Phaidros - Platon - E-Book

Phaidros E-Book

Platón

0,0
5,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kosmologie, Psychologie, Metaphysik, Rhetorik, Lernen, Lesen und Schreiben, die Liebe: das sind zentrale philosophische Themen und Problemfelder, die der Dialog zwischen Sokrates und Phaidros beinhaltet. Gerade wegen seiner inhaltlichen Vielfalt ist das Werk immer wieder rezipiert worden und ein wichtiger Text für Philosophen, Philologen und Rhetorikinteressierte. Gernot Krapinger hat ihn in zeitgemäßes Deutsch neu übersetzt und kommentiert und für (Selbst-)Studium und Lehre erschlossen. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 197

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Platon

Phaidros

Übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Gernot Krapinger

Reclam

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962018-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014243-1

www.reclam.de

Inhalt

Phaidros

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Historische Personen

Literaturhinweise

Nachwort

Phaidros

[5]SOKRATES.PHAIDROS.

 

SOKRATES.[227a] Mein lieber Phaidros, woher des Weges und wohin?

PHAIDROS. Von Lysias, Sokrates, dem Sohn des Kephalos, doch jetzt will ich einen Spaziergang vor der Stadt machen, denn ich habe seit dem frühen Morgen die ganze Zeit dort gesessen. Auf den Rat unseres gemeinsamen Freundes Akumenos mache ich meine Spaziergänge auf freien Wegen, sagt er doch, das sei weniger ermüdend als in den [b] Wandelhallen.

SOKRATES. Ja, mein Freund, da hat er recht. Offenbar war Lysias also in der Stadt.

PHAIDROS. Ja, bei Epikrates, dort im Hause des Morychos, nahe beim Olympieion.1

SOKRATES. Was habt ihr denn da gemacht? Gewiss hat Lysias euch mit seinen Reden bewirtet?2

PHAIDROS. Du wirst es erfahren, wenn du Zeit hast, mitzugehen und zuzuhören.

SOKRATES. Wie nun? Du bezweifelst doch nicht, dass ich, deine Unterredung mit Lysias zu hören, um mit Pindar zu reden,3 für wichtiger erachte als (jede andere) Beschäftigung?4

PHAIDROS.[c] Komm also.

SOKRATES. Und du erzähle.

PHAIDROS. Und in der Tat, was du hören wirst, geht gerade dich etwas an. Denn das Thema, über das wir uns unterhielten, betraf irgendwie den Eros.5 Lysias hat nämlich eine Schrift verfasst, in der ein schöner Knabe in Versuchung geführt wird, aber nicht von einem Verliebten6; vielmehr behauptet er – und gerade das ist ja der Clou dabei –, [6]man solle eher einem Nichtverliebten zu Gefallen sein7 als einem Verliebten.

SOKRATES. Wie edel! Hätte er doch geschrieben: einem Armen eher als einem Reichen und einem Älteren eher als einem Jüngeren und was sonst noch [d] auf mich8 und die meisten von uns zutrifft. Dann wären seine Worte manierlich und von allgemeinem Nutzen. Ich wenigstens bin jetzt ganz Ohr, so dass ich nicht von deiner Seite weichen will, auch wenn du bis nach Megara9 spazieren und erst, wie Herodikos empfiehlt, an der Mauer wieder umkehren wolltest.

PHAIDROS. Wo denkst du hin, bester Sokrates? Glaubst du, ich könnte als Laie das, was [228a] Lysias, der gegenwärtig größte Schriftsteller, in langer Zeit und in aller Muße verfasst hat, nur so aus dem Gedächtnis in angemessener Weise wiederholen?10 Dazu fehlt mir viel, wiewohl mir das lieber wäre als großer Reichtum.

SOKRATES. Mein lieber Phaidros, wenn ich den Phaidros nicht kenne, so kenne ich mich selbst nicht mehr. Aber keines von beiden ist der Fall. Ich weiß genau, wenn Phaidros eine Rede von Lysias hörte, dann hörte er sie nicht nur einmal; vielmehr hat er immer wieder verlangt, er möge sie ihm wiederholen, was dieser auch [b] gerne tat. Aber auch damit begnügte er sich nicht, sondern zu guter Letzt nahm er noch die Schriftrolle zur Hand und sah sich die Stellen an, um die es ihm besonders ging; damit beschäftigt, saß er seit dem frühen Morgen da, und als er müde wurde, brach er zu dem Spaziergang auf; und wie ich beim Hund11 glaube, kann er jetzt die Rede schon auswendig, sofern sie nicht allzu lang war. Dann wandelte er draußen vor der Stadt, um sie einzuüben. Als er aber auf den Mann traf, der geradezu krankhaft darauf aus ist, Reden zu hören, da freute er sich, [7]als er denn auch tatsächlich sah,12 dass er da einen Genossen seiner Begeisterung13 gefunden hatte, [c] und forderte ihn auf, mitzukommen. Als ihn aber der Liebhaber der Reden zu sprechen14 bat, da zierte er sich, als ob er nicht ganz begierig darauf aus wäre. Letztendlich jedoch würde er, auch wenn ihm niemand freiwillig zuhören wollte, den Vortrag sogar erzwungen haben. Also, Phaidros, bitte du ihn, jetzt gleich zu tun, was er ohnedies bald tun wird.

PHAIDROS. Es ist für mich wahrlich weitaus am besten, wenn ich so rede, wie ich es eben kann; denn wie mir scheint, wirst du mir auf keinen Fall Ruhe geben, ehe ich nicht irgendwie15 geredet habe.

SOKRATES. Der Eindruck, den du von mir hast, ist ganz richtig.

PHAIDROS.[d] Ich will es also so machen. Denn in der Tat, Sokrates, den Wortlaut habe ich keineswegs auswendig gelernt.16 Den ungefähren Sinn von allem, worin sich seiner Meinung nach die Situation des Liebenden von der des Nichtliebenden unterscheidet, den will ich in den Hauptpunkten der Reihe nach darlegen und mit dem ersten beginnen.

SOKRATES. Zuerst aber zeige mir, mein Freund, was du da in deiner Linken unter dem Mantel hast. Vermutlich hast du da die Rede selbst. Wenn dem so ist, dann mach dir, was mich betrifft, Folgendes klar: [e] Ich habe dich wirklich lieb; wenn aber auch Lysias zugegen ist, dann bin ich durchaus nicht gewillt, mich dir für Übungszwecke zur Verfügung zu stellen. Komm also, zeig her!

PHAIDROS. Genug, Sokrates! Meine Hoffnung, mich an dir üben zu können, hast du vereitelt. Wo willst du also, dass wir uns hinsetzen und lesen?

[8]SOKRATES.[229a] Biegen wir hier ab und gehen wir den Ilissos17 entlang; dort können wir uns dann an einem ruhigen Platz, wo es uns gefällt, niederlassen.

PHAIDROS. Da trifft es sich offenbar ganz gut, dass ich gerade barfuß18 bin; du bist es ja immer. Am einfachsten ist es für uns, das Flüsschen entlangzuwaten, was ja besonders in dieser Stunde und zu dieser Jahreszeit recht angenehm ist.

SOKRATES. Geh also voran und schau dich zugleich um, wo wir uns niederlassen können.

PHAIDROS. Siehst du dort die mächtige Platane?

SOKRATES. Gewiss.

PHAIDROS.[b] Dort ist Schatten, eine sanfte Brise und Gras zum Sitzen oder, wenn wir wollen, zum Liegen.

SOKRATES. Geh also voran!

PHAIDROS. Sag, Sokrates, soll nicht irgendwo hier am Ilissos Boreas die Oreithyia geraubt haben?19

SOKRATES. Ja, so heißt es.

PHAIDROS. Just hier etwa? Jedenfalls scheint das Bächlein hier lieblich, sauber und klar, so richtig geeignet als Spielplatz für Mädchen.

SOKRATES.[c] Nein, nicht hier, sondern etwa zwei oder drei Stadien weiter unten, wo der Weg zum Heiligtum von Agra20 über den Bach führt; irgendwo dort befindet sich auch ein Altar des Boreas.

PHAIDROS. Das ist mir gar nicht bewusst. Aber, beim Zeus, sage mir, Sokrates, glaubst du, dass diese Geschichte wahr ist?

SOKRATES. Nun, wenn ich wie die Sophisten21 daran zweifelte, so wäre das nicht Besonderes; ich würde dann schlau daherreden, ein Windstoß aus dem Norden habe sie [9]vom nahen Felsen herabgestoßen, als sie mit Pharmakeia22 spielte, und nachdem sie so den Tod gefunden hätte, habe man erzählt, sie sei von Boreas [d] entführt worden – oder vom Areshügel23; denn auch diese Version erzählt man, dass sie von dort und nicht von hier geraubt wurde. Was mich betrifft, Phaidros, so finde ich derartige Erklärungen ganz nett, nur bedarf es dazu eines geschickten Mannes, der keine Mühe scheut und nicht gerade zu beneiden ist, vor allem deshalb, weil er danach auch noch die Gestalt der Hippokentauren24 richtig stellen muss und desgleichen auch die der Chimaira25; und dann kommt auf ihn noch ein ganzer Strom von verwandten Wesen zu, wie die Gorgonen26 und Pegasus27, sowie [e] eine Unmenge anderer unmöglicher Gestalten und irgendwelche rätselhafte und monströse Naturen. Wer an ihnen zweifelt und alles auf etwas Wahrscheinliches zurückführen will, wird dafür viel freie Zeit brauchen, zumal wenn er sich dabei eines grobschlächtigen Verstandes bedient. Ich aber habe für solche Dinge überhaupt keine Zeit.28 Der Grund dafür, mein Lieber, ist folgender: Ich bin ja noch nicht einmal imstande, mich selbst zu erkennen, wie es die delphische Inschrift29 verlangt. Da kommt es mir doch lächerlich vor, [230a] mich, solange ich dieses Wissen nicht habe, um Dinge zu kümmern, die mich nicht betreffen. Deshalb lasse ich diese Dinge auf sich beruhen, und indem ich mich der herkömmlichen Meinung darüber anschließe,30 kümmere ich mich, wie gesagt, nicht darum, sondern um mich selbst, ob ich etwa ein Ungeheuer bin, verschlagener noch und aufgeblasener als Typhon31, oder aber ein sanfteres und einfacheres Wesen, dem von Natur aus irgendwie ein göttliches Lebenslos ohne Aufgeblasenheit bestimmt ist. Aber, mein [10]Freund, während wir so reden, war das nicht der Baum, zu dem du uns führen wolltest?

PHAIDROS.[b] Ja, der ist es.

SOKRATES. Wahrhaftig, bei Hera, ein schöner Ruheplatz. Ist doch die Platane hier weit ausladend und hoch, wunderbar auch der hohe Wuchs des schattenspendenden Keuschbaumes, und weil er in voller Blüte steht, mag er wohl den ganzen Platz mit angenehmstem Duft erfüllen. Und dann noch die überaus liebliche Quelle, die unter der Platane hervorsprudelt mit ihrem ganz kühlen Wasser, wie man sich mit den Füßen überzeugen kann. Nach den Statuen und Weihegaben ist der Ort offenbar ein Heiligtum der Nymphen und des Acheloos32. [c] Oder auch die gute Luft an diesem Ort, wie lieblich und gar angenehm! Sommerlich und hell erschallt sie vom Chor der Zikaden. Das Allerfeinste aber ist der Rasen, der sanft ansteigend dem Kopf, wenn man sich niederlegt, eine angenehme Unterlage bietet. So hast du dich als Fremdenführer bestens bewährt, mein lieber Phaidros.33

PHAIDROS. Du aber, du Wunderlicher, erweist dich als ganz merkwürdiger Mensch. Denn du selbst bezeichnest dich offensichtlich geradewegs als Fremdling, der sich führen lässt, und nicht als [d] Einheimischen. So wenig kommst du über die Grenzen des Stadtgebietes hinaus; ja du scheinst mir die Stadtmauern überhaupt nicht zu verlassen.34

SOKRATES. Nimm’s mir nicht übel, mein Bester. Ich bin eben einmal lernbegierig. Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt. Du hast, glaube ich, wirklich das Mittel gefunden, mich ins Freie zu bringen. Denn wie man das hungrige Vieh [11]weitertreibt, indem man ihm frisches Grün oder eine Frucht vor die Nase hält, so kannst du mich offenbar in ganz [e] Attika und wohin du sonst noch willst herumführen, indem du mir die Schriftrollen mit Reden vorhältst. Nachdem ich nun bis hierher gekommen bin, will ich mich jetzt fürs Erste hinlegen; du aber wähle die Haltung, in der du, wie du meinst, am bequemsten lesen kannst, und lies vor.

PHAIDROS. So höre also:35

»Wie es um mich steht, weißt du, und du hast gehört, dass ich es für uns als vorteilhaft ansehe, wenn es dazu kommt. Ich möchte aber, [231a] dass meine Bitten nicht deshalb erfolglos bleiben, weil ich nicht in dich verliebt bin. Denn die Verliebten bereuen ihre Wohltaten, sobald ihre Leidenschaft erlischt. Die anderen aber müssen ihre Gesinnung nie ändern. Denn nicht unter Zwang, sondern aus freien Stücken erweisen sie ihre Wohltaten,36 so gut sie nur können, nach reiflicher Überlegung, wie es für ihre eigenen Angelegenheiten am besten ist. Außerdem erwägen die Verliebten, was sie um ihrer Liebe willen von den eigenen Angelegenheiten verabsäumt und was sie Gutes getan haben, und sind, wenn sie die aufgewendete Mühe noch mit dazurechnen, [b] der Meinung, dass sie dem Geliebten den schuldigen Dank schon längst abgestattet haben. Die Nichtverliebten dagegen können weder vorschützen, sie hätten deswegen37 ihre eigenen Angelegenheiten vernachlässigt, noch können sie ihre früheren Mühen in Rechnung stellen oder die Zerwürfnisse mit den Verwandten beklagen; wenn daher so viele böse Folgen für sie wegfallen, so bleibt nichts mehr übrig, als bereitwillig das zu tun, womit sie glauben, ihnen (den Geliebten) einen Gefallen zu erweisen. Und weiter, wenn [c] die Verliebten deshalb [12]besondere Wertschätzung verdienen sollen, weil sie behaupten, sie seien denen, die sie lieben, besonders zugetan und bereit, sich mit Worten und Taten bei den anderen verhasst zu machen, sofern sie nur den Geliebten einen Gefallen erweisen, so ist, wenn das stimmt, leicht zu erkennen, dass sie immer die späteren Geliebten den früheren vorziehen, und offenbar auch, dass sie diesen, wenn es jenen so passt, sogar Böses zufügen werden. Indes, wie könnte es angehen, ein solches Tun einem Menschen zu gestatten, [d] der einem solchen Missgeschick38 unterliegt, das nicht einmal einer, der darin Erfahrung hat, abzuwenden versuchen würde? Denn sie geben ja auch selbst zu, eher krank als bei Verstand zu sein und zu wissen, dass sie falsch liegen, aber sie können sich nicht beherrschen. Wie sollten sie also, wenn sie wieder zur Vernunft gekommen sind, das gutheißen, was sie in jenem Zustand39 beschlossen haben? Und dann, wenn du aus der Zahl der Verliebten den Besten auswählen wolltest, dann hättest du die Wahl nur unter ganz wenigen. Wenn du aber unter den anderen den wählen wolltest, der am besten zu dir passt, dann hättest du die Wahl unter vielen. Daher kannst du viel [e] eher hoffen, unter den vielen den anzutreffen, der deiner Liebe würdig ist.

Solltest du aber, wenn die Leute davon erfahren, um deinen Leumund in der Öffentlichkeit fürchten, so ist es doch wahrscheinlich, [232a] dass die Verliebten in der Meinung, sie seien in den Augen der anderen ebenso beneidenswert wie in ihren eigenen, sich mit Erzählungen brüsten und in ihrem Ehrgeiz aller Welt zeigen werden, dass sie sich nicht vergeblich bemüht haben. Die Nichtverliebten aber, die sich selber in der Gewalt haben, werden anstatt des [13]Ansehens bei den Mitmenschen das Beste wählen. Ferner ist es unvermeidlich, dass viele erfahren und auch selbst sehen, wie die Verliebten ihre Liebhaber begleiten und das zu ihrer Hauptbeschäftigung machen, so dass dann die Leute, wenn sie sehen, wie sie sich miteinander unterhalten, [b] glauben, dass die beiden beisammen seien, weil sie ihre Leidenschaft gerade befriedigt hätten oder es demnächst tun wollten. Den Nichtverliebten aber versucht niemand wegen ihres Beisammenseins einen Vorwurf zu machen, zumal man ja weiß, wie unumgänglich es ist, sich mit anderen zu unterhalten, sei es aus Freundschaft oder sonstwie bloß zum Vergnügen. Und wenn dich die Sorge überkommt bei dem Gedanken, dass eine Freundschaft nur schwer Bestand haben kann und dass, wenn sonst ein Zerwürfnis eintritt, beide von dem Unglück [c] betroffen sind, du aber, wenn du das deiner Meinung nach Wertvollste hingegeben hättest, allein von dem großen Schaden betroffen wärst, dann solltest du natürlich die Verliebten eher fürchten. Denn es gibt vieles, was sie kränkt, und von allem glauben sie, dass es zu ihrem eigenen Schaden geschieht. Deshalb hintertreiben sie auch den Umgang ihrer Geliebten mit anderen, fürchten sie doch, die Reichen könnten sie mit ihrem Geld in den Schatten stellen und die Gebildeten könnten ihnen an Verstand überlegen sein; und sie wehren sich [d] gegen den Einfluss eines jeden, der sonst irgendeinen Vorzug hat. Gelingt es ihnen dann, dich dazu zu überreden, dass du dich mit diesen Leuten überwirfst, so berauben sie dich all deiner Freunde; bist du aber auf dich selbst bedacht und bist klüger als sie, dann wirst du dich mit ihnen verfeinden. Alle aber, die nicht verliebt waren, sondern durch ihre Tüchtigkeit ans Ziel ihrer Wünsche gelangten, werden nicht [14]eifersüchtig sein auf die, die mit dir Umgang haben, vielmehr werden sie diejenigen verabscheuen, die das nicht wollen, glauben sie doch, sie würden von jenen verachtet, während sie sich von denen, die mit dir Umgang haben, einen Vorteil erwarten. Somit ist viel [e] eher zu erwarten, dass ihnen aus der Sache Freundschaft erwachsen werde und nicht Feindschaft.

Und dann empfinden viele von den Geliebten ein Begehren nach dem Körper, ehe sie noch den Charakter kennengelernt und sich mit den anderen Eigenheiten vertraut gemacht haben, so dass es ungewiss ist, ob sie auch dann noch ihre Freunde sein wollen, wenn ihre Begierde gestillt ist. [233a] Bei den Nichtverliebten aber, die ihr Verlangen erst befriedigt haben, wenn sie schon vorher Freunde gewesen sind, ist nicht zu erwarten, dass das Gute, das ihnen widerfahren ist, ihre Freundschaft schmälert; viel eher wird das eine bleibende Erinnerung für Zukünftiges sein. Ja, gewiss, du müsstest ein besserer Mensch werden, wenn du mir folgst und nicht einem Liebhaber. Denn jene loben, was du sagst und was du tust, auch im Widerspruch zu dem, was wirklich gut ist, teils aus Furcht, sich unbeliebt zu machen, teils [b] weil sie durch ihre Leidenschaft in ihrem Urteilsvermögen eingeschränkt sind. Denn darin zeigt sich die Liebe: Sie bewirkt, dass die Unglücklichverliebten das für unerträglich halten, was anderen Menschen keine Sorge bereitet. Die Glücklichverliebten aber nötigt sie, auch das zu loben, was keiner Freude wert ist. Daher sollte man viel eher Mitleid mit den Verliebten haben als ihnen nacheifern.40 Wenn du aber auf mich hörst, so werde ich in erster Linie bei unserem Zusammensein nicht auf das augenblickliche Vergnügen aus sein, sondern auf [c] den künftigen [15]Nutzen; da ich nicht von der Liebe überwältigt bin, sondern mich selbst in der Gewalt habe, werde ich nicht wegen Kleinigkeiten schweren Streit aufkommen lassen, sondern nur bei schwerwiegenden Dingen und auch da nur langsam und in geringem Maße zornig werden, und ich werde versuchen, unabsichtliche Fehler zu verzeihen, absichtliche aber hintanzuhalten. Das nämlich sind die Merkmale einer langanhaltenden Freundschaft. Sollte dir aber der Gedanke gekommen sein, eine feste Freundschaft könne es nicht geben, wenn man nicht verliebt ist, [d] so musst du überlegen, dass wir dann weder unsere Kinder noch unsere Eltern liebhaben und auch keine treuen Freunde besitzen könnten, die das ja nicht infolge einer solchen Leidenschaft, sondern aufgrund anderer Beziehungen geworden sind.

Wenn man ferner denen seine Gunst erweisen soll, die das am meisten brauchen, dann sollte man auch sonst nicht den Besten, sondern den Mittellosesten Gutes tun. Denn diese werden, wenn sie aus der größten Not befreit sind, ihren Wohltätern besonders dankbar sein. Und so sollte man auch [e] zu privaten Bewirtungen nicht seine Freunde einladen, sondern Bettler und solche, die der Sättigung bedürfen. Denn diese werden einem zugetan sein und nachlaufen, sie werden in ihrer übergroßen Freude die Türe des Wohltäters belagern und ihm voll Dankbarkeit alles Gute wünschen.41 Aber vielleicht sollte man nicht denen, die heftig darum bitten, einen Gefallen erweisen, sondern denen, die am ehesten imstande sind, sich ihrerseits erkenntlich zu erweisen; und nicht einfach denen, die nur darum [234a] betteln, sondern denen, die der Sache würdig sind; auch nicht denen, die nur deine Jugend genießen wollen, sondern denen, die dich, wenn du älter geworden bist, [16]an ihren Gütern Anteil nehmen lassen; und nicht denen, die, wenn sie ihr Ziel erreicht haben, vor anderen damit prahlen, sondern denen, die darüber aus Anstand vor allen anderen schweigen werden; auch nicht denen, die sich nur kurze Zeit um dich bemühen, sondern jenen, die ihr ganzes Leben hindurch in gleicher Weise deine Freunde sein werden; nicht solchen, die, wenn ihre Begierde gestillt ist, einen Vorwand für ein Zerwürfnis suchen werden, sondern die dann, wenn deine Jugendblüte vorüber ist, [b] ihren wahren Wert beweisen. Erinnere dich also an diese Worte und bedenke, dass die Verliebten von ihren Freunden getadelt werden,42 als ob ihr Tun und Lassen etwas Schlechtes wäre, dass aber den Nichtverliebten noch keiner ihrer Angehörigen je den Vorwurf gemacht hat, dass sie deshalb in ihren eigenen Angelegenheiten schlecht beraten wären.

Vielleicht fragst du mich jetzt, ob ich dir rate, allen Nichtverliebten gefällig zu sein. Ich glaube allerdings, auch der Verliebte sagt dir nicht, du sollst allen gegenüber, die dich lieben, eine solche Gesinnung [c] zeigen. Denn dann würde das weder dem, der dein Entgegenkommen43 erlangt hat, gleichen Dankes wert sein, noch kannst du es, was ja deine Absicht ist, vor den anderen verbergen. Daraus sollte aber kein Schaden erwachsen, vielmehr sollte es für beide von Vorteil sein. Ich denke, das Gesagte sollte genügen. Solltest du aber etwas vermissen im Glauben, ich hätte es übergangen, so frage44 nur.«

Was hältst du von dieser Rede, Sokrates? Ist sie nicht ganz vorzüglich, besonders was die Wortwahl betrifft?

SOKRATES.[d] Ja, geradezu göttlich, mein Freund, so dass ich ganz hingerissen bin. Und das verdanke ich dir, [17]mein Phaidros, weil ich bei deinem Anblick den Eindruck hatte, dass du beim Lesen von der Rede ganz verzückt warst. Weil ich der Meinung bin, du verstündest von solchen Dingen mehr als ich, bin ich dir gefolgt und bin dabei mit dir in Verzückung geraten, du göttliches Haupt.45

PHAIDROS. Schon gut; du machst dich offenbar nur lustig über mich?

SOKRATES. Du glaubst, ich mache mich nur lustig über dich und meinte es nicht im Ernst?

PHAIDROS.[e] Durchaus nicht im Ernst, Sokrates; aber beim Zeus, dem Gott der Freundschaft,46 sage mir ehrlich: Glaubst du, sonst einer der Griechen hätte etwas anderes zu diesem Thema zu sagen, das bedeutender und gehaltvoller wäre?

SOKRATES. Wie nun? Soll die Rede von mir und dir gelobt werden, weil der Verfasser das inhaltlich Erforderliche gesagt hat, und nicht nur deshalb, weil jeder Ausdruck klar und abgerundet und sorgfältig ausgefeilt ist? Wenn das der Fall sein soll,47 so muss man es dir zuliebe zugestehen; mir ist es freilich aufgrund meiner Inkompetenz [235a] entgangen; denn ich richtete mein Augenmerk einzig und allein auf die rhetorische Form; was aber das andere (das inhaltlich Erforderliche) betrifft, so glaube ich, selbst Lysias würde es nicht für hinreichend erachten. Auch hatte ich den Eindruck, Phaidros, falls du nicht anderer Meinung bist, er habe sich zwei- oder dreimal wiederholt, gerade so, als ob es ihm nicht leichtfiele, Verschiedenes über dieselbe Sache zu sagen, oder weil er vielleicht darauf auch keinen Wert legte. Er kam mir also wie ein übermütiger Jüngling vor, der zeigen will, dass er imstande ist, dasselbe mal so und mal so auszudrücken, aber immer sehr gekonnt.

[18]PHAIDROS.[b] Unsinn, Sokrates. Gerade das enthält doch seine Rede, und zwar im höchsten Maße: Von allem, was zu dem Thema in dieser Rede gesagt zu werden verdient, hat Lysias nichts ausgelassen,48 so dass wohl niemand je in der Lage sein dürfte, über das von ihm Gesagte hinaus noch anderes und Bedeutenderes vorzubringen.

SOKRATES. Darin kann ich dir nun nicht mehr folgen. Denn kluge Männer und Frauen der Vorzeit, die darüber geredet und geschrieben haben, werden mich widerlegen, wenn ich dir zuliebe da zustimme.

PHAIDROS.[c] Wer denn? Wo hast du Besseres gehört als das hier?

SOKRATES. Das kann ich im Augenblick so nicht sagen. Offenbar habe ich es von jemandem gehört, sei es von Sappho, der Schönen, sei es von Anakreon, dem Weisen, oder aber auch von einem der Prosaautoren. Woraus ich das nun schließe? Ganz erfüllt davon ist mein Herz, du Wunderlicher, und ich fühle, dass ich noch ganz anderes zu sagen hätte als dieses, und nichts Schlechteres. Dass ich aber mir nichts davon selbst ausgedacht habe, weiß ich genau, bin ich mir doch meines Nichtwissens bewusst. So bleibt, denke ich, nur, dass ich durch Zuhören irgendwie aus fremden [d] Quellen wie ein Gefäß angefüllt worden bin.49 Aus lauter Trägheit aber habe ich auch das wieder vergessen, wie und von wem ich es gehört habe.50

PHAIDROS. Das hast du schön gesagt, du Trefflicher. Denn von wem und wie du es gehört hast, brauchst du mir nicht zu verraten, auch wenn ich dich darum bitte; mach nur eben das, was du sagst. Du hast versprochen, anderes vorzutragen, das besser und nicht weniger sein soll als das, was in dieser Rolle steht, und dich dabei nicht an die [19]Ausführungen des Lysias zu halten; und ich verspreche dir, wie die neun Archonten51, ein lebensgroßes goldenes Standbild in Delphi aufzustellen, und zwar nicht [e] nur von mir, sondern auch von dir.

SOKRATES.