Pflugstein - Mona Bodenmann - E-Book

Pflugstein E-Book

Mona Bodenmann

4,1

Beschreibung

Hoch über dem Zürichsee thronend, mitten im Acker, liegt ein Findling, auf dem ein Fluch liegt. Dass ein Investment-Banker nackt, mit einem Skarabäus in der Hand und drapiert mit Rosmarinkraut, am Fuße des Steins tot aufgefunden wird, gleicht einer melodramatischen Inszenierung. Was zunächst nach einem einfachen Tötungsdelikt aussieht, entpuppt sich für Kriminalpolizist Valentin Möller schon bald als ein raffiniert durchgeführter Mord. Während Möller mit Volldampf ermittelt, durchkreuzt seine Geliebte Viktoria Jung seine Bemühungen, indem sie auf eigene Faust nachforscht und sich dadurch in tödliche Gefahr bringt …

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Seitenzahl: 280

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Mona Bodenmann

Pflugstein

Kriminalroman

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Christoph Neubert

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © valdezrl – Fotolia.com

Dieser Roman beruht nicht auf Tatsachen. Während die Schauplätze größtenteils real sind, sind Namen, Personen und Handlungen rein fiktiv. Irgendwelche Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder Personen, seien sie lebend oder tot, sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

»Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.«

Prolog

Zu seinem einzgen Kinde voll Zorn Herr Hartmut sprach:

»Nicht länger sollst mein Alter besudeln du mit Schmach!

Der schnöden Buhlen Liebe dein Herz entsagen mag,

Wenn beide nicht soll treffen der drohnde Todesschlag.

Ich werde euch erfassen mit meines Grimmes Strahl,

Ich will euch Leib und Seele verderben allzumal;

Ich will der Rache Geissel euch schwingen um das Haupt,

Da ihr des Vaterwillens zu spotten euch erlaubt!«

Die Jungfrau stehet ruhig dem heissen Vaterzorn,

Sie spricht kein Wort, doch strömet in ihrer Brust ein Born

Von unnennbarer Liebe, von ewigfester Treu,

Die nicht gewohnt zu fragen, was Tod und Sterben sei.

Der Vater lenkt die Schritte zum einsamen Gemach,

Wo ihm des Zaubers Rüstzeug hoch aufgespeichert lag.

Er hat in seiner Zelle gebannt der Geister Schar,

Die seines Meisterwinkes gewärtig immer war.

Und auf den magischen Spiegel wandt er den Seherblick,

Die silberklare Fläche strahlt ihm sein Bild zurück:

Er sah, wie seine Tochter am blühenden Rosenhag,

Des Vaters Wort vergessend, im Arm des Buhlen lag.

Da ward sein Blut zu Flammen, durchglüht von heissem Groll,

Und langsam aus dem Munde das Schreckenswort ihm quoll:

»Ihr wollt es also haben? Wohlan, es sei vollbracht!

Herbei, herauf, du starke, du dunkle Geistermacht!«

Von allen Seiten rauschet herbei der Geister Heer,

Und steht, in Ehrfurcht lauschend, rings um den Meister her.

Da hat er den Dämonen sein Machtgebot erteilt,

Und blitzschnell das Verderben die Liebenden ereilt.

Noch hielten sie sich umschlungen, noch lagen sie Brust an Brust,

Und sogen sich aus den Augen der Liebe Himmelslust;

Da hüllten schwarze Wolken sie eng und enger ein,

Tod und Verderben kündend, umflammt sie Wetterschein.

Er öffnet mit Gekrache die Erde ihren Mund,

Und gierig fasst die beiden der unterirdsche Schlund;

Und da, wo sie getroffen der Vaterrache Strahl,

Da türmen die Dämonen ein mächtig Felsenmal.

Der Sage Mund verkündet, dass oft in stiller Nacht

Gespenstig Leben heimlich am Felsen dort erwacht.

Die Liebenden umschlungen umschreiten dann den Stein

Und rufen leise Klagen in alle Nacht hinein.

Von Sünde und von Reue, von schweren Fluches Bann

In mitternächtger Stunde man dort vernehmen kann.

Doch wehen Morgenlüfte vom Alpenkranz herein,

1

Viktoria Jung ist ans Rote Meer gereist, um das Staunen neu zu erlernen.

Sie setzt sich am Strand auf den kühlen Sand und saugt wie nebenbei den Geruch nach Tang ein. Ihre Augen ruhen auf dem Horizont. Noch ist er leer.

Sie kann inzwischen auf vieles verzichten, nicht aber auf die Morgendämmerung. Mit ihr zerrinnt die Dunkelheit, und mit der Dunkelheit die Mutlosigkeit. In dieser Hinsicht hat sie sich noch nie getäuscht.

Sie beobachtet, wie das Wasser sich lila färbt, als der neue Tag sein Licht vorausschickt. Aufreizend langsam macht die Sonne ihre Aufwartung und lässt das Meer aufleuchten. In die Betrachtung des Meeres versunken, erscheint ihr das Unerklärliche noch rätselhafter. Längst vergessene Sehnsüchte werden wach.

Erst als die ersten Sonnenstrahlen ihr Gesicht treffen, macht sie sich auf zu ihrem Morgenspaziergang.

Vor ihr erstreckt sich die Wüste, die von einer kahlen Gebirgskulisse eingegrenzt wird. Es ist wohltuend still, eine Stille, welche die Sinne schärft. Fasziniert beobachtet sie, wie die Sonne mit den Farben des Sandes spielt und geheimnisvolle Strukturen auf die ziegelrote Erde zaubert.

In ihrem ganzen Leben hat sie die Aufregung gesucht. Aber die Aufregung ist bedeutungslos. Es ist die Stille, die etwas bedeutet. Und plötzlich glaubt sie zu wissen, dass die Antworten schon da sind, bevor die Fragen in ihrem Kopf auftauchen.

Sie schwört sich, ihr Leben von nun an langsamer anzugehen.

Die weiß gekalkten Fassaden der Hotelanlage heben sich vorteilhaft von den Terrakotta-gefliesten Giebeln und dem blauen Himmel ab. Das Hotel, eingebettet in einer Oase von bunt blühenden Sträuchern, fügt sich harmonisch in die Wüste ein. Dennoch bleibt das Hotel ein Fremdkörper, der sich nur dank seiner Entsalzungsanlage am Leben erhält. Ohne menschliche Einwirkung gedeihen hier nur Mangroven und stachelige Sträucher, die den wandernden Sanddünen trotzen.

Nachdem Viktoria sich frisch gemacht hat, geht sie hinüber zum Restaurant. Inzwischen hat der Großteil der Hotelgäste gefrühstückt. Sie ist froh, ihre Ruhe zu haben. Während sie ihren Kaffee genießt, schaut sie aufs Meer hinaus. Das Meer als Verkörperung des Grenzenlosen. Ein Gefühl der Wehmut erfasst sie.

Nach dem Essen sucht sie erneut den Strand auf. Doch diesmal verschanzt sie sich mit einem Buch hinter einer Windschutzvorrichtung. Schon bald überkommt sie eine wohlige Müdigkeit.

»Hello Madam. You want drinks?Madam hello! Madam, can I bring you drinks?«

Sie wacht auf, als der dunkelhäutige Kellner ihren Arm berührt und ihr eine Wasserflasche entgegenstreckt.

Sie träumte von ihrem verstorbenen Vater. Er wollte, dass sie ihm folgte. Unvermittelt standen sie vor einem Abgrund. Er deutete in die Tiefe, doch da war nur ein schwarzes Loch, ein schwindelerregendes Nichts, das ihr große Angst machte. Doch die Panik war stumm, und sie wusste, dass sie springen würde.

Alles im Traum bist du selbst.

2

Viktoria nutzt die Mittagsstunden, um sich die Unterwasserwelt anzuschauen.

Um diese Zeit sind die Riffs menschenleer. Sie stakst mit ihren Flossen durchs seichte Wasser. Kaum ist es tief genug, schnorchelt sie los. Sie treibt über eine Riesenschildkröte hinweg, die auf dem Meeresboden Seegras frisst.

Wie ein Blick in den Himmel, denkt sie verwundert, als sie die von Korallen aus ihren Kalkskeletten geschaffenen Strukturen erreicht, wo sich Fische, Würmer und Krebstiere tummeln. Sie hat im Hotelprospekt gelesen, dass eine Koralle zehn Jahre braucht, um einen einzigen Zentimeter zu wachsen.

Sie schnorchelt am Rande des Riffs weiter. Ein Rochen hat sich auf dem seichten Meeresgrund im Sand eingebuddelt und ist nur schwer auszumachen. Dafür kann sie in der Nähe einer Höhle einen Blick auf einen Feuerfisch erhaschen.

Plötzlich ist sie umgeben von riesigen Schwärmen buntschillernder Fische, die sich synchron bewegen, wie die Instrumente eines fein aufeinander abgestimmten Orchesters. Verwundert stellt sie fest, dass ihr Körper automatisch dieselben Bewegungen ausführt wie der Fischschwarm.

Gemächlich folgt sie den scharfen Kanten des zerklüfteten Riffs, dessen Löcher und Höhlen mit farbenprächtigen Weichkorallen bewachsen sind, die für faszinierende Lichtspiele sorgen.

Und dann tut sich plötzlich eine beeindruckende Steilwand vor ihr auf. Sie schwebt am Rand des Riffs über sie hinweg. Die Schwerelosigkeit kommt ihr unwirklich vor.

Bei einer blauen Riesenmuschel, die sich verheißungsvoll einen Spalt geöffnet hat, verharrt sie und lässt sich von deren Anblick gefangen nehmen.

Ein Schlag am Kopf holt sie unsanft aus ihrer Versunkenheit. Dicht vor ihren Augen erblickt sie eine schwarze Flosse. Erschrocken taucht sie auf und schiebt ihre Taucherbrille über die Stirn. Neben ihr treibt die große Gestalt eines Schnorchlers. In seinen Händen hält er eine Unterwasserkamera.

»Können Sie nicht besser aufpassen!«, fährt sie den Mann an, als sein Gesicht über der Wasserfläche sichtbar wird.

»Tut mir leid.« Kaum gesagt, widmet der Schnorchler sich wieder der Unterwasserwelt.

Viktoria bringt ihre Taucherbrille in Position.

»Fragt sich bloß, wer wen gerammt hat«, ruft der Fremde ihr zu, als er unvermittelt wieder neben ihr auftaucht.

Ihr kommt die Stimme bekannt vor, doch sie erkennt Valentin Möller erst, als er seine Schwimmbrille hochschiebt. »Was machst du hier?«, ist alles, was sie herausbekommt.

»Wenn ich nicht von Meeresungeheuern verfolgt werde, fotografiere ich die Unterwasserwelt«, erwidert er schmunzelnd.

Das entlockt ihr ein Lächeln.

»Du siehst erschöpft aus. Soll ich dich zurückbegleiten?«, bietet er ihr an, als er sieht, dass sie sich damit abmüht, die Balance zu halten.

Sie sieht sich um und stellt erschrocken fest, dass sie sich weit draußen, an der uferabgewandten Seite des weitläufigen Riffs befinden. Sie hat die Distanz unterschätzt und verspürt plötzlich eine große Müdigkeit. Deshalb nimmt sie sein Angebot erleichtert an.

Endlich am Ufer angekommen, lässt sie sich ermattet auf den warmen Sand fallen. »Puh, ganz schön anstrengend diese Schnorchlerei.«

Valentin gibt zurück: »Wenn man sich dem Wasser hingibt statt dagegen anzukämpfen, ist es wie fliegen. Du, ich muss jetzt leider zurück ins Hotel, denn ich möchte vor dem Abendessen noch packen. Ich fliege morgen früh nach Zürich zurück. Lass uns später am Pool einen Apéro trinken und danach etwas zusammen essen. Einverstanden?«

»Gerne«, willigt sie erfreut ein.

Nachdenklich schaut sie seiner großen Gestalt nach. Sie findet, dass er noch besser aussieht als damals. Nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hätte sie es für möglich gehalten, Valentin ausgerechnet hier wieder zu begegnen.

3

Valentin sitzt mit ausgestreckten Beinen, das Gesicht der Sonne zugewandt, an der Poolbar.

Viktoria mustert den rothaarigen Mann. So entspannt hat sie ihn noch nie gesehen. Mit seinem strahlendweißen Hemd und den verwaschenen Jeans sieht er umwerfend gut aus. Das von der Sonne ausgebleichte Haar und das eingetrocknete Salz auf seinem sonnengebräunten mit Sommersprossen übersäten Gesicht verstärken seine männliche Ausstrahlung.

Sie geht auf ihn zu. »Darf ich?«, fragt sie mit einem Lächeln und deutet auf den Korbstuhl neben ihm.

Er springt auf.

Sie lässt sich von ihm umarmen. Er ist fast einen Kopf größer als sie. Bei seiner kräftigen Statur kommt sie sich mit ihren üppigen Formen genau richtig proportioniert vor. Sie saugt seinen Duft ein. Er riecht nach Sonne und Meer.

Als sie sich gesetzt haben, begegnen sich ihre Blicke. Es kommt ihr so vor, als schauten ihr seine braunen Augen, die von einem ausgeprägten Stirnwulst überschattet werden, direkt ins Herz.

»Was darf ich für dich bestellen?«, löst er den Zauber auf.

Sie entscheidet sich für einen Gin Tonic.

Er gibt dem Kellner ein Zeichen.

»Bist du zum ersten Mal hier?«, versucht sie die spannungsgeladene Stille zu überbrücken.

»Ja.«

»Und warum ausgerechnet Wadi Lahami?«

»Rein zufällig. Bis jetzt bin ich im Frühling immer nach Tansania gefahren.«

»Auf Safari?«

Er nickt bedeutungsvoll.

»Gefällt es dir hier?«, fährt sie fort.

»Und wie. Die Unterwasserwelt ist atemberaubend.«

»Ja, fragt sich bloß, wie lange noch«, gibt sie zu bedenken.

Er antwortet: »Hier ist man, soviel ich weiß, die Verpflichtung eingegangen, die Natur zu schützen.«

»Der Müll am Ufer zeigt, wo der Schutz aufhört«, gibt sie prompt zurück.

»Ja, leider«, stimmt er ihr zu.

»Wie lange bist du schon hier?«

»Fast eine Woche.«

Sie sieht ihn überrascht an. »Eigenartig, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind.«

»Stimmt. Mich hat es häufig zu den Mangrovensümpfen gezogen, um dort Watvögel zu fotografieren«, verrät er ihr.

»Ich war noch nie dort.«

Er lächelt in sich hinein. »Das erklärt doch einiges. Wann fliegst du zurück?«

»Am Sonntag.«

»Wohnst du immer noch in diesem abgelegenen Dorf?«

»Nein, ich bin umgezogen. – Wirklich schade, dass wir uns damals aus den Augen verloren haben«, bemerkt sie beiläufig.

Er entzieht sich ihrem Blick und schaut schweigend aufs Meer hinaus.

Verunsichert fährt sie fort: »Warum hast du …?« Sie unterbricht sich, ohne den Satz zu beenden. »Das, was ich am wenigsten verstehe, ist, warum du damals meine Anrufe nicht erwidert hast.«

Verwundert sieht er sie an. »Bist du mir deswegen immer noch böse?«

»Böse, nein, enttäuscht, ja«, gibt sie umgehend zurück.

Bedauernd zieht er die Schultern hoch. »Ich habe dich damals vor mir gewarnt.«

»Ja, das hast du. Aber ich dachte, dass ich dir mehr bedeute als nur ein schnelles Abenteuer.«

»Das kommt davon, wenn man seine Erwartungen zu hoch schraubt.«

Sie weiß nicht, was sie mehr verletzt. Seine Worte oder die Herablassung, die darin mitschwingt.

Er legt seine Hand auf ihren Arm. »Ich bin froh, dass du hier bist«, versucht er ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.

Sie muss sich zwingen, seine Hand nicht abzuschütteln.

Er beugt sich näher zu ihrem Gesicht hin und fährt fort: »Du hast mich verführt, und ich habe mich von dir verführen lassen. Wir haben eine wunderbare Nacht zusammen verbracht, die ich nie vergessen werde.«

Sie starrt ihn verächtlich an.

Er zuckt die Achseln. »Ich bin für eine Beziehung einfach nicht geschaffen«, erwidert er resigniert.

Die Wut nimmt Oberhand. Ich muss hier weg, beschwört sie sich.

»Ich werde versuchen, es dir zu erklären. Gib mir einfach ein bisschen Zeit«, fleht er sie an.

»Da gibt es nichts zu erklären«, erwidert sie mit Tränen in den Augen und springt auf.

Ohne sich von ihm zu verabschieden, geht sie in ihr Hotelzimmer zurück. Dort setzt sie sich auf den Balkon, um nachzudenken. Eine tiefe Niedergeschlagenheit befällt sie.

4

Vor knapp zwei Jahren wurde Iris Brunner beim Mondmilchgubel ermordet.

Iris war Viktorias Freundin gewesen.

Valentin Möller von der Zürcher Kriminalpolizei wurde damals mit der Aufklärung des Tötungsdelikts betraut.

So lernte Viktoria ihn kennen. Sie fühlte sich von Beginn an zu ihm hingezogen. Für sie war die Nacht, die sie am Ende der Ermittlungen zusammen verbrachten, weit mehr als ein schneller Flirt gewesen.

Sein Verhalten quält sie, aber mehr noch die Verbitterung, die in ihrem Inneren wütet. Trotzdem will sie sich die Ferien nicht verderben lassen. Er ist es nicht wert, denkt sie verbittert. In diesem Moment wird ihr bewusst, wie verheerend die Explosionskraft verdrängter Emotionen sein kann.

Ein lautes Klopfen reißt sie aus ihrer Grübelei.

»Bitte, mach auf. Ich möchte mit dir reden.«

Widerwillig öffnet sie Valentin die Türe.

»Es tut mir leid.« Er macht einen Schritt auf sie zu.

Sie weicht zurück.

»Es war nicht meine Absicht, dich zu verletzen«, versucht er es erneut.

Sie steht mit verschränkten Armen reglos da und wartet.

»Ich wollte dich damals anrufen. Ich habe mich wochenlang danach gesehnt, deine Stimme zu hören. Gleichzeitig wusste ich, dass du mehr wolltest, als ich dir zu geben bereit war.«

»Ist das alles?«, gibt sie kalt lächelnd zurück.

»Du hattest jahrelang einen Bilderbuchmann an deiner Seite. Gegen ihn habe ich keine Chance. Er würde immer wie ein Gespenst zwischen uns stehen.«

»Ich hasse Schwächlinge«, weist sie ihn in heftigem Ton zurecht.

»Ich weiß. Ich bin, was Beziehungen angeht, ein hoffnungsloser Fall.«

»Warum, Valentin, warum?«

Seine Stirn legt sich in Falten. »Vielleicht weil ich Angst davor habe, mich dabei selbst zu verlieren. – Kannst du mir verzeihen?«

»So einfach geht das nicht.«

»Dann ist es wohl besser, wenn ich wieder gehe.«

»Immer auf der Flucht. Ich kann keinem Mann vertrauen, der so schnell aufgibt«, ruft sie ihm nach.

Er bleibt unschlüssig stehen.

»Warum kannst du bei mir nicht dieselbe Hartnäckigkeit an den Tag legen, wie bei deiner Arbeit?«, fährt sie ihn an.

»Gibst du mir noch eine Chance?«, fragt er zaghaft und macht ein paar Schritte auf sie zu.

Sie wendet sich ab und lässt sich auf der Couch nieder.

Er folgt ihr.

Die Verzweiflung in seinen Augen erschreckt sie. Dennoch lässt sie ihn in seiner Unsicherheit schmoren.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragt er zögernd.

Sie erteilt ihm mit einer einladenden Geste die Erlaubnis.

Er legt seinen Arm um sie. »Bitte, lass es uns langsam angehen.«

Sie sieht ihn vielsagend an. »Langsam? Ich muss wissen, was ich dir bedeute.«

Er nimmt sich Zeit mit der Antwort. Schließlich entgegnet er: »Du hast die Lust auf Liebe in mir geweckt. Diese Lust ist quälend, wenn man sie nicht befriedigen kann.«

»Ich verstehe dich nicht. Wovor hast du Angst? Hängst du so sehr an deiner Unabhängigkeit?«

»Ja und nein. Aber eins weiß ich mit Gewissheit, ich möchte mich nie wieder so einengen lassen wie damals von meiner Frau.«

»Bist du ohne Beziehung glücklich?«

»Glücklich – was heißt das schon. Ich versuche, mir das Leben so einzurichten, dass ich einigermaßen zufrieden bin.«

»Und, gelingt es dir?«

»Manchmal.« Er lehnt sich zurück und faltet die Hände im Nacken. Dann fährt er fort: »Nach unserer gemeinsamen Nacht damals habe ich mich richtig gut gefühlt. Aber ich habe diesem guten Gefühl nicht getraut.« Er steht auf und streckt ihr seinen Arm entgegen. »Komm, lass uns schlafen gehen. Ich möchte dir heute Nacht ganz nahe sein.«

Eigentlich ist ihr nicht nach einer gemeinsamen Nacht zumute. Die Kränkung sitzt zu tief. Sie ist versucht, sich mit einer Aura von Unerreichbarkeit zu umgeben. Gleichzeitig weiß sie, dass sie ihn nur körperlich erreichen kann.

»Ich will begreifen, was du mir bedeutest«, fleht er sie an. Sein Blick wird weich. »Ich will verstehen, wer ich bin, zusammen mit dir. Ich möchte dich lieben, ohne mich dabei aufgeben zu müssen.«

5

Abermals bricht der Fluch seinen Bann.

Der Hund entfernt sich.

»Zeus, Fuß!« Sturzenegger schüttelt den Kopf, weil der sonst so gehorsame Boxerrüde nicht gehorcht.

Um diese frühe Stunde ist außer einem Fuchs oder einer Katze niemand unterwegs. Als ehemaliger Nachtwächter liebt Sturzenegger die frühen Morgenstunden.

»Zeus«, ruft er erneut. Diesmal lauter. Er lässt seinen Blick umherschweifen, doch viel sieht er nicht. »Wo bloß steckt das verflixte Tier?«, wettert er vor sich hin. Dann hört er ein Bellen.

»Zeus, Fuß!«

Das Tier trottet mit gesenktem Kopf auf ihn zu und leckt ihm die Hand. Er nimmt es an die Leine.

»Ist ja gut, mein Freund«, beruhigt er den Hund. »Wir wollen doch nicht alle aufwecken, oder?« Er tätschelt ihn. »Platz, bleib!«

Der Hund gehorcht und legt sich hin.

Sturzenegger zückt seine Taschenlampe und leuchtet die Umgebung ab. Damit hat er Erfahrung. Er nähert sich langsam dem Pflugstein. Dann sieht er ihn. Der Mann liegt zusammengerollt im Gras. Der Alte nähert sich ihm vorsichtig.

»Hallo, Sie da«, ruft er barsch.

Keine Antwort. Er stößt den Mann mit seinem Fuß leicht an und leuchtet ihm ins Gesicht. Nichts regt sich.

»So viel steht fest«, murmelt Sturzenegger, »dieser Mensch hat das Zeitliche gesegnet.«

Er richtet die Taschenlampe auf seine Armbanduhr. Dann kehrt er zu seinem Hund zurück und tätschelt ihn.

»Brav, Zeus, brav.«

6

Montag im Morgengrauen.

Ein Anruf geht bei der Einsatzzentrale ein. Ein Fußgänger hat beim Pflugstein in Herrliberg einen Toten entdeckt.

Die Einsatzzentrale leitet den Notruf an die Gemeindepolizei Meilen weiter und bittet diese um einen ersten Augenschein.

Wenig später erhält die Einsatzzentrale von der Gemeindepolizei Meilen die Rückmeldung, dass es sich bei der Leiche um einen außergewöhnlichen Todesfall, um einen AG handeln würde.

Daraufhin klingelt die Einsatzzentrale Kriminalpolizist Möller von der Kantonspolizei Zürich aus dem Bett und beordert ihn nach Herrliberg zum Pflugstein.

Gut eine halbe Stunde später trifft Möller beim Tatort ein. Der Pflugstein ist mit den üblichen weiß-roten Bändern abgesperrt. Scheinwerfer sind auf den mächtigen Stein gerichtet. Wie eine Theaterinszenierung, geht es ihm durch den Kopf. Das fahle Licht der Morgendämmerung verstärkt diesen Eindruck.

Die ganze Equipe einschließlich Staatsanwältin ist vor Ort. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren.

Möller will so schnell wie möglich ein Gefühl für den Fall bekommen, und das bekommt er nur, wenn er versucht, jede einzelne Information zu verinnerlichen. Dazu gehören auch visuelle Eindrücke. Er inspiziert die Umgebung peinlich genau und prägt sich jedes Detail ein. Seine Erfahrung hat ihn gelehrt, dass der erste Eindruck für eine erfolgreiche Ermittlung maßgebend ist.

Der Tote ist nackt, weist aber laut Rechtsmediziner keine offensichtlichen Verletzungen auf. Der Mann sieht so aus, als würde er schlafen. Eine durch und durch friedliche Leiche, denkt er stirnrunzelnd.

Um sich einen ersten Überblick zu verschaffen, befragt er den alten Mann, der die Leiche gefunden hat, danach Gemeindepolizist Arnold Fessler, der den Fundort als Erster betreten hat. Viel geben ihre Schilderungen nicht her. Fessler verspricht ihm einen detaillierten Grundrapport des Tatbestands auf acht Uhr.

Die Spurensicherung vor Ort nimmt viel Zeit in Anspruch. Möller weiß, dass die Leiche erst dann ins Institut für Rechtsmedizin oder IRM überführt werden kann, wenn alle Spuren am Fundort gesichert sind. Achtzig Prozent der Lösung eines Falles geschehen am Tatort bei der Spurensuche und -sicherung.

Ihn braucht es hier im Moment nicht mehr.

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