Pfui Spinne, Watte, Knopf! - Mareile Kurtz - E-Book

Pfui Spinne, Watte, Knopf! E-Book

Mareile Kurtz

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Beschreibung

Die eigenen Macken zu akzeptieren ist eine gute Voraussetzung für ein zufriedenes und glückliches Leben. Mareile Kurtz - selbst Phobikerin - hat Menschen mit den unterschiedlichsten Ängsten und Abneigungen getroffen und mit ihnen über ihre skurrilen Panikattacken, verrückten Alltagsprobleme und liebgewonnenen Ticks gesprochen. Die Geschichten sind außergewöhnlich, selbstironisch und tragisch-komisch: Sie erzählen von Knopf-, Clown-, Spritzen-, Puppen-, Pappe-, Frauen- und Kaugummiphobien. Der Autorin ist ein liebevolles und witziges Plädoyer gelungen, über das sich 'Normalos' und 'Angsthasen' gleichermaßen freuen können. Denn 'Pfui Spinne, Watte, Knopf!' zeigt: Dort draußen gibt es immer jemanden, der noch ein bisschen verschrobener ist als man selbst.

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Seitenzahl: 492

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Mareile Kurtz

PFUI SPINNE, WATTE, KNOPF!

33 verrückte Geschichten über schräge Ängste, absurde Abneigungen und lustige Phobien

Schwarzkopf & Schwarzkopf

INHALT

Für Dominic, meine Eltern und die Philibuster

»Das Durchschnittliche gibt der Welt ihren Bestand. Das Außergewöhnliche gibt der Welt ihren Wert.«

OSCAR WILDE

Vorwort

»Ich mach mir die Welt, widde widde wie sie mir gefällt!«PIPPI LANGSTRUMPF

Können Sie sich vorstellen, dass Ihnen der Anblick eines Knopfes Übelkeit bereitet? Dass Sie nicht spazieren gehen können, weil Sie Angst davor haben, eine Schnecke zu zertreten? Dass Sie beim Sex in eine Ekelstarre verfallen, weil Sie beim Küssen bemerken, dass Ihr Partner ein Kaugummi hinter dem Backenzahn versteckt? Dass Sie keine Spielwarenabteilung durchqueren können, weil Sie davon überzeugt sind, die Puppen würden Sie beobachten? Dass Ihnen beim Gedanken an ein Wattebällchen kalte Schauer über den Rücken laufen? Oder dass Sie kollabieren, wenn Sie ein Frosch anspringt, Ihnen eine Libelle gegen den Kopf fliegt oder Sie eine Spritze nur sehen? Nein? Dann gehören Sie wohl nicht zu der Sorte Mensch, die sich Tag für Tag mit einer merkwürdigen Phobie herumschlagen muss und sich ständig über die eigenen unlogischen Gedanken und Gefühle ärgert. Falls aber doch, dann lassen Sie sich eins gesagt sein: Sie sind nicht allein! Schräge Phobiker-Vögel gibt es nämlich eine ganze Menge.

Man nehme allein das Who-is-Who der internationalen Entertainment-Branche. Genau wie in der Welt der Normalsterblichen tummeln sich auch hier überraschend viele Menschen mit skurrilen Ticks und Macken. Johnny Depp zum Beispiel fürchtet sich laut der Online-Meldung Pfui Spinne, Watte, Topfpflanze! auf Fem.com nicht nur vor Geistern, sondern fängt auch an zu zittern, wenn er Clowns sieht. Christina Ricci flippt hingegen aus, sobald sie sich mit einer Topfpflanze in einem Raum befindet, Nicole Kidman hat panische Angst vor Schmetterlingen, Orlando Bloom ergreift schon die Flucht, wenn er ein Schwein nur von Weitem sieht und TV-Vampirjägerin Sarah Michelle Gellar kann privat keinen Fuß auf einen Friedhof setzen.

So weit, so absurd. Es dürfte außer Frage stehen, dass derlei Phobien jedweder Logik entbehren. Dass jemand beim Fliegen oder in schwindelerregenden Höhen Todesangst bekommt oder vor (möglicherweise giftigen) Schlangen und Spinnen flüchtet, kann man ja noch verstehen. Eine Abneigung gegen Schmetterlinge und Clowns ist da schon schwerer nachzuvollziehen. Besonders, weil die Betroffenen meistens keinen Grund für sie angeben können.

Ich zum Beispiel sorge in meinem Familien- und Bekanntenkreis regelmäßig für Turbulenzen, weil ich mich seit meiner Kindheit tierisch vor Kleidungsknöpfen ekle. Früher rückte ich Hemden und Blusen mit meiner Bastelschere zu Leibe; heute sauge ich herumliegende Knöpfe mit dem Staubsauger kurzerhand weg – die Dinger anzufassen ist mir nämlich mehr als unangenehm. Auf Außenstehende wirkt das ziemlich ungewöhnlich und deswegen dauert es meist nicht lange, bis nach den Gründen für meinen Knopfekel gefragt wird. Doch so oft ich mich auch auf Ursachenforschung begebe – ich muss die Antwort schuldig bleiben. Prägende Erlebnisse in der Kindheit? Fehlanzeige! Weder haben mich meine Eltern zur Strafe in den Keller verbannt, wenn ich unerlaubterweise mit Omas Knopfdose gespielt habe, noch haben meine älteren Brüder ihre Steinschleudern dazu benutzt, um mich mit dicken Holzknöpfen zu beschießen. Und einen fiesen Horrorfilm über Knöpfe habe ich auch nie gesehen. Nein. Die Knopfphobie war ganz einfach schon immer da. Und auch was das angeht, bin ich kein Sonderfall. Fast allen Protagonisten dieses Buches geht es nämlich ähnlich. Sei es die Angst vor Hunden, Mäusen, Dunkelheit und Gewitter oder der Ekel vor Knöpfen, Watte, Kaugummis und Körpercremes – über die Herkunft ihrer Abneigung können die meisten (wenn überhaupt) nur mutmaßen. Auch ausgebildete Psychologen haben mir versichert, dass es gar nicht unbedingt diesen einen Grund geben muss. Die Ursachen für eine Phobie können ganz unterschiedlich sein. Eine Angst oder auch ein Ekel kann sich schlicht über die Jahre hinweg entwickeln, mit den Menschen in der Umgebung oder irgendwelchen Gerüchen zusammenhängen oder auch genetisch bedingt sein.

Wenn es um die Frage nach den Therapiemöglichkeiten geht, fällt die Antwort allerdings sehr viel klarer aus. Sie lautet: »Systematische Desensibilisierung«. Gemeint ist eine Form der Verhaltenstherapie, in der die Aversion gegen einen Gegenstand oder ein Tier Schritt für Schritt abgebaut werden soll. Für diesen Zweck trainiert der Phobiker, zunächst gemeinsam mit dem Therapeuten, den Anblick oder auch den Geruch des Angst oder Ekel auslösenden Objekts zu ertragen. Später kommen »kleine Hausaufgaben« hinzu. In meinem Fall würde das etwa bedeuten, dass ich Knöpfe annähen, Knöpfe vom Boden aufheben und am Ende womöglich auch noch mit Blusen rumlaufen müsste – ohne mich! Auch, wenn die Kosten (gut 2.000 Euro) für die rund 25 Sitzungen von der Krankenkasse übernommen werden, bin ich der Ansicht, dass ich meine freie Zeit lieber in die Jagd nach Stoffkleidern und T-Shirts als in lange Therapiesitzungen investieren sollte.

Die Aussichten auf Erfolg sind ohnehin nicht besonders vielversprechend – zumindest, wenn man der Schauspielerin Nicole Kidman Glauben schenken darf. Fem.com verriet sie: »Ich habe alles versucht, um die Phobie zu bekämpfen, ich begab mich in einen großen Schmetterlingskäfig, der sich im American Museum of Natural History befand, und hatte darin sogar die Schmetterlinge auf mir sitzen, aber es funktionierte nicht.« Zugegeben: Was für Nicole Kidman gilt, ist nicht unbedingt auf jeden Phobiker übertragbar. Doch selbst wenn ich meine Knopfphobie überwinden könnte – warum sollte ich? Immerhin schränkt mich mein Knopfekel nicht derart ein, dass ich nicht mehr am alltäglichen Leben teilnehmen könnte. Stoffkleider und Leggins mit Gummizug trage ich sowieso am liebsten und in einen BWL-Studenten mit Hemd und hochgestelltem Kragen könnte ich mich eh niemals verlieben.

So gesehen lässt es sich also sehr gut mit einer Knopfphobie leben. Mehr noch: Ich schätze sie. Schließlich weist uns doch all das, was uns vom Kollektiv unterscheidet, all jenes, was uns eigenartig, eigentümlich, eigenwillig macht, den Weg zu unserer Individualität. Und je mutiger und beherzter wir diesen Weg gehen, desto besser. Das beweisen nicht nur die großen Helden aus Literatur, Film und TV (zum Beispiel Captain Jack Sparrow, Pippi Langstrumpf, die Addams Family, Forrest Gump, Jeff Lebowski und der Hardcore-Phobiker Adrian Monk), sondern auch reale Personen wie Freddy Mercury, Mick Jagger, Jim Morrison, Andy Warhol, Truman Capote, Nina Hagen, Quentin Tarantino, Charlotte Roche, Lady Gaga, Lena Meyer-Landrut oder all die anderen schillernden Persönlichkeiten, die uns bei dem Begriff »schräg« in den Sinn kommen. Jeder Einzelne von ihnen ist auf seine eigene Art und Weise speziell, faszinierend, sonderbar, zauberhaft, schrullig, schrill, exzentrisch, seltsam, verschroben – eben anders als die anderen. Und genau deswegen schauen wir ihnen so gern zu. Der Beweis: Nachdem ich mich im Sommer 2009 mit den Kur(t)z-Geschichten für Knopfhasser auf Philibuster.de als schräger Phobiker-Vogel geoutet hatte, hagelte es begeisterte Zuschriften von Lesern.

In meinem Bekanntenkreis ist die Solidarität für meinen Knopfekel seither derart gestiegen, dass meine Freunde noch vor mir zu kreischen beginnen, wenn irgendwo ein Knopf auftaucht. In der Firma meines Freundes werden Hemd- und Blusenträger auch während meiner Abwesenheit spaßeshalber mit »Iiiih, Knöpfe!« begrüßt. Ich persönlich habe meine Knopfphobie dadurch richtig lieb gewonnen. Seine Andersartigkeit zu akzeptieren ist nicht nur ein großer Schritt auf der Suche nach sich selbst, sondern diese Offenheit macht uns auch sympathischer und interessanter für unsere Mitmenschen und kann vielleicht sogar den Schlüssel zum Erfolg bedeuten. Und selbst, wenn sich Letzteres nicht in gewünschtem Maße einstellt: Mit ihren kauzigen Anekdoten können die Froschfeinde, Kaugummigegner und Clownhasser auf Partys trotzdem immer punkten – oder auch ein ganzes Buch füllen.

Ich möchte Sie recht herzlich in der fantastischen Welt der Sonderlinge willkommen heißen und Ihnen viel Vergnügen beim Wundern und Staunen wünschen. Sollten Sie selbst zur Gattung der Phobiker gehören, werden Sie sich beim Lesen der folgenden 33 Geschichten häufig wiedererkennen und sich nicht ganz so viel wundern – sich dafür aber umso mehr an den Erlebnissen Ihrer exotischen Artgenossen erfreuen. Und das aus gutem Grund: Sie sind nicht normal!

DIE 1. GESCHICHTE ÜBER SCHRÄGE PHOBIEN

Jim Knopf hat nichts zu lachen

Mareile (27), Journalistin & Texterin, Stuttgart, über Koumpounophobie (Ekel vor Knöpfen)

Seit ich denken kann, ekle ich mich vor Knöpfen. Vor Kleidungsknöpfen, um genau zu sein. Ich habe kein Problem mit der Tastatur einer Fernbedienung oder den Schaltvorrichtungen in einem Fahrstuhl. Diese Art von Knöpfen mag ich sogar richtig gern. Auch die Metallknöpfe an einer Jeans sind in Ordnung. Es sind lediglich diese glatten, runden Dinger mit Löchern in der Mitte, die mich zum Würgen bringen. Und wenn ich von »Würgen« spreche, dann meine ich das auch so. Das Gefühl, das bei mir entsteht, wenn mir jemand mit einem dicken, glänzenden Knopf zu nahe kommt, ist durchaus mit der Übelkeit vergleichbar, die beim Anblick von Erbrochenem entsteht. Und das nicht zuletzt, weil ich auch den Geruch von Knöpfen unerträglich finde. Irgendwie stinken die Dinger nach Mottenkiste, mitunter auch nach ranziger Butter oder saurer Milch. Eben einfach widerlich. Ein Kleidungsstück mit Knöpfen anzuziehen oder einen Knopf anzufassen ist eine echte Strafe für mich. Vor allem, wenn es sich um glänzende Plastik-, Perlmutt- oder Glasknöpfe handelt. Und auch die Wörter »Knopf« oder »zugeknöpft« kann ich nur mit Mühe aussprechen oder aufschreiben.

Über die Jahre habe ich zwangsläufig gelernt, mich mit meiner Knopfabneigung zu arrangieren und mir meinen Ekel in Gesellschaft nicht anmerken zu lassen. Wenn es gar nicht anders geht, kann ich heute sogar in Bettwäsche mit Knöpfen schlafen. Das war nicht immer so.

Als ich klein war, hatten meine Mitmenschen manchmal ganz schön unter mir zu leiden. Einmal hatte meine Mutter mir zum Beispiel ein ganz besonders süßes Blüschen mit großen braunen Holzknöpfen für ein Kindergartenfest gekauft. Als ich mich mit Händen und Füßen gegen die Bluse wehrte, hielt mich meine Mutter schlicht für bockig und versuchte, mir die Bluse mit sanfter Gewalt überzustreifen. Das war das erste und einzige Mal, dass ich meiner Mutter eine Backpfeife verpasst habe. Damals war ich vier Jahre alt.

Um weiteren Konfrontationen aus dem Weg zu gehen, habe ich fortan im Kindergarten Poloshirts und Blusen heimlich mit meiner Bastelschere zerschnitten und ein Versehen vorgetäuscht. Und so kam es, dass in meinem Kleiderschrank bald nur noch Pullover, T-Shirts und Stoffkleidchen zu finden waren.

Mein Problem war damit aber keinesfalls gelöst. Ich schlug nämlich nicht nur Alarm, wenn ich Kleider mit Knöpfen tragen musste, sondern auch, wenn andere sich dazu erdreisteten. Eines Abends waren meine Eltern zu einer Geburtstagsparty eingeladen, und meine Mutter hatte sich extra für diesen Anlass eine »todschicke« Bluse gekauft – ihrer Meinung nach. Für mich hingegen war die Bluse das Grauenhafteste, was ich je gesehen hatte. Sie war aus schwarzer Seide, reichte an den Armen nur bis zu den Ellenbogen und war ganz nach Achtzigerjahre-Manier mit Schulterpolstern ausgestattet. Was mich störte, waren aber nicht etwa die Schulterpolster oder der gewöhnungsbedürftige Schnitt, sondern die strahlend weißen Perlmuttknöpfe, die auf der schwarzen Bluse nur so leuchteten. Als meine Mutter – mit dieser Bluse bekleidet – mein Zimmer betrat, um mir auf Wiedersehen zu sagen, schmiss ich ihr empört meinen Schnuller vor die Füße und rannte tobend in meinem Kinderzimmer herum. Mein wütender Kommentar: »Du bist nicht mehr meine Mama!« An einen Gutenachtkuss war nicht zu denken.

Es war aber nicht nur meine Mutter, der ich regelmäßig das Leben schwer machte, denn in meinem kindlichen Übereifer machte ich eben vor nichts und niemandem Halt. Auch nicht vor Fremden. Und das führte dazu, dass ich eines Nachmittags sogar das Ende einer Theateraufführung sprengte. Ich möchte vorwegschicken, dass ich für gewöhnlich eine glühende Verehrerin des deutschen Schriftstellers Michael Ende bin – bei seinem Kinderbuch Jim Knopf hört der Spaß bei mir allerdings auf. Doch eben dieses Stück war es, das in der Turnhalle unseres Kindergartens aufgeführt wurde und das meine Großeltern mit mir besuchten.

Bereits als sich der Hauptdarsteller vor die provisorisch zusammengerückten Stuhlreihen stellte und die anwesenden Kinder begrüßte, machte sich Unbehagen bei mir breit. Seine Aufmachung entsprach nicht dem, was ich mir unter einem Heldenoutfit vorstellte. Mit dem schwarz bemalten Gesicht, dem roten Pulli und der blauen Latzhose hatte ich freilich kein Problem. Was mich störte, waren die beiden knallroten Monsterknöpfe, die auf seiner Hose prangten – auf jedem Träger einer. Das ganze Stück über ließ ich mir nichts anmerken, doch als das vermeintliche Finale nahte, wurde es mir zu bunt. »Wer will mit nach Lummerland fahren? Wer will mit nach Lummerland fahren?«, rief Jim Knopf den Kindern in freudiger Erwartung zu. Alle Kinder sprangen auf und stürmten johlend auf Jim und Lukas den Lokomotivführer zu. Alle, bis auf eines.

Ich war nicht nach vorn gerannt, sondern hatte mich mit entschlossener Miene und Zornesfalte über der Nase inmitten der Turnhalle auf meinen Stuhl gestellt. Als mir die Schauspieler und meine Großeltern einen fragenden Blick zuwarfen, schmetterte ich ihnen mit all der Kraft, die mein kleines Kinderstimmchen hergab, ein inbrünstiges »Ich nicht!« entgegen und verließ fluchend den Raum. Meine Großeltern griffen verschämt nach ihren Mänteln, entschuldigten sich bei den verstörten Schauspielern mit einem ratlosen Schulterzucken und folgten mir auf dem Weg nach draußen. Ob mir meine Familie die Eskapaden inzwischen gänzlich verziehen hat, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Fest steht jedoch: Den Trick mit der Bastelschere haben sie mir nie abgenommen. Trotzdem haben sich meine Eltern mir und meinem Knopfekel gegenüber immer sehr tolerant verhalten und das Thema nie direkt angesprochen. – Das änderte sich, als ich in die Grundschule kam.

Den ganzen Sommer über hatte ich meinem ersten Schultag ungeduldig entgegengefiebert. Ich freute mich auf die anderen Kinder und auf meine Schultüte und Lesen lernen fand ich auch nicht schlecht. Immerhin bedeutete das, dass mir meine Mutter zukünftig nicht mehr jeden Abend vorlesen musste. Nun würde ich bald auf eigene Faust herausfinden können, wie es bei Der spaßige Briefträger Pitje Puck weitergeht. Kurzum: Der Wechsel vom Kindergarten zur Grundschule bedeutete einen riesigen Schritt für mich, und diesen konnte ich kaum erwarten. Als es allerdings so weit war und ich am Abend vor meinem ersten Schultag in meinem Bett lag, bekam ich es plötzlich doch mit der Angst zu tun und begann zu weinen. Was, wenn die anderen Kinder mich nicht mochten?

Als meine Mutter mein Schluchzen bemerkte, setzte sie sich neben mich auf die Bettkante und streichelte mir behutsam über den Kopf. »Was hast du denn, mein Schatz?« Ich nuckelte verlegen an meinem Daumen herum und starrte an die Wand. – »Was ist los, hm?« – »Was soll ich denn machen, wenn mich die anderen Kinder doof finden?«, fragte ich ängstlich. Meine Mutter lächelte. »Aber warum sollten die dich denn doof finden?« Ich zuckte mit den Schultern. – »Na, siehst du.« – »Mama?« – »Ja?« – »Und was mache ich, wenn die Lehrerin oder die anderen Kinder was mit Knöpfen anhaben?« Die Miene meiner Mutter verfinsterte sich. »Wie meinst du das?« Was für eine Frage! Es war doch wohl klar, dass in der Schule auch in puncto Knöpfe alles schwieriger werden würde. Immerhin waren wir im Kindergarten den ganzen Tag durch die Gegend gelaufen und hatten irgendwelche Spiele gespielt. Und wenn da ein Mädchen mit Bluse oder ein Junge mit Poloshirt auftauchte, konnte ich einfach die Flucht ergreifen. Doch in der Schule sah die Sache anders aus. Da musste man die ganze Zeit still sitzen bleiben. Und wenn nun mein Sitznachbar oder die Lehrerin ein Kleidungsstück mit Knöpfen trug, dann würde ich immer drauf gucken und den Geruch ertragen müssen und mir würde sicher schlecht werden – und dann könnte ich mich natürlich nicht mehr so gut benehmen.

»Mareile, jetzt hör mir mal bitte ganz genau zu«, sagte meine Mutter plötzlich. Sie sah die Sache wohl etwas anders als ich. »Du bist jetzt ein großes Mädchen, und ich möchte, dass du in der Schule artig bist und dich auf den Unterricht konzentrierst. Und ich würde mir wünschen, dass du nicht länger irgendwelche Kleider zerschneidest oder Ärger bei Theateraufführungen oder sonst was machst. Dann könnte es nämlich wirklich passieren, dass die Lehrerin böse auf dich wird und die anderen Kinder dich komisch finden.« Sie sagte es so lieb wie möglich und meinte es sicher nur gut, doch ich war nach dieser Ansage völlig fertig. Bis zu diesem Moment war mir noch nie der Gedanke gekommen, dass mein Knopfekel etwas war, das es zu verstecken galt.

In den nächsten Wochen, Monaten und Jahren änderte sich mein Verhalten daher komplett. Ich wurde immer geschickter darin, mein eigenartiges Verhältnis zu Knöpfen zu überspielen und zu verbergen. Während der Pubertät kaufte ich mir beispielsweise mal eine Nadelstreifenbluse, weil diese unter meinen Schulfreundinnen als der letzte modische Schrei galt und ich bei der gemeinsamen Shoppingtour kein Aufsehen erregen wollte. Die Knopfleiste ließ ich von meiner Mutter allerdings zusammennähen, sodass ich die Bluse nicht mehr auf- und zuknöpfen musste, sondern wie einen Pulli über den Kopf ziehen konnte. Dieser Trick bewährte sich auch, als ich im Alter von 16 Jahren als Kellnerin in einem Saalbetrieb zu jobben anfing und jedes Wochenende schwarze Röcke und weiße Blusen tragen musste. Freilich bereiteten derlei Outfits mir reichlich Unbehagen, doch alles war mir lieber, als mich als durchgeknallte Knopf-Trulla zu outen. Bis ins Erwachsenenalter setzte ich nicht einmal meine besten Freundinnen ins Bild. Erst als ich die Schule beendet hatte und zum Studieren von der Nordseeküste an den schwäbischen Bodensee zog, flog meine Tarnung auf.

Am ersten Uni-Tag betrat ich den Vorlesungssaal mit gemischten Gefühlen. Wem würde ich begegnen? Was würde ich erleben? Wie würde sich mein Leben verändern? Hier war ich völlig fremd. Ich kannte niemanden. Und war mehr als 800 Kilometer von zu Hause entfernt. Mit heißen Ohren setzte ich mich auf einen freien Platz in der Mitte des Saals und beobachtete die hereinströmenden Studenten verstohlen aus den Augenwinkeln. Die meisten meiner neuen Kommilitonen sahen sehr nett aus. Schließlich nahm ein großes blondes Mädchen neben mir Platz und nickte mir freundlich zu. Ich nickte zurück und wollte gerade etwas sagen – doch dann entdeckte ich ihn. Ich hatte es schon geahnt, als sie den Raum betreten und es unter ihrem roten Mantel verdächtig aufgeblitzt hatte. Doch nun, da sie die Jacke abgelegt hatte, wurde mir das Ausmaß des Grauens bewusst: Ein gelblich schimmernder Riesenknopf thronte mitten auf ihrer linken Schulter und drohte mir jeden Moment ins Gesicht zu springen.

Er war einfach da, einfach so. Ohne jeden ersichtlichen Grund. Ein überdimensionales Monstrum, das von irgendwelchen geistig verwirrten Designern auf die linke Schulter ihres gelben Strickpullis genäht worden war und nicht einmal einen Zweck erfüllte. »Was ist? Hab ich da irgendwas?« Ohne es zu merken, hatte ich dem Mädchen die ganze Zeit apathisch auf die Schulter gestarrt. »Oh, nichts. Gar nichts. Ich hab nur so da hingeguckt«, stammelte ich und riss meinen Kopf ruckartig nach vorn in Richtung Dozent, der nun – Gott sei Dank – mit der Begrüßung und der Vorlesung begann.

»Ich bin Nadine. Ich komme aus Freiburg. Und du?«, flüsterte das Mädchen neben mir unvermittelt. Ich drehte unsicher den Kopf in ihre Richtung und versuchte, ihr ins Gesicht zu gucken. Das gelang mir aber nicht, denn ich konnte den Blick einfach nicht von dem ekelhaften Knubbel auf ihrer Schulter abwenden. Wenn das Mädchen mich so von der Seite ansah, befand sich ihr Kinn direkt über dem Knopf und demnach so dicht an ihrem Mund, dass ich befürchtete, sie könnte den Knopf beim nächsten Satz aus Versehen abbeißen und verschlucken. »Hallo!«, machte das Mädchen und winkte affig. – »Ähm … ja. Nein. Ich meine … ich weiß nicht.« Das Mädchen starrte mich verblüfft an. »Du weißt nicht, wie du heißt und wo du herkommst?« – »Ähm … doch! Klar! Haha. Ich heiße Mareile und komme aus der Nähe von Bremen.« – »Ah, okay. Freut mich. Da bist du ja ganz schön weit weg von zu Hause, was?« Ich antwortete nicht, sondern starrte nur wie versteinert den Dozenten an. Den Anblick des gelben Schulter-Geschwürs konnte ich einfach nicht länger ertragen. – »Du hast doch auch ein Zimmer im Studentenwohnheim. Oder?«, startete das Mädchen einen erneuten Versuch. Apathisch schüttelte ich den Kopf hin und her. Das Mädchen reagierte sauer. »Ach, echt? Ist ja komisch. Ich dachte, ich hätte dich heute Morgen da gesehen.«

Eine halbe Stunde später wurden wir in die Pause entlassen. Ich setzte mich etwas abseits auf eine Bank, zündete mir eine Zigarette an und beobachtete meine Sitznachbarin aus der Ferne. Sie und ein paar andere Studentinnen hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten – wahrscheinlich über mich. Ich spürte einen dicken Kloß im Hals. Das hatte ich ja toll hinbekommen! Auf diese Weise würde ich sicher haufenweise neue Freunde finden.

Plötzlich fiel mir ein Junge auf, der langsam auf mich zu schlenderte. Er trug eine blaue Jeans, ein weißes T-Shirt, eine blau-weiß gestreifte Reißverschlussjacke, hatte einen dunklen Lockenkopf und sah sehr hübsch aus. Als er mich erreicht hatte, steckte er sich ebenfalls eine Zigarette an, blies den Rauch aus und fragte schüchtern: »Du kommst also aus der Nähe von Bremen, ja?« Ich war perplex. »Woher weißt du das?« Er stutzte. »Ich hab gehört, wie du das eben erzählt hast. Ich sitze neben dir.« Peinlich! Das war mir gar nicht aufgefallen. Ich hatte nur Augen für den Riesenknopf rechts von mir gehabt. »Hm. Hab ich nicht gesehen.« Der Junge schlug enttäuscht die Augen nieder. Ich wurde nervös. Jetzt würde ich gleich auch noch den zweiten potenziellen Studienfreund vergraulen. »Aber ich kann nichts dafür!«, versicherte ich hilflos. »Ich musste woandershin gucken. Das war wegen dem … wegen dem …« Wie sollte ich ihm das bloß plausibel erklären? »Wegen dem … wegen dem Knopf!« Der Junge riss erstaunt die Augen auf. »Ja! Ist der nicht widerlich? So riesig und so glänzend und dann auch noch mitten auf ihrer Schulter!«

Ich traute meinen Ohren kaum. »Findest du Knöpfe etwa auch ekelhaft?« – »Ich kann mir nichts Ekelhafteres vorstellen!«, rief er aufgeregt und begann, wie ein kleiner Flummi auf und ab zu hüpfen. Wir konnten uns vor Freude kaum halten. Mit immer drastischeren Ausdrücken versuchten wir, unserer Begeisterung Ausdruck zu verleihen. »Wie Augen!«, rief ich und sprang elektrisiert von der Bank auf. – »Wie ausgespuckte Bonbons!«, hielt er dagegen. »Wie Popel!« – »Wie Pickel!« – »Wie Warzen!« – »Nein, ich weiß was! Wie die Fettaugen auf einer Pizza!« Wir kicherten.

Zurück im Vorlesungssaal konnte ich mich wieder nicht konzentrieren. Mein Herz raste, meine Ohren wurden heiß, meine Gedanken schweiften ab. Ich konnte einfach nicht aufhören, ihn anzustarren. Ihn – den hübschen Jungen vom Raucherhof.

DIE 2. GESCHICHTE ÜBER SCHRÄGE PHOBIEN

Nici und die starken Männer

Niclas (28), Art Director, Köln, über Trypanophobie (Angst vor Spritzen)

Ich bin 1,98 Meter groß, wiege um die hundert Kilo, habe einen Vollbart, lange zottelige Haare und trage vorrangig Lederjacken und zerrissene Jeans. Meine Stimme ist tief, mein Kreuz ist breit, meine Arme sind stark und, ja, man kann es nicht anders sagen: Ich bin ein Bär von einem Mann. Meine Freundin Jona findet, dass ich rein äußerlich auch als Wikinger oder Rockstar durchgehen könnte. Doch wie das manchmal so ist mit der harten Schale: Sie ist nicht unbedingt repräsentativ für den Inhalt.

Rein optisch bin ich vielleicht ein Grizzly, doch innerlich komme ich eher nach Balu dem Bären aus Disneys Dschungelbuch. Ich bin verschlafen, verfressen und verschmust und würde keiner Fliege je etwas zuleide tun – was nicht zuletzt daran liegt, dass ich kein Blut sehen kann. Sobald mir jemand irgendwas von Verletzungen, Operationen oder Schläuchen erzählt, wird mir sofort schwindelig. So richtig zur Mimose werde ich aber erst bei Spritzen und das habe ich ein paar Krankenschwestern zu verdanken. Als kleiner Junge musste ich einmal wegen einer Blinddarmoperation ins Krankenhaus und bekam diese fiese Kanüle in den Handrücken gesteckt. Das allein war schon schlimm genug, doch leider vergaßen die viel beschäftigten Haubenträgerinnen auch noch, mir die Nadel wieder herauszurupfen, sodass sich die Einstichstelle nach ein paar Tagen tüchtig entzündete. Jede Bewegung bedeutete einen rasenden Schmerz für mich und wenn ich aus Versehen den Handrücken nach hinten bog und mir die eiskalte Kanüle somit noch tiefer ins brennend heiße Fleisch rammte, wurde dieser sogar so unerträglich, dass ich die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht zu weinen. Gutgläubig und unkritisch, wie man in dem Alter eben ist, stellte ich die Allwissenheit der Ärzte und des Pflegepersonals aber nicht infrage, sondern ertrug mein Leid stattdessen stumm und reglos wie ein Mann.

Was Spritzen angeht, bin ich seither aber vollkommen traumatisiert, und bei Impfungen oder Blutentnahmen versage ich ebenfalls. Das muss man sich mal vorstellen! Ein zwei Meter großer Hüne wie ich wird von einer fünf Zentimeter kleinen Nadel in die Knie gezwungen. Und das meine ich wörtlich. Wenn ich geimpft werden soll, kippe ich manchmal sogar schon um, wenn ich den Arzt oder die Spritze nur sehe. Im Ernst. Ich werde wirklich ohnmächtig. Mein Gesicht wird kalkweiß, meine Knie werden weich und dann segle ich zu Boden wie die schöne Justine Waddell in der Terrassen-Szene von The Fall. Dumm nur, dass ich im Gegensatz zu der grazilen Schauspielerin zwei Zentner wiege und die Arzthelferinnen bei dem Versuch, mich abzustützen, unter mir begrabe und zerquetsche.

Dass eine derartige Situation eine namenlose Demütigung bedeutet und somit strengster Geheimhaltung unterliegt, muss man(n) wohl nicht erwähnen. Doch so peinlich es auch ist, ich kann einfach nichts dagegen tun. Allein die Vorstellung, dass so eine kalte, harte Nadel in meine warme, weiche Vene gebohrt werden soll, macht mich fertig und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass ich derartigen Behandlungen aus dem Weg gehe. Eine Karriere als Schwert schwingender Wikinger oder als ein von oben bis unten tätowierter Rockstar hätte sich damit wohl erledigt. Obwohl … ein Tattoo könnte ich mir vielleicht sogar stechen lassen. Denn was mich am meisten verstört, ist nicht die Nadel selbst, sondern der Gedanke, dass etwas aus meinem Körper heraus- oder in ihn hineingepumpt wird.

So viel zu mir. Kommen wir nun zu meiner Freundin Jona oder, eher gesagt, zu Jonas Familie: Jonas Vater, Dr. med. Holger Kracht, ist wie ihr Großvater und ihr Onkel Landarzt, und Jonas Vater war wie ihr Großvater, ihre drei älteren Brüder und ihr Schwager während des Studiums in einer schlagenden Verbindung. Jonas Mutter ist zwar keine Ärztin, dafür aber die Sprechstundenhilfe in der Praxis ihres Mannes und ebenso sehr CDU-Wählerin und Fan des Preußenkönigs Friedrich des Großen wie der Rest der Familie – zu der übrigens noch eine ältere Schwester und zwei Schwägerinnen gehören. Letztes Jahr im Frühling durfte ich einen Teil der Medizinersippe erstmals live und in Farbe erleben.

Tag eins: »Oh, nein! Ein Hippie!« Das waren die Worte, mit denen mich Jonas Vater begrüßte. Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass ich zwar wie einer aussehe, gern auf Festivals gehe, die Rolling Stones mag, aber trotzdem einen festen Job habe und nicht drogensüchtig bin (Heroin spritzen kann ich mir ja schlecht), war Jonas Vater wieder versöhnt und legte sogleich mit einer Anekdote aus seiner Studentenzeit los: »In den Sechzigern, da hab ich ja gerade Medizin in Berlin studiert. Und als Ohnesorg, Dutschke und diese ganze linke Bande unser Verbindungshaus gestürmt haben, um mit uns über ihre große Revolution zu diskutieren, da haben meine Corpsbrüder und ich uns mit unseren Degen aufgestellt und chargiert und da sind die Langhaarlümmel ganz schnell wieder abgedüst. Höhöhö!« Mit Geschichten dieser Art ging es weiter, und weil ich immer brav und höflich lachte, kam ich auch ganz gut bei Jonas Vater – der mir irgendwann anbot, ihn Holger zu nennen – und ihren nicht weniger temperamentvollen und schwarzhumorigen Brüdern an.

Tag zwei: Als wir mit dem gesamten Clan am Frühstückstisch saßen, entlarvte ich mich dann aber doch noch als Fremdkörper. Zwar hatte ich schon öfter davon gehört, dass es in Ärztefamilien ziemlich deftig zugeht, doch die Realität übertraf alles Erwartete.

In Jonas Familie wurde bereits morgens um neun über nichts anderes gesprochen als über all die matschigen Wunden, stinkenden Verbrennungen, eitrigen Entzündungen und splittrigen Knochenbrüche, mit denen es die Halbgötter in Weiß in den letzten Tagen zu tun gehabt hatten. Unterbrochen wurde das nette Frühstücksgeplänkel lediglich dadurch, dass Holger einem seiner Söhne einen über Nacht verschobenen Halswirbel direkt am Tisch laut knackend wieder einrenkte.

»Ist alles in Ordnung, Niclas? Du siehst so blass aus. Und gegessen hast du auch noch nichts«, stellte Jonas Mutter plötzlich pikiert fest. – »Mir geht’s gut. Danke. Ich esse morgens nie so viel«, log ich und versuchte, dem sich langsam anschleichenden Schwindelgefühl Widerstand zu leisten. – »Alles okay, Nici?«, flüsterte Jona besorgt. »Ja, Süße. Alles gut.« Das Gesicht meiner Freundin erkannte ich nur noch durch einen Schleier wild herumtanzender Sternchen. »Ich geh mal kurz nach draußen, eine rauchen.« – »Kannst du auch hier am Tisch machen.« – »Ich will kurz in die Sonne«, sagte ich, stand auf, torkelte und knickte fast zur Seite weg. Aber nur fast. Puh, das war gerade noch mal gut gegangen. – »Was ist los? Geht’s dir gut? Bist du krank?«, fragte Jona, die sogleich herbeigeflattert kam. – »Alles okay. Bin wohl zu schnell aufgestanden«, murmelte ich und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand, um nicht doch noch umzukippen.

Holger kam hinzu und musterte mich forschend. Zwischen seinen Zähnen klemmte eine dicke braune Pfeife, auf der er nachdenklich herumkaute. »Kreislaufprobleme?«, fragte er, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. – »Eigentlich nicht.« – »Hm.« Holger zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. »Du brauchst Bewegung und frische Luft, mein Junge«, diagnostizierte der Landarzt messerscharf und klopfte mir energisch auf die Schulter. »Wenn du Lust hast, nehme ich dich heute Nachmittag mit in den Wald. Ich bin Hobbyjäger, musst du wissen, und baue gerade einen neuen Hochsitz. Dabei könnte ich deine Hilfe gut gebrauchen.«

Tag drei: Da sich während der Waldarbeit herausgestellt hatte, dass ich unter Heuschnupfen litt, verbrachte ich fast den gesamten Tag im Bett. Holger hatte mich nämlich sogleich mit Allergietabletten versorgt, von denen ich so müde und träge geworden war, dass ich kaum ein Glied mehr regen konnte.

Tag vier: Als Jona und ich zum Frühstück kamen, herrschte bereits munteres Treiben im Hause Kracht. Die Frauen liefen geschäftig zwischen Kühlschrank, Speisekammer und Kaffeemaschine hin und her, und die Herren der Schöpfung debattierten lautstark über die just konsumierte Zeitungslektüre. Ich begrüßte alle freundlich, setzte mich an meinen Platz – und entdeckte plötzlich ein kleines weißes Plastiktablett und eine Spritze neben meinem Teller. Mir schwante Böses. »Ist die für mich?«, fragte ich alarmiert. »Jawohl«, antwortete Holger. »Eine ordentliche Ladung Kortison gegen den Heuschnupfen. Die Tabletten sind doch Mist. Da haben wir ja gar nichts mehr von dir. Außerdem will ich dich heute mit auf die Jagd nehmen.« Meine Knie wurden sofort weich wie Butter. »Aber … aber«, stammelte ich panisch. »Aber ich will keine Spritze!«

Einen Moment lang fühlte ich mich wie in einer Filmszene, in der schlagartig die Nadel von der Schallplatte rutscht. Die Frauen erstarrten mitten in der Küche zu Salzsäulen, die Männer verstummten mitten im Diskurs. Alle glotzten mich irritiert an. Sogar Jona. Es herrschte Totenstille. Schließlich ergriff Holger das Wort: »Warum … warum denn nicht?« Das schien genau die Frage zu sein, die sich alle hier im Raum gerade stellten. »Ist doch nicht nötig!« – »Quatsch. Deine Augen sind schon wieder knallrot.« – »Dann nehme ich eben wieder die Tabletten.« – »Dann verschläfst du den ganzen Tag und kannst nicht mit zur Jagd.« – »Egal.« – »Ich will aber, dass du mitkommst.« – »Ich bin allergisch gegen Kortison.« – »Gegen Kortison kann man nicht allergisch sein.« Scheiße! Was nun? Langsam gingen mir die Ausreden aus.

»Warum stellst du dich denn so an?«, fragte nun einer von Jonas Brüdern. Na, schön, die Herren. Hier habt ihr mein Innerstes. Viel Spaß beim Sezieren! »Spritzen bekommen mir nicht. Ich werde ohnmächtig davon.« Wieder rutschte die Nadel – und dann brach ein ohrenbetäubendes Gegröle los. »Was? Du? Das ist ja, als würde ein Elefant von einem Mückenstich dahingerafft werden!« – »Hört auf damit! Ihr seid total peinlich und bescheuert!«, schimpfte Jona. Nett gemeint, doch wenn die Freundin den Freund verteidigt, wird es leider erst so richtig demütigend.

»Ach Gottchen, Jona. Dein Nici kann doch wohl schon selbst reden«, prustete Holger, während er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. So ging es ein paar Minuten weiter, dann wurde er wieder ernst. »So, mein Junge. Jetzt leg mal deinen Arm hier hin und zier dich nicht länger. Wenn ich dir die Spritze gebe, kippst du schon nicht um.« – »Nein, Holger. Ich möchte das wirklich nicht.« – »Hör jetzt endlich auf mit dem Quatsch, Niclas!« Dieses Mal war Holger laut geworden. »Ich kann das und ich mache das vorsichtig.« Entschlossen packte er meinen Arm und drückte ihn auf den Tisch. Dann zog er die Spritze auf, schnippte fachmännisch mit Daumen und Zeigefinger gegen das Glas und setzte die Nadel an meine Vene an. »Und hinein ins Vergnügen!« Das war das Letzte, was ich noch hörte.

Als ich ein paar Minuten später wieder zu mir kam, blickte ich in die – teilweise besorgten, teilweise belustigten, teilweise faszinierten – Gesichter der Familie Kracht. So einen verweichlichten Freak wie mich hatte dieser verrohte Medizinerstamm wohl noch nie gesehen. »Geht’s wieder?«, fragte Jona. – »Ja, doch«, motzte ich und rappelte mich schwerfällig wieder auf. »Ich geh mal eben an die frische Luft.« Jona machte Anstalten, mir zu folgen. – »Allein!«

Draußen angekommen, setzte ich mich auf den Rasen in die Sonne und atmete tief durch. In was für ein Irrenhaus war ich da bloß geraten? Zittrig fingerte ich an dem Verschluss der Whiskyflasche herum, die ich auf meinem Weg in den Garten kurzerhand aus dem Wohnzimmerschrank geklaut hatte, und schüttete mir hastig ein paar bittere Schlucke in die Kehle. Dass es erst zehn Uhr morgens war, war mir in diesem Moment wirklich mehr als scheißegal.

»Na, was gibt’s denn Feines?« Holger hatte sich von hinten an mich herangepirscht. Ich schielte auf das Etikett der Flasche. »Lagavulin.« – »Hey! Ausgezeichneter Geschmack! Bist du ein Whisky-Kenner?« Ich zuckte grimmig mit den Schultern. »Geht so.« – »Na, das sollten wir aber schleunigst ändern! Komm mal mit. Ich hab noch mehr davon. Hab mir gerade was aus Schottland kommen lassen …«

An diesem Tag gingen Holger und ich nicht mehr zur Jagd. Zuerst stießen er, ich und Jonas Brüder auf meinen Unterhaltungswert an. Dann auf meinen Besuch und zum Schluss auf jedes einzelne meiner langen Hippiehaare. Binnen weniger Stunden waren wir alle dermaßen voll, dass wir uns in den Armen lagen, uns ewige Liebe schworen und ich als der neu gewonnene Sohn von Familie Dr. Kracht gefeiert wurde. Preußentum und Selbstdisziplin hin oder her – bei gutem Whisky werden alle noch so starken Männer schwach.

DIE 3. GESCHICHTE ÜBER SCHRÄGE PHOBIEN

Der Exorzismus der Minka Hederlin

Steffi (34), Kindergärtnerin, Münster, über Ailurophobie (Angst vor Katzen)

Über die Ursachen von Katzenangst gibt es die wildesten Theorien. Ein ungarischer Psychoanalytiker namens Nandor Fodor stellte beispielsweise die abenteuerliche These auf, dass die Panik vor Katzen fast ausschließlich bei Männern zu finden sei, und interpretierte die sogenannte Ailurophobie als eine unterbewusste Angst vor dem weiblichen Element, für das die geheimnisvolle Katze in der Mythologie stehe. Die Forschungsgrundlage für seine Fallstudie waren prominente Katzenhasser wie Alexander der Große, Julius Caesar, Napoleon Bonaparte und Heinrich III., König von Frankreich, der angeblich sogar schon dann in Ohnmacht fiel, wenn er einen Stubentiger nur aus der Ferne sah. Wirklich erstaunlich, oder? Ich meine, diese Könige, Feldherren und Diktatoren kämpften sich unerschrocken durch blutige Schlachten und blieben sogar dann standhaft, wenn es Kugeln hagelte oder Granaten neben ihnen einschlugen, doch im Angesicht einer Katze suchten sie das Weite.

Diese alles verschlingende Angst vor Katzen kann ich nur allzu gut nachempfinden, denn auch mir tritt sofort der Schweiß auf die Stirn, wenn mir so eine pelzige Zeckenschaukel über den Weg läuft. Allerdings bin ich kein gestandener General, sondern eine Frau und Erzieherin in einem Kindergarten und Fodors Theorie halte ich daher für totalen Quatsch! Wenn man sich außerdem im Internet umschaut, fällt auf, dass die Mitglieder von StudiVZ-Gruppen wie »Ailurophobie – Ich habe Angst vor Katzen« zu ungefähr neunzig Prozent weiblich sind. Reicht das schon als wissenschaftliche Widerlegung aus? Wahrscheinlich nicht. Fest steht jedenfalls trotzdem, dass ich seit jeher entsetzliche Angst vor Katzen habe, und der Grund dafür ist nicht, dass ich in den lästigen Mistviechern mit Kuscheltrieb etwas Weibliches sehe, sondern sie als ernst zu nehmende Bedrohung für mein körperliches Wohl empfinde. Ich vertrete den radikalen Ansatz, dass die Angst vor Katzen etwas rein Rationales ist und sich jeder, dem seine Gesundheit am Herzen liegt, vor den tückischen Biestern in Acht nehmen sollte.

Katzen sind launisch, sadistisch und falsch und sie kratzen, beißen und quälen ihre Mitmenschen und Mittiere, wie es ihnen gerade in den Sinn kommt. Als ich noch klein war, gab es in unserer Siedlung beispielsweise einen rot-weißen Kater, der es sich regelmäßig auf der Hollywoodschaukel unserer Nachbarin bequem machte. Da unsere Nachbarin eine alte Witwe und ziemlich einsam war, freute sie sich über den Besucher und verwöhnte ihren Günstling von morgens bis abends mit Streicheleinheiten und den feinsten Leckereien.

Als sie eines Tages das Blumenbeet in ihrem Garten umgrub, ließ sich das verlogene Miststück aus einer Baumkrone direkt ins Genick seiner treuen Dienerin fallen und begann, unsere heulende Nachbarin auf das Heftigste zu malträtieren.

Mich überraschte der plötzliche Stimmungsumschwung wenig. Um zu verstehen, wie Katzen ticken, muss man sich schließlich nur mal den Gestiefelten Kater aus Grimms Märchen angucken. Er ist das Paradebeispiel für die bitterböse Scheinheiligkeit, die in jeder noch so harmlos aussehenden Mieze schlummert. Erst macht der Märchenkater mit seinen blöden Lederstiefeln einen auf Edelmann, dann manipuliert er die nichtsahnenden Bauern auf den Feldern und umschmeichelt den herrschenden Zauberer anschließend so lange, bis dieser sich in eine Maus verwandelt und der Gestiefelte Kater ihn verschlingen und sich das gesamte Landgut des Zauberers unter die Kralle reißen kann.

Hallo? Geht’s eigentlich noch hinterfotziger? Ich denke nicht! Und ich kann mir auch detailgenau vorstellen, wie der Gestiefelte Kater seinen Widersacher ermordet hat – nämlich genau so, wie es für die grausame Natur der Katze typisch ist. Erst wird die Maus ein wenig mit den Krallen bearbeitet. Danach lässt die Katze sie immer wieder entwischen, nur, um den glühenden Überlebenswunsch des geschwächten Opfers neu zu entfachen und die Maus anschließend wieder mit den Krallen zu packen, durch die Luft zu wirbeln und sie – nur so zum Spaß – so lange zu foltern, bis sie endlich elendig verreckt ist. Wer jemals Zeuge eines derart barbarischen Katz-und-Maus-Spiels geworden ist oder erst von einer Katze umschmust und umgarnt und anschließend von ihr attackiert wurde, wird verstehen, warum ich Katzen als hinterlistig, bösartig und ernsthaft gefährlich erachte.

Kommen wir zum Thema Mystifizierung der Katze. Einen Stubentiger mit Hexen, dem Tod, der Unterwelt oder gar dem Beelzebub höchstpersönlich in Verbindung zu bringen, ist die wohl fadenscheinigste aller Katzenangstbegründungen und wird von mir, ehrlich gesagt, nur müde belächelt. Wenn ich in lauen Frühlingsnächten das irre Paarungsgeschrei der rolligen Katzen ertragen muss, hört sich das zwar selbst für mich nicht selten nach der Wehklage eines Dämons an, doch ob eine Katze schwarz ist oder nicht, oder ob sie meinen Weg von rechts oder von links kreuzt oder unter einer Leiter hindurchhuscht, ist mir völlig schnuppe – ich wechsle in jedem Fall die Straßenseite. Und damit hat es sich. Mir geht es schlicht und ergreifend um die Unberechenbarkeit der Katzen und darum, dass ich nicht angesprungen, gekratzt oder gebissen werden will. Für Aberglauben bin ich viel zu rational. Das heißt: Ich war es. Als sich meine Schwester, Vanessa Hederlin, vor drei Jahren eine grau melierte Katze namens Minka zulegte, geriet mein Weltbild allerdings komplett ins Wanken.

Minka, der ich schon nach kurzer Zeit den passenden Spitznamen »Psycho-Cat« verpasste, war mir von Anfang an suspekt. Also, ich meine, sie war mir noch suspekter, als mir Katzen ohnehin schon sind, und das will wirklich was heißen! Bereits, als sie noch ein tapsiges Katzenbaby war und sich alle Freunde und Verwandte vor Entzücken nur so überschlugen, wusste ich, dass Minka nicht normal ist. Mehr noch: Als sich Minka das erste Mal aufdringlich schnurrend zwischen meine Füße schob, ihren ekligen Schwanz wie eine pelzige Schlange um mein rechtes Bein kringelte und ich Minka um Gnade flehend in die gelbgrünen Augen stierte, wusste ich, dass diese Katze nur eine Schmuse-Show abzog und in Wirklichkeit das personifizierte Böse war. Ihr Blick war das Kühlste, was ich je gesehen habe. Bohrend, hochmütig, unbarmherzig.

In manchen Horrorfilmen wird ja behauptet, man könne in die Unterwelt gelangen, indem man seine Füße in einen Eimer voll Wasser stellt und einer Katze ganz lange und ganz tief in die Augen blickt. Nun konnte ich zum ersten Mal verstehen, wie die Filmemacher auf diese Idee gekommen waren. Minkas Augen waren ein Tunnel – und dieser führte geradewegs in die Hölle.

»Ach, Steffi. Willst du denn nicht mal wieder vorbeikommen? Ich koche uns auch was Leckeres. Das war früher doch immer so schön und gemütlich, wenn wir die DVD-Abende bei mir gemacht haben.« – »Tut mir leid, Nessi. Aber ich will mit Psycho-Cat einfach nicht in einem Raum sein. Wenn du sie irgendwo einsperrst, überlege ich es mir vielleicht noch mal.« – »Also, erstens heißt sie Minka und nicht Psycho-Cat und zweitens will ich sie nicht einsperren. Katzen brauchen Freilauf.« – »Gut, dann komm ich eben nicht.« Ich konnte mir vorstellen, dass Vanessa gerade beleidigt das Gesicht verzog. »Na, toll. Das bedeutet dann wohl, dass du mich, solange Minka lebt, also die nächsten 15 Jahre, nicht mehr besuchen willst, oder was? Versuche es doch wenigstens mal. Vielleicht ist das auch eine Art Therapie und ganz gut für dich. Und wenn es gar nicht geht, sperre ich sie eben in der Küche oder im Schlafzimmer ein. Versprochen.«

Eine Woche später drückte ich auf die Klingel neben dem kleinen Schild mit der handschriftlich gekrakelten Aufschrift »Hederlin«. Obwohl es logischerweise auch mein eigener Name war, kam er mir in diesem Moment schaurig und bedrohlich vor. Ein Glück, dass mein bester Kumpel Boris – leidenschaftlicher Tiernarr und Pfleger im Münsteraner Allwetterzoo – an meiner Seite war. Ich hatte ihn zu meiner mentalen Unterstützung mitgeschleppt und außerdem interessierte mich seine fachkundige Meinung zum Thema Psycho-Cat brennend.

»Hallo?«, plätscherte Vanessas Stimme blechern aus der Sprechanlage. »Wir sind’s!« Der Türöffner surrte, und Boris und ich traten in den Flur. Langsam fühlte ich das Adrenalin in mir hochsteigen. Meine Kopfhaut kribbelte, als hätte sich eine Horde Ameisen zwischen meinen Haaren angesiedelt. Hilfesuchend langte ich nach Boris’ Hand. »Wenn sie mich angreift, musst du mich retten!« – »Keine Panik, Kleine. Ich bin ja bei dir.«

Als wir Vanessas Wohnung erreichten, schlug mir sofort der beißende Gestank des Katzenklos entgegen. Die weiße Tapete im Wohnzimmer war im unteren Drittel zerfetzt und baumelte in schmalen Steifen von den Wänden. Minka saß mitten auf dem Teppich, hatte die Vorderpfoten dicht nebeneinander gestellt, den spitzohrigen Kugelkopf schief gelegt und blinzelte uns müde und herablassend an. Mir schnürte sich sofort die Kehle zu. »Miau!« Das quäkige Maunzgeräusch ließ mich erschrocken zusammenfahren. – »Ach, Gott. Ist die goldig!«, rief Boris begeistert, ließ sich neben Minka auf die Knie fallen und tätschelte ihren haarigen Schädel. Minka erwiderte die Berührung mit rasselndem Geschnurre und rieb ihren Kopf erregt an Boris’ Bein. Schleimerin!

»Siehst du, so schlimm ist sie doch gar nicht«, sagte Vanessa und knuffte mir aufmunternd in die Seite. Ich zuckte missmutig mit den Schultern. – »Willst du sie nicht auch mal streicheln?«, fragte Boris. – »Auf keinen Fall!« – »Aber schau doch nur, wie lieb sie ist«, insistierte der übermotivierte Tierpfleger und rollte ein rotes Wollknäuel über den Boden. Minka hüpfte aufgeregt hinterher, schmiss sich auf den Rücken und schubste den weichen Ball mit ihren Pfoten konzentriert in der Luft hin und her. »Ja, sieht schon ganz drollig aus, wie sie da so rumkugelt«, gab ich zu.

Vanessa und ich gingen in die Küche und fingen an, einen Salat zuzubereiten. Boris blieb indes im Wohnzimmer und spielte weiter mit Minka. Vielleicht war sie ja doch nicht so bösartig, wie ich glaubte. Sie war eben noch jung und verspielt. »Aaaah! Aua! Hilfe!« Vanessa und ich blickten uns alarmiert an. Um Himmels willen! Boris! Wahnsinnig vor Angst stürzte ich ins Wohnzimmer zurück – und erblickte einen Kampf auf Leben und Tod.

Boris lief torkelnd und schreiend durch das Zimmer. Minka hing an Boris’ Gurgel und rammte meinem hysterisch keifenden Kumpel ihre blitzenden Krallen in die Kehle. Minkas Gesicht war zu einer dämonischen Fratze verzerrt. Ihr Fell stand zu Berge und ihre spitzen Ohren waren so flach nach hinten angelegt, dass sie mit ihrem Kopf zu verschmelzen schienen. Ihr grelles Knurren und Fauchen klang wie Höllengeschrei. »Hilfe!« Boris packte Minka mit beiden Händen und pfefferte sie aus Notwehr mit voller Kraft gegen die Wand. Ungerührt federte Minka den Aufprall mit ihren Pfoten ab, nahm Anlauf und sprang Boris mit einem überlegenen Grinsen erneut an den Hals. »Tut doch was!« Endlich rührten Vanessa und ich uns aus unserer Schockstarre und eilten auf die Kämpfenden zu. Mit vereinten Kräften zerrten meine Schwester und ich die bebende Katze von Boris herunter und schleiften sie ins Schlafzimmer. Mir war kotzübel. Teils wegen der Angst, teils, weil ich meine Finger notgedrungen in Minkas flaumiges Fell gegraben hatte.

»Ich … ich … ich weiß auch nicht, was plötzlich in sie gefahren ist«, stammelte Vanessa, während ich mir angewidert die Hände abschruppte und Boris mit einem Waschlappen die leuchtend roten Kratzer rechts und links von seinem Kehlkopf säuberte. »Ich schon!«, brüllte ich aufgebracht. »Diese Katze ist der Antichrist!« – »Sei nicht albern, Steffi.« – »Albern? Hast du Minka schon mal in die Augen geguckt? Und außerdem: Wenn Boris nicht mit der Katze klarkommt, dann kann die einfach nicht normal sein!« Boris nickte verstimmt. »Also, das muss ich auch sagen, Vanessa. So ein aggressives Tier hab ich noch nicht erlebt.« Meine Schwester winkte ab. »Die hat eben zu viel überschüssige Energie. Das kommt, weil sie eine Wohnungskatze ist. Vielleicht hast du ja irgendwas gemacht, das ihr nicht gepasst hat? Minka ist halt eine kleine Diva.« – »Das ist doch wirklich unglaublich!«, motzte ich und schlug mir demonstrativ mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ihr Katzenbesitzer habt so einen Knall! Die Biester können machen, was sie wollen. Ihr seid so vernarrt in eure kleinen Lieblinge, dass ihr sie sogar dann noch in Schutz nehmt, wenn sie zu einer Gefährdung für die Allgemeinheit werden. Ich sage es dir noch mal, Nessi: Deine Katze ist bösartig!« – »Aber mir tut sie doch auch nichts.« – »Du bist ja auch des Teufels Advokat!«

Obwohl ich nach diesem Ereignis stocksauer war, habe ich natürlich nicht ernsthaft geglaubt, dass Minka vom Teufel besessen sein könnte. Dass sie eine pechschwarze Seele und ein Herz aus Stein hatte, daran bestand allerdings kein Zweifel mehr, und die Ignoranz meiner Schwester ärgerte mich. Entweder Vanessa würde ein Gelegenheitsverließ für Minka errichten (mir schwebte eine Gummizelle im Hannibal-Lecter-Style vor), oder ich würde sie ganz einfach nie wieder besuchen. Punkt. Ende. Aus.

Da ich aber nun einmal die bin, die ich bin, und meine Schwester sich zwei Monate später von ihrem Freund trennte, fluchtartig in Urlaub fahren wollte und mich unter Tränen bat, Minka wenigstens ein einziges Mal zu füttern, ließ ich mich doch wieder erweichen. »Bitte, Steffi! Nur ein einziges Mal. Für jeden Tag habe ich jemanden. Nur am Donnerstag hat keiner Zeit. Du musst nur kurz in die Küche gehen, die Näpfe voll machen und dann kannst du auch schon wieder abdüsen. Von Minka kriegst du gar nichts mit.« – »Na, das wollen wir doch erst mal sehen«, knurrte ich misstrauisch. »Aber okay. Ich mach’s.«

Als ich am Donnerstagabend gegen 20 Uhr vor Vanessas Wohnungstür stand, zitterten meine Hände so stark, dass mir der Schlüssel zwei Mal auf die Fußmatte fiel und ich mehrere Anläufe brauchte, bis ich die Tür endlich aufgeschlossen hatte. Vorsichtig lugte ich durch den Spalt. Von Minka war nichts zu sehen. Langsam schlich ich durch den Flur. In der Wohnung stank es wie immer nach Katzenklo. Durch die Dachfenster fielen die letzten blassen Strahlen der untergehenden Abendsonne herein und tauchten die Räume in ein schummriges Zwielicht. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. In einem Stephen-King-Film hätten spätestens jetzt aufgeregt quietschende Geigen und bedrohlich grollende Posaunen eingesetzt.

Als ich die Küche fast erreicht hatte, leuchteten über der Kommode links von mir plötzlich zwei gelb glühende Augen inmitten eines tiefdunklen Schattens auf. »Oh Gott!«, stieß ich erschrocken hervor und taumelte zwei Schritte zurück. Minka trat mit geschmeidigen Bewegungen aus der Dunkelheit hervor, setzte sich und begann, devot und despektierlich zugleich eine ihrer Pfoten abzulecken. »Jetzt bleib ganz ruhig und flipp nicht wieder aus«, bat ich – eher mich selbst als die Katze. »Ich tu dir nichts. Ich will dich nur füttern«, erklärte ich mit brüchiger Stimme und huschte in die Küche. Minka folgte mir wie ein lautloser Schatten. Mein Herz pumpte das Blut so heftig und schnell durch meinen angespannten Körper, dass ich das Pochen bis in die Fingerspitzen spürte und ich bei dem Versuch, den Futternapf zu füllen, die halbe Packung Brekkies über den Fliesenboden verteilte. »So eine Scheiße!« Minka beobachtete mich amüsiert. Ihre Schnurrbarthaare vibrierten vor Schadenfreude und Überlegenheitsgefühl. »Du brauchst gar nicht so blöd zu gucken, du kleiner Satansbraten! Ich hab keine Angst vor dir!«, schimpfte ich und kämpfte mit den Tränen.

Bebend ließ ich mich auf die Knie sinken und schob das krümelige Katzenfutter mit meinen schweißnassen Händen hektisch zu einem kleinen Haufen zusammen. Auf einmal war Minka verschwunden. Panisch sprang ich auf und suchte die Oberseite der Küchenschränke blitzschnell mit den Augen ab. »Bitte spring mir nicht ins Genick! Bitte spring mir nicht ins Genick!«, bettelte ich leise. Den Blick nach oben gerichtet, schritt ich rückwärts, brachte mehr und mehr Abstand zwischen mich und die Regale – und trat der unbemerkt hinter mir herumtigernden Minka auf den Schwanz. Sie stieß einen Schrei aus, der so schrill und entsetzlich war, dass er mir durch Mark und Bein fuhr und ich ihn kaum in Worte fassen kann. »Aaaah!« Ich begann ebenfalls, hysterisch zu kreischen, und rannte wie vom Teufel gejagt davon.

Nachdem ich die Straße erreicht und ein paar Minuten verschnauft hatte, überkam mich ein schlechtes Gewissen. Hatte ich Minka jetzt ernstlich verletzt? Sosehr ich sie auch verabscheute – diesen Gedanken konnte ich nun auch wieder nicht ertragen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schlich zurück in die Wohnung und in die Küche. »Minka? Miez, Miez, Miez, Miez.« Sie war nicht da. Erschöpft beschloss ich, zunächst einmal ein wenig kaltes Wasser über meine heißen und schweißverklebten Hände laufen zu lassen, und drehte den Hahn an der Spüle auf. Dann schoss Minka um die Ecke. Ihre Augen funkelten diabolisch, ihr aufgeplusterter Schwanz wedelte angriffslustig in der Luft herum und ihre spitzen Ohren standen so schräg und flach zur Seite weg, dass sie an die Flügel eines startenden Flugzeugs erinnerten. Sie spannte sich zum Sprung!

Reflexartig spritzte ich Minka eine volle Ladung Wasser mitten in ihr fuchsteufelswildes Gesicht. »Weiche, böser Geist! Weiche!« Minka fauchte auf und zischte jammernd davon. Ich bekreuzigte mich.

Kurz darauf vernahm ich ein angestrengtes Keuchen. Mit letzter Kraft schleppte ich meinen schlotternden Körper in das Wohnzimmer und erblickte Minka, die sich derart verzweifelt verkrampfte, wand und krümmte, als ob ein unsichtbarer Geist sie würgte und versuchte, ihr das Fell über die Ohren zu ziehen. Ich konnte nicht mehr atmen, nicht mehr denken, mich nicht mehr bewegen. Sollte Minka tatsächlich vom Teufel …? Das Keuchen wurde heftiger. Atemlos klammerte ich mich am Türrahmen fest und verfolgte das gruselige Szenario mit brennender Brust und rasendem Herzen. Platsch! Plötzlich hatte Minka einen schwarzen, schleimigen Klumpen auf den Teppich gekotzt. – Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich erlebt, wie eine Katze ein Haarknäuel erbricht.

Nach diesem Ereignis war ich kurz versucht, meinen rationalen Standpunkt zu verlassen und zur Katzen-Mystifizierung überzuwechseln. Dass Minka mich fortan in Ruhe ließ und sich einigermaßen friedlich verhielt, wenn ich Vanessa besuchte, war zwar erfreulich, machte den Spuk aber nicht unbedingt weniger unheimlich. Trotzdem verwarf ich den Gedanken an eine mögliche Besessenheit irgendwann wieder. Dafür war ich dann doch zu vernünftig. Sollte ich allerdings jemals wieder in einen Diskurs über Aberglauben geraten, werde ich mit Sicherheit nicht mehr so ohne Weiteres loslachen.

DIE 4. GESCHICHTE ÜBER SCHRÄGE PHOBIEN

Fußsoldaten

Ronja (30), Bürokauffrau, Düsseldorf, über Podophobie (Ekel vor Füßen)

Ich fühle mich belästigt. Täglich. Und zwar von meinen eigenen Füßen. Im Sommer selbstverständlich auch von denen meiner barfüßigen Mitmenschen. Mir ist bewusst, dass Füße eine tragende Rolle in unser aller Leben spielen und uns im Laufe unseres Lebens bis zu viermal um die ganze Erde schleppen, doch das ist ihr Problem und beeindruckt mich herzlich wenig. In meinen Augen sind Füße – oder zumindest ihr äußeres Erscheinungsbild – der fatalste Fehler, den Mutter Natur je begangen hat. Denn wie es in der StudiVZ-Gruppe »Ich hasse Füße!« (knapp 35.000 Mitglieder) so treffend formuliert wird: Selbst schöne Füße sind nicht schön! Sie sind hässlich und sie stinken, und ich kann es einfach nicht ertragen, Füße anzufassen oder auch nur anzusehen. Konnte ich noch nie.

Wenn in einem überfüllten Hallenbad jemand direkt vor mir schwimmt und ich nicht ausweichen kann, kriege ich vor lauter Aufregung Schluckauf, und wenn im Sommer die Flipflop-, Riemchenschuh- und Aldiletten-Träger in die Straßen und die Parks einfallen, mutiere ich zum chronischen Hans Guck-in-die-Luft. Vor allem der Anblick der kurzen, dicken Knubbelzehen, die in derlei Sommerschuhwerk ganz besonders an zu kurz geratene Wurstfinger erinnern, jagt mir kalte Schauer über den Rücken und sollte daher tunlichst vermieden werden. Und diese millimeterdicken Hornnägel? Mal ganz im Ernst: Bei den vergilbten Ekeldingern muss es sich ganz einfach um einen Evolutionsirrtum handeln! Wofür sind die denn bitte schön sonst noch gut, außer zum Bepinseln?

Hinzu kommt der beißende Gestank. Fairerweise muss man an dieser Stelle einräumen, dass nicht alle Füße müffeln, doch wenn sie es tun, gibt es kein Morgen mehr! Mein Bruder hatte beispielsweise eine Schulfreundin, die eines Nachmittags zum Lernen bei uns zu Hause vorbeikam und dabei derart käsige Stinkemauken hatte, dass ich schon grün im Gesicht anlief, als sie sich im Flur ihrer speckigen Turnschuhe entledigte. Ich suchte sofort das Weite und verzog mich in mein Zimmer, doch obwohl mein Bruder und seine Klassenkameradin sich zum Lernen an unseren großen Küchentisch setzten, krochen die miefigen Giftgase bis zu mir in den ersten Stock hinauf und verätzten mir fast die Sinne. Ich taufte das Mädchen »Mephista« – nach der italienischen Göttin »Mephitis«, Herrscherin der Schwefelquellen.

Während ich die Füße anderer Menschen rundweg ignoriere, bin ich zu meinen eigenen einfach nur grausam. Ich lasse sie nicht einmal mit unter die Bettdecke, geschweige denn, dass ich sie eincremen oder vernünftig waschen würde. Zwar halte ich beim Duschen die Brause kurz mal drauf, aber meine Füße so richtig kräftig abschruppen und die Zehenzwischenräume säubern, ist undenkbar (stinken tun sie dank diverser Sprays aber trotzdem nicht). Auch abtrocknen kommt nicht in die Tüte. Stattdessen latsche ich so lange auf dem flauschigen Badezimmerteppich herum, bis diese missgebildeten Wurmfortsätze von Füßen endlich trocken sind. Meine Zehennägel zu schneiden kostet mich so viel Überwindung, dass ich mich im Bad einschließen muss und bis zu einer Stunde dafür brauche, und meine Fußnägel lackieren könnte ich höchstens, wenn mir jemand eine geladene Waffe an die Schläfe drücken würde.

Darüber hinaus besitze ich lediglich vier Paar Schuhe, in die ich meine Füße seit nunmehr fünf Jahren achtlos hineinquetsche und sie somit auf das Heftigste malträtiere. Da ich Schuhgeschäfte meide wie der Teufel das Weihwasser, ist es mir egal, dass mir inzwischen keiner der Schuhe mehr richtig passt und mir in aller Regelmäßigkeit dicke Blasen an Hacken und Zehen wachsen. Die Schmerzen halte ich schon aus. Ich bin hart im Nehmen. Und außerdem: Wofür gibt es Blasenpflaster?

Einmal hatte ich aber so schlimme Schmerzen, dass selbst ich nur noch humpeln konnte und meine Chefin mich zu einem Besuch beim Orthopäden nötigen wollte. Ich brauchte einen ganzen Vormittag, bis ich mich endlich dazu durchringen konnte, die Nummer der Orthopädiepraxis zu wählen und einen Termin für den kommenden Tag zu vereinbaren. Da die Schmerzen in meinem Fuß wie von Zauberhand verschwunden waren, nachdem ich den Hörer wieder aufgelegt hatte, ging ich aber nicht hin. Das war kein besonders starker Auftritt von mir, aber ich bin trotzdem froh, dass mein Kopf mir diese Wunderheilung vorgespielt hat – es gibt nämlich nur eine einzige Sache, die noch schrecklicher ist, als meine Füße anzufassen: wenn jemand anders sie anfasst!

Wenn mein Freund früher auf die abstruse Idee kam, mir eine entspannende Fußmassage zu verpassen, schrie und strampelte ich los wie eine Wahnsinnige. Inzwischen unterlässt er solche Aufdringlichkeiten zum Glück, doch am Anfang unserer Beziehung hielt mein Freund meine Reaktionen für gespielt oder wenigstens für übertrieben. Das änderte sich, als ich bei einer Kitzelattacke in der Badewanne (wir saßen uns gegenüber) derart in Rage geriet, dass ich meinem Freund beinahe einen Zahn heraustrat. Was ich in meiner Panik mit dem Orthopäden angestellt hätte, wage ich mir daher gar nicht auszumalen.

Außer meinem Freund gibt es übrigens noch sehr viele andere Leute, die meinen abgrundtiefen Fußekel nicht für voll nehmen, doch ich kann versichern: Es ist mir mehr als ernst damit! Und ebenso sehr kann ich versichern, dass auch die podophile Gegenseite kein Pardon kennt und ihren Fußfetisch mit einer derartigen Hemmungslosigkeit auslebt, dass es mir glatt die Socken auszieht. Warum ich das so genau weiß? Ganz einfach! Vor sechs Jahren gerieten ich (damals noch Single) und meine beste Freundin Madeleine in die Fänge einer Horde fußfanatischer Soldaten.

Madeleine, die ich nur »Maddy« nenne, weil das so schön nach Gangsterbraut klingt, und ich hatten einen Weiberabend geplant, was bei uns – zumindest in unserem jugendlichen Leichtsinn vor sechs Jahren – so viel bedeutete wie, dass wir in einen runtergerockten Elektroschuppen fuhren, uns jede Menge Pillen einschmissen und tanzten, bis der Morgen graute. So wollten Maddy und ich es auch an jenem verhängnisvollen Freitag halten, und nachdem wir gegen zwei Uhr nachts ein paar Cocktails geschlürft und unseren Stammdealer konsultiert hatten, stürmten wir auch schon schreiend und pfeifend auf den Dancefloor, um uns von den wummernden Bässen in den Himmel katapultieren zu lassen.

Außer uns war fast niemand auf der Tanzfläche, doch als Maddy und ich uns im Liebestaumel immer überschwänglicher umarmten und abknutschten, gesellten sich plötzlich 15 Männer zu uns. Sie schienen zusammenzugehören und sahen allesamt sehr adrett und athletisch aus. »Na, ihr zwei, ihr seid ja richtig gut drauf!«, plapperte einer der Männer unbeholfen. – »Das kann man wohl sagen!«, bestätigte ich freudestrahlend. – »Wollt ihr ein Bier?« – »Na, klar doch!« Es war perfekt. Gerade war ich zu der seligen Gewissheit gelangt, dass es gar nicht mehr schöner werden konnte, als plötzlich die Musik verstummte und das Licht anging.

Die Stille summte in unseren Ohren, die grellen Strahlen der Leuchtstoffröhren bohrten sich in unsere Augen und verbrannten unsere Haut. Maddy fauchte auf wie ein Vampir. Ihre Pupillen waren groß und schwarz und kugelrund. Sie wirkte panisch. »Scheiße! Scheiße! Oh, nein! So eine Scheiße! Es ist doch erst halb sechs! Ich dachte, die haben heute bis zehn auf! Oh, Ronja! Was sollen wir bloß tun? Ich will noch nicht nach Hause! Alles, nur nicht nach Hause! Wir müssen unbedingt eine After-Hour finden!«, rief Maddy verzweifelt. – »Ich weiß«, stimmte ich ihr angespannt zu, kannte ich den Grund für ihre Panik doch nur zu gut: Ein nicht ausgetanztes Teil führt, vor allem in Verbindung mit Stille und Einsamkeit, schnurgerade in den Höllentrip.