Mausmakis blaue Pumas - Mareile Kurtz - E-Book

Mausmakis blaue Pumas E-Book

Mareile Kurtz

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Beschreibung

Emma Fröhlich ist sich sicher: Ihren nächsten, den 28. Geburtstag wird sie nicht mehr erleben. Zu schnell zerfressen Drogen und Bulimie ihren Körper, zu unerträglich ist die Rückkehr in das trostlose nüchterne Leben zwischen den Exzessen. Die Suche nach Glück und der eigenen Identität hat sie süchtig gemacht. Jahrelang entführten Ecstasy, Speed, Kokain, MDMA, Marihuana, Pilze und LSD sie in eine scheinbar bunte Welt voller Liebe, Freiheit, Abenteuer, Intensität und Erkenntnis. Gemeinsam mit ihrer Freundin Regina Regenbogen und den anderen Mitbewohnern ihrer verrückten Party-WG durchlebte sie wilde Nächte und nicht enden wollende Trips. Ein verstörendes Erlebnis auf dem Parkplatz eines Clubs bringt Emma dazu, sich über die verheerenden Folgen ihres Lebensstils Gedanken zu machen. Schonungslos rekapituliert sie ihre Vergangenheit, sucht in Büchern, Filmen und Songtexten nach Antworten - und findet im Schreiben eine brauchbare Therapie. Mit jeder Zeile nähert sie sich fortan dem Grund ihrer Probleme, doch erst ein Schicksalsschlag öffnet ihr wirklich die Augen. Drogen, Sex, Musik, Tanz und das Zusammengehörigkeitsgefühl machendie Techno-Szene zum persönlichen Wunderland der weiblichen Hauptfigur des Romans. Hinzu kommt der willkommene Gewichtsverlust ohne jede Anstrengung und Disziplin, denn die chemischen Drogen verdrängen jedes Hungergefühl und pushen den Körper zu Höchstleistungen auf der Tanzfläche. Mausmakis blaue Pumas beschreibt das Lebensmotto einer ganzen Generation von jungen Erwachsenen, die nur für die Wochenenden leben und jede Art von Verantwortung ablehnen. Vor dem Leistungsdruck in der heutigen Gesellschaft flüchten sie in die Clubs der Elektro-Szene, in denen Zeit keine Rolle spielt und die Normen der Welt draußen nicht gelten. Doch diese Freiheit, basierend auf dem Konsum von Drogen, ist eine trügerische. Wer diese Scheinwelt zu seiner Realität erklärt, entscheidet sich gegen das Leben. Das ist die schmerzhafte Erkenntnis, zu der Mareile Kurtz ihre Protagonistin Emma Fröhlich gelangen lässt, als das Party-Wunderland seine düstere Kehrseite zeigt.

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Seitenzahl: 701

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MAREILE KURTZ

MAUSMAKIS BLAUE PUMAS

ÜBER CHEMISCHES HEILFASTEN UND DIE ANGST, SICH ZU TODE ZU FEIERN

Für mich selbst

MORGENGEBET

Geliebter Herr,

vom Schlaf erwacht bin ich bereit 

des Tages Pflicht zu tun.

Ich lege alles Dir zu Füßen nieder

und Deine Gegenwart soll stets bewusst mir sein.

Hilf mir, dass Denken, Wort und Tat 

rein und geheiligt sind.

Hilf mir, dass ich anderen kein Leid zufüge und

dass ich selbst für Leiden unempfänglich bin.

Zeig mir den Weg für diesen Tag 

und hilf mir, ihn zu gehen.

Sai Baba

SPEED DATING

Donnerstag, 17. Mai 2012, 4:18 Uhr Alter: 27 Jahre, Größe: 1,63 m, Gewicht: 53,8 kg

»Pssssst! Sei nicht so laut!«, zischt der Typ namens Kolja, den ich vor einer knappen Stunde an der Theke kennengelernt habe und auf dessen nacktem Schoß ich nun mit meiner feuchten Muschi herumrutsche. Ich verlangsame meinen Rhythmus, höre zu stöhnen auf und grinse ihn an. »Spielverderber!« – »Ja, ja, ich weiß. Und jetzt halt die Klappe und mach weiter. Ich hab nicht die ganze Nacht Zeit.«

Nun bin ich irritiert. Keine zehn Minuten ist es her, da haben dieser schwarz gelockte Kolja und ich noch fröhlich plappernd vier Lines Speed (jeweils) von dem Klodeckel (auf dem wir nun in Reiterstellung sitzen) gezogen und uns gegenseitig immer wieder versichert, wie toll wir einander finden, und schon scheint sein Liebesflash wieder vorbei zu sein. Und dabei hatte ich mich so darüber gefreut, dass er trotz der chemischen Drogen gleich einen hochgekriegt hatte. Wirklich, sehr bedauerlich! Aber egal. Nach dem Spontan-Fick werde ich mich einfach schnell zurück auf die Tanzfläche verziehen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Ich halte kurz inne und lausche den lockenden Techno-Bässen, die dumpf durch die dünnen Toilettenwände pumpen. Ob ich sofort aufstehen und wieder gehen … »Hey, was ist? Ich hab’s nicht böse gemeint. Ich bin nur so geil auf dich!« Ich grinse wieder. »Ach, so ist das …« Mein Becken beginnt erneut zu kreisen und sofort geht mein Atem wieder heftiger. »Hey! Vögelt gefälligst woanders! Ich muss kacken!« Ein Typ schlägt von außen mit der Faust gegen die Klotür. »Verpiss dich!«, brüllt Kolja. Ich kichere. Kolja nicht. »Ach, scheiß auf euch!« Der Mann stapft fluchend davon. Belustigt zucke ich mit den Schultern und konzentriere mich wieder ganz auf den harten Schwanz zwischen meinen Beinen. Gerade als ich zum ersten Mal so etwas wie ein schönes Gefühl im Unterleib spüre, erklingt eine besorgte Frauenstimme: »Kolja? Kolja, bist du hier?«

Ich stoppe meine Bewegungen und schaue meinen Sexpartner verdutzt an. Dieser schaut verdutzt zurück – und schubst mich prompt von seinem Schoß. »Ey!«, lache ich überrascht auf, doch Kolja drückt mir nur panisch eine Hand auf den Mund. Seine Pupillen sind schwarz und groß und kugelrund. Niedlich. Irgendwie. Wie bei einer Comicfigur … oder einem knuddeligen Mausmaki. »Bitte sei ganz, ganz still und hock dich in eine Ecke. Bitte, bitte, bitte!« Zu überrumpelt und außerdem von Ecstasy und Speed viel zu verballert, um irgendeine Bitte oder Handlung zu hinterfragen, ziehe ich mein Höschen hoch und mein Kleid runter und zwänge mich zwischen Toilette und Wand. Trotz der aufkeimenden Unruhe fühle ich mich leicht und weich und unverwundbar. So, als bestünde ich aus Watte. Es ist schön, hier in dieser Kuhle zu sitzen. Gemütlich. Entspannt. Geborgen.

Kolja zieht sich die Jeans bis zum Bauchnabel, macht sie hastig zu, kniet sich dann vor die Kloschüssel und klappt den Deckel hoch. »Kolja?« Die Frau, die zu der besorgten Stimme gehört, kommt näher. Ich höre ihre High Heels über den Fliesenboden klacken. »Kolja?« Endlich antwortet er: »Ja, Schatz! Ich bin hier!« Schlagartig fühle ich mich nicht mehr ganz so leicht. Die Realität legt sich wie ein plötzliches Fieber auf meine Glieder und wird immer schwerer … Schatz?!

»Kolja! Gott sei Dank! Ich hab dich schon überall gesucht! Ist alles okay?« – »Nein!«, jault Kolja weinerlich. »Mir ist voll schlecht!« – »Oje. Das tut mir leid! Mach mal die Tür auf, dann komm ich zu dir rein.« – »Nein, das geht nicht!«, jammert er – und stopft sich Zeige- und Mittelfinger in den Hals. Irritiert beobachte ich, wie der Kerl neben mir (übrigens äußerst gekonnt, wie ich als langjährige Bulimikerin neidlos anerkennen muss) sein Gaumenzäpfchen so lange mit den Fingerspitzen malträtiert, bis er heftig zu kotzen anfängt und ihm dicke Tränen über die Backen kullern.

Er erbricht nur Flüssigkeit und als der zweite Strahl knapp danebengeht und auf die dreckige Kloschüssel klatscht, spritzt mir etwas davon mitten ins Gesicht. Ich kneife die Augen zusammen und wische mir mit dem Handrücken die schleimige Kotze von der Stirn. Der Scheißtyp soll mir bloß nicht mein Make-up versauen! »Kolja? Um Himmels willen! Du musst ja brechen! Lass mich doch endlich rein! Lass mich dir helfen!« Koljas Freundin wird ungeduldig und fängt an, an der Türklinke zu rütteln und energisch zu klopfen. Kolja würgt weiter. »Nein, Schatz! Ich will nicht, dass du mich so siehst! Diesen Anblick will ich dir nicht zumuten, mein Schatz! Ich schäme mich so!«

Angeekelt und ganz und gar hasserfüllt krabbele ich aus meiner Kuhle heraus, um nicht länger vom galligen Lügengift bespritzt und infiziert zu werden, doch Kolja drängt mich in meine Ecke zurück. Bebend vor Zorn, als sei das ganze Dilemma einzig und allein meine Schuld, durchbohrt er mich mit seinen irren Riesenpupillen und hebt drohend die rechte Hand in die Höhe. Wenn du nicht still sitzen bleibst, schlage ich dich tot!, soll die Geste wohl bedeuten. Ratlos kauere ich mich wieder zu einer Kugel zusammen und lege die Arme über den Kopf. Auf einmal finde ich es stickig in der kleinen Kabine. Und eng. Ich bekomme kaum Luft. »Kolja … sag mal, ist da etwa jemand bei dir?!« Die Stimme der Frau schraubt sich schrill nach oben. »Kolja …«, wiederholt sie fiepend.

Von drinnen kann ich hören, wie Koljas Freundin hochhüpft, um einen Blick über den Türrahmen zu werfen, doch Kolja und ich sitzen zu tief. Ein Glück, dass wir uns im Männerklo befinden und es keine weitere Toilette gibt, auf die sie steigen könnte, um über die Kabinenwand zu gucken. Selbst die Hölle kennt nicht den Zorn einer verschmähten und/oder betrogenen Frau1 und von einer bis ins Mark gedemütigten Furie aufs Maul zu kriegen, habe ich gerade mal so ungefähr überhaupt keinen Bock – zumal ich völlig unwissentlich zur Komplizin dieses Verrats gemacht worden bin.

Ein neues Geräusch verrät, dass sich Koljas Freundin nun hinkniet und versucht, unter der Klotür hindurchzuschauen. Da die Klotür bis auf die Fliesen reicht, bleibt sie ohne Erfolg und keift hysterisch: »MACH SOFORT DIE TÜR AUF!« – »Nein, Schatz! Wie kannst du so was nur von mir denken? Natürlich ist niemand bei mir! Ich habe versucht aufzustehen und es nicht geschafft. Ich bin zu schwach! Bitte! Geh endlich! Demütige mich nicht länger! Ich will nicht, dass du mit anhörst, wie ich mich übergebe!«

Kolja stopft sich ein weiteres Mal die Finger in den Hals und hustet übertrieben laut. Ein kapitulierender Seufzer: »Ist gut. Tut mir leid, Schatz. Ich wollte dich nicht bedrängen. Ich hol dir schon mal ein Wasser und warte dann vor der Toilette auf dich, okay?« – »Nein. Das möchte ich nicht. Geh auf die Tanzfläche und hab Spaß! Ich weiß nicht, wie lange ich mich hier noch quälen muss. Bitte, Schatz! Geh! Tu mir den Gefallen und genieße den Abend! Das ist das Beste, was du für mich tun kannst.« – »Wie du meinst …« Zögerlich macht die Frau auf dem Absatz kehrt – und stöckelt schließlich davon.

Ein paar Sekunden lausche ich angespannt, um mich zu vergewissern, dass sie wirklich weg ist. Dann springe ich auf die Füße und entriegele die Tür. Kolja packt mich am Arm. »Wo willst du denn hin? Ist doch alles wieder gut jetzt. Sie ist weg.« – »See you in hell, motherfucker!« Ich verpasse Kolja eine schallende Ohrfeige. Dann stolpere ich aus der Toilette und dem Club, schiebe mich grußlos an den breitschultrigen Türstehern Toni und Sven vorbei, die mir irgendwas nachrufen und lachen, und erreiche endlich den Parkplatz, wo ich mich hinter einem Auto rücklings auf den feuchten Asphalt plumpsen lasse, die Knie bis zur Embryonalstellung an die Brust ziehe, dankbar die kühle Luft in meine Lungen sauge und mir eine Zigarette anzünde.

Ich koche vor Wut. Das Honey Trap2 ist MEIN Club! MEINE Hood! MEINE Area! MEIN Wohnzimmer! MEIN Zuhause! Und wenn dieser behinderte Kolja gleich immer noch da sein und mir oder einer anderen Frau noch mal zu nahe kommen sollte, lasse ich ihn sofort rausschmeißen. Ein Wink von mir wäre genug, um den Penner mit einem brutalen Arschtritt von Toni und Sven auf die Straße zu befördern. Alles klar, du blöder Wichser? Hier hab ich das Sagen!

Nachdem ich die Zigarette aufgeraucht und zu zittern aufgehört habe, krame ich zwei Plastiktütchen aus meiner Umhängetasche, schlucke meine Wut sowie eine Ecstasy-Pille runter und zerhacke zur Beruhigung mit meiner EC-Karte eine kleine Line Speed auf meinem Perso (das Ritual beruhigt mich, nicht das Speed). Im Osten zieht schon anklagend das Tageslicht herauf, doch noch ist der Himmel schwarz und voller Güte. Ein kicherndes Pärchen schlendert Arm in Arm über den Parkplatz. Ich beobachte, wie es bis zur Straße spaziert, an der Taxistation stehen bleibt und verliebt zu knutschen beginnt.

Als ich die Nase gerade fertig gelegt und meinen letzten Geldschein (einen Fünfer) aufgerollt habe, fällt mein Blick plötzlich auf einen Mann, der einige Meter entfernt von mir steht und mich stumm und aufmerksam beobachtet. Wahrscheinlich ein Obdachloser. Oder ein Junkie oder Alki oder irgendwas in der Art. Ein völlig abgefuckter Typ und kein Bulle jedenfalls. Sein langes Haar hängt ihm strähnig in das schlampig rasierte Gesicht, seine Jeans ist über den Knien zerrissen und seine speckige weiße Daunenjacke mit Flecken übersät. Ein beißender Pissegestank weht von ihm herüber. Ich schätze den Spinner auf Anfang, Mitte 40. Solange Toni und Sven um die Ecke sind, geht von ihm keine Gefahr aus.

»Verpiss dich«, knurre ich grimmig. Auf meinen Knien balanciere ich wie auf einem kleinen Tisch immer noch den Perso mit dem Pep. Mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand halte ich behutsam das 5-Euro-Röllchen fest. Mein Kleid ist inzwischen durchgeweicht und mein Arsch klitschnass. Ich beginne zu frieren. »Mann, jetzt verpiss dich endlich! Ich hab kein Geld für dich!« Wieder keine Reaktion. Der Typ gafft mich stumpf an und bewegt sich nicht vom Fleck. Langsam wird er mir unheimlich. Schnell rotze ich das Speed weg, verstaue Geld und Perso in meiner Umhängetasche, rapple mich auf und zupfe mein Kleid wieder in Form. Nun stehen der Mann und ich auf Augenhöhe und blicken uns direkt ins Gesicht. Auf einmal ist es ganz still. Gespenstisch still. Und leer. Auf dem Parkplatz ist außer meinem Gegenüber und mir niemand zu sehen. Das Pärchen von vorhin ist verschwunden. Tonis und Svens gedämpfte Stimmen, die bis eben noch als leise Echos um die Ecke hallten, sind verstummt. Selbst die Geräusche der Stadt und das stetige Rauschen der in naher Ferne vorbeizischenden Autos sind nicht mehr zu hören. Ich habe das Gefühl, als hätte ich Wasser in den Ohren. Bin ich etwa taub geworden? Hatte ich womöglich gerade einen Hörsturz? Wegen der lauten Musik im Club?

Unter meiner Kopfhaut beginnt es zu prickeln. Ich bekomme Panik … oder fängt nur das Teil an zu wirken? Meine Augen rasen im Zickzack über den Parkplatz. Über den Asphalt fließt mir dämmerndes Tageslicht entgegen. Es erscheint mir grau und faulig wie Kanalwasser. Warum stehe ich hier wie angewurzelt? Warum drehe ich nicht um und gehe wieder rein?

Eine unerwartete Bewegung lässt mich zusammenzucken. Der Mann wendet zum ersten Mal den Blick von mir ab und bückt sich nach unten. Jetzt erst bemerke ich, dass er in seiner rechten Hand ein ausgefranstes, viereckiges Stück Pappe hält, das so groß ist, dass es bis zu seinen dreckverkrusteten weißen Turnschuhen hinunterbaumelt. Nun packt er das Pappschild auch mit der linken Hand und hebt es langsam, ganz langsam, wie in Zeitlupe, in die Höhe. Er hebt es höher und höher, bis es wie ein Demotransparent über seinem Kopf schwebt, wirft mir einen leeren Blick zu – und dreht das Pappschild um.

Fassungslos wanke ich nach hinten … oh … Gott! Nein … bitte nicht! Hilfe! Ich … krack! Rücklings bin ich gegen den Seitenspiegel eines Autos getaumelt. Ich habe ihn abgebrochen. Betäubt vor Grauen bleibe ich stehen. Mein Herz schlägt so heftig, dass es mir fast durch die Schädeldecke donnert. Trotzdem kann ich nicht aufhören, das Schild und seine Aufschrift anzustarren. Es ist ein einziger Satz. Wenige Buchstaben, mit schwarzem Edding auf hellbraunes Wellpapier gekritzelt. »Nein … das ist … nicht wahr!«, presse ich hervor – und schaffe es endlich, mich aus meiner Schockstarre zu lösen und zum Honey Trap zurückzurennen.

Vor meinen Augen ist alles weiß. Konzentriert starre ich auf den Boden und renne und renne, bis ich schließlich gegen etwas Großes pralle, das sich warm und weich anfühlt. Perplex gucke ich nach oben. Der milchige Panikschleier lüftet sich. Auch mein Gehörsinn kehrt zurück. »Emma! Pass doch auf!« – »Toni!« Ich umarme den Türsteher so inbrünstig wie einen tot geglaubten Verwandten. »Was ist los?« – »Da ist … da war … so ein Mann!« – »Was für ein Mann? Wo? Hat er dir etwa was getan, Süße?« – »Er … hatte ein Schild!« – »Was für ein Schild?« Ich entlasse den Türsteher aus meiner Umklammerung, ziehe ihn am Ärmel um die Ecke und deute zitternd zwischen die Autos – doch auf dem Parkplatz ist niemand.

Verdattert schaue ich zu Toni hoch und merke, wie sich meine Augen spastisch nach oben verdrehen. Nun fängt das Teil tatsächlich an zu wirken. Toni packt mein Gesicht mit seinen großen behaarten Händen und mustert es forschend. »Mensch, Mädchen. Du kannst ja kaum noch geradeaus gucken. Und deine Pupillen sind schon wieder groß wie Untertassen. Los, zisch ab nach unten, bevor der Chef dich sieht, und hol dir ’n Wasser. Oder noch besser: Geh nach Hause!« Gehetzt entwinde ich mich Tonis Bärenpranken und laufe zum Clubeingang zurück. Auf dem Weg dorthin drehe ich mich ein letztes Mal um und schaue Richtung Parkplatz. Von dem Mann und seinem Schild fehlt weit und breit jede Spur.

REGINA REGENBOGEN

Donnerstag, 17. Mai 2012, 5:34 Uhr Alter: 27 Jahre, Größe: 1,63 m, Gewicht: 53,6 kg

Zurück im Honey Trap, führt mich mein erster Weg aufs Klo. (Aufs Damenklo, wohlgemerkt, nicht auf das der Männer.) Ich stütze mich mit einer Hand auf dem großen Waschbecken ab, drehe mit der anderen den Hahn auf und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Was für eine kranke Scheiße! Dieser Typ! Dieses Schild! Und dieser … Satz! Nicht viel mehr als eine Kritzelei, die jeder andere wahrscheinlich schon längst wieder vergessen hätte, doch mich hatte sie getroffen wie ein Faustschlag in die Magengrube. Es war, als hätte der unheimliche Lumpenzombie mit seinen bohrenden Augen in die Abgründe meiner Seele geblickt und mein schlimmstes Schreckgespenst zutage gefördert. Was ich im Fühlen schon immer gewusst, aber in Worten noch nie zu benennen geschafft hatte3, hatte er punktgenau für mich ausformuliert und auf ein Schild geschrieben. Auf ein lächerliches Pappschild. All das konnte doch kein Zufall gewesen sein! Dass diese Vogelscheuche aufgetaucht ist und mir meine größte Angst genau dann im Wortsinn vor Augen geführt hat, nachdem ich mit diesem Kolja rumgesext habe … Kennt der Mann mich von irgendwoher? Weiß er irgendwas? Wurde er womöglich von irgendwem engagiert? Von einem Exfreund? Oder einer früheren Freundin oder Bekannten?

Ich blicke in den Spiegel. Ich sehe doppelt. Nervös versuche ich, mein Spiegelbild zu fixieren. Es klappt. Erschrocken stelle ich fest, dass die linke Pupille (die, mit der ich fixiere) ganz normal und geradeaus guckt. Der rechte Augapfel hingegen ist zur Nase hin verdreht und zuckt wie unter Strom. Es sieht aus, als würde ich mit nur einem Auge schielen. Krasse Scheiße. Da bekommt der Begriff »Knick in der Optik« gleich ’ne ganz neue Bedeutung.

Kurz entschlossen fahre ich herum, trete eine der Kabinentüren auf (hier gibt es drei und nicht nur eine), schmeiße mich über die stinkende Kloschüssel und ramme mir den rechten Zeigefinger in die Kehle. Kotzen hilft. Immer und gegen alles. Genau wie Rauchen.4 Es beruhigt – und macht wieder klar im Kopf. Die Kloschüssel ist mir so lieb und teuer wie ein guter, alter Freund. Sie lässt mich nie im Stich. Sie ist rund und fest und hart und unverwüstbar. Sie ist mein steinerner Rettungsring.5

Ein mit schwarzen Bröckchen zersetzter Schaum klatscht auf die weiße Keramik. Ich überlege, was ich heute Nacht getrunken habe. Irgendwas mit Cola? Ist ja auch egal. Ich kotze weiter wie im Wahn. Ich kotze, bis ich nur noch keuchen kann.

Erleichtert lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Tür und fingere nach dem Plastikbehälter mit dem Klopapier. Keins mehr da. War ja klar. Automatisiert öffne ich meine Umhängetasche, ziehe ein Abschminktuch heraus und wische mir mit dem feuchten Lappen ein paar Mal übers Gesicht. Dann zünde ich mir die Zigarette danach an und gucke die gekachelte Wand über der Kloschüssel an. Nichts mehr doppelt, alles wieder normal. Mann, was für ’ne Abfahrt. Beim nächsten Mal lieber erst mal nur ’n halbes Teil. Oder ’n Viertel. Obwohl … das Gefühl, das jetzt eintritt, ist genau das Gefühl, auf das ich schon die ganze Nacht gewartet habe. Mein Herzrhythmus geht wieder ruhig und regelmäßig. Die Magenkrämpfe sind weg. Das Prickeln unter der Kopfhaut ist noch da, aber es fühlt sich angenehm an. Eher wie ein euphorisches Kribbeln, das nun wie das Nikotin der Zigarette sanft und warm meinen gesamten Körper durchströmt und meinen Kopf wie von selbst zur Musik wippen lässt. Itz! Itz! Itz! Ich nehme wieder wahr, wie sich die Techno-Bässe von außen durch die Wände und in meinen Magen pumpen. Warum hatte ich mich noch mal so verrückt gemacht? Wegen eines nach Pisse stinkenden Durchgeknallten, der wirres Zeug auf ein Pappschild gekritzelt hatte? Ich lache leise. Finger weg von meiner Paranoia. Die ist mir lieb und teuer.6

Putzmunter werfe ich den Kippenstummel ins Klo auf meine schaumige Kotze und drücke die Spülung. Vor der Kabinentür wuseln einige Frauen herum. Die waren mir eben gar nicht aufgefallen. Oder waren sie vorhin noch gar nicht hier?

Mit einem verschwörerischen Lächeln nicke ich meinen Feierschwestern zu, schiebe mich an ihnen vorbei bis zum Spiegel und prüfe meine Augen. Sie gucken geradeaus und sehen wieder ganz normal aus – von den riesigen Pupillen einmal abgesehen. Ungeduldig trage ich roséfarbenes Rouge und dunkelgrünen Lidschatten auf, ziehe mir zittrig die dicken, schwarzen Eyeliner-Striche nach und tusche meine Wimpern. Dann entknote ich hektisch meine verklebten rückenlangen Haare mit einer kleinen Aufklappbürste und spüle mir kurz den Mund mit metallisch schmeckendem Hahnwasser aus. Genug. Ich muss tanzen!

*

»Hey! Da bist du ja! Ich hab dich schon überall gesucht!« Plötzlich steht Regina vor mir. »Ich war auf Klo und hab mit so ’nem komischen Typen gevögelt.« – »Was?« Regina versteht mich nicht. Die Musik ist zu laut. Ich erhöhe die Lautstärke meiner Stimme bis zum Gebrüll: »Ich war auf Klohooo! Und hab mit so ’nem komischen Typen gevööögääält!« – »Echt? Mit diesem Schwarzhaarigen, mit dem du die ganze Zeit an der Bar gestanden hast?« – »Ja.« – »Unnias?« – »Was?« Dieses Mal bin ich diejenige, die akustisch nichts versteht. Ich komme gerade so drauf, dass ich meine beste Freundin nur noch schemenhaft wie einen freundlichen Geist wahrnehme und so schwer atme, als läge ein Zentner Steine auf meiner Brust. Der Bass durchwühlt meine Innereien. Mir ist flau im Magen. Angenehm flau. Hallo Vergiftung! Da bist du ja endlich. Vergiftung, Gift, Rauschgift – »Rauschgift« ist ein lustiges Wort. Ein cooles Wort. Ich glaube, es ist mein Lieblingswort.

Regina und ich gehen ein Stück zur Seite, weg von der gigantischen Box. Regina wiederholt: »Und? Wie war’s?« – »Ach, so! Scheiße! Seine Freundin hat uns erwischt. Und dann hat er sich zwei Finger in den Hals gesteckt und gewürgt, damit seine Freundin denkt, er sei auf Klo, weil er kotzen muss.« – »Echt? Krass!« – »Ja, voll. Und angekotzt hat er mich auch.« – »Mit Absicht?« – »Nee, aus Versehen.« Regina starrt mich an und zieht unschlüssig an ihrer selbstgedrehten Zigarette. »Du darfst ruhig lachen, wenn du willst.« Regina prustet los wie eine Verrückte. Ich grinse. »Die bekackte Kacksau, die! Aber kreativ war das ja schon. Auf so ’ne Idee muss man erst mal kommen. Was ging bei euch so?« – »Getanzt halt. Die Mucke war echt fett heute! Bester DJ! Aber wir wollen dann so langsam mal weiterziehen. Die haben eh nicht mehr lange auf.« – »Oh, Gott … Glaubst du echt? Also dass die nicht mehr lange auf haben? Ich hab gerade ’n Teil gefressen und voll viel Pep geballert! Ich muss jetzt unbedingt noch tanzen!« Regina blinzelt und zieht wieder an ihrer Zigarette. »Wir wollen ja auch nicht nach Hause, sondern zur Afterhour ins Institut. Da kannst du dann ja weitertanzen.« – »Och, nööö. Ich mag jetzt nicht raus und in der Stadt rumlaufen. Da isses schon hell und kalt und überall Leute und alles. Also … nee. Das würde mich gerade zu arg flashen und mir meinen ganzen Trip versauen.« Regina nimmt einen letzten Zug von ihrer Zigarette und wirft den Stummel auf den klebrigen Boden. »Halbe Stunde?« – »Ja! Okay! Halbe Stunde! Dann komm ich auch wirklich mit!« – »Okay. Halbe Stunde. Ich sag den Jungs Bescheid und hol dich dann.« – »Okay … oder … warte! Willst du nicht noch ein bisschen mittanzen?« Regina drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Nee, Süße. Ich bin gerade im Chillmodus und mag mich mal kurz hinsetzen.« – »Aber du bist nicht müde und willst nach Hause, oder so?« – »Nee, nee. Quatsch. Noch lange nicht.« – »Sonst nimm doch noch mal was. Soll ich dir noch was geben?« – »Danke, ich hab selber. Ich nehm nachher noch mal was. Ich chill mich mal ’n bisschen in die Ecke und trink ’nen Wodka Mara.« – »Okay. Aber bei dir ist alles gut, oder?« – »Ja, voll gut. Mir geht’s megagut.« – »Okay … gut … dann ist gut. Freut mich. Dann bis gleich. Liebe dich!« – »Liebe dich auch, Süße.« Regina dreht sich um. Ich tippe ihr hektisch von hinten auf die Schulter. »Aber das ist jetzt nicht schlimm oder so, oder? Dass ich noch tanzen will. Oder nervt dich das jetzt? Wenn du gerne sofort los willst, komm ich mit.« – »Mach dich locker, Süße. Ich chill mich jetzt in irgendeine Ecke und trink ’nen Wodka Mara und in ’ner halben Stunde hol ich dich ab. Und wenn die Jungs schon vorgehen wollen, warte ich trotzdem auf dich und das ist auch überhaupt nicht schlimm. Alles gut.« – »Okay. Aber du bleibst auf jeden Fall da und gehst nicht ohne mich?« – »Ich bleibe auf jeden Fall da.« – »Okay. Liebe dich!«

Reginas purpurroter Lockenschopf verschwindet in der tanzenden Menge. Ich schaue dem Schopf einen Moment lang hinterher. Regina … Regina Regenbogen7. So nenne ich sie manchmal. Weil sie selbst in den dunkelsten Stunden Licht und Farbe in mein Leben bringt – auch ohne Regenbogengürtel. Und weil sie DJane ist und die Bässe ihres deepen Techhouse-Sounds einen mit einer solchen Wucht überrollen, als seien sie eine Naturgewalt. Eine Steinlawine. Ein Gewitter. Und dann, nach starkem Sturm und wummerndem Getöse, entfaltet sich schillernd wie ein Regenbogen eine klangfarbenprächtige Melodie und macht alle Ängste, alle Sorgen, nichtig und klein.8

Verglichen mit Klassik, Rock’n’Roll und »wirklicher«, handgemachter Musik ist Techno freilich böse und grell. Abstrakt und surreal. Dieser Sound stammt aus einer außerkörperlichen Dimension – und doch ist er all unsere Kunst, ist er all unser Denken, ist es der Sound des Untergangs9 … oder womöglich genau deswegen?

Als der purpurrote Fixpunkt vollends in der Menge verschwunden ist, schließe ich meine Augen und warte ab, was passiert. Zuerst nickt nur mein Kopf. Dann wiegt sich mein Oberkörper hin und her. Erst langsam und sachte, zunehmend immer ausdrucksstärker. Meine Arme kommen hinzu. Sie winkeln sich an. Meine ausgestreckten Hände zerschneiden die Luft. Aufgeregt beginnen auch meine Füße, auf den Boden zu stampfen – jetzt gibt es kein Halten mehr! Meine Schultern schmeißen sich abwechselnd mit einer solchen Wucht nach vorn, als wollten sie eine unsichtbare Wand durchbrechen. Bäm! Bäm! Bäm! Meine Hände ballen sich zu Fäusten und boxen kraftvoll in die Luft. Meine Körpertemperatur ist perfekt. Nicht zu heiß, nicht zu kalt. Meine Haut umschmeichelt mich zart und weich wie feine Seide. Ich fühle mich leicht und schön. Ich bin so glücklich. Nein, falsch. Ich bin nicht glücklich … ich explodiere vor Glück! Mir entfährt ein ekstatischer Schrei. Ich habe mich in Trance getanzt. Es ist wie früher. Wie beim allerersten Mal. Du wirst jetzt da hoch geschickt. Sag Bescheid, wenn du oben bist!10

Von tiefster Dankbarkeit beseelt mache ich die Augen wieder auf und bestaune, wie der DJ konzentriert die Regler seiner gigantischen Voodoo-Trommel hoch und runter schiebt. Er legt fast so gut auf wie Regina und Frederick. Ich werfe ihm mit der Hand einen Kuss zu. Er fängt ihn lächelnd auf und drückt ihn sich an die Backe. Der DJ bestimmt all’ meine Bewegungen. Er ist der Schamane. Ich bin die Gliederpuppe. Und wir haben uns das Gegengift geteilt, auf dass wir alle eins und unsere verpesteten Seelen von den Seuchen des Alltags geheilt werden.11

Während ich die Augen wieder schließe und mich ergeben von den elektrischen Trommelschlägen über die Tanzfläche wirbeln lasse, sehe ich plötzlich meinen ersten Therapeuten vor meinem inneren Auge. Wie immer versucht er, mich zu autogenem Training zu nötigen: Es atmet mich. Ich werde geatmet. Er hatte eben keine Ahnung. Es tanzt mich. Ich werde getanzt – das ist wahre Meditation!

Ich lasse mich noch eine Weile weitertanzen, bis meine Beine plötzlich lahm werden. Die Schwerkraft holt mich ein. Wo bin ich … schon am Limit?12 Irritiert und ein wenig enttäuscht bleibe ich stehen und schaue mich um. Auf der Tanzfläche ist es inzwischen fast leer. Wahrscheinlich wird hier wirklich bald Schluss sein. Höchste Zeit, sich zu verdrücken. Mitzuerleben, wie die Musik aus- und das künstliche Licht angeht und den Spot auf die letzten verwirrten Druffi-Leichen wirft, ist einer der schlimmsten Abturner überhaupt – zumal ich ja selbst eine dieser Druffi-Leichen bin. Ob ihr gerade neben euch steht, seht ihr, wenn das Licht angeht.13 Stille und Licht bedeuten Einsamkeit. Sie sind die Beweise dafür, dass die Nacht unwiderruflich vorbei ist. Dass der Morgen nun aus tiefsten Höllengründen kriecht und der Tag voller Abscheu auf unsere Sünden stiert.14

»Regina! Ach, da bist du!« Regina sitzt in einer Ecke auf einer Treppenstufe und dreht sich eine Zigarette. »Hi, Süße!« – »Hi. Wo sind denn die anderen?« – »Die sind schon vorgegangen.« – »Echt? Oh, Mann. Sorry … jetzt musstest du hier die ganze Zeit alleine sitzen. Dass die auch nicht mal ’ne halbe Stunde warten können!« – »Haben sie. Allerdings warst du über ’ne Stunde weg.« – »Echt? Ach so …« – »Macht nix. Ich hatte eh Lust auf Chillen und außerdem wollte ich dich nicht aus deinem Tanzflash reißen. Hast schön ausgesehen.« – »Danke.« – »Sag mal, ist dieser Typ eigentlich noch hier?« Die jähe Erinnerung an den unheimlichen Mann und sein Pappschild springt mir ins Genick wie ein bösartiges Tier und beißt sich in meinem Hinterkopf fest. Bitte nicht schon wieder! »Was? Wieso? Woher … hab ich dir das erzählt?« – »Hä? Ja klar hast du mir das erzählt!« – »Was hab ich erzählt?« – »Na, dass ihr gevögelt habt und die Freundin kam und er dich angekotzt hat.« – »Ach … sooooo!« Ich lache hysterisch auf und schüttle die Erinnerung an den Mann und sein Pappschild wieder ab. Kolja! An den habe ich ja überhaupt nicht mehr gedacht! Ich lasse den Blick durch den Club wandern. »Nö, sieht nicht so aus. Is’ nicht mehr hier.« – »Schade. Den hätte ich mir ja gerne noch mal genauer angeguckt.« Regina grinst und hüpft fröhlich von der Treppenstufe. »Hier, nimm das mal. Sonst renkst du dir noch den Unterkiefer aus.« Regina hält mir einen silbernen Streifen unter die Nase. Ein Kaugummi! Pfui Teufel!

Angewidert verziehe ich das Gesicht. Ich will nichts kauen. Und nichts schmecken. Aber Regina hat recht. Jetzt, wo ich darauf achte, wird mir bewusst, dass ich meinen Unterkiefer krampfhaft von einem Ohr zum anderen und zur Nase und in alle Richtungen schiebe und zwischendurch immer wieder mit den Zähnen knirsche. Der dadurch entstehende Schmerz zieht sich bis in die Schläfen hoch. Scheiß Gesichtskirmes! »Sehr aufmerksam. Vielen Dank, liebste Freundin.« Ich wickle das Kaugummi aus und stopfe es mir schnell in den Mund. Es schmeckt nach Zahnpaste. Widerlich!

»Und nu? Nach Hause oder ins Institut?« – »Hm. Weiß auch nicht. Irgendwie wirkt mein Teil gar nicht mehr so richtig. Wer legt’n auf im Institut?« – »Keine Ahnung.« – »Ja. Hm. Schlafen kann ich jedenfalls noch nicht.« Regina zündet sich ihre Selbstgedrehte an und schiebt das Feuerzeug zurück in die Hosentasche ihrer zerschlissenen, grauen Röhrenjeans. »Also ich würde sagen, wir laufen jetzt ins Institut rüber und schauen mal, was die Jungs machen. Und wenn das da nix ist, gehen wir halt nach Hause und gucken ’nen Film, oder so.« – »Jo.« – »Sollen wir vorher noch schnell auf Klo ’ne Nase ziehen?« – »Okay.«

Regina und ich huschen davon und entscheiden uns, auf der Toilette angekommen, spontan dazu, doch lieber je zwei große Nasen statt jeweils nur eine kleine Line zu ziehen.

Frisch gepudert und mit einem angenehm chemisch-bitteren Geschmack im Hals haken wir uns unter, verlassen zielstrebig den Club, verabschieden uns an der Tür von Toni und Sven, greifen synchron in unsere Umhängetaschen und setzen unsere Sonnenbrillen auf. Draußen scheint die Sonne. Regina und ich fauchen, als seien wir vom Licht versenkte Vampire. Wir kichern albern. Kurz geht mein Herzschlag wieder schneller. Ich brauche eine Weile, bis ich mich mit der Helligkeit abgefunden habe. Menschen sind zum Glück noch kaum welche unterwegs.

Nachdem ich mich an das Tageslicht gewöhnt habe und mein Herz ins Normaltempo zurückgepuckert ist, lehne ich meinen Kopf gegen Reginas Schulter und beginne, die taufrische Luft und morgendliche Ruhe zu genießen. Mein Tanzflash ist vorbei, doch ich fühle mich plötzlich wieder federleicht. Jetzt, da ich mit meiner besten Freundin über Wattewolken spaziere, sogar noch mehr als je zuvor in dieser Nacht. Ich bin nicht allein.

NACHKLANG

Donnerstag, 17. Mai 2012, 7:33 Uhr Alter: 27 Jahre, Größe: 1,63 m, Gewicht: 53,2 kg

»Boah, Süße, geht’s mir gerade gut. Ich bin voll glücklich. Und leicht. Und total … klar. Ich konnte überhaupt nicht mehr richtig denken irgendwie. Das Teil war schon geil, aber ich war die ganze Zeit so kopfbreit und verplant. Alter Schwede! Und ich bin voll heftig drauf gekommen. Das Ding hat so mega gescheppert. Boah, übel, ey. Aber jetzt ist alles wieder gut. Was für ein schöner Morgenspaziergang mit dir!«

Regina steckt sich zwei selbstgedrehte Zigaretten auf einmal in den Mund, zündet sie an und reicht mir eine rüber. Eigentlich mag ich Selbstgedrehte gar nicht so gerne. »Musstest du wieder kotzen?« – »Ja, klar. Haha.« Regina schüttelt missbilligend den Kopf. »Ach, Süße.« – »Hä? Wieso? Macht doch nichts. Ich find das doch schön. Also, wenn ich selber kotze. Nicht, wenn ich angekotzt werde. Haha.« – »Ich weiß.« Eine Weile sagen wir nichts, setzen gemütlich einen Fuß vor den anderen, lassen uns die Sonne in die bleichen Gesichter scheinen, rauchen und schmatzen auf unseren Kaugummis herum. Meins hat sich überraschend schnell in einen geschmacklosen Klumpen verwandelt und gut gegen den Gesichtsfasching geholfen. Braves Kaugummi. Auch der Sonne habe ich unrecht getan. Heute ist sie nicht strafend und grell, sondern warm und aus flüssigem Gold. »Was für’n Teil haste denn gefressen?« – »Eins von diesen krassen neuen. Von diesen blauen Pumas.« – »Ein ganzes?! Auf einmal?!« – »Jo.« – »Ja, kein Wunder. Die machen voll platt und durcheinander. Und der Tanzflash ist ganz kurz.« – »Ja. Aber dafür hallen sie lange nach. Wie ein guter Wein. Gerade finde ich alles so megaschön und easy.« – »Na, ja. Das könnte natürlich auch an dem Pep liegen, das wir gerade gezogen haben.« Erstaunt lache ich auf. »Ach … stimmt, ja! Wir haben ja gerade noch mal was auf Klo gezogen! Das hatte ich schon wieder vergessen. Oh, Mann. Na, ja. Ich denke, es ist wohl ’ne Mischung aus beidem. Was hast du denn heute alles so genommen?« – »Ein Herz. Das war ganz nett. Nicht zu doll. Und Pep halt.« Wieder schweigen wir eine Weile. »Dann haben wir ja heute jeder nur ein Teil genommen. Voll wenig eigentlich. Voll gut.« – »Na, ja. Geht. Wir sind ja auch erst um halb drei vom Vorglühen losgekommen.« – »Stimmt.« Wir rauchen noch mal eine.

»Du, Regina.« – »Ja?« – »Als ich eben so krass drauf gekommen bin, hatte ich ganz komische Gedanken. Und eine Scheißangst. Ich war überzeugt davon, dass bald etwas ganz Schlimmes passiert.« – »Was soll denn Schlimmes passieren?« Soll ich ihr von dem Mann und seinem Schild erzählen? Nein, lieber nicht. »Keine Ahnung. Irgendwas Schlimmes halt.« Regina legt einen Arm um mich. »Süße!« – »Ja, ich weiß. Aber das war irgendwie alles so … logisch.« – »Das war nicht logisch, das war der blaue Puma. Also komm runter und mach dir keinen Kopf.« Regina klingt fast ein bisschen genervt. Ich pule mir unruhig an den Lippen herum. »Aber wenn das jetzt doch nicht der blaue Puma war, sondern …« – »Emma! Schluss jetzt mit dem Quatsch!« – »’tschuldigung.« – »Du immer mit deiner Paranoia, ey. Steiger dich nicht immer so in alles rein. Oh, warte mal kurz.« Reginas Handy piept. Sie nimmt ihren Arm von meinen Schultern und wühlt in ihrer Umhängetasche. »Schnulli hat geschrieben. Sie sind doch nicht mehr ins Institut gegangen und sind jetzt auf einem … Schrottplatz? Hä? Okay … Also er schreibt, dass wir zum Bahnhof laufen, in die Regionalbahn steigen und dann anrufen sollen.« – »What? In wat für ’ne Regionalbahn?« – »Kapier ich auch nicht so richtig.« – »Ruf ihn mal an.« – »Schon dabei. Aber wir können ja schon mal in Richtung Bahnhof laufen. Er schreibt, dass wir unbedingt kommen müssen. Die Jungs haben uns ein Zauberland gebaut.« – »Aha … sag mal, hast du heute Nacht Wasser getrunken?« – »Nö. Vergessen.« – »Okay. Dann kauf ich uns am Bahnhof welches. Ich hab noch 5 Euro.« – »Okay … Ja? Hallo? Schnulli?«

DIE VERLORENEN JUNGS

Donnerstag, 17. Mai 2012, 8:05 Uhr Alter: 27 Jahre, Größe: 1,63 m, Gewicht: 53,1 kg

Die Fahrt mit der Bummelbahn dauert fast 30 Minuten. Regina und ich reden nicht. Zufrieden schweigend sitzen wir aneinandergekuschelt in einem fast leeren Zugabteil am Fenster, beobachten, wie die Stadt vorbeifliegt, nuckeln an unseren Plastikwasserflaschen und hören rhythmisch nickend den Schienen zu, wie sie Musik machen. Tsch-tsch-tsch-tsch. Tsch-tsch-tsch-tsch. Tsch-tsch-tsch-tsch. Gedankenverloren streicheln wir uns gegenseitig über Unterarme und Hände. Sie fühlen sich unglaublich an. Alles ist so weich. So unsagbar weich. Und warm. Vor allem die Handflächen sind faszinierend. Es ist, als überzöge sie ein dezenter öliger Film, der ihre Weichheit erst so richtig zur Geltung bringt. Reginas und meine körperliche Empfindsamkeit ist bis ins Unermessliche gesteigert. Alle fünf Sinne sind geschärft. Ich kann ihren Herzschlag hören und das klebrige Festigungsspray in ihren Haaren riechen. Ihr Haar. Ihr lockiges, purpurrotes Haar, das je nach Lichteinfall auch lila schimmert. Ihr Haar, das vor einer gefühlten Ewigkeit mal blond und lang gewesen war, dann gefärbt und bis unter die Ohren abgeschnitten wurde und nun als voluminöser Schopf um ihren gesamten oberen Kopf herum wächst. Ihr Haar ist ein Berg aus Himbeerzuckerwatte, der so süßlich duftet, dass man sich am liebsten hineinkugeln möchte. Himbeerzuckerwatte … Regina … Regina Regenbogen. Wir fühlen, also sind wir.15

Der Zug kommt kreischend zum Stehen. »Ich glaub, hier ist es.« Regina und ich steigen aus und blicken uns schmatzend um. Auf unseren Nasen sitzen nach wie vor unsere übergroßen Sonnenbrillen und bemühen sich tapfer, uns von der Außenwelt abzuschirmen. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind? Hier ist ja gar nichts.« Vor uns erstreckt sich ein kleiner Bahnsteig und dahinter Bäume, ein paar Häuschen, Felder, Felder und noch mal Felder.

Regina zuckt mit den Schultern. Mein Blick fällt auf die Flasche in ihrer Hand. Sie ist noch halb voll, während ich meine längst ausgetrunken habe. »Trink dein Wasser!«, befehle ich. »Ja gleich. Ich hab gerade nicht so viel …« – »Trink dein Wasser!« Regina gehorcht, leert die Flasche mit einem einzigen Zug und schmeißt sie in einen Mülleimer am Bahnsteig.

»Also. Sind wir hier richtig?« – »Ja, keinen Plan. Schnulli hat gesagt, dass wir hier aussteigen …« – »Hey! Hallo! Da seid ihr ja!« Wie auf sein Stichwort kommt Schnulli um die Ecke geschossen und über den Bahnsteig gerannt. Er winkt aufgeregt. Als er uns erreicht, umarmt er uns hektisch und sprudelt sofort los wie ein Wasserfall. »Boah, Alter! Wir haben so einen geilen Platz gefunden! Und was ganz Tolles für euch gemacht! Und es scheint die Sonne und – oh, Mann! – das wird so cool! Erst dachten wir, es wär ’ne blöde Idee gewesen, hierher zu fahren. Doch dann sind wir ein bisschen rumgelaufen und haben den Schrottplatz gefunden mit den ganzen tollen Sachen. Und kein Mensch ist da und überall Natur und …« – »Jetzt warte mal kurz«, unterbreche ich Schnulli. »Wo sind wir überhaupt? Das ist ja das totale Niemandsland hier.« – »Fast!«, ruft Schnulli bedeutungsschwanger aus und lässt seinen rechten Zeigefinger in die Höhe schnellen. »Nicht Niemandsland. Nimmerland! Also … äh … nicht das hier auf dem Bahnhof jetzt. Aber was wir gefunden und für euch umgebaut haben – das ist: Nimmerland! Und im Nimmerland warten die verlorenen Jungs auf euch … also Frederick und Noah, ne? Ich aber nicht, weil ich ja jetzt schon hier bei euch bin. Und ich bin natürlich auch kein verlorener Junge, sondern Peter Pan16.« – »Peter Pan ist aber auch ein verlorener Junge.« – »Oh, ja, richtig. Ich bin der Anführer der verlorenen Jungs, meinte ich. Der verlorenste von allen quasi. Der, der am allerwenigsten erwachsen werden will. Also der … ach, ihr wisst schon, was ich meine.« Regina und ich gucken uns an – und prusten gerührt los. Auf der ganzen Welt gibt es niemanden, der druff so drollig ist wie Schnulli.

»Ach, Schnulli. Du bist so niiiiiedlich!«, quietsche ich und kneife Schnulli wie eine alte Tante in die Backe. »Ruhe, jetzt! Ich muss nachdenken.« Schnulli legt sich den Zeigefinger, den er eben noch in die Höhe gestreckt hat, auf die Lippen und grübelt mit zu Schlitzen verengten Augen vor sich hin. Durch die Schlaufen seiner Jeans hat er statt eines Gürtels wie immer einen neongrünen Schnürsenkel gezogen, womit er symbolisieren möchte, dass er ein cooler Skater ist. Dazu trägt er ein weißes T-Shirt ohne Aufdruck und seine graue Lieblingsstrickjacke, die ihm an den schmalen Schultern zu groß ist und immer ein wenig den Eindruck erweckt, als hätte er sie seinem Opa von der Sofalehne geklaut. In seinem Gesicht passt hingegen alles. Die Stirn ist hoch, die Wangenknochen sind fein gezeichnet und die Lippen geschwungen und voll. Schnullis absolutes Special Feature sind jedoch seine verschiedenfarbigen Husky-Augen. Gerade so, als ob sie verraten wollten, welche Abgründe hinter dem engelhaften Jungengesicht lauern, präsentieren sie rechts ein klares Hellblau und links ein knalliges Dunkelgrün mit mehreren kleinen und großen gelbbraunen Sprenkeln. Im Moment ist davon allerdings nicht viel zu sehen, denn Schnullis Pupillen sind so geweitet, dass von seiner Iris kaum noch was übrig ist. Offensichtlich haben die verlorenen Jungs gerade eine neue Ladung Ecstasy geschluckt.

»Über was musst du denn nachdenken?« Verwirrt stemmt Schnulli den rechten Arm in die Hüfte und wuschelt sich mit der linken Hand durch sein aschblondes Haar, das wie immer in alle vier Himmelsrichtungen vom Kopf absteht wie seinerzeit bei Krawallmacher Christoph Schlingensief. »Na, ich überlege, wie wir noch mal zu dem Schrottplatz hinkommen.« – »Schnulli …!«, droht Regina. »Ah, ja! Jetzt weiß ich’s wieder! Folgt mir!«

*

Gemütlich rauchend spazieren Regina und ich dem überdrehten Schnulli hinterher, der uns zwischen Häusern und Wiesen hindurchführt, ohne Unterlass plappert und von einem Fuß auf den anderen hüpft. »Mann, wo führst du uns bloß hin? Und wie seid ihr überhaupt hierhergekommen?« – »Also, das war so. Wir waren gerade … Regina, hast du ’ne Kippe für mich?« – »Jo.« Schnulli zündet sich im Gehen eine von Reginas Selbstgedrehten an, verschluckt sich vor lauter Aufregung am Rauch, hustet mehrmals heftig und nimmt den Gesprächsfaden schließlich wieder auf. »Wir waren gerade auf dem Weg zum Institut. Und da haben wir gemerkt, dass Laufen gerade total viel Spaß macht. Und wir haben uns so gut unterhalten und die Sonne schien so schön.« – »Hattet ihr auch welche von den blauen Pumas?« – »Ja! Wieso? Ich hab noch welche! Willst du noch einen?« – »Ja! Oder … äh. Ach, nee. Vielleicht später.« – »Ja, also ich hab noch, ne?« – »Ist angekommen. Danke.« – »Also das Laufen hat so Spaß gemacht und die Sonne und alles. Und plötzlich hatten wir total Bock auf Rumlaufen und Reden und dachten uns: Warum nicht einfach mal aus der Stadt rausfahren und spazieren gehen? Daraufhin haben wir uns in irgendeine Bahn gesetzt, sind irgendwo ausgestiegen, also hier dann, sind herumspaziert und haben den Schrottplatz gefunden. Das Nimmerland!« – »Süß.«

Wir biegen in eine Waldschneise ab. Unter dem sattgrünen Blätterdach sinken die Temperaturen schlagartig um ein paar erfrischende Grad. »Boah, krass! Guckt mal!« Regina, Schnulli und ich bleiben abrupt stehen und blicken nach rechts. Direkt neben uns springen drei Rehe durchs Unterholz. Wir halten den Atem an. Uns umgibt eine magische Stille. Außer dem sanften Morgengesang der Vögel und dem wohligen Murmeln der sich schläfrig rekelnden Bäume ist nichts zu hören. Die Rehe springen lautlos. Die frühsten Vöglein zwitschern, halb im Traume noch. Friedsel’ge Wolken schwimmen durch die klare Luft, als kehrten Engel heim von einer nächt’gen Wacht. Die dunkeln Schollen atmen kräft’gen Erdgeruch. Die Ebne öffnet sich. Im Felde geht ein Pflug.17 Ich schließe die Augen. Die Luft ist kühl und feucht und voller Sauerstoff. Die Bäume passen auf uns auf. Sie vergeben mir.

Als die Rehe im Dunkelgrün des Waldes verschwunden sind, spazieren wir weiter. Zum ersten Mal an diesem Morgen ist Schnulli still. Wir stecken uns noch mal jeder eine selbstgedrehte Zigarette von Regina an und lauschen andächtig den Geräuschen der Natur, die immer intensiver werden, je tiefer wir in den Wald hineinlaufen. Hier ein Rascheln, da ein Knacken, in der Ferne tackert ein Specht. Plötzlich erklingt ein Plätschern neben uns. Ein verwitterter Steinbrunnen! »Wer aus mir trinkt, der wird ein Reh! Wer aus mir trinkt, der wird ein Reh!«,18 flüstere ich. Regina und Schnulli grinsen.

Schließlich erreichen wir einen kleinen Hügel und bleiben stehen. Feierlich breitet Schnulli die Arme aus. »Liebe Wendy, liebes Glöckchen …« Regina kichert. »Wer ist Wendy und wer Glöckchen?« – »Du bist natürlich Glöckchen und ich Wendy!«, erkläre ich. »Warum?« – »Weil deine Haare genau so aussehen wie die von Julia Roberts als Glöckchen in Hook19, als sie sich in Menschengröße verwandelt und dem erwachsenen Peter Pan einen Kuss gibt. Und weil du Regenbogen zaubern kannst. Außerdem bin ich die WG-Mama und somit die perfekte Wendy.« – »Ach so.« Regina überlegt kurz. »Aber kann ich dann nicht einfach Regina Regenbogen bleiben?« – »Nein. Die bist du nachher wieder. Jetzt musst du Glöckchen sein.« – »Äh…« – »So, hätten wir das auch geklärt. Liebe Wendy, liebes Glöckchen«, setzt Schnulli ein weiteres Mal an. »Willkommen!«

Von einem kleinen Hügel aus blicken wir auf eine Lichtung hinab, die sich umringt von vielen grünen Laubbäumen in einer Waldsenke befindet und auf der alte Möbel, Schrott und allerlei anderer Krempel herumliegen. In der Mitte des unüberschaubaren Hausrat-Durcheinanders stehen drei zerschlissene Sofas, aufgestellt zu einer ordentlichen Sitzgruppe, und vier zu einem Tischchen zusammengeschobene hölzerne Weinkisten. Auf einem der Sofas sitzt ein junger Mann mit weizenblondem Schopf, grünem Kapuzenpulli und schwarzer Lederjacke und kritzelt mit dicken Markern auf einem Block herum. Als er uns erblickt, winkt er fröhlich.

Jubelnd werfen Regina und ich die Arme in die Luft. »Wie geil ist das denn, bitte?« – »Hammer!« – »Gibt’s ja gar nicht!« Schnulli jubelt spontan mit: »Juchhu! Druffi-Spielplatz!« Wir fassen uns bei den Händen und rennen zu dritt so übermütig den Hügel hinunter, dass wir stolpern und uns beinahe überschlagen. Unten angekommen, begrüßen uns zwei in den Himmel ragende Buchen, deren gigantische Kronen ineinander verwachsen sind wie ein märchenhafter Torbogen und zwischen deren dicken Stämmen eine zerrupfte Willkommensfußmatte auf der Erde liegt. An einen der Stämme ist mit Draht ein längliches Styroporstück montiert, auf dem verspielte Graffitibuchstaben in verschiedenen Markerfarben leuchten. Ich lege den Kopf zur Seite, damit ich das Wort besser entziffern kann: NIMMERLAND.

»Hallo, Freunde!« – »Hey!« Regina und ich rennen zum Sofa und schmeißen uns der Länge nach auf Noah. »Sauhaufen!« Schnulli springt auch noch hinterher. Noah stöhnt übertrieben laut. »Ooooaaar! Runter von mir, ihr Penner!« Lachend kugeln wir von Noah runter, quetschen uns zu viert auf ein einziges Sofa und legen die Arme umeinander. Noahs Block und seine Stifte sind auf den staubigen Erdboden gefallen. Als er es bemerkt, bückt Noah sich runter, hebt sein Zeichenmaterial auf, klopft es sorgfältig sauber und legt es auf den Weinkistentisch neben eine zerbeulte Fantadose, die augenscheinlich als Aschenbecher dienen soll.

»Ihr seid ja so süß!«, schwärmt Regina. »Das ist ja wohl mal die geilste Afterhour-Location überhaupt!« – »Coole Idee!« – »Abgefahren!« – »Aber echt!« – »Wie im Märchen!« – »Geile Aktion!« Ungläubig lächelnd lasse ich den Blick über den Platz schweifen. Wir sitzen wie auf dem Grund eines natürlichen Amphitheaters, das offensichtlich schon von mehreren häuslichen Parteien dazu genutzt worden ist, sich kostenlos des Sperrmülls zu entledigen. Hier können wir alles machen und bauen, was wir wollen. Wie bei Momo20.

»Wo ist Fred eigentlich?«, fällt mir plötzlich auf. »Hinterm Baum. Kacken.« – »Ah, ja? Na, dann sehen wir ihn wohl erst in zwei Stunden wieder.« – »Hehe. Nee, der sucht ’ne Tanke. Wollte was zu trinken kaufen.« – »Gibt’s hier denn überhaupt irgendwo ’ne Tanke?« – »Och, bestimmt. Sind ja überall kleine Ortschaften hier.« – »Dann gibt’s ja bestimmt auch ’nen Supermarkt, oder? Ich brauch unbedingt noch Kippen und Mineralwasser. Tanke ist immer so teuer.« – »Ja, aber der Supermarkt wird heute nicht aufhaben. Ist ja Feiertag.« – »Ach … stimmt ja!« Mich überkommt ein glühendes Glücksgefühl. Es ist ja erst Donnerstag! Christi Himmelfahrt! Und dank Brückentag werden wir alle noch bis Sonntagabend frei haben und erst in vier Tagen wieder arbeiten müssen. Oh, süße Freiheit!

»Hey! Wie wär’s, wenn wir schon mal was für Fred vorbereiten? Ich hab noch ein oder zwei Gramm sogar, glaub ich. Dann freut er sich, wenn er zurückkommt.« – »Yeah! Cool! Unterlage?« – »Den Tisch?« – »Zu dreckig, zu zerkratzt, zu uneben … Aber im Notfall …« – »Ich such mal was!« Schnulli springt vom Sofa auf, düst wie ein aufgezogener Brummkreisel davon und verschwindet zwischen den Schrotthaufen. Wenige Minuten später kommt er wieder zum Vorschein und schleift schnaufend einen tischgroßen Wandspiegel hinter sich her. »Äh, ja … Super! Danke Schnulli! Aber ein Handspiegel hätte es auch getan. Oder eine CD-Hülle. Oder ein Teller …« – »Wieso? Ist doch lustig!« Schnulli lässt den großen Spiegel mit der Rückseite auf den Waldboden knallen. Trockene Erde wirbelt auf. Eifrig knien Regina und ich uns hin, öffnen unsere Tütchen und kippen zwei kleine Häufchen Speed auf die große Glasfläche. Sie ist an einer der oberen Ecken gesprungen. Die Sonne scheint uns warm auf den Rücken. Die Vögel singen inzwischen aus voller Kehle. In den Baumkronen raschelt der Wind. Er spricht zu uns. Er wünscht uns Glück. Er flüstert unsere Namen. Er sagt: Ich bin in euch, wohin ihr geht – doch seht ihr auch, das was ich seh’?21

Während Regina und ich die weißen Pulverhäufchen mit unseren EC-Karten zerhacken und zu gleich langen Bahnen ziehen, betrachte ich verstohlen mein Spiegelbild, das mir von unten entgegenguckt. Ich habe komische rote Flecken auf der Haut. Mein Gesicht sieht irgendwie zerknautscht aus. Aber meine Schminke sitzt perfekt und lässt das mysteriöse Leuchten in meinen unnatürlichen Mausmaki-Augen noch heller strahlen. Ich muss an die Damen des Barock denken, die sich das pupillenerweiternde Tollkirschenextrakt Atropin in die Augen träufelten, um attraktiver auszusehen. Der große Unterschied zwischen ihnen und uns ist, dass unsere Pforten22 in der vergangenen Nacht nicht von außen, sondern von innen heraus geöffnet wurden. Ja, lieber Wind. Wir können sehen – und zwar im doppelten Sinne!

»Fertig!« Wir setzen uns wieder vereint aufs Sofa und rauchen zu viert je eine Selbstgedrehte von Regina. »Na, ihr Mülltüten.« Überrascht fahren wir herum. »Hey! Da bist du ja!« Von hinten kommt putzmunter und fröhlich grinsend wie ein Sonntagsspaziergänger Frederick anmarschiert. Vor sich her schiebt er einen verrosteten Einkaufswagen, der bis oben hin mit Sixpacks gefüllt ist. Unser zweiter DJ im Bunde trägt das obligatorische Hipster-Outfit (Röhrenjeans, V-Neck-Shirt, Jackettjacke, dazu Undercut, Jutebeutel und dicke, schwarze Riesen-Nerdbrille) und sieht wie immer wie frisch aus dem Ei gepellt aus. Lediglich seine Augen, die ohnehin schon dunkelbraun, fast schwarz, sind und gerade aussehen, als bestünden sie aus nichts als Pupillen, machen ihn (zumindest optisch) wie üblich zum Ober-Mausmaki. Frederick, kurz Fred, heißt nicht wirklich Frederick, sondern Tobias. Genau wie Schnulli nicht wirklich Schnulli, sondern Jonathan heißt. Wir nennen Schnulli nur Schnulli, weil er mit seinen 23 Jahren der Jüngste von uns ist. Und Frederick nennen wir Frederick, weil er wie der verträumte Mäuserich aus dem gleichnamigen Kinderbuch23 im Sommer immer Farben sammelt (sprich: mit dem iPhone fotografiert) und diese im Winter auf Facebook hochlädt. »So, Kinder. Papa hat mal eingekauft. Ihr seid ja eh schon wieder alle pleite. Das rate ich jetzt einfach mal so.«

Fred stellt zwei der Sixpacks auf unseren Weinkistentisch und legt noch ein paar Schachteln rote Gauloises oben drauf. »Juchhu! Filterzigaretten!«, juble ich. »Wo haste denn den Einkaufswagen her?« – »Na, der lag hier.« – »Echt? Zu geil!« – »Die Mamas haben übrigens schon Frühstück gemacht, als du einkaufen warst, lieber Papa.« – »Frühstück? Igitt! Wat für’n Frühstück? Ist das eure erste Afterhour, oder …« – »Mann, du Spast!« Ich deute mit einem Kopfnicken gen Boden zu dem großen Spiegel, auf dem nun zehn akkurat nebeneinander gelegte Lines in der Sonne glitzern. Zwei Nasen für jeden. »Ach … Frühstück! Danke, sehr lieb von euch. Wirklich rührend, wie ihr euch um mich kümmert.« – »Nicht wahr?« Frederick schiebt sich mit dem rechten Zeigefinger die schwere Riesenbrille auf die Nasenwurzel hoch. »Na, dann mal los, ihr Spezialisten. Bevor noch ein Windstoß kommt und alles wegweht.« – »Oh, ja, scheiße. Stimmt …«

Ohne weitere Umschweife knien wir uns zu fünft um den Spiegel. Regina und ich ziehen als Erste. Wer baut, der haut. »Meine Güte, ey. Jetzt sitz ich schon im Wald auf ’nem Schrottplatz rum und rotz Pep von ’nem kaputten Wandspiegel. Wenn das meine Eltern sehen könnten. Mann, mann, mann, mann!«, murmelt Noah vor sich hin. Er wirkt ziemlich durcheinander. »Bist halt ’n krasses Drogenopfer.« – »Was ist blau, schmierig und klebt im Wald am Baum?« – »Ein ausgekotzter Puma?« – »Schlumpfwichse!« – »Boah! Uralt!« – »Ich kannte den noch nicht!« – »Wie viel wiegt ein Hipster?« – »Zwei Jutebeutel und eine Röhrenjeans?« – »Hehe. Nee. Ein Instagram!« – »Vorsicht! Nicht lachen, jetzt! Wer Pep vom Spiegel hustet, kriegt aufs Maul!«

Nachdem wir die Nasen weggezogen haben, setzen wir uns auf die Sofas um den hölzernen Kistentisch, rauchen Filterzigaretten und kippen durstig Bier in unsere Kehlen. »Mann, das ist ja wohl die geilste Afterhour-Location überhaupt hier!« Frederick zuckt mit den Schultern und schubst Apps auf seinem iPhone durch die Gegend. »Joa. Musik wär halt nicht schlecht, ne?« – »Musik? Was? Oh, nein! Die Vögel zwitschern doch so schön!« – »Schwul!« – »Schnauze!« – »Was sind das eigentlich für Bäume da vorne?« – »Welche von den tausend?« – »Tsss! Ich meine die beiden da vorne, wo wir die Fußmatte zwischengelegt haben.« – »Buchen.« – »Sicher?« – »Jap.« Tipp. Tipp. Schubs. Schubs. »Wusstet ihr, dass eine große Buche 9.000 Liter Sauerstoff an einem einzigen Tag produziert?« – »Ja, wusste ich. Aber nur an sonnigen Tagen. Und 9.000 Liter Sauerstoff reichen für die Atmung von zehn Menschen, einen ganzen Tag lang.« Frederick schmunzelt und schiebt sich ein weiteres Mal die Brille hoch. »Emma, das Landkind!« – »Mit Landkind hat das nichts zu tun. Das gehört zur Allgemeinbildung.« – »Klugscheißer!« – »Selber!«

Endlich läuft die neue Ladung Pep bitter in unseren Hälsen hinunter. Attacke! »Nur damit ihr’s wisst«, ruft Schnulli, während er flink auf einen Baum hinaufklettert und wie ein überdrehtes Eichhörnchen von Ast zu Ast springt. »Der Spiegel gehört jetzt mir! Das ist mein Surfbrett!« – »Aber im Nimmerland gibt’s doch keine Surfbretter. Die verlorenen Jungs surfen doch nicht.« – »Pfff. In Nimmerland darf man alles machen, was man will.« – »Na, dann …« – »Regina ist übrigens Glöckchen und ich Wendy.« – »Ja, und jetzt?« – »Keine Ahnung. Nur so.«

Als Nächstes finden wir ein altes Wählscheibentelefon, mit dem wir verschiedene Leute anrufen. Andy Warhol, Jim Morrison und Alice aus dem Wunderland24 gehen leider nicht dran. Der Einzige, der abhebt, ist Gott, doch dem will keiner von uns zuhören.25

Wir wählen noch diverse andere Persönlichkeiten an, bis neue Spielsachen unsere Aufmerksamkeit erregen. Mit rot-weiß gestreiften Absperrbändern versuchen Regina und ich, Seilchen zu springen, während Noah und Fred die Frisbeetauglichkeit einer vergilbten Mikrowellenabdeckhaube testen. Beides klappt nicht so ganz, weswegen wir die Sportgeräte wieder weglegen, ein imaginäres Geigenkonzert mit alten Kleiderbügeln veranstalten und anschließend aus Autoreifen, Planen und Brettern eine Bude sowie eine (leider nicht funktionstüchtige) Wippe bauen. Daneben errichten wir noch eine Burg bestehend aus Holzpaletten und vier Schallplattentürmen. Wir taufen die Bereiche »WIPP-Area« und »Plattenbau«. Dann entdecken wir eine Badewanne – und klatschen begeistert in die Hände. »Ein Boot!«

Mit rot glühenden Bäckchen stürmen wir zur Badewanne hinüber, quetschen uns zu viert hintereinander hinein und tun so, als würden wir rudern. Schnulli, der bisher von dem dicken Ast eines Baumes aus alles beobachtet und kommentiert hat, macht nun den Mann im Ausguck und bespritzt uns von oben mit schaumiger Bier-Gischt. »Eisberg direkt voraus!« Ganz in unserer Fantasie versunken, rudern wir grölend und singend durch das stürmische Meer, kämpfen mit Holzschwertern gegen Kraken, Haie und Seeungeheuer und halten uns schreiend die Ohren zu, damit wir von dem Zwitschern der verzauberten Nixen nicht fehlgeleitet und in die Irre geführt werden. Schließlich wird es Zeit fürs Mittagessen.

Jauchzend hüpfen wir zurück zu Schnullis Spiegel-Surfbrett und knien uns drum herum. Mit ein paar schnellen, präzisen Bewegungen richtet Fred fünf neue Nasen Pep an. »Also dann, Matrosen: Leinen los!«

Die Sonne steht inzwischen hoch am Himmel und knallt uns brennend auf die Rücken. Wir ziehen unsere Jacken aus, schmeißen uns auf die Sofas und lassen neue Kronkorken zischen. »Mann, war das toll. Vor allem das mit dem Badewannen-Boot. Wie bei Momo!«, blubbere ich und zünde mir euphorisch eine Zigarette an. Die anderen verstehen nicht so richtig, was ich meine, lächeln aber wohlwollend. Egal. »Ich finde es so schön, dass wir mal wieder was zusammen machen. Also nur wir. Wir fünf, meine ich. Unsere Kommune. Und es ist so schön, dass wir hier sind. Hier auf diesem Platz. In der Natur. Auf ’nen dunklen, stinkenden Club und verschallerte Afterhour-Opfer hätte ich jetzt gar keinen Bock.« Die anderen zeigen keine Reaktion.

»Ja, oder? Das wär doch jetzt voll eklig, oder? Dass wir fünf jetzt hier im Wald sind, ist doch viel schöner, oder?« – »Ja.« – »Fehlen nur noch Orwell und Kilian. Sollen wir die mal anrufen?« – »Ich kann nicht mehr so gut reden gerade.« – »Ich auch nicht.« Trotz des gerade gezogenen Speeds kehrt schläfrige Ruhe ein. Ich kann nichts dagegen tun. Muss wohl an der frischen Luft und der ungewohnten Bewegung liegen. »Schnulli, du hast doch noch blaue Pumas! Sollen wir uns welche teilen? Oder noch mal ’ne Runde surfen gehen?« – »Nee. Nachher. Ich muss jetzt mal ’n bisschen chillen«, entgegnet Schnulli und beginnt, eine Tüte zu drehen. »Baust du ’nen Joint, oder wat?«, fragt Noah, der seinen Block auf den Schoß gelegt und wieder zu zeichnen angefangen hat, erfreut. »Das ist kein Joint. Das ist eine Zauberzigarette. Und ja: Ihr dürft auch alle mal dran ziehen.« – »Aber ihr wollt noch nicht schlafen, oder?« – »Nein, nur langsam runterkommen. Rauch mal mit und mach ’n bisschen die Äuglein zu, Emmalein. Wir sind doch alle da.«

Auf dem Weinkistenwürfel sieht es inzwischen aus wie auf dem Küchentisch in unserer WG: Die Fanta-Dose quillt vor Kippenstummeln über, neben leeren Bierflaschen liegen Zigarettenschachteln, verkrümelter Tabak, Blättchen, Handys, Noahs Marker, kleine Plastiktütchen sowie zwei aufgerollte Geldscheine. Ich halte nach einem freien Platz Ausschau, lege meine zerrockten Lederboots darauf ab und ziehe zwei Mal an der Zauberzigarette. Danach bereue ich es prompt. Panisch kippe ich eine volle Flasche Bier auf ex hinterher. Runtersaufen funktioniert bei mir immer besser als runterrauchen. Vor allem mit Bier – bester Gehirntöter! Vom Kiffen werde ich meist nur noch verwirrter. Dass ich an der Zauberzigarette gezogen habe, war daher nicht so wirklich clever. Aber nu … wat soll’s? Wird schon gut gehen. Ex ich halt schnell noch ’ne zweite Flasche. Nur vorsichtshalber.

Zufrieden rülpsend lehne ich mich im Sofa zurück, schließe die Augen und schiebe zum ersten Mal an diesem Morgen meine Sonnenbrille auf den Kopf. Die Sonne kitzelt meine geschlossenen Lider. Ich fühle mich wohl. Ich summe: Sittin’ in the mornin’ sun. I’ll be sittin’ when the evenin’ come.26

»Ey! Wer seid ihr? Was habt ihr hier zu suchen?« Erschrocken fahre ich hoch und mache die Sonnenbrillen-Schotten wieder dicht. Wie aus dem Nichts haben sich vor uns zwei Männer zu voller Größe aufgebaut. Brocken von Männern. Kahlrasierte Köpfe, Bomberjacken, Hosenträger, Springerstiefel: Vorstadt-Glatzen – na, bravo.

»Wir sind gerade übers Meer gerudert und müssen uns jetzt ausruhen. Das hier ist unser Wohnzimmer. Und das da drüben, wo das Surfbrett liegt, ist unsere Küche.« Mit offenem Mund starre ich Schnulli an. Wie immer bin ich mir bei ihm nicht sicher, ob er wirklich vor nichts und niemandem Angst hat oder ob die Drogen ihn in eine derart flauschige Disneyland-Naivität versetzt haben, dass er den Bezug zur Realität komplett verloren hat.

Mit zusammengezogen Augenbrauen mustern die beiden Bomberjackenträger erst Schnulli, dann den Spiegel mit den Pepresten, dann den zugemüllten Weinkistentisch und schließlich uns alle. Schnulli hält ihren Blicken aufmüpfig stand. Wir sind Eindringlinge für sie. Ganz klar. Neurotisch überspulte City-Kids, die ihr Revier beschmutzt haben und auf der Stelle zerquetscht werden müssen wie lästige Insekten. Ein paar endlose Sekunden lang herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Dann dröhnt die Kampfansage in die angespannte Stille: »Sagt mal …! Seid ihr total bescheuert?« Scheiße. Jetzt gibt’s aufs Maul. »Warum habt ihr euer Surfbrett denn in der Küche? Das gehört in die Garage, damit man es sofort aufs Auto packen und losfahren kann!«

Perplexes Schweigen.

Dann brüllendes Lachen.

Wir lachen und lachen, bis uns Tränen über die Wangen kullern und die Bäuche wehtun. »Wie sieht’s aus? Bock auf ’n Bier?« – »Logisch!« Die beiden Typen setzen sich zu uns und beginnen, gut gelaunt über dies und das zu plaudern. Sie erzählen, dass sie Oi!-Punks seien, gerade von einer Party kommen und eine Abkürzung durch den Wald nehmen wollten, und fragen, ob sie vielleicht auch ein bisschen Pep ziehen dürfen. Wir nicken überschwänglich und lachen wieder aufgekratzt, als sich die beiden Bomberjackenträger über das Surfbrett beugen und fluchend ungelenke Verrenkungen anstellen. Danach unterhalten wir uns noch eine Weile, bis Noah langsam wegschlummert, der Zigarettenvorrat zur Neige geht und wir einstimmig beschließen, dass es Zeit für den Heimweg ist.

Träge klauben wir unsere Sachen und auch ein paar der alten Platten zusammen. Abspielbar sind die zerkratzten Vinylscheiben zwar nicht mehr, aber als hippe Retro-Deko für das WG-eigene DJ-Zimmer sind sie freilich unbezahlbar – zumal eine der Platten mit Aufforderung zum Tanz27 betitelt ist. Das Stück stammt von einem gewissen Carl von Weber. Was es nicht alles gibt …

Zuletzt schmeißen wir den Müll und die Flaschen kurzerhand in den Einkaufswagen und schieben ihn vor uns her in Richtung Bahnhof. Die lustigen Oi!-Punks begleiten uns noch bis zur Haltestelle, helfen, den Müll in die umherstehenden Tonnen zu verteilen, und schlagen vor, dass sie uns ja mal in unserer WG besuchen könnten. Mal sehen. Dann setzt sich eine der Bomberjacken in den leeren Einkaufswagen und lässt sich von der anderen Bomberjacke in Richtung Siedlung zurückschieben. Wir winken zum Abschied.

Auf der Heimfahrt dösen Regina, Schnulli, Noah, Fred und ich unter unseren Sonnenbrillen vor uns hin und schieben im Halbschlaf vereint unsere Kiefer hin und her. Mein Kaugummi habe ich nicht mehr. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich es ausgespuckt oder runtergeschluckt habe.

Am Hauptbahnhof angekommen, finden wir uns zu einer Traube zusammen, haken uns unter oder legen uns gegenseitig die Arme um die Schultern und treten wankend den »Walk of Shame«