und hängte die Fensterflügel ein. Für heute war es wirklich genug. Außerdem schlug das Wetter um. In der letzten halben Stunde war es draußen merklich kühler geworden und der Wind hatte aufgefrischt.

Alexa saß schon am Tisch, als er die Küche betrat. Er freute sich auf die Tomatenscheiben. Nur mit Pfeffer und Salz gewürzt waren sie so lecker, dass er sich hineinlegen könnte. Als er sich setzte, griff er zuerst zu der Flasche Rohmilch, die man neuerdings in Kraatz kaufen konnte, wo er bis vor drei Monaten Pakete ausgefahren hatte.

Im Arbeitszimmer klingelte das Telefon. Alexa sprang auf und rannte hinaus. Er hörte, wie sie sich meldete. Als sie wieder in die Küche kam, sah er sie fragend an.

„Ach, irgendein Blödmann. Hat einfach aufgelegt.“

„Aha“, sagte er und legte Tomatenscheiben aufs Brot. Als er hineinbiss, hatte er den Anruf schon vergessen.

„Und was machen wir heute Abend noch?“, fragte er zwischen zwei Bissen. Auf seinem eigenen Plan stand nur eins. Er brauchte das. Heute, da Sonntag war, besonders, aber am liebsten jeden Tag.

Er hob die freie Hand und strich ihr über die vollen Lippen. Als sie lächelte, griff er nach hinten und ließ ihren Pferdeschwanz durch seine Finger gleiten. Diese Geste verstanden beide ohne Worte. Manchmal benutzte sie sie ja auch, diese Geste. Einschließlich des Streichens über den Pferdeschwanz. Von hinten hätten sie als Geschwister gelten können mit den Schwänzchen. Nur dass er nicht blond war. Sie eigentlich auch nicht. Da hatte sie nachgeholfen.

Als seine Hand weiter den Rücken hinunterwanderte, sah sie ihn an und schüttelte den Kopf.

„Heute nicht, Schatz. Ich muss noch ein Diktat korrigieren. Das kann dauern.“

Warum sagt sie das, ging es ihm durch den Kopf. Sie weiß doch, wie sehr ich es brauche. Und schließlich ist Sonntag.

„Schade“, sagte er. Bemühte sich, es leichthin klingen zu lassen. Dann nahm er die Hand zurück und aß weiter.

Alexa griff zur Milchflasche und fragte: „Wann musst du denn morgen raus?“

„Halb fünf. Große Runde. 120 Pakete“, murmelte er mit vollem Mund, schluckte runter und erklärte: „Schwellnuss hat angerufen.“

„Dann bist du ja erst wieder abends um neun zu Hause. Schade.“ Nun strich sie ihm über den Rücken. „Aber nicht zu ändern, so lange du dich weigerst, wieder in deinem Beruf zu arbeiten.“

Er schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, will ich nicht. Nie wieder, hörst du? Einmal dieses Burnout hat mir gereicht. Glaub mir.“

„Aber…“

Er hob die Hand. Mein letztes Wort, hieß das. Dann dachte er an die zwanzig Pakete, die sowieso noch draußen im Transporter lagen, da er sie gestern nicht mehr geschafft hatte auszufahren.

„Ich gehe noch Holz holen“, sagte er dann und stand auf. „Sollst nicht frieren. Auch wenn ich heute schmachten muss.“ Er spürte Alexas Blick im Rücken, als er zum Beistellherd ging und sich den Holzkorb griff. Jetzt, Anfang Dezember, ging es nicht mehr ohne Heizen, obwohl sie beide hart im Nehmen waren.

Als er vor die Tür trat, konnte er kaum noch die Scheune gegenüber erkennen. Kopfsteinpflaster und das Gras dazwischen schimmerten dunkel. Es regnete und stürmte. Das Wasser schien, so wie es den Boden erreichte, sofort zu gefrieren. Jedenfalls schluckte die Nässe das Licht der Flurlampe und der Hof erschien ihm noch dunkler, als sonst schon.

Mist. Er hatte vergessen, neue Taschenlampen-Batterien zu kaufen und das Hoflicht ging seit Tagen nicht mehr. Dann muss es eben ohne gehen. Der Himmel war ja noch ein bisschen hell und er würde das Holz notfalls im Schlaf finden. Also los jetzt, trieb er sich an, zog den Kopf zwischen die Schultern und trat in Hauslatschen hinaus.

Nach zwei Schritten hörte er von der Straße her ein Auto kommen, blieb stehen und lauschte.

Wer fährt denn bei dem Wetter in der Gegend herum?

Egal, ob er pitschnass wurde – es war zu einer Marotte geworden, auf jedes Geräusch zu hören. Erst recht auf solche menschlichen Ursprungs. Natürlich war das beknackt, aber seit der Sache mit den eingeworfenen Fensterscheiben lag er ständig auf Lauer.

Das Auto hielt an. Nicht vor dem Hof, sondern irgendwo im Nirgendwo. Der Motor erstarb. Nichts war mehr zu hören außer dem Trommeln des Regens auf dem Blechdach neben der Toreinfahrt.

Nachdem er noch einmal intensiv gelauscht hatte, ohne auch nur ein Türklappen zu hören, schüttelte er den Kopf und versuchte, sich zu orientieren. Das Flurlicht war inzwischen wieder erloschen.

Kurz darauf erkannte er die Silhouette des Klo-Häuschens, das mitten auf dem Hof stand, ging los und machte einen großen Bogen darum. Hinter dem Klo-Häuschen befand sich der Mistplatz. Leicht abgesenkt, mit glitschigen Backsteinen als Untergrund, halb voll Schweine-, Hühner- und Pferdemist, wobei die Schweinescheiße überwog. Dort hineinfallen wollte er auf keinen Fall.

Die Scheunenwand, an der er nun schon wochenlang herumbastelte, lag im Dunkeln. Er steuerte vorsichtig auf die Stelle zu, wo seiner Meinung nach das rechte Drittel der Scheune endete. Es beherbergte den Keller, dessen Ziegelwand hatte er inzwischen neu hochgemauert. Die restlichen beiden Drittel bestanden aus Fachwerk. Die alten Balken waren durch neue ersetzt und wurden nach und nach verheizt.

Noch zwei, drei vorsichtige Schritte. Irgendwo hier musste die große Öffnung sein, bei der noch das Tor fehlte. Er streckte einen Arm vor und ging langsam weiter.

Jetzt bin ich durch, dachte er und schrammte im selben Moment mit der rechten Schulter an der Ziegelwand entlang.

„Verdammt, das gibt wieder einen blauen Fleck“, knurrte er, blieb stehen und betastete die schmerzende Stelle. Wahrscheinlich blutete sie auch. Egal. Der Pullover musste sowieso gewaschen werden.

Simon Jörgens tastete nach der Wand, machte zwei Schritte nach vorn, dann drei nach links und bückte er sich nach dem Hauklotz, der hier irgendwo stehen musste.

Richtig, da war er.

Er setzte sich darauf und befingerte noch einmal seine Wunde. Doch, durch die Maschen an der Schulter suppte Blut. Verdammter Blutverdünner. Kaum war man fünfzig, kamen alle möglichen Zipperlein. Ob man sich nun vorsah oder nicht. So, dann los: Holz einladen.

Er stellte sich den Korb zwischen die Füße und begann, ihn vollzupacken. Sägespäne rieselten ihm in die Latschen, piekten und hakten sich in den Socken fest. Mist.

Plötzlich war da ein Lichtschein. Simon Jörgens richtete sich auf und schaute zum Haus.

Kam Alexa, um nach ihm zu sehen? Sie wollte doch arbeiten.

Das Licht kam auch nicht aus dem Hintereingang, sondern von der Hausecke. Die an der Toreinfahrt. Eine Taschenlampe funzelte.

Irgendjemand zischte: „Mach das Licht aus!“

Jetzt erlosch es, ein Kichern war zu hören. Eine weitere Lampe wurde kurz eingeschaltet und leuchtete den ersten an. Eine dunkle, schmächtige Gestalt, die sich auf den Hintereingang zu bewegte.

Simon Jörgens stand auf. Er hörte das Quietschen der Hintertür, als der eine sie öffnete. Im Flur ging das Licht an. Alexa kam im Hintergrund aus ihrem Büro. Davor, noch auf der Treppe, die Rücken zweier dunkler Gestalten mit Kapuzen.

„Was machen…?“ Alexas Stimme. Kreischend ängstlich.

Dann peitschten drei Schüsse durch die Nacht.

Wumm! Wumm! Wumm!

Aus dem Hausflur klangen sie wie Donnerschläge. Alexas Kopf flog nach hinten, dann wurde ihre linke Schulter zurückgeschleudert. Und der dritte Donnerschlag ließ sie nach vorn zusammenklappen und zu Boden gehen. Mit der linken Seite schlug sie auf. Der rechte Arm wurde noch einmal hochgeschleudert, fiel dann kraftlos zurück auf ihren Körper, der langsam auf den Rücken sackte und reglos liegen blieb.

Unendlich lange Zehntel Sekunden starrte Simon Jörgens auf die dunklen Gestalten, den erleuchteten Flur und Alexa. Er verstand nicht, was dort geschah. Dann kam der Schock und mit ihm das Zittern. Alles an ihm bebte.

Doch als die beiden Gestalten drinnen nach rechts und links auseinanderspritzten und wieder dieses irre Kichern zu hören war, fiel auch von ihm die Starre ab. Vorsichtig ließ er sich hinter den Hauklotz sinken.

Alexa, schrie es in ihm. Alexa!

Und dann: Mein Gott, was wollen die? Warum Alexa?

Dann nur noch Zittern und krampfartiges Schluchzen.

Simon Jörgens schlug die Hände vor's Gesicht. Dann riss er sie wieder runter, wandte gehetzt den Kopf und schaute am Hauklotz vorbei zum Haus. Der Anruf fiel ihm ein.

Mein Gott, dachte er, die suchen mich! Mein Gott, schrie es ängstlich in ihm. Warum? Was mache ich nur?

Alexa! Ist sie tot?

Was mache ich? Die Polizei rufen!

Er suchte fieberhaft in seinen Hosentaschen. Verdammt, das Handy lag auf dem Küchentisch. Wieder spähte er zum Haus. Taschenlampen funzelten hinter den Fenstern. Schnell zog er den Kopf zurück.

Panik. Sein Herz raste, pumpte und pumpte. Er bekam keine Luft. Vor seinen Augen begann es zu flirren. Blitze huschten über die Netzhäute.

Nein, nein… Ich muss mich beruhigen, dachte er, sonst… Was mache ich nur?

Er schloss die Augen und versuchte, langsamer zu atmen. Dieses Scheiß Herz, dachte er. Sei doch still! Wieder schaute er am Hauklotz vorbei. Einer kam jetzt aus dem Haus und leuchtete den Hof ab. Dann ging er nach links zur Werkstatt, wo die Tür offen stand. Er sah, wie der Mann (ja, bullig war er und wie er sich bewegte, musste es ein Mann sein) die Taschenlampe und noch etwas vor sich hielt. Wie er in die Werkstatt leuchtete und sich dann seitlich hineinschob. Einen Augenblick später kam er wieder heraus und sah sich um. Jetzt leuchtete er zur Scheune.

Verdammt! Alexa ist doch tot – was wollen die denn noch? Warum, Herrje, suchen sie mich?

Simon zog den Kopf zurück und rührte sich nicht mehr. Scheiße. Wenn er hierher kommt, findet er mich.

Nun kam der andere aus dem Haus gestolpert. Dessen gurgelndes Kichern klang schrill.

„Such im Auto, ob dort jemand ist“, rief der erste von der Werkstatt her. Nicht besonders hoch, nicht besonders tief, aber eine Männerstimme. Er kannte sie nicht. Hatte sie noch nie gehört.

„Nun mach schon, schau dort nach.“

Die Tür zum Laderaum wurde aufgezogen. Etwas polterte.

Mein Gott, war der besoffen? Wieder dieses irre Kichern.

„Wo steckt der Mistkerl bloß?“, fragte die Stimme wieder, aber eher zu sich selbst. Die Stimme war näher gekommen. Scheiße, er musste weg hier. Hinten raus. Schnell!

Langsam schob Simon Jörgens sich rückwärts, bemüht, hinter dem Hauklotz zu bleiben, falls der Kerl in seine Richtung leuchtete. Er stieß gegen Metall. Die Schubkarre. Weiter. Nach links, wo die alte Dreschmaschine stand. Dort hatten sie angefangen, die ehemals zugemauerte Tordurchfahrt wieder aufzureißen.

Jemand betrat die Scheune, Licht funzelte von dort, wo er gerade noch gehockt hatte. Auf Knien rutschte er weiter. An dem Mauerdurchbruch, der noch nicht bis zum Boden reichte, stand er auf. Steckte das linke Bein hindurch und den Kopf.

Da wurde er von hinten angestrahlt.

Als er zurückschaute, sah er nur blendendes Licht. Dann ließ er sich nach vorn fallen. Schüsse peitschten hinter ihm. Trafen das Mauerwerk.

Schmerz explodierte in seiner Wade.

Er zog die Beine an den Körper, rappelte sich auf und zwängte sich zwischen Holundersträuchern hindurch.

Fünf Meter entfernt standen die ersten Bäume. Wieder fielen Schüsse.

Dann der Birkenhain.

3

Franz Xaver Bullrieder war einiges gewöhnt, doch heute empfand er es als besonders ungemütlich auf seinem Hochsitz. Kalt war es und über die Wiese, auf die er blickte, jagten abwechselnd Regenschauer und Niesel.

„Hoffentlich breche ich mir nicht den Hals beim Abstieg“, murmelte er vor sich hin, denn auf dem hölzernen Geländer hatte sich inzwischen eine dünne Eisschicht gebildet.

Seit zwei Stunden saß er hier, um Rotwild zu beobachten. Die Brunftzeit war angebrochen. Doch ob stattliche Zwölfender oder von vorn herein chancenlose Kronenhirsche, sie sammelten sich offenbar auf der anderen Seite des Waldes. Hier jedenfalls ließ sich nicht einmal ein Spießer sehen. So dass sich Franz Xaver Bullrieder inzwischen fragte, was er hier wollte. Mit dem Bayerischen Wald ließ sich Brandenburg nicht vergleichen. Sicher nicht. Aber wenigstens hatte ihm sein neuer Nachbar erlaubt, dessen Hochsitz zu benutzen. Das war anständig von ihm, fand er.

Na ja, er würde sich hier schon noch irgendwie einleben.

Wenn er erst seine eigene Pacht hatte, würde alles anders werden. Überhaupt viel heimischer würde er sich fühlen. Schließlich war der Hof billig gewesen und besser als in Nürnberg war es hier allemal. Als größten Vorteil empfand er jedoch, dass man ihn hier nicht kannte. Und zwar aus gutem Grund.

Dass er hoffte, hier eine neue Heimat zu finden, weil es billiger war, das würde er anderen gegenüber niemals zugeben. Einem Eingeborenen, einem Preußen, gegenüber erst recht nicht. Er war zwar nie soweit gegangen, sie als Saupreiß zu bezeichnen, nicht einmal am Stammtisch, aber freundschaftliche Gefühle konnte er sich auch nicht abringen, wenn er zum Beispiel an die Beamten vom Bauamt dachte.

Plötzlich knallte es ganz in der Nähe. Franz Xaver Bullrieder schrak auf. Drei Schüsse, links von ihm.

Drei? Und wie eine Jagdwaffe hatte es auch nicht geklungen. Er nahm sein Fernglas vor die Augen und schaute aufmerksam nach links. An dem Bauernhof am Ende der Wiese war er vorhin vorbeigefahren. Aber wer schoss hier wild um sich?

Der Hof, dessen vordere Ecke noch gerade so hinter den Bäumen hervorlugte, lag im Dunkeln. Nein, da funzelte jemand herum. Er nahm das Fernglas herunter und versuchte, sich zu orientieren.

Fünf Minuten später: Wieder Schüsse, diesmal zwei.

Sie klangen irgendwie gedämpfter als die vorigen und zumindest die letzte Kugel schlug in ein Mauerwerk ein. Jedenfalls glaubte er, das gehört zu haben.

Jesus, was trieben die da? Was soll nur diese Ballerei? Kein Wunder, dass sich hier kein Wild blicken ließ.

Egal, hier noch länger herumzusitzen hatte keinen Zweck. Dann ging er doch lieber ins Bett oder las noch etwas. Der Krimi, den er sich gekauft hatte, soll ja angeblich gut sein und hier in der Gegend spielen. Warum nicht damit den Abend beschließen? Die richtige Einstimmung dafür hatte er ja gerade erlebt.

Einen Moment lauschte er noch in die Nacht. Alles war still. Dann packte Franz Xaver Bullrieder seine Thermoskanne zurück in den Rucksack, erhob sich vom harten Sitz und kletterte vorsichtig die Leiter hinunter. Unten angelangt überlegte er, ob er quer über die Wiese gehen sollte oder doch lieber am Waldrand entlang bis zu dem Hof. Er entschied sich für letzteres. Unter den Bäumen war es bestimmt nicht so glatt.

Mit der rechten Hand hielt er das Fernglas fest, damit es nicht immer gegen seinen Bauch schlug, und machte sich auf den Weg. Und wie immer war er bemüht, sich dabei möglichst lautlos zu bewegen.

Dieses schleichende Gehen war ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen. Einmal, als er in Nürnberg zwischen Wohnung und Bierstübl gewechselt war, hatte er sich dabei ertappt, so durch die Straßen zu laufen. Sah bestimmt komisch aus, dachte er und lächelte in sich hinein.

Von dem Hof war jetzt nichts mehr zu sehen. Er musste erst um die Waldnase herum, die ihm die Sicht versperrte. Sollte er außen herum gehen? Nein. Sie konnte ja höchstens zwanzig Meter breit sein. Also quer durch.

Vorsichtig trat er zwischen die ersten Bäume und blieb stehen. Finster wie im Arsch eines bayerischen Problembären. Er wartete, bis sich seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.

Plötzlich schien der Wald vor ihm zu explodieren, sinngemäß gesprochen natürlich. Jemand bahnte sich rücksichtslos einen Weg zwischen Bäumen, Büschen und Brombeeren hindurch.

Äste brachen. Dann Schnaufen.

Mein Gott, das klang ja wie die Elchkuh, die er damals in Norwegen hatte jagen dürfen. Aber nein, das war ein Mensch, der dort rannte.

Dann peitschte ein Schuss. Die Kugel schien nur fünf Meter neben ihm in einen Baum einzuschlagen.

Franz Xaver Bullrieder ging in Deckung.

Verdammt, wer rennt hier durch den Wald und schießt wild um sich? Das gibt es doch gar nicht. Er war doch hier nicht in den Ukrainischen Wäldern, sondern in Brandenburg.

Der Wilddieb, oder was immer es war, lief vorbei. Dahinter kam noch einer. Wieder knallte es, dass Franz Xaver Bullrieder die Ohren klingelten.

Was soll das bloß? Selbst ein Wilddieb hat sein Anrecht auf Leben, dachte er, ging in die Hocke und tastete über den Waldboden vor sich. Da, ein Arm starker, morscher Ast.

Soll ich? Ja.

Er schleuderte den Ast von sich, direkt in die Laufbahn des Verfolgers. Und er hatte Glück: Der Ast prallte nicht gleich gegen den nächsten Baum, sondern flog mehrere Meter. Noch einmal krachten zwei Schüsse, Pistolenschüsse, er hatte es deutlich erkannt, und diesmal wirklich genau in seine Richtung. Aber wenn er richtig gezählt hatte, müsste jetzt selbst beim größten Pistolenmagazin die Munition alle sein. Und da hörte er auch schon das Klicken.

Still blieb er sitzen.

Ob ich heute Nacht schlafen kann, fragte er sich. Bei so einer Aufregung? So einer Räuberpistole?

Jedenfalls würde er die Polizei anrufen. Denn das hier ging ja nun wirklich nicht. Von dem Wilddieb, oder wer immer davongelaufen war, war nichts mehr zu hören. Der Verfolger fluchte leise und machte kehrt.

Franz Xaver Bullrieder zog sein Handy hervor und drückte die 110.

4

„Butterbrod. Polizeirevier Gransee“, meldete sich Jörg Butterbrod, nachdem die Leitstelle das Gespräch an ihn weitergeleitet hatte.

Die sollten Weiterleitstelle heißen, dachte er böse. Sitzen in Potsdam und haben keine Ahnung, was hier los ist. Glauben die, wir hätten nichts zu tun?

Gerade waren auf der Bundesstraße wieder zwei Irre bei Glatteis in die Bäume gerast.

„Bullrieder.“

„Was? Wollen Sie mich beleidigen?“, fragte Butterbrod zerstreut zurück.

„Na Ihr Name ist ja auch nicht viel besser, gä? Entschuldigung, ich heiße Franz Xaver Bullrieder und möchte eine Straftat melden. Wo bin ich denn gelandet?“

Jörg Butterbrod atmete tief durch.

„Auch Entschuldigung. Hier ist im Moment ein wenig Stress. Also, Sie sind im Polizeirevier Gransee gelandet. Was kann ich für Sie tun? Was für eine Straftat?“

„Gransee? Das ist gut. Also, stellen Sie sich das vor: Ich sitze auf meinem Hochsitz gleich hinter Wolfsruh und da ballert jemand in der Gegend herum. Mit einer Pistole, gä? Ich bin runter vom Hochsitz und im Dunkeln rennt dann einer an mir vorbei. Dahinter ein Zweiter und hat geschossen. Was ist denn hier bloß los in Brandenburg?“

„Wurde jemand getroffen?“

„Nein, ich denke nicht. Es wurden acht Schüsse abgegeben.

Dann war das Magazin leer und der Schütze ist umgedreht.“

„Und wo genau war das?“, hakte Jörg Butterbrod nach, der immer noch nicht sicher war, ob ihn da jemand auf den Arm nehmen wollte.

„Kennen Sie die Straße von Wolfsruh nach Schulzendorf? Da steht auf der rechten Seite ein einzelner Bauernhof. Von diesem Hof kamen die ersten Schüsse. Ich bin jetzt ein paar hundert Meter hinter dem Hof im Wald.“

„Okay, ich komme. Aber es wird ein Weilchen dauern. Bei dem Glatteis sind alle Streifenwagen im Einsatz. Wollen Sie zu Hause warten? Wo wohnen Sie?“

Jörg Butterbrod legte auf, als er sich alles aufgeschrieben hatte, und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück.

Sollte da wirklich etwas dran sein, überlegte er. Die Jörgens, die dort wohnen, kannte er, zumindest mit Simon hatte er sich schon ein paar Mal unterhalten, wenn der ein Paket brachte.

Ein bisschen verrückt sind diese Alternativen ja. Aber eins glaubte er auf gar keinen Fall: Dass Simon Jörgens eine Pistole besaß und damit in der Gegend herumballerte.

Im Treppenhaus summte das elektronische Türschloss. Jörg Butterbrod schaute auf die Uhr. Tatsächlich. Seine Ablösung war da.

„Moin, Moin“, rief da auch schon Stanislaus Kern von der Tür her. „So eine Sauglätte aber auch. Da will man doch eigentlich gar nicht vor die Stalltür treten.“

„Hallo Stan. Böcke und Zippen wohlauf?“ Butterbrod grinste. Er kannte Stans Leidenschaft für Kaninchen.

„Nee, habe geschlachtet. Die übrigen sitzen in den Ecken und hoffen, dass das Schicksal diesmal an ihnen vorbeigeht.“

„Wie lange musst du denn noch Innendienst schieben?“, fragte er dann laut. Stan zog sich nebenan die Uniform an.

„Präzisiere bitte deine Frage. Wenn's nach Muttern geht oder nach dem Amtsarzt oder nach mir?“ Stan ließ seine Aktentasche ins Spind fallen und knallte es zu.

„Im Ernst, Stan, wie geht’s? Merkst du es noch?“

„Sagt Mutter auch immer.“

Stan klopfte auf die Tischplatte, als er ins Büro trat.

„Toi toi toi, vielleicht kann ich nächste Woche wieder auf meinen Wagen. Hab Sehnsucht nach Olli, dieser Lachgummi- Fressmaschine. So ein kleiner Lungenschuss bringt mich schließlich nicht um.“

Jörg Butterbrod lachte. Jetzt ging das wieder. Nach dem Banküberfall, bei dem Stan zufällig dazwischengeplatzt war, war niemandem zum Lachen zumute gewesen.

„Okay, Stan, ich hab's eilig. Gerade kam ein Anruf, dass jemand im Wald bei Wolfsruh herumballert. Ich will dort jetzt noch hin. Die Streifenwagen sind auf der B 96. Zwei Unfälle. Ich rufe dich an, wenn noch etwas ist.“

Er stand auf und zog seine Uniformjacke über. Sie gaben sich die Hand und draußen war er.

Obwohl er langsam fuhr, brauchte er nur zwanzig Minuten bis Wolfsruh. Die Hausnummer fand er schnell und klingelte.

Nichts rührte sich.

Schnell stieg er wieder ins Auto und gab Gas. Fast am Ende des Dorfes bog die Straße links nach Schulzendorf ab. Es sah schon von weitem glatt aus. Der kalte Wind hatte offenbar ganze Arbeit geleistet. In Schrittgeschwindigkeit fuhr er in die Kurve. Der Suzuki begann sofort, sich zu drehen.

Jörg Butterbrod saß entspannt da und wartete, bis es aufhörte. Dann gab er vorsichtig Gas und bemühte sich, den Wagen auf der Fahrbahnmitte zu halten. Zum Glück kam ihm niemand entgegen. Aber schlussendlich rutschte ihm die Karre doch von der Straße. Schotter und Gras brachten ihn zum Stehen.

Fluchend schaltete er die Zündung aus, griff sich die Taschenlampe und stieg aus. Wald, Finsternis, Wind und Regen erwarteten ihn.

Bis nach Birkenhain müssen es noch ungefähr 500 Meter sein, überlegte er und ging los. Immer schön im Gras neben der Straße. Da war es noch am ungefährlichsten.

Unterwegs versuchte er sich zu erinnern, ob Hof Birkenhain vor oder hinter der Bahntrasse lag, die früher zur Muna geführt hatte, inzwischen aber demontiert war. Nur der Damm markierte noch den alten Streckenverlauf zur Munitionsfabrik, die jeder Granseer zumindest dem Namen nach kannte.

Hinter der Trasse, etwas versteckt, lag auch der Tümpel, von dem er in einem Kinderbuch gelesen hatte. Dieses Buch hatte ihn als als Zwölfjährigen so fasziniert, dass er eines Tages losgezogen war, um die Käuzchenkuhle zu suchen. Aber gefunden hatte er sie erst viele Jahre später, als er dorthin musste, weil ein Kind darin ertrunken war.

Mit langen Schritten passierte er die Senke, in der der Bahndamm verlaufen war. Hof Birkenhain lag ein Stück dahinter. Licht brannte nicht und alles schien ruhig. So sehr, als wären die Jörgens bereits schlafen gegangen. Aber an einem Sonntag? Unwahrscheinlich. Und spät war es ja auch noch nicht.

Hinter einem der Straßenbäume blinkte es rhythmisch. Wahrscheinlich der Anrufer.

Jörg leuchtete kurz mit seiner Taschenlampe über die Fenster des Hauses. Doch noch immer regte sich nichts.

„Hallo?“, rief jemand aus Richtung der Warnblinkanlage.

„Herr Bullrieder? Hier ist die Polizei.“

Er ging der Stimme entgegen.

„Glatt heute, nicht wahr?“, fragte er, als sie sich auf halbem Weg zwischen Auto und Jörgens Hof trafen.

„Ja, ich werde mein Auto wohl stehenlassen und es morgen holen. Gä?“, sagte sein Gegenüber in deutlich bayerischem Akzent. „Gestatten, Bullrieder.“

„Butterbrod. Bei Ihnen sagt man wohl Bemme. Sie kommen doch aus dem Süden – oder?“

„Was Sie meinen, ist Sachsen. Ich bin aus Nürnberg. Das sind die mit den Würstchen. Passt gut zu Bemme, gä?“

Franz Xaver Bullrieder röhrte laut und tief.

„Okay. Jedenfalls scheine ich ja hier richtig zu sein. Haben Sie noch jemanden gesehen, seit Sie hier warten?“

„War alles ruhig, Herr Wachtmeister.“

„Hauptkommissar“, verbesserte Butterbrod automatisch, während er darüber nachsann, ob er sich so in den Jörgens getäuscht haben sollte.

Er zog noch einmal sein Handy hervor. Gerade erst neun. Dann ließ er sich erklären, wo die Ballerei stattgefunden hatte, und versicherte, dass er sich melden würde wegen der Aussage.

„Gehen Sie am besten nach Hause. Ich werde mal klingeln.“ Sie gaben sich die Hand. Dann schlitterte er vorsichtig auf Jörgens' Haus zu.

5

Mein Gott, wer bin ich?, schoss es Simon Jörgens durch den Kopf. Und warum ballert der hinter mir her?

Eine Art Jaulen oder Heulen entfuhr seiner Kehle. Und links von ihm im Gebüsch machte sich irgendjemand oder etwas davon. Oder nicht? Es raschelte kurz, dann trat wieder Stille ein und die fühlte sich an, als würde jemand auf ihn zielen und habe jetzt die richtige Schussposition gefunden.

Wo ich bin? Im Wald. Wenn er die Umgebung auch noch nicht genau einordnen konnte. Ein Holunderbusch, mehrere niedrige Birken ringsum. Jedenfalls den Umrissen nach. Und er saß auf einem Baumstumpf, wahrscheinlich südlich von Wolfsruh, und kam nicht weiter, weil sein krankes Herz wilde Tänze aufführte und das Bein nicht minder schmerzte. Und sein angekratztes Hirn schien auch einen Schuss abbekommen zu haben.

Was genau den Schmerz in der Wade verursachte, konnte er in der Dunkelheit nicht erkennen. Vorsichtig tastete er an der Wunde herum. Jedenfalls war da so viel Blut, dass das Hosenbein daran festklebte.

Er richtete sich auf und schaute nach oben zu dem, der angeblich immer zuschaut und penibel das Geburten- und Sterberegister führt. Angeblich, dachte er. Oder fälscht der da oben auch seine Statistik? Machen wir die Probe:

„Habe ich schon immer Simon Jörgens geheißen? Du da oben: Bin ich nicht in Fürstenberg, nur ein paar Kilometer von hier, zur Schule gegangen und habe dann studiert?“, flüsterte er und wusste irgendwie, dass es der Schock war, der ihn das fragen ließ.

„Simon Jörgens. Ja, das bin ich“, sagte er wiederum laut, als wolle er prüfen, ob sein Gehör noch funktionierte.

„Und Alexa?“, fragte er dann.

Im Jahr der Wende hatten sie sich kennengelernt und gleich geheiratet. Verrückt waren sie beide. Aufeinander. Das wusste er noch genau. Verrückt war auch, hierher zu ziehen. Ans Ende der Welt, wo die Wölfe ruhen. Fünf Jahre war das her.

Und jetzt war Alexa… tot?

„Hey du, schau mal nach. Ist sie bei dir dort oben angekommen?“, rief er laut und stach mit dem Finger in den Himmel, damit der dort oben auch wusste, dass er gemeint war.

Er stellte sich den grauhaarigen beamteten Petrus am Himmelstor vor, im dunklen Anzug aus der Boutique Sternenlicht und einer blauen Fliege mit silbernen Punkten. In der Hand hielt er Klemmmappe und Gänsekiel.

„Und wenn sie da ist“, fuhr er dann flüsternd fort, „dann, dann wüsste ich gern, ob es ihr gut geht und warum sie sterben musste.“

Aber ob es ihr gut geht, überlegte er dann, kann sie mir doch auch selbst berichten. Oder? Jedenfalls, wenn sie wirklich dort oben angekommen ist und neben dem alten Griesgram am Tor steht, neben dem, der noch nie geantwortet hat.

„Alexa, sag was. Blinzle wenigstens mal.“

Simon Jörgens spähte angestrengt nach oben.

Kann es sein, dass der eine etwas größere Stern, der plötzlich zwischen den Wolken auftauchte, ihm zublinzelt?

Gleich daneben sah er noch einige, die aber stillhielten.

„Bist du das, Alexa?“

Danke, für dein Blinzeln. Ja, ich bin froh, dass es dir gut geht.

Er mochte den Blick nicht von ihr abwenden. Und ihr ging es wohl genauso.

„Die anderen neben dir – wer sind die?“, fragte er leise. Doch im gleichen Moment schoben sich wieder die Wolken heran und es begann erneut zu regnen.

Ob sie nun auch nass wird, fragte er sich unwillkürlich und zog den Kopf zwischen die Schultern. Bestimmt ist sie durch die Pforte gegangen. Zusammen mit den anderen.

Aber warum haben diese Fremden Alexa erschossen? Gibt es einen Grund? Und wenn es einen gab, muss der doch mit ihm selbst zu tun haben. Mit wem sonst? Hat der eine nicht erwähnt, dass sie eigentlich ihn suchten? Sicher war er nicht.

Oder konnte eine Lehrerin eine Bedrohung für jemanden darstellen? Das war doch Quatsch. Eine Lehrerin der Grundschule. Nein. Aber tot ist nun mal sie.

Und er selbst? War er auch tot? Es fühlt sich so an. Sein vernageltes Hirn schien tot zu sein, oder betäubt oder beides.

Aber wenn sein Bein schmerzt, dann lebte er doch, oder? War das Rasseln in seiner Brust der Beweis? Das Rasen seines Herzens, das seit 25 Jahren für Alexa geschlagen hatte? Okay, für ein paar andere auch. Aber die zählen jetzt nicht. Waren längst vergessen.

„Alexaaa!“, schrie er und ob die Mörder es hörten, war ihm scheißegal. Nie wieder würde sie auf der Bank draußen neben ihm sitzen und dem Sonnenuntergang zuschauen. Oder ihm liebevoll über die Wange streichen, wenn sie sonntags nebeneinander beim Frühstück saßen und auf den Hof schauten, ihrem späten Lebenswerk.

Die körperliche Nähe war ihnen immer wichtiger gewesen, als sich in die Augen zu schauen oder sich stundenlang über die Ereignisse des Tages auszutauschen.

Plappern kann ich in der Schule, hatte sie mal gesagt.

Auch das, was man jetzt über dieses körperliche Nähe denken mochte, ja. Aber er meinte das anders. Er meinte Händchen halten, wie man so schön sagt. Sich anlehnen, sich helfen bei den Arbeiten, die auf dem Hof zu erledigen waren. Das meinte er.

Als sie dabei waren, das Haus für sich einzurichten, hatte Alexa den Küchentisch ganz selbstverständlich vor das Fenster gestellt, das zum Hof zeigte. Ohne dass sie vorher darüber gesprochen hätten. Und ihre Lieblingsstühle stellte sie nebeneinander vor den Tisch, damit sie Seite an Seite sitzen und aus dem Fenster schauen und die Abendsonne genießen konnten. Sie hatte ihn nur kurz angeblickt, als sie das tat, und er hatte genickt.

Es war ein wirklich schönes Leben gewesen mit Alexa. Obwohl sie keine Kinder hatten. Irgendein Gendefekt. Es war nicht wichtig gewesen ab einem gewissen Punkt.

Einmal, noch in Berlin, hatte er sie von der Schule abholen wollen und draußen unter dem Klassenfenster auf sie gewartet. Es war Sommer gewesen. Die Fenster standen groß offen, so dass er die Stimmung auffangen konnte, die während des Unterrichts in der Klasse herrschte. Ausgelassenes Lernen. Sage keiner, das ginge nicht.

Er hatte es gesehen, gespürt. Und er hatte begriffen, dass sie gern ein Kind gehabt hätte. Wirklich gern.

Die Schule, ihre Klasse, das waren ihre Kinder geworden.

„Niemand hat so viele Kinder wie ich“, hatte sie geantwortet, als er ihr nach diesem Erlebnis vorschlagen wollte, ein Kind zu adoptieren.

„Und jetzt bist du tot, liebste Alexa“, flüsterte er.

Warum bin ich nur weggerannt, fragte er sich. Wir wären jetzt im Himmel wieder vereint. Ich hätte nur aufstehen müssen und dem Mann mit der Taschenlampe entgegengehen.

Die Pistole hätte den Rest erledigt.

Und jetzt? Was soll ich jetzt anfangen? Soll ich mich selbst umbringen? Das kann ich nicht. Doch wenn ich mich nicht mehr verstecke, finden sie mich vielleicht. Bestimmt sogar.

Aber zuerst müssten sie ihm erklären, warum Alexa sterben musste. Das wüsste er zu gern.

Verdammt! Sie hat doch niemandem etwas Böses getan.

„Ihr verdammten Hurensöhne!“, schrie er in die Nacht und schüttelte seine Faust, drohend, in irgendeine Richtung. Dann kam der nächste Weinkrampf.

Es dauerte lange, bis er sich beruhigt hatte. Irgendwie hielt ihn der Schock wach. Und noch immer saß er auf diesem Baumstumpf. Er fühlte sich zwar müde, vielleicht vom Blutverlust, aber noch hatte er sich nicht ganz in sich selbst verkrochen. Obwohl er, wenn das mit dem Blutverlust denn stimmt, einfach nur sitzen bleiben und warten brauchte. Das Leben würde aus ihm hinausrinnen. Und, wie zum Trost, neuem Leben Nahrung geben.

Langsam schüttelte er den Kopf. Nein, er durfte nicht aufgeben. Wenn er diese Mörder finden würde, wäre sein Weiterleben wenigstens nicht umsonst. Zuerst musste er zurück zum Hof. Handy, Geld, warme Sachen holen. Dann würde er auf die Suche gehen, in den Kampf ziehen sogar.

Und vielleicht… schoss es ihm plötzlich durch den Kopf… vielleicht ist Alexa ja gar nicht tot. Schließlich hat sie nicht geantwortet, nicht wirklich, und der dicke Alte mit seiner komischen Fliege dort oben auch nicht.

6

Wieso sollte Jörgens auf seinem Hof herumballern, fragte sich Jörg Butterbrod, als er erfolglos an der Vordertür rüttelte.

Seit über zwanzig Jahren tat Butterbrod Dienst in Gransee, aber ein solches Schauermärchen war ihm noch nie zu Ohren gekommen. Jedenfalls nicht in Gransee. Außerdem war anscheinend überhaupt niemand zu Hause. Er hatte geklingelt und geklopft, ohne dass sich etwas rührte. Jetzt würde er es am Hoftor probieren. Vielleicht auch noch auf dem Hof nach ihnen rufen.