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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Philosophen Lexikon. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Ist die Liebe ein Taumel der Gefühle oder doch bloß ein Schwindel? Als Sokrates auf einem Spaziergang den jungen Phaidros trifft, entspinnt sich zwischen den beiden ein Gespräch über die Liebe und ihre Sprache, die hinreißen und verführen, jedoch auch täuschen kann. Aus dem Plausch wird ein tiefgründiges und gleichzeitig witziges Gespräch in bester sokratischer Manier. Dieser klassische Dialog ist nicht nur einer der zentralen Texte im Werk des griechischen Philosophen, sondern bleibt, wegen dem unerreichten Wortwitz und der Universalität seines Themas, bis heute lebendig und gewährte tiefe Einsichten in die Liebe und das Leiden an der Liebe.
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Seitenzahl: 128
Platon
Phaidros
Aus dem Altgriechischen von Friedrich Schleiermacher
Fischer e-books
Mit den Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenportät aus dem Metzler Philosophen Lexikon.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
SOKRATES
O lieber Phaidro, woher denn und wohin?
PHAIDROS
Vom Lysias, o Sokrates, dem Sohne des Kephalos, und ich gehe lustwandeln hinaus vor die Stadt; denn ich habe dort lange Zeit sitzend zugebracht von früh an. Und deinem und meinem Freunde Akumenos folgend, pflege ich draußen auf den Straßen umherzugehen; dieses nämlich, sagt er, sei weniger ermüdend als das in den Spaziergängen.
SOKRATES
Und ganz recht hat er darin, lieber Freund. Also Lysias war, wie es scheint, in der Stadt.
PHAIDROS
Ja, bei dem Epikrates, in dem Hause hier unweit des Olympion, der Morychia.
SOKRATES
Was habt ihr denn dort getrieben? Oder versteht es sich, dass euch Lysias aus seinen Reden bewirtet hat?
PHAIDROS
Du sollst es erfahren, wenn du Muße hast, mitzugehen und zu hören.
SOKRATES
Wie denn? Glaubst du nicht, dass es, nach dem Pindaros, »auch dringendem Geschäft voran mir gehn soll«, deine und des Lysias Unterhaltung anzuhören?
PHAIDROS
So gehe denn weiter.
SOKRATES
Und du rede.
PHAIDROS
Gewiss, Sokrates, recht geziemt dir dies zu hören. Denn die Rede, mit der wir uns unterhielten, war, ich weiß nicht recht wie, eine Liebesrede. Nämlich Lysias hat sie geschrieben, als ob ein schöner Knabe gewonnen werden sollte, aber nicht von einem Liebhaber. Sondern dies ist eben die Feinheit darin: er behauptet, man müsse eher einem Nichtverliebten günstig sein als einem Verliebten.
SOKRATES
O trefflicher Mann! Hätte er doch geschrieben, eher einem Armen als Reichen; einem Alten als Jungen, und was sonst mir zugute gekommen wäre und den meisten von uns. Wahrlich, das wären artige und gemeinnützige Reden. Ich meinesteils bin nun so begierig geworden zu hören, dass, wenn du auch bis Megara lustwandeln gingst und wie Herodikos hart an der Mauer wieder umkehrtest, ich doch nicht von dir weichen würde.
PHAIDROS
Wie meinst du, bester Sokrates? Glaubst du, was Lysias in langer Zeit nach Muße ausgearbeitet hat, der größte Meister unter allen jetzt im Schreiben, das sollte ich Ungelehrter seiner würdig so aus dem Gedächtnis wiederholen können? Daran fehlt viel. Wiewohl viel Geld mir nicht so lieb sein sollte als dieses.
SOKRATES
O Phaidros, wenn ich den Phaidros nicht kenne, muss ich mich ja selbst vergessen haben. Aber eines so wenig wie das andere. Ich weiß gar wohl, hörte jener eine Rede des Lysias, so hat er sie nicht nur einmal angehört, sondern den Lysias immer wieder aufs neue oftmals reden lassen, und der gehorchte ihm auch gern. Ihm aber ist auch das nicht genug gewesen, sondern zuletzt hat er das Buch genommen und selbst, was ihm am besten gefiel, nachgesehen. Und darüber von früh an sitzend, ist er endlich ermüdet und lustwandeln gegangen, jedoch beim Hunde! wie ich wenigstens glaube, schon auswendig wissend die Rede, wenn sie nicht allzu lang war. Und zur Stadt hinaus ging er, um sie recht einzulernen. Als er dann einem begegnete, der krank ist an der Sucht, Reden anzuhören, freute er sich schon, da er ihn sah, dass er einen Genossen haben würde an seiner Entzückung, und hieß ihn mitgehen. Wie nun der Liebhaber von Reden ihn bat, herzusagen, machte er den Spröden, als hätte er nicht Lust; am Ende aber würde er, auch wenn niemand mit Gutem zuhören wollte, mit Gewalt die Rede sagen. Du also, Phaidros, bitte ihn, was er doch bald auf alle Weise tun würde, lieber gleich zu tun.
PHAIDROS
Wahrlich, bei weitem das beste für mich wird sein, dir so, wie ich eben kann, die Rede zu geben. Denn du scheinst mir keineswegs ablassen zu wollen, bis ich irgendwie rede.
SOKRATES
Ganz recht glaubst du das von mir.
PHAIDROS
So demnach will ich es machen. Denn in der Tat, Sokrates, die Worte habe ich unmöglich behalten; den Inhalt aber von allem, worin er den Unterschied zwischen des Liebenden Sache und des Nichtliebenden auseinandergesetzt, will ich dir in den Hauptpunkten nach der Ordnung, vom ersten anhebend, wiederholen.
SOKRATES
Nachdem du jedoch gezeigt haben wirst, lieber Mensch, was du da hast in der linken Hand unter dem Mantel. Denn ich vermute, du hast die Rede selbst, und wenn das ist, so denke so von mir, dass ich dich zwar gar sehr liebe, wenn aber auch Lysias da ist, mich dir herzugeben, damit du dich an mir einlernst, keineswegs gesonnen bin. Komm also und zeige!
PHAIDROS
Ruhig nur! Du hast mir die Hoffnung vereitelt, die ich hatte, mich an dir zu üben. Aber wo willst du nun, dass wir uns setzen, um zu lesen?
SOKRATES
Hier lass uns ablenkend am Ilissos hinuntergehen und dann, wo es uns gefallen wird, uns einsam niedersetzen.
PHAIDROS
Zur rechten Zeit, wie es scheint, bin ich unbeschuht; denn du freilich bist es immer. So ist es also am bequemsten; im Wässerchen selbst die Füße netzend zu gehen, und gar nicht unangenehm, zumal in dieser Jahreszeit und um die jetzige Stunde.
SOKRATES
So gehe voran und sieh dich um, wo wir uns wohl setzen können.
PHAIDROS
Siehst du jene höchste Platane dort?
SOKRATES
Wie sollte ich nicht?
PHAIDROS
Dort ist Schatten und mäßige Luft, auch Rasen, darauf zu sitzen oder, wenn wir wollen, uns niederzulegen.
SOKRATES
Gehe also.
PHAIDROS
Sage mir, Sokrates, soll nicht hier irgendwo am Ilissos Boreas die Oreithyia geraubt haben?
SOKRATES
So soll er.
PHAIDROS
Etwa eben hier? Angenehm wenigstens, rein und durchsichtig ist hier das Wässerchen, recht gemacht für Mägdlein, daran zu spielen.
SOKRATES
Nein, sondern unterhalb etwa um zwei oder drei Stadien, wo man durchgeht nach dem Tempel der Artemis. Auch ist dort irgendwo ein Altar des Boreas.
PHAIDROS
Ich wusste es nicht recht. Aber sage, um Zeus’ willen, Sokrates, glaubst auch du, dass diese Geschichte wahr ist?
SOKRATES
Wenn ich es nun nicht glaubte, wie die Klugen, so wäre ich eben nicht ratlos. Ich würde dann weiter klügelnd sagen, der Wind Boreas habe sie, als sie mit der Pharmakeia spielte, von den Felsen dort in der Nähe herabgeworfen, und dieser Todesart wegen habe man gesagt, sie sei durch den Gott Boreas geraubt worden. Ich aber, o Phaidros, finde dergleichen im Übrigen ganz artig, nur dass ein gar kunstreicher und arbeitsamer Mann dazu gehört, der eben nicht zu beneiden ist, nicht etwa wegen sonst einer Ursache, sondern weil er dann notwendig auch die Kentauren ins Gerade bringen muss und hernach die Chimaira, und dann strömt ihm herzu ein ganzes Volk von dergleichen Gorgonen, Pegasen und andern unendlich vielen und unbegreiflichen wunderbaren Wesen, und wer die ungläubig einzeln auf etwas Wahrscheinliches bringen will, der wird mit einer wahrlich unzierlichen Weisheit viel Zeit verderben. Ich aber habe dazu ganz und gar keine Muße; und die Ursache hiervon, mein Lieber, ist diese: ich kann noch immer nicht nach dem delphischen Spruch mich selbst erkennen. Lächerlich also kommt es mir vor, solange ich hierin noch unwissend bin, an andere Dinge zu denken. Daher also lasse ich das alles gut sein; und annehmend, was darüber allgemein geglaubt wird, wie ich eben sagte, denke ich nicht an diese Dinge, sondern an mich selbst, ob ich etwa ein Ungeheuer bin, noch verschlungener gebildet und ungetümer als Typhon, oder ein milderes und einfacheres Wesen, das sich eines göttlichen und edeln Teiles von Natur erfreut. – Doch, Freund, nicht zu vergessen, war dies nicht der Baum, zu dem du uns führen wolltest?
PHAIDROS
Ja, eben dieser.
SOKRATES
Bei der Here! dies ist ein schöner Aufenthalt. Denn die Platane selbst ist prächtig belaubt und hoch und des Gesträuches Höhe und Umschattung gar schön, und so steht es in voller Blüte, dass es den Ort mit Wohlgeruch ganz erfüllt. Und unter der Platane fließt die lieblichste Quelle des kühlsten Wassers, wenn man seinen Füßen trauen darf. Auch scheint hier nach den Statuen und Figuren ein Heiligtum einiger Nymphen und des Acheloos zu sein. Und wenn du das suchst, auch die Luft weht hier willkommen und süß und säuselt sommerlich und lieblich in den Chor der Zikaden. Unter allem am herrlichsten aber ist das Gras am sanften Abhang in solcher Fülle, dass man hingestreckt das Haupt gemächlich kann ruhen lassen. Kurz, du hast vortrefflich den Führer gemacht, lieber Phaidros.
PHAIDROS
Du aber, wunderbarer Mann, zeigst dich ganz seltsam. Denn in der Tat, wie du auch sagst, einem Fremden gleichst du, der sich umherführen lässt, und nicht einem Einheimischen. So wenig wanderst du aus der Stadt über die Grenze, noch auch selbst zum Tore scheinst du mir herauszugehen.
SOKRATES
Dies verzeihe mir schon, o Bester. Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt. Du indes, dünkt mich, hast, um mich herauszulocken, das rechte Mittel gefunden. Denn wie sie mittels vorgehaltenen Laubes oder Körner hungriges Vieh führen, so könntest du gewiss, wenn du mir solche Rollen mit Reden vorzeigtest, mich durch ganz Attika herumführen, und wohin du sonst wolltest. Nun wir aber an Ort und Stelle angekommen sind, werde ich mich wahrscheinlich hier niederlegen; du aber, in welcher Stellung du am besten lesen zu können glaubst, die wähle und lies.
PHAIDROS
So höre denn.
Von dem, was mich anbetrifft, bist du unterrichtet, und wie ich glaube, es werde uns zuträglich sein, dass dieses zustande komme, hast du gehört. Ich wünsche aber, nicht etwa deshalb zu verfehlen, um was ich bitte, weil ich nicht zu deinen Liebhabern gehöre. Da eben jene dann zu gereuen pflegt, was sie Gutes erwiesen haben, sobald ihre Begierde gestillt ist; für andere aber gibt es keine Zeit, in der ihnen anderen Sinnes zu werden geziemte. Denn nicht notgedrungen, sondern freiwillig, wie jeder am besten über das Seinige sich beraten mag, erweisen sie nach ihrem Vermögen Gutes. Ferner erwägen die Verliebten, was sie schlecht verwaltet haben von dem Ihrigen der Liebe wegen, und was Gutes erwiesen; und wenn sie dann die gehabte Beschwerde hinzurechnen, so glauben sie, schon längst den gebührenden Dank ihren Geliebten entrichtet zu haben. Die aber in keiner Leidenschaft Begriffenen können auch weder die Vernachlässigung ihrer Angelegenheiten um jener willen zum Vorwande nehmen noch die überstandenen Beschwerden in Rechnung bringen noch aus der Zwietracht mit ihren Angehörigen einen Vorwurf machen, sodass, so vieler Übel überhoben, sie nicht anders können, als bereitwillig alles tun, wodurch sie glauben ihnen gefällig zu werden. Ferner, wenn um deswillen die Liebhaber wert geachtet zu werden verdienen sollen, weil sie behaupten, ihren Geliebten am meisten ergeben zu sein, und weil sie immer bereit sind, sollten sie auch durch Wort und Tat sich andern verhasst machen, ihnen gefällig zu werden: so ist leicht einzusehen, wiefern sie wahr reden, weil sie ebenso den, für welchen sie späterhin Leidenschaft haben werden, höher achten müssen als die vorigen und offenbar, wenn es jener wünscht, auch dem früher Geliebten Übles zufügen werden. Indessen, wie sollte es wohl billig sein, so Großes dem einzuräumen, der einem solchen Unfall unterworfen ist, welchem nicht einmal ein Kundiger abzuhelfen unternehmen würde? Denn auch selbst bekennen sie, dass sie mehr krank sind als bei voller Besinnung und dass sie zwar wissen, wie schlecht sie bei Verstande sind, aber nicht vermögen, sich selbst zu überwinden. Wie also könnten sie wohl, wenn sie wieder gut bei Verstande sind, dasjenige für wohlgetan halten, was sie in solcher Verfassung wollen? Überdies, wenn du aus den Liebhabern dir den besten wähltest, hättest du immer nur unter wenigen die Wahl; wenn aber aus den übrigen den dir selbst angemessensten, dann unter vielen. Sodass weit mehr Hoffnung ist, unter den vielen wirklich den anzutreffen, der deine Freundschaft verdient.
Fürchtest du aber etwa die herrschende Meinung, dass dir nämlich, wenn die Leute es erfahren, Schande daraus entstehen könnte: so ist wahrscheinlich, dass Liebhaber freilich, welche auch von den übrigen ebenso glauben beneidet zu werden, wie sie es untereinander tun, sich brüsten werden mit Erzählen und selbstgefällig sich gegen jedermann rühmen, dass sie nicht vergeblich bemüht gewesen sind, dass die nicht Leidenschaftlichen aber, da sie über sich selbst Gewalt haben, das Bessere dem Ruhme bei den Menschen vorziehen werden. Überdies müssen wohl sehr viele die Liebhaber merken und sehen, wie sie ihren Geliebten nachgehen und sich dies zum Geschäft machen, sodass, wo sie nur im Gespräch miteinander gesehen werden, man auch glaubt, sie kämen eben von der Befriedigung der Begierde oder gingen ihr entgegen; Nichtverliebten aber hat niemand auch nur den Gedanken, ihres Umgangs wegen etwas vorzuwerfen, indem jeder es in der Ordnung findet, dass man sich unterrede, es geschehe nun aus Zuneigung oder eines anderen Vergnügens wegen. Ja, wenn etwa dich Furcht anwandeln sollte, indem du bedenkst, wie schwer es halte, dass eine Freundschaft beständig bleibe, und wie, wenn in andern Fällen Uneinigkeit entsteht, beide gemeinschaftlich das Unglück trifft, hier aber, wenn du das Höchste gewährt hättest, dir großer Nachteil entstehen könne: so hast du billig weit mehr die Verliebten zu fürchten. Denn vieles gibt es, was sie betrübt, und von allem glauben sie, dass es ihnen zum Nachteil geschehe. Daher sie auch den Umgang ihrer Geliebten mit andern verhindern, aus Furcht, Vermögende möchten sie an Reichtum übertreffen, Gebildete aber ihnen an Einsicht überlegen sein, und was sonst jemand Gutes besitzt, vor dessen Wirkung hüten sie sich. Überreden sie dich nun, dich mit solchen zu verfeinden, so entblößen sie dich von Freunden; wenn du aber, dein Bestes erwägend, verständiger als sie urteilst, so kommst du in Zwistigkeit mit ihnen. Die aber nicht als Liebhaber erlangt, sondern durch ihre Tugend sich erworben haben, was sie wünschten, werden nicht deine Gesellschafter eifersüchtig beneiden, sondern eher die hassen, die es nicht sein wollen, in der Meinung, von diesen geringschätzig übersehen zu werden, von den Gesellschaftern aber unterstützt; sodass weit mehr zu erwarten ist, ihnen werde Freundschaft aus dieser Verbindung entstehen als Feindschaft. Auch pflegen ja unter den Verliebten viele weit eher nach dem körperlichen Genuss zu verlangen, als sie die Gemütsart kennengelernt und die übrigen Eigenheiten erkundet haben, sodass ungewiss ist, ob sie auch dann noch werden Freunde sein wollen, wenn ihr Verlangen gestillt ist; wogegen von den Nichtverliebten, welche dieses erst nachdem sie schon lange Freunde waren getan, gar nicht zu vermuten ist, dass eben das, was ihnen Gutes widerfahren ist, die Freundschaft verringern sollte, sondern es wird vielmehr dieses als Denkzeichen zurückbleiben für das, was in Zukunft geschehen wird.