Phantasma – Spiel um dein Leben, fürchte die Liebe - Kaylie Smith - E-Book

Phantasma – Spiel um dein Leben, fürchte die Liebe E-Book

Kaylie Smith

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bist du bereit für die Hölle? Willkommen in Phantasma.

Ophelia und ihre Schwester Genevieve sind mit dem Tod mehr als vertraut, denn ihre Mutter ist Nekromantin, und sie haben täglich mit Geistern zu tun. Dann wird ihre Mutter brutal ermordet, und Ophelias Leben steht kopf – die mächtige Magie der Familie wird auf sie übertragen, aber nicht nur das: Sie erbt auch die hohen Schulden, die auf dem Haus liegen. Kurzerhand beschließt ihre Schwester Genevieve, ein tödliches Risiko einzugehen: Sie will an den Phantasma-Spielen teilnehmen, deren Gewinnerin ein Wunsch gewährt werden soll. Doch der Weg dahin ist gefährlich, und viele sterben bei dem Versuch, die Spiele zu gewinnen. Um ihre Schwester zu retten, macht auch Ophelia sich auf nach Phantasma - ein verfluchtes Haus mit verwinkelten Gängen und prunkvollen Ballsälen, in denen Dämonen und tödliche Versuchungen auf die Teilnehmenden warten. In neun Leveln müssen sie sich neun teuflischen Herausforderungen stellen. Dabei kommt Ophelia nicht nur einem sorgsam gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur, sie muss auch mit aller Kraft gegen einen inneren Dämon ankämpfen, eine Stimme in ihrem Kopf, die ihr Leben beherrscht und all ihre Ängste kennt. Dann taucht Blackwell auf, ein arroganter Fremder, von dem sich Ophelia auf unwiderstehliche Weise angezogen fühlt. Er bietet ihr einen Deal an, und sie beschließt, ihm zu trauen – nicht ahnend, dass sie sich damit noch mehr in Gefahr bringt. Denn in Phantasma gibt es nur eines, das tödlicher ist als die Spiele selbst - sich zu verlieben ...

Ein Spiel, in dem es nur zwei Regeln gibt: Bleib am Leben und fürchte die Liebe.

»Düsteres Setting, ein gefährliches Spiel, eine clevere Protagonistin und ein Phantom, das für weiche Knie sorgt - Phantasma vereint alles, was ich an Romantasy liebe. Dieses Buch sorgt für Gänsehaut und schlaflose Nächte der besten Art!« Aleks Dimoska (@acedimski).

»Eines meiner Lieblingsbücher in diesem Jahr! Man nehme Caraval, mache es dunkler, blutiger, spicy und füge noch eine Menge unerwarteter Wendungen hinzu. Kaylie Smith hat einen absoluten Pageturner geschaffen mit ihren einfallsreichen Spielen, dem gruseligen Setting und einem Love-Interest, dem man nur allzu gern den Schlüssel zum eigenen Herzen überlässt.«  - Nisha J. Tuli, Bestsellerautorin von »Trial of the Sun Queen«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 600

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Über das Buch

Nur eines ist tödlicher als das Spiel selbst – sich zu verlieben

Mit dem Tod ist Ophelia als Tochter einer Familie von Nekromantinnen vertraut. Als jedoch ihre Mutter ermordet wird, steht ihr Leben kopf: nicht nur wird ihre mächtige Magie auf Ophelia übertragen, sie erbt auch jede Menge Schulden. Um sie freizukaufen, will ihre Schwester Genevieve die Phantasma- Spiele gewinnen. Neun blutigen Aufgaben müssen sich die Teilnehmenden stellen. Ophelia folgt ihr in das verfluchte Haus mit seinen verwinkelten Gängen und prunkvollen Ballsälen, und ein tödlicher Wettstreit beginnt. Dabei kommt sie nicht nur einem erschütternden Familiengeheimnis auf die Spur, Ophelia muss sich auch ihrem ganz eigenen Dämon stellen: der Schattenstimme, einer Macht in ihrem Kopf, die all ihre Ängste kennt und ihr Befehle zuflüstert.  Der Einzige, der die Stimme zum Verstummen bringt, ist Blackwell, ein arrogantes, unwiderstehliches Phantom. Er bietet ihr einen Deal an, und Ophelia beschließt,  ihm zu vertrauen – nicht ahnend, dass sie sich damit erst recht in Gefahr bringt.

Über Kaylie Smith

Kaylie Smith (she/they) schreibt und liest über alles, was mit Magie und Fantasy zu tun hat. Sie wuchs in Louisiana auf, wo sie stets in einem Buchladen zu finden war. Wenn sie nicht gerade an einem Text sitzt, verbringt sie Zeit mit ihren Australian Shepherds oder hätschelt ihre Zimmerpflanzen. 

Diana Bürgel wuchs in Hamburg, England und Indien auf, studierte Linguistik und Literarisches Übersetzen in München. 

Julian Müller hat in Berlin und München studiert und übersetzt seit 2010 englischsprachige Literatur. Er engagiert sich für die Sichtbarkeit von Literaturübersetzer:innen und lebt mit seiner Familie in Berlin.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Kaylie Smith

Phantasma – Spiel um dein Leben, fürchte die Liebe

Aus dem Amerikanischen von Diana Bürgel und Julian Müller

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Zitat

Triggerwarnung

Prolog — Sündig

Noch drei Nächte bis Phantasma

1: Mitternachtsmagie

Noch zwei Nächte bis Phantasma

2: Abschiede

3: Gerüchteküche

Eine Nacht bis Phantasma

4: Die geschäftliche Seite der Nekromantie

5: Die Angelegenheit

6: Unerlaubtes Betreten

7: Allein

Phantasma die Erste Nacht

8: Der Preis

9: Grauen

10: Der Fremde

11: Flüstern

12: Ein faires Geschäft

Phantasma die zweite Nacht

13: Nervosität

Level eins

14: Die Vorhölle

15: Ungeziefer

16: So richtig unangenehm

Phantasma die dritte Nacht

17: Der Schwur

18: Die alles entscheidende Frage

19: Eine romantische Atmosphäre

Level zwei

20: Lust

21: Du hast gerufen

22: Vergnügen

Phantasma die vierte Nacht

23: Seltsam tröstlich

24: Unterricht

Level drei

25: Gier

26: Schmecken

27: Luft zum Atmen

28: Preisgeben

Phantasma die fünfte Nacht

29: Schurkische Theatralik

30: Geheimnisse

Level vier

31: Völlerei

32: Ablenkung

Phantasma die sechste Nacht

33: Frivole Phantasie

Level fünf

34: Zorn

35: Tödliche Dummheit

36: Verflucht

37: Die Flüsterpforte

38: Alptraum

Phantasma die siebte Nacht

39: Etwas Verbotenes

Level sechs

40: Häresie

41: Zerstörung

Phantasma die achte Nacht

42: Kummer

Level sieben

43: Gewalt

44: Eng verflochten

45: Völlig erschöpft

46: Mutters Tochter

Phantasma die neunte Nacht

47: Zusammenstoß

Level acht

48: Betrug

49: Herzen

Level neun

50: Verrat

Fünf Jahrhunderte vor Phantasma

51: Gebunden

52: Befreit

Epilog — Das Vermächtnis

Anmerkung der Autorin über OCD

Ein Brief von Kaylie

Danksagung

Impressum

Wicked Games - die bösen Spiele gehen weiter ...

Für jene, die sich aus der Dunkelheit herauskämpfen mussten und trotzdem beschlossen haben, ein Licht in dieser Welt zu sein – ich bin stolz auf euch.

»Was für eine Phantasmagorie der Verstand doch ist, und ein Treffpunkt des Widersprüchlichen!«

Virginia Woolf, Orlando

Triggerwarnung

Dieses Werk enthält explizite Darstellungen sexuellen Inhalts und Szenen mit Horrorelementen sowie detaillierte Beschreibungen von Zwangsstörungen, Intrusionen und zwanghaften Ticks. Für eine ausführlichere Liste möglicher Trigger besucht bitte meine Website: www.kayliesmithbooks.com.

Prolog

Sündig

Der Teufel hatte einen sündigen Mund und eine Stimme weich wie Bourbon.

»Wie lautet deine Entscheidung?«, drängte er und fuhr mit dem Zeigefinger an einer Seite ihres Halses hinab, während seine Lippen auf der anderen Seite dicht über der Stelle ruhten, unter der ihr Puls wie wild hämmerte.

»Du hast mich reingelegt«, flüsterte sie.

Er lachte, und sein Atem streichelte ihre fieberheiße Haut.

Sie konnte kaum denken, so nah war er ihr.

Jede vernünftige Erwiderung auf seine Frage wurde von einer weiteren Adrenalinwoge aus ihrem Kopf gespült, und doch waren ihr die Ereignisse, die sie hierhergeführt hatten, mit absoluter Klarheit in den Verstand eingebrannt.

Noch drei Nächte bis Phantasma

1

Mitternachtsmagie

Mondlicht schimmerte auf dem vergoldeten Medaillon, das um den kalten Hals der Leiche lag.

Hastig löste Ophelia Grimm die Kette ihrer Mutter mit dem herzförmigen Anhänger, bevor sie aus dem magischen Kreis trat, die Hände unter ihre offenen dunkelbraunen Locken schob und sich das vertraute Schmuckstück umlegte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als das kühle Metall ihre Brust berührte, und sie spürte ein Prickeln auf der Haut.

Ophelia sank links von dem blassen Leichnam ihrer Mutter auf die Knie. Ihre Schwester Genevieve sah ihr aus ein paar Schritten Entfernung in andächtigem Schweigen dabei zu, wie sie die Silberklinge in ihrer Hand noch fester umfasste und deren scharfe Spitze in die weiche, elfenbeinweiße Haut auf der Innenseite ihres Arms drückte. Der Schnitt war tief und präzise, und es floss so viel Blut heraus, dass es zu Boden tropfte, sich zu ihren Füßen in einer Lache sammelte und den zarten weißen Stoff ihres Nachthemds in einem makabren Zinnoberrot färbte. Es roch stechend nach Eisen und Salz.

Ophelia ließ die Klinge klirrend zu Boden fallen, und Genevieve zuckte zusammen wie ein erschreckter Hase. Ophelia beachtete ihre Schwester nicht. Sie entzündete ein Streichholz und genoss das Zischen der auflodernden Flamme in der Totenstille von Grimm Manor, dem Anwesen ihrer Familie. Sie hielt das Streichholz an die Kerze, die ihr am nächsten war, und wartete, bis der Docht Feuer fing, wobei sie gegen das Wachs tippte und stumm jede Berührung mitzählte.

Eins, zwei, drei.

Als die Kerze endlich brannte, schob Ophelia sie an ihren Platz im Kreis, und sofort flackerten die anderen Kerzen um Tessie Grimms leblosen Körper auf. Die Schatten der Grimm-Schwestern streckten sich jetzt bis zur Decke, die Samtvorhänge ihnen gegenüber blähten sich stürmisch auf.

Ophelia war es gewesen, die mitten in dieser lauen Nacht schweißgebadet aufgewacht war und ihre Mutter leblos auf dem cremeweißen Chambray-Teppich gefunden hatte. Es hatte keine entsetzten Schreie gegeben, keinen Hinweis auf Panik oder irgendeine Bedrohung. Überhaupt kein Zeichen von Gefahr. Nur ihre Mutter, die auf dem Boden gelegen hatte, als hätte sie beschlossen, sich im Wohnzimmer schlafen zu legen anstatt in ihrem Bett. Hätte das fremdartige Knistern der Magie Ophelia nicht gewarnt, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte, dann hätte sie ihre Mutter vielleicht erst bei Sonnenaufgang gefunden. Und dann wäre es zu spät gewesen.

Vage war sich Ophelia bewusst gewesen, dass ihre Schwester hinter ihr die knarrenden Stufen herunterkam, doch sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um Genevieve vor dem schrecklichen Anblick zu warnen. Sie hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, ob sie oft genug gegen das Kopfteil ihres Betts geklopft und mit den Fingerknöcheln im richtigen Rhythmus gegen die Wand gepocht hatte, bevor sie eingeschlafen war. Obwohl sie doch genau wusste, dass sie das getan hatte. Ihre Zwangshandlungen waren mittlerweile Routine für sie. Das hier war nicht ihre Schuld. Unmöglich. Sie hatte alles richtig gemacht.

Kurz war Ophelia sogar der Gedanke gekommen, die Tote einfach liegen zu lassen und wieder ins Bett zu gehen, in der Hoffnung, dass sie am nächsten Morgen verschwunden sein würde, so wie alles, was ihr Verstand heraufbeschwor. Erst als sie Genevieves herzzerreißendes Schluchzen gehört und das Pulsieren der Macht in der Luft gespürt hatte, war sie aus ihrer Starre erwacht. Sie hatte Genevieve angefahren, sie solle eine Schachtel Streichhölzer holen, und war durchs Haus zum Arbeitszimmer ihrer Mutter gerannt, so schnell ihre Füße sie trugen, um dort alles nach den sieben schwarzen Kerzen zu durchwühlen, die sie brauchte, um mit der Beschwörung zu beginnen – bevor sich das Zeitfenster für immer schloss.

Ophelia war nun die Älteste der Grimms. Der Tod ihrer Mutter machte aus ihr viel mehr als nur eine Waise.

Beeil dich, dir läuft die Zeit davon, wisperte die Schattenstimme in ihrem Kopf. Wenn du dein Zeitfenster verpasst, wird das Konsequenzen haben.

Ophelia schob die Stimme fort und tauchte zwei Finger in die Pfütze ihres eigenen Bluts – vorsichtig, um den Kerzenkreis nicht zu durchbrechen und damit die eine Aufgabe zu vermasseln, auf die man sie ihr ganzes Leben lang vorbereitet hatte. Es war so weit. Die elfte Stunde. Was auch immer sie sich als Nächstes zu tun entschloss, es würde sie unwiederbringlich verändern. Sie konnte sich weigern, die Beschwörung zu Ende zu bringen, und bleiben, wer sie war, die einzige Version ihrer selbst, die sie je gekannt hatte. Oder sie setzte das Erbe ihrer Familie fort und zahlte den Preis dafür.

»Du musst das nicht tun, Ophie«, flüsterte Genevieve in die Dunkelheit. Fast flehend.

Doch Ophelia wollte um keinen Preis diejenige sein, mit der die Magie ihrer Familie endete. Auch wenn dieses Ritual sie bis ins Innerste erschütterte, es zu verweigern würde sie auf eine Weise verändern, die ihren Geist zu brechen drohte. Der Drang, die Hoffnungen zu erfüllen, die in sie gesetzt wurden, war ihr in die Knochen eingemeißelt. Untrennbar mit ihrer Seele verbunden.

Sie schloss die Augen und flüsterte die Worte jener Formel, die sie, seit sie sprechen konnte, jeden Abend aufsagte wie ein unheiliges Gebet. Die Hitze der Flammen wurde immer intensiver, und die warme Luft ließ sie am ganzen Körper erglühen, während sie sich auf die Macht konzentrierte, die auf ihrer Haut knisterte. Ein verkohlter, bitterer Geruch verätzte ihr die Nase. Der Geruch von Magie.

Als das letzte Wort von ihren Lippen getropft war, erloschen die schwarzen Kerzen eine nach der anderen. Obsidianfarbene Rauchkringel umwaberten den Kreis, während sie die blutverschmierten Finger in den aufgeknöpften Ausschnitt ihres Nachthemds schob und eine scharlachrote Sigille über ihr Herz malte.

Dann warteten sie. Ophelia gespannt. Genevieve besorgt.

Die Temperatur im Haus fiel um mindestens zehn Grad, und die Stille wurde schwer, die Dunkelheit zu bewegungslos. Auf einmal wusste Ophelia, dass sie jemand beobachtete, sie fühlte die Blicke, die sich von allen Seiten in ihre Haut brannten. Die Augen jener, die sie nicht sehen konnte. Noch nicht.

Sie wartete in der Finsternis, und es fühlte sich wie eine quälend lange Zeit an. Die Standuhr in der Eingangshalle hatte noch nicht Mitternacht geschlagen, doch Ophelia war sich sicher, dass die Magie inzwischen hätte wirken müssen. Vielleicht hatte sie etwas falsch gemacht, vielleicht hatte sie die Worte nicht richtig ausgesprochen oder nicht deutlich genug. Vielleicht war sie eine komplette Versagerin …

Ophelia schrie auf, als plötzlich Feuer durch ihre Knochen und über jeden Zentimeter ihrer Haut jagte. Sie fiel nach vorn auf die Hände, ihr Rückgrat knackte und krümmte sich unnatürlich. Sie wimmerte vor Schmerz, als die Magie ihrer Mutter ihren Körper flutete, drückte die Stirn auf den Boden in die Lache aus Blut, während sie kreischte, bis sie heiser war. Genevieve kam zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Rücken, doch sie konnte nichts tun, außer zuzusehen.

Als es endlich vorbei war, sackte Ophelia zusammen und blieb eine weitere lange Minute so liegen – versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Schließlich schaffte sie es aufzustehen, holte tief Luft und flüsterte der Dunkelheit eine Aufforderung zu. Eine Aufforderung, die ihr Schicksal für immer besiegeln würde.

Genevieve blieb der Mund offen stehen, denn die Dunkelheit reagierte – auf Ophelias gewisperten Befehl hin entflammten die Kerzen erneut. Nun jedoch brannten sie in einem silbrigen Blauton. Grimmblau.

Ophelia erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild im Fenster. Ihr Haar und ihr zartes Nachthemd waren blutverklebt. Scharlachrote Schlieren zogen sich über ihre scharfen Wangenknochen und über den Rücken ihrer feinen, spitzen Nase – ein harscher Kontrast zu ihrer Porzellanhaut. Das war es jedoch nicht, was ihre Aufmerksamkeit fesselte. Denn der Blick, der ihr entgegensah, war nicht mehr ihr eigener. Ihre Augen waren nicht länger von diesem hellen, warmen Himmelblau ihrer Kindheit. Der Farbe, die Genevieves Augen immer noch hatten. Stattdessen hatten sie ein verstörendes Eisblau angenommen, das schon fast weiß aussah. Es war dieselbe schaurige Schattierung, die auch die Augen ihrer Mutter gehabt hatten, dieselbe Farbe wie die ihrer Großmutter auf dem Ölgemälde in der Eingangshalle. Die Augenfarbe jeder Grimmfrau vor ihnen, die Magie empfangen hatte.

Und es war auch die Farbe der verschwommenen, leuchtenden Umrisse der Gespenster, die sie nun in den Schatten des Raums lauern sah.

Grimmblau.

Ein boshafter Stolz durchlief sie, doch dann wieder zwangen Trauer und Angst sie fast in die Knie. Ein Teil von ihr hatte gehofft, die Magie würde nicht auf sie übergehen und ihre Mutter wäre nicht wirklich aus dieser körperlichen Ebene verschwunden, auch wenn der kalte Leichnam zu ihren Füßen eindeutig etwas anderes bewies. Der andere Teil von ihr, der Teil, der gerade erfolgreich die Beschwörung ausgeführt und die Magie freigesetzt hatte, die nun durch ihre Adern floss, war zufrieden.

Im spiegelnden Glas flackerte eine Spuksilhouette zu ihrer Linken auf. Ein neugieriges Gespenst lächelte ihr zu, sanft und wissend, bevor es im nächsten Augenblick verschwunden war.

»Verdammt, Ophie«, hauchte Genevieve und holte Ophelia damit aus ihrer Trance. »Alles in Ordnung?«

Ophelia antwortete nicht, sondern strich mit dem Finger über das Medaillon unter ihrer Kehle. Sie tippte darauf und spürte Tränen in den Augen brennen.

Eins, zwei, drei.

Beim letzten Tippen stieß Ophelia einen Fluch aus und stolperte einen Schritt zurück, während sie ungläubig hinunter auf das Medaillon starrte. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf eine Bestätigung dafür, dass sie es sich nicht nur eingebildet hatte.

Einen Moment später pulsierte das Medaillon wieder. Im Takt des Pochens in ihrer eigenen Brust.

Ein Herzschlag.

Noch zwei Nächte bis Phantasma

2

Abschiede

W enn man einer Familie überaus erfolgreicher Nekromanten entstammte, wunderte man sich über kaum noch etwas. In Ophelias Kindheit waren täglich Leichen nach Grimm Manor gebracht und von dort wieder abgeholt worden. Es hatte Ausflüge auf den Friedhof gegeben, und sie hatte sich regelmäßig das Geschimpfe ihrer Mutter über weitere Dämonenplagen anhören müssen, die durch New Orleans fegten. Sie hatte Stunden damit verbracht, das zu wiederholen, was sie über jene paranormalen Wesen gelernt hatte, denen sie eines Tages möglicherweise begegnen würde. Gestaltwandler, Vampire, Hexen.

Doch selbst für Ophelias Verhältnisse war es seltsam, sich beim Aufwachen von Gespenstern umringt zu sehen und später festzustellen, dass sie auch in den Fluren lauerten. Sie wusste nicht, ob sie sich jemals an die hellblauen Wesen gewöhnen würde, die um sie herum auftauchten und wieder verschwanden. Die Gespenster für ihren Teil schwebten durch Grimm Manor und die Straßen von New Orleans wie ziellose Irrlichter, während Genevieve und sie sich um die Formalitäten rund um den Tod ihrer Mutter kümmerten. Wenn sie ihnen keine Aufmerksamkeit schenkte, erwiesen die Gespenster Ophelia meist dieselbe Höflichkeit. Einigen von ihnen gefiel es jedoch, sie nervös zu machen. Wenn sie versehentlich ihren Blick auffing, weigerten sie sich wegzusehen. Stattdessen beobachteten sie jede ihrer Bewegungen, als wollten sie Ophelia dazu bringen, mit ihnen zu sprechen.

Die beiden Schwestern waren seit Tagesanbruch wach. Oder besser: Sie waren bei Tagesanbruch aufgestanden. Ophelia hatte den Morgen damit verbracht, ihre Mutter darauf vorzubereiten, dass der Leichenbeschauer der Stadt sie abholte, während Genevieve alles zusammengesucht hatte, was sie brauchten, um eine Sterbeurkunde zu beantragen und eine Traueranzeige in der New Orleans Post aufzugeben. Ihnen blieb nur noch eine Stunde, bis es wieder zu dämmern beginnen würde, und die beiden Schwestern waren noch etwa einen Häuserblock von der Dienststelle des Leichenbeschauers entfernt, wo sie ihren letzten Abschied nehmen durften. Im Gegensatz zu anderen Sterblichen hielten sich Nekromantinnen nicht mit Traditionen wie Beerdigungen oder Totenwachen auf. Sie verabschiedeten sich von der körperlichen Gestalt ihrer Liebsten und warteten dann auf eine Gelegenheit, sie im Jenseits zu erreichen. Eine große Zeremonie fühlte sich einfach zu endgültig an, wenn man eine solche Verbindung zu den Toten hatte.

Ophelia fragte sich, ob die Spannung, die in der feuchten Luft hing, nur in ihrer Vorstellung existierte oder ob die Stadt fühlte, welch tragischen Verlust sie erlitten hatte. Ob sie wusste, dass Ophelia nie in der Lage sein würde, in Tessie Grimms Fußstapfen zu treten, und deswegen trauerte.

Das ungewohnte Gewicht der Magie in ihrer Mitte ließ ihren Magen rumoren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie den Drang verspüren würde, diese Magie irgendwie freizusetzen. Zu viel aufgestaute Energie würde sie innerlich auffressen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Genevieve neben ihr.

»Mir geht’s gut«, log Ophelia.

Anstatt ihre Lüge auffliegen zu lassen, ging Genevieve großmütig darüber hinweg. »Habe ich schon erwähnt, wie grässlich ich es finde, in einer so schwülen Stadt zu leben?«

»Erst ungefähr tausendmal.«

»Die Luftfeuchtigkeit ruiniert mir meine Locken«, nörgelte Genevieve weiter, als hätte Ophelia nichts gesagt. »Ich wette, nicht mal in der Hölle ist es so schwül wie hier.«

Ophelia schnaubte. »Du weißt ja, was man sagt. Kommt in die Hölle – hier gibt es zwar Teufel und Dämonen, aber wenigstens kräuseln sich eure Haare nicht.«

Genevieve rümpfte die Nase. »Uäh, sprich bloß nicht von denen. Damit lockst du sie noch an.«

So funktionierte das natürlich nicht. Vorausgesetzt, man stolperte nicht gerade zufällig über einen bestimmten Teufel oder er über einen selbst, so konnte man ihn nur heraufbeschwören, wenn man die richtigen Worte oder seinen Namen aussprach – was für die meisten paranormalen Wesen galt und was Genevieve ganz bestimmt wusste. Oder vielleicht wusste sie es auch nicht, denn Genevieve hatte nicht dieselbe Ausbildung durchlaufen wie Ophelia. Und selbst wenn – Ophelia war ziemlich sicher, dass ihre Schwester sich nichts davon gemerkt hätte. Genevieve wechselte fast immer das Thema, wenn jemand Teufel oder ähnliche Wesen erwähnte. Ophelia dagegen hatte von allen Unterrichtsstunden, die ihre Mutter ihr erteilt hatte, die über die Neun Kreise der Hölle besonders spannend gefunden. Jedenfalls spannender als die endlosen Lektionen darüber, wie man Leichen wiederbelebte, damit sie einem zu Diensten waren, wie man mit den Toten sprach und wie man verhinderte, besessen zu werden … Die Legenden über die verschiedenen Teile der Hölle waren immer Ophelias makabre Lieblingsfaszination gewesen.

Wahrscheinlich weil es an einem Ort wie der Hölle möglich schien, Phantastisches zu erleben, ganz im Gegensatz zu Ophelias täglicher Realität. Gut aussehende Teufel, Nachtmahre und Dämonen, die einen in ihre magische, gefährliche Welt entführen wollten. Wie in einem dieser Dark-Romance-Bücher, die sie in der Bibliothek von Grimm Manor las, wenn sie nicht schlafen konnte. Vielleicht sollte Ophelia die Vorstellung von Gefahr nicht so verlockend finden, doch sie hatte den Großteil ihres Lebens in den einsamen, staubigen Mauern von Grimm Manor verbracht und sehnte sich nach etwas, das ihr Herz höherschlagen ließ – nach etwas anderem als der fremdartigen Magie ihrer Mutter, die nun durch ihre Adern pulsierte.

Allmählich begriff Ophelia jedoch, dass Dinge, die man sich ausmalte, oft nur deshalb so verlockend wirkten, weil sie reine Fiktion blieben, ein ferner Tagtraum. Wie die Magie. Über Macht zu verfügen, egal in welcher Form, war Ophelia vollkommen fremd, genauso wie die Aussicht, etwas Aufregendes zu erleben oder sich zu verlieben, und sie wusste nicht, ob sie sich damit wohlfühlte, solche Kräfte zu haben. Es hatte ihr zwar nie etwas ausgemacht, ihrer Mutter dabei zuzusehen, wie sie mit den Toten umging, doch bei dem Gedanken, etwas so Zerbrechliches wie das Leben selbst manipulieren zu müssen, wünschte sie sich fast, sie hätte ihre Mutter erst entdeckt, nachdem die mitternächtliche Frist verstrichen war. Dann wäre ihre Magie nicht auf sie übergegangen.

Wenn du nicht vor Anbruch der Dunkelheit zu Hause bist, werden Genevieve und du sterben, wisperte die Schattenstimme, die wie Rauch durch ihren Verstand kroch, geweckt von ihren nervösen Gedanken.

So lange sie sich erinnern konnte, war die Stimme da gewesen, in den dunkelsten Ecken ihres Bewusstseins, hatte sie aufgefordert, durch bestimmte Türen zu gehen, sonst würde ihre Familie sterben. Hatte sie dazu gebracht, unablässig auf Gegenstände zu klopfen, um sich einen Moment der Stille in ihren Gedanken zu erkaufen, hatte sie wieder und wieder dazu gedrängt, grausame Verbrechen an den verletzlichsten Lebewesen zu begehen. Als sie jünger gewesen war, hatte sie befürchtet, sie wäre besessen und müsste ihre Familie vor ihrer Bosheit schützen. Sie hatte ihre Sachen gepackt und war schon einen guten Kilometer die Straße entlanggelaufen, bevor ihre Mutter sie gefunden und ihr erklärt hatte, dass die Schattenstimme nicht real war. Dass sie nur eine Ausgeburt ihrer Phantasie war. Mit der sie für immer würde leben müssen.

Die Sonne geht bald unter, beharrte die Schattenstimme.

Ticktack. Ticktack. Ticktack.

Sie schob die Stimme fort und konzentrierte sich stattdessen auf die Leichenhalle, die endlich vor ihnen in Sicht kam. Genevieve hakte sich bei ihr unter, als würde sie Trost suchen, und sie betraten das urige Gebäude. Das Klingeln eines Glöckchens hallte durch den Wartebereich im Eingang.

»Guten Tag, meine Lieben«, begrüßte sie ein bekanntes Gesicht. In diesem Teil der Stadt kannte man sich, der Mann war sowohl Leichenbeschauer als auch Bestatter, und wer wusste schon, welche makabren Arbeiten er sonst noch ausführte. Er war schon älter, um die sechzig vielleicht, und sein Haar grau meliert. Sein weißer Schnurrbart musste dringend gestutzt werden. »Hier entlang.«

Sie folgten ihm aus dem Wartebereich einen Gang entlang bis in den hinteren Teil des Gebäudes. Er hielt ihnen eine Tür auf und winkte sie in einen großen Raum voller Särge.

»Ich hasse das«, wisperte Genevieve.

Ophelia ließ rasch den Blick durch den Raum schweifen und blieb an dem einzigen offenen Sarg rechts von ihnen hängen. Sie schluckte schwer, trat darauf zu und hatte das Gefühl, fast an ihrem Grauen zu ersticken, als sie auf die Frau darin herabsah.

Das schlichte cremeweiße Kleid, das ihre Mutter am Abend zuvor getragen hatte, war durch ein aufwändiges schwarzes Chiffonkleid ersetzt worden, in dem ihr ohnehin schon heller Teint noch blasser wirkte. Ihre Mutter hatte dieses Kleid selbst ausgewählt, für den Fall, dass ihr Geist beschloss zu bleiben – Tessie Grimm hatte darauf bestanden, dass sie die Ewigkeit nicht im Korsett verbringen würde. Doch jetzt, da Ophelia sie in diesem Kleid aufgebahrt sah, fand sie, dass es die falsche Wahl gewesen war.

»Mist. Sie sieht darin so …« Genevieve rümpfte ihre kleine, spitze Nase. Sie war an Ophelias Seite getreten und warf ebenfalls einen Blick in den Sarg. »… gespenstisch aus. Und ich habe noch gesagt, wir hätten das Violette nehmen sollen.«

Ophelia seufzte und klopfte mit den Fingerknöcheln an die Außenseite des Sargs – eins, zwei, drei –, um ihre Gedanken zu beruhigen. Sie teilte Genevieves Meinung, was das Kleid anging, aber jetzt war es zu spät. Außerdem war die Zeitspanne, in der die Seele ihrer Mutter hätte zurückkehren können, längst verstrichen. Seelen, die beschlossen, nicht sofort auf die andere Seite überzuwechseln, kehrten wenige Stunden nach ihrem Tod zurück. Was bedeutete, dass dies tatsächlich ein endgültiger Abschied war, und das Kleid, das sie ausgesucht hatten, vollkommen unwichtig.

Ophelia wusste, dass sie glücklich darüber sein sollte, dass die Seele ihrer Mutter genug Frieden empfunden hatte, um hinüberzugehen. Genau das hatte sie sich immer wieder vorgebetet während der abscheulichen Prozedur heute Morgen, bei der sie eine Nadel durch die zarten Augenlider ihrer Mutter gestochen hatte – ein alter Nekromantinnentrick, um sicherzustellen, dass die Seele in Frieden ruhen konnte und nicht von unerwünschten Auferweckungsversuchen gestört wurde. Trotzdem war da das nagende Gefühl in ihrem Hinterkopf, das ihr einredete, dieser Abschied wäre nicht für immer. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie bisher noch keine einzige Träne vergossen hatte.

»Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden, Miss Grimm«, bat der Leichenbeschauer und tippte ihr mit dem Stift einmal vorsichtig auf den Handrücken.

Ophelia nahm den Stift und tippte weitere zwei Mal damit auf ihre Hand, bevor sie ihren Namen unten auf das Papier kritzelte, das er auf den geschlossenen Teil des Sargs gelegt hatte. Der Mann warf ihr einen schiefen Blick zu, wahrscheinlich, weil er ihren Tick bemerkt hatte, doch dann nickte er zum Dank, steckte den Stift in seine Jacketttasche zurück und tätschelte sie.

»Sind Sie wirklich sicher, dass Sie keine Autopsie wünschen?«, fragte er noch einmal. »Ich weiß, dass alles auf einen Herzinfarkt hindeutet, aber sie war eigentlich noch viel zu jung, als dass ihr Herz einfach ohne Vorwarnung …«

»Sie werden unsere Mutter nicht aufschneiden«, fiel ihm Genevieve entschlossen ins Wort. »Schlimm genug, dass Ophelia ihr die Augen zugenäh…«

Ophelia stieß ihrer Schwester den Ellbogen in die Seite. Dass man Leichen die Augen mit einem dämonengesegneten Faden zunähen konnte, um ihren Seelenfrieden zu gewährleisten, war ein gut gehütetes Geheimnis unter Nekromanten. Nicht auszudenken, dass normale Sterbliche darauf kämen, diese Praktik durchzuführen. Sie würden den Nekromanten jede Möglichkeit nehmen, einen Toten wiederzubeleben oder jemand anderen von ihm Besitz ergreifen zu lassen. Das Geschäft ihrer Mutter, mit jenen, die ihre verstorbenen Liebsten aus dem einen oder anderen grotesken Grund wiederauferstehen lassen wollten, wäre ruiniert. Nicht, dass viele über die nötige Abgebrühtheit für eine solche Aufgabe verfügten – Genevieve jedenfalls war um ein Haar das Frühstück hochgekommen, als sie gesehen hatte, wie Ophelia die letzten Stiche setzte, und auch Ophelia selbst hatte es bis zur letzten Minute herausgezögert.

»… vergessen Sie es«, brachte Genevieve ihren Satz gemurmelt zu Ende. Sie griff in die Falten ihres Kleids und zog die Papiere hervor, an denen sie den ganzen Vormittag über gearbeitet hatte. »Hier sind die Geburtsurkunde und der Nachruf, den wir geschrieben haben.«

Der Mann kratzte sich den dichten weißen Schnurrbart, und sein Blick huschte zwischen ihnen hin und her, als würde er sich fragen, was er aus ihrem seltsamen Verhalten schließen sollte. »Ich lasse so schnell wie möglich eine Kopie des Totenscheins nach Grimm Manor schicken«, versicherte er schließlich und nahm die Papiere entgegen. »Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie möchten, um sich zu verabschieden, ich warte draußen und schließe dann hinter Ihnen ab.«

Die Mädchen nickten und wandten sich wieder ihrer Mutter zu, sobald er den Raum verlassen hatte.

»Sie kommt nicht zurück, oder?«, flüsterte Genevieve.

Ophelia atmete tief ein. »Sieht nicht so aus.«

»Wir kommen schon zurecht«, sagte Genevieve, mehr zu sich selbst als zu Ophelia. »Wenn sie wirklich etwas mit dem Herzen hatte, dann war das sicher nichts, was sie an uns vererbt haben könnte. Großmutter war immerhin kerngesund, und das ihr ganzes Leben lang, und wahrscheinlich hätte sie noch viel länger gelebt, wenn der Unfall nicht gewesen wäre. Mutter würde nicht wollen, dass wir uns Sorgen machen.«

»Nein, sie würde wollen, dass wir nach vorn schauen. Es sieht ihr ähnlich, dass sie mich mit dem Familienerbe allein lässt.« Der Laut, der aus Ophelias Kehle kam, war irgendwas zwischen einem Lachen und einem Schluchzen. »Wie soll ich das ohne sie schaffen? Ich werde nie so gut sein wie sie. Ich habe gerade mal halb so viel Übung, wie sie es hatte, als ihre eigene Mutter gestorben ist.«

»Niemand erwartet von dir, dass du perfekt bist, Ophie«, beschwichtigte Genevieve.

»Doch, genau das hat sie erwartet«, konterte Ophelia und dachte an das schwer enttäuschte Seufzen ihrer Mutter, wann immer Ophelia eine Beschwörungsformel nicht richtig wiedergegeben oder nicht schnell genug mitgedacht hatte. »Von dir hat sie vielleicht nicht erwartet, perfekt zu sein, aber bei mir galten andere Maßstäbe. Und auch wenn Mutter nicht immer nur das Beste von mir erwartet hat … Ich selbst tue es.«

»Ophelia«, schimpfte Genevieve. »Das ist dir gegenüber wirklich nicht fair.«

Ophelia zog die Nase kraus, sagte jedoch nichts mehr. Genevieve verstand das nicht. Wie auch? Sie hatte Kind sein dürfen, während Ophelia in Grimm Manor festgesessen und gelernt hatte, wie man das Familienunternehmen führte. Die Schattenstimme hatte es sie nie vergessen lassen, wenn sie einen Fehler gemacht hatte.

Zwar war es ihre Großmutter gewesen, die das Geschäft der Nekromantie nach New Orleans gebracht hatte, aber Tessie Grimm war es gelungen, daraus eine Attraktion sowohl für Touristen als auch für Ansässige zu machen. In Grimm Manor hatte von Morgen- bis Abenddämmerung ein steter Besucherandrang geherrscht. Montag bis Samstag waren die Bewohner von New Orleans zu Tessie Grimm gelaufen, mit sämtlichen Spukfragen im Gepäck, die man sich nur vorstellen konnte.

Können Sie Kontakt zu meinem toten Bruder aufnehmen, damit ich ihm sagen kann, dass es mir leidtut?

Können Sie meine Freundin wiederauferstehen lassen, damit sie der Polizei sagt, dass ich es nicht war?

Können Sie einen Poltergeist dazu überreden, von meinem Ehemann Besitz zu ergreifen, damit er erträglicher wird?

Das alles ruhte nun allein auf Ophelias Schultern.

»Wir müssen nach vorn schauen«, fuhr Genevieve fort und unterbrach damit ihre Gedanken. »Hiermit abschließen, damit wir ihr Vermächtnis weitertragen können.«

»Du meinst, damit ich ihr Vermächtnis weitertragen kann«, korrigierte Ophelia sie. »Du bist nicht an Grimm Manor gefesselt. Das ist nicht deine Last, und ich würde sie dir auch niemals wünschen.«

Ophelia biss sich auf die Unterlippe und schloss kurz die Augen. Sie holte tief Luft, damit die Trauer und Angst in ihrem Innern nicht hochkochten. Sie wollte sich lieber auf ihre Wut konzentrieren. Wut darüber, dass ihre Mutter sie zurückgelassen hatte und sie die Familienmagie und das Erbe von Grimm Manor auf sich nehmen musste, lange bevor sie bereit dazu war. Sie wusste, dass es vermutlich geschmacklos war, zornig auf eine Tote zu sein, aber Wut war leichter zu ertragen als der Kummer, der ihr in den Knochen steckte. Zorn und Trotz trieben sie an, brachten sie voran, doch wenn sie sich von ihrer Trauer überwältigen ließ, würde sie sich vielleicht nie wieder aus diesem Loch befreien können.

Genevieve warf ihrer Schwester einen entrüsteten Blick zu. »Zum Teufel noch mal, als ob ich dich alleinlassen würde, Ophie. Außerdem müssen wir, was Grimm Manor betrifft, nicht sofort eine Entscheidung treffen, okay? Du musst nicht jedem Dahergelaufenen helfen, nur weil Mutter und Großmutter das getan haben. Ich weiß, das ist gerade alles ein bisschen viel, aber nur weil wir das Anwesen geerbt haben, heißt das nicht, dass wir …«

»Hör auf.« Ophelia sah wieder in den Sarg.

Genevieve presste die Lippen zusammen. Ophelia wusste nicht, wie sie es ihr sagen sollte. Ihre Schwester träumte noch immer davon, dass sie gemeinsam die Welt bereisen würden, so wie sie es einander als Kinder versprochen hatten, aber nun, da ihre Mutter fort war, stand ihre Entscheidung fest.

Sie streckte die Hand aus und strich mit den Fingerspitzen über die eingefallene Wange ihrer Mutter. Wenn sie diesen Raum verlassen hatten, würde sie Tessie Grimm nur noch in ihren Erinnerungen sehen können. Erinnerungen an die exzentrische Frau, die täglich sieben Tassen Tee getrunken und deshalb immer nach Vanille und Chai geduftet hatte, vermischt mit dem Geruch nach Zaubersalzen und Magie. An ihre beruhigende Stimme, mit der sie vor dem Mittagessen in der Bibliothek Bücher vorgelesen hatte, und an das metallische Klirren der Klingen bei ihren abendlichen Fechtstunden. Daran, wie sie Ophelia die Regeln der Magie gelehrt und sich um die Toten gekümmert hatte, während Genevieve im Salon Klavierunterricht bekam. An den Duft nach Gumbo, dem typisch Louisianischen Eintopf, und honigsüßem Maisbrot an jedem Sonntag im Winter.

»Eines Tages sehen wir uns wieder«, schwor Ophelia.

Wenn du nicht in den nächsten fünf Sekunden dreimal an diese Tür klopfst, meldete sich die heimtückische Schattenstimme in ihrem Kopf zu Wort, dann stirbst auch du.

Ophelia schnappte nach Luft, und Bilder von ihrem eigenen vorzeitigen Tod flackerten vor ihrem inneren Auge auf. Eine Schattengestalt, die ihr weiches Fleisch in Fetzen riss, mit Krallen, so lang wie ihre Finger.

Ticktack.

Ihre Muskeln verkrampften sich, Adrenalin rauschte durch ihre Adern, und mit hektischen Bewegungen wandte sie sich der Tür zu.

»Ophelia? Fuck. Ist es etwa wieder die Stimme?« Genevieve eilte in ihren rosa Taftröcken hinter ihr her, eine Hand besorgt nach ihr ausgestreckt.

Ticktack. Ticktack. Ticktack.

Ophelia stolperte über ihren eigenen Rocksaum, als sie einen Satz auf die Tür zu machte, doch sie schaffte es, dreimal gegen das dicke Holz zu klopfen, bevor die Schattenstimme die Sekunden heruntergezählt hatte. Dann herrschte Stille. Die Stimme war fort, in ihrem Kopf verdunstet wie Nebel.

»Alles in Ordnung, meine Lieben?«, sagte der Leichenbeschauer von der anderen Seite der Tür. »Haben Sie geklopft? Die Tür ist nicht abgeschlossen, wissen Sie.«

Keine von ihnen machte sich die Mühe, irgendetwas zu erklären, stattdessen riss Genevieve die Tür auf, und sie traten hinaus. Einen Moment sah der Mann sie mitleidig an, dann schloss er hinter ihnen ab und führte sie zum Ausgang. Genevieve warf ihm böse Blicke zu, sie konnte es nicht ausstehen, bemitleidet zu werden.

»Viel Glück.« Der Mann senkte den Kopf, als sie in die Spätnachmittagssonne hinaustraten, und Ophelia nickte zum Dank. Ihre kleine Schwester hingegen hielt sich nicht mit Höflichkeiten auf, sondern ging einfach davon.

3

Gerüchteküche

Noch immer lag die seltsame Spannung in der Luft, die Ophelia schon auf dem Weg zur Leichenhalle gespürt hatte. Die Vorstellung, sich von ihrer Mutter verabschieden zu müssen, hatte sie in einen so dichten Gefühlsnebel eingehüllt, dass sie zuvor an nichts anderes hatte denken können als an ihre Trauer. Jetzt aber merkte sie, dass New Orleans an diesem Abend irgendwie anders war.

In den Straßen des Garden District war es trotz der letzten Strahlen der Abendsonne dunkler als sonst. Die Absätze ihrer Stiefel klackerten auf dem Kopfsteinpflaster des Gehsteigs, den sie und Genevieve entlangliefen. Normalerweise war das Viertel zu dieser Zeit noch voller Kutschen mit Touristen, die alles in Beschlag nahmen, während ferne Jazzklänge durch die Luft waberten. Doch heute Abend war die Straße, die sich vor ihnen ersteckte, verlassen, eingehüllt in Schatten und eine Stille, die Ophelia laut und deutlich verkündete, dass etwas Heimtückisches bevorstand.

»Wir müssen nach Hause«, drängte sie und ließ den Blick umherhuschen. »Irgendwas stimmt hier nicht.«

»Wovon redest du?«, fragte Genevieve und hob eine Augenbraue. »Ist doch nichts los. Es sind noch nicht mal Leute unterwegs.«

»Eben«, murmelte Ophelia. »Wir sind mitten in der Touristensaison – warum ist es so still?«

»Vorhin war es auch schon still«, erwiderte Genevieve. »Vielleicht wollte niemand riskieren, nass zu werden. Die Wolkenfront da kommt schon gefährlich nahe.«

Ophelia legte den Kopf in den Nacken und spähte hinauf zu den schweren, grauen Wolken. Vielleicht hatte Genevieve recht, und niemand wollte vom Regen überrascht werden. Aber das erklärte den Knoten in ihrem Magen nicht. Und es erklärte auch nicht, warum ihr die Zweige der Lebenseichen, die die Straßen säumten, noch knorriger vorkamen als sonst oder warum die feuchte Luft das Atmen schwerer machte als üblich.

Ophelias Puls beschleunigte sich, als sie irgendwo tief in den Schatten hinter den kunstvollen schmiedeeisernen Zäunen der Häuser rechts von ihnen etwas vorbeihuschen sah. Sie drängte sich an ihre Schwester. Vor einem Café an einer Kreuzung blieben sie stehen. Ein Windstoß fuhr unter ihre dicken Röcke, gefolgt von dem vertrauten Duft nach frittierten Backwaren und Puderzucker.

»Oh!« Genevieve nahm Ophelia am Unterarm und zog sie in Richtung Café. »Ganz kurz, Ophie. Da ist eine Freundin.«

Bevor Ophelia protestieren konnte, betrat Genevieve das Café und rief einem Mädchen, das Ophelia noch nie gesehen hatte, eine schrille Begrüßung zu. Sie trat näher und spähte durch die Glastür, die hinter Genevieve zugefallen war. Die Vertrautheit, mit der ihre quirlige kleine Schwester der Fremden in die Arme fiel, bescherte ihr einen Kloß im Hals. Es gab keinen Menschen auf der Welt außer Genevieve, den Ophelia gut genug kannte, um ihn so zu begrüßen.

Ihre Schwester hingegen plauderte fröhlich mit dieser hellblonden jungen Frau, ein Funkeln in den himmelblauen Augen, das Ophelia schon lange nicht mehr an ihr gesehen hatte.

Während du deiner Mutter dabei geholfen hast, die Toten anzurufen, hat deine Schwester Freunde gefunden, sagte die Schattenstimme. Du hasst sie dafür, nicht wahr? Wünschst du dir nicht, du könntest ihr wehtun? Sie bluten lassen? Alle halten sie für perfekt, witzig und hübsch, und du bist …

»Aufhören.« Sie klopfte gegen die Scheibe.

Eins, zwei, drei.

Die Stimme verstummte.

»… hast du’s schon gehört?«, sagte da jemand hinter ihr in einem tiefen Bariton. »Farrow Henry behauptet, er würde gehen. Aber der hält es dort keine zwei Nächte aus, wenn die Gerüchte stimmen.«

Ophelia drehte sich um und sah zwei junge Männer auf sich zukommen.

»Richard Henrys Neffe?« Der andere lachte. »Der wurde doch mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Ich wette zwanzig Silberstücke, dass er am ersten Abend die Koffer packt, weil ihm sein Zimmer nicht luxuriös genug ist.«

»Der kann sich glücklich schätzen, wenn er nicht in den ersten zwei Stunden einen Herzinfarkt erleidet«, pflichtete ihm der Erste bei.

Sie hatten die Straße überquert und drängten sich an Ophelia vorbei ins Café, wobei der erste und größere der beiden sie kaum eines Blickes würdigte. Der andere sah ihr kurz in die Augen und zuckte zusammen, bevor er durch die Tür ging. Die Männer hielten direkt auf Genevieve zu, und Ophelia schluckte schwer, als ihre Schwester lachend den Kopf zurückwarf und den Größeren für irgendetwas, was er gesagt hatte, mit einer Berührung belohnte, die fast vertraut wirkte. Trotz der wirklich sehr überzeugenden Vorstellung, die Genevieve da ablieferte, wusste Ophelia, dass nicht alles in Ordnung war. Sie kannte sie zu gut, um zu übersehen, dass ihre Schwester eine Maske aufgesetzt hatte, unter der sie ihren Schmerz versteckte. Vermutlich hatte sich die Neuigkeit noch nicht in den gesellschaftlichen Kreisen von New Orleans herumgesprochen, und Genevieve war ganz sicher nicht diejenige, die ein fröhliches Zusammentreffen mit einer so traurigen Enthüllung trüben würde.

Ophelia musste sich abwenden. Genevieve hatte ein Leben außerhalb von Grimm Manor. Sie hatte Freundschaften geknüpft und Erinnerungen geschaffen mit Menschen, deren Namen Ophelia nicht einmal kannte.

Bevor sie tiefer in diese negative Gedankenspirale stürzen konnte, flammte in der Scheibe ein Lichtblitz auf. Sie stolperte zurück, fuhr herum und vergaß fast zu atmen. Dann konnte sie es sehen.

Da, wenige Meter vor ihr, war ein Gespenst. Nebeldunst umgab es, von demselben Eisblau, wie sie es auch bei den anderen wahrgenommen hatte. Grimmblau. Natürlich.

Das Gespenst legte den Kopf schief.

Ophelia schluckte. »Ich bin nicht die, die du suchst.«

Der Geist schwebte näher.

»Geh weg.« Ophelia versuchte, das Gespenst mit der Hand zu verscheuchen. »Ich bin nicht sie, sie ist tot. Und ich werde auch niemals sein wie sie. Lass mich in Ruhe.«

Alle in New Orleans kannten die berühmte Nekromantin Tessie Grimm. Sogar die Toten. Vor allem die Toten.

Der Geist öffnete den Mund, als wollte er sich gegen Ophelias Behauptung zur Wehr setzen, aber bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, lief jemand genau durch ihn hindurch, und seine Gestalt löste sich auf wie eine Rauchwolke.

»Es ist hier, jede Wette«, sagte der Mann, der gerade, ohne es zu merken, durch das Gespenst hindurchgelaufen war, zu seiner Begleitung, und sie steckten die Köpfe zusammen. »Da hinter der alten Kathedrale, wo früher der Friedhof war. Emma meinte, sie hätte es dort gesehen.«

Ophelia horchte auf. Sie hatte also recht. Es gab einen Grund für diese seltsame Stille, in der statt wie sonst Stimmengewirr nur geflüsterte Gerüchte umherschwirrten … irgendetwas Böses lag in der Luft.

Sie zog die Tür des Cafés auf und ging auf das Grüppchen zu. Genevieve und ihre Freunde sahen nicht einmal von ihrer Unterhaltung auf – ihrer sehr gedämpften Unterhaltung.

Ophelia räusperte sich. »Genevieve?«

Genevieve unterbrach sich und sah ihre Schwester erstaunt an. Als hätte sie vergessen, dass sie auch noch da war. »Oh. Ophie.«

»Es ist fast dunkel«, sagte Ophelia. Eine weitere Erklärung war nicht nötig. Genevieve wusste, dass diese Feststellung eine sofortige Reaktion verlangte.

Mit einem Seufzen wandte sie sich ihren Freunden zu. »Tut mir leid, ich muss gehen. Aber ich melde mich, wegen Abendessen gehen. Es gibt viel zu erzählen.«

Die anderen nickten und beäugten Ophelia neugierig, aber niemand machte sich die Mühe, sie zu begrüßen oder sich vorzustellen. Was Ophelia nur recht war – ihr war sowieso nicht nach Gesellschaft zumute.

Als sie wieder auf der Straße standen und die Tür hinter sich geschlossen hatten, fragte Ophelia: »Wer war das?«

»Nur ein paar Bekannte«, gab Genevieve mit einer beiläufigen Handbewegung zurück.

»Und woher kennst du sie?«

Genevieve sah sie mit blitzenden Augen an. »Ich treibe mich nirgendwo rum, falls du darauf hinauswillst.«

»Natürlich nicht.« Ophelia schüttelte den Kopf und hakte sich bei ihrer Schwester unter, um sie die Straße hinunterzuziehen, weil es über ihrer Schulter schon wieder leuchtend blau aufblitzte. »Du hast mir nur noch nie von ihnen erzählt.«

»Ist alles okay bei dir?«

Zu ihrer Rechten ein weiteres grimmblaues Leuchten. Ophelia erstarrte, als ihr Blick den eines weiteren Gespenstes traf.

»Ophie? Du siehst aus, als hättest du ein … oh.« Ihre Augen wurden groß. »Es ist so weit, oder? Du kannst sie sehen.«

»Lenk mich ab«, flehte Ophelia. »Worüber habt ihr da drinnen gesprochen?«

Sie ließen den Garden District hinter sich.

»Ähm …« Genevieve zögerte. »Farrow Henry! Ja. Genau. Nur Gequatsche über den berühmtesten Junggesellen von New Orleans.«

»Kennst du ihn?«, fragte Ophelia. »Die zwei Typen, die dazugekommen sind, haben auch über ihn gesprochen.«

»Nein. Doch. Nein.« Genevieve schüttelte frustriert den Kopf. »Er hat mich letztes Jahr auf einen Ball eingeladen. Sein Vater ist Chef von einer dieser Mardi Gras Krewes, einem Karnevals-Ballkomitee mit Namen Mystick.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass du je auf einen Ball gegangen wärst«, sagte Ophelia.

»Bin ich auch nicht«, schnaubte Genevieve. »Ich wollte – hatte auch ein Kleid und alles, aber dann hat mich dieser Scheißkerl versetzt und eine andere mitgenommen. Ich bin trotzdem zur Mystick-Parade gegangen. Konnte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ihn ein bisschen zu ärgern.«

Ophelia hob die Augenbrauen und spürte ein Lachen in sich hochsprudeln. Genevieve hatte eine ziemlich scharfe Zunge, wenn es drauf ankam. Trotzdem machte sie der Gedanke, dass jemand Genevieves Gefühle verletzt hatte, wütend – ganz zu schweigen davon, wie lachhaft es war, dass jemand eine bessere Begleitung als ihre Schwester gefunden haben wollte. Genevieve hielt sie für voreingenommen, aber die Tatsache, dass monatlich Liebesbriefe von verschiedensten Verehrern in Grimm Manor eintrudelten, sprach für sich.

»Er muss jedenfalls strohdumm sein, wenn er seine Chance bei dir vertut«, kommentierte Ophelia.

»Das passt schon. Ich habe es aus Rache hinten auf dem Festzugswagen mit seinem besten Freund getrieben.«

Die Sonne versank hinterm Horizont, und instinktiv beschleunigten sie ihre Schritte, liefen vorbei an den farbenfrohen Häusern der Innenstadt. Es gab zwei goldene Regeln, die ihre Mutter ihnen über New Orleans nach Einbruch der Dunkelheit eingeschärft hatte. Die erste lautete: Wenn die Dunkelheit dich anschaut, schau niemals zurück. Denn das war ein sicherer Weg, von einem Teufel gefangen zu werden.

Teufel streiften schon so lange durch New Orleans wie Hexen und Vampire – länger sogar. Ophelia war noch nie einem begegnet, und trotz all dem, was sie von ihrer Mutter über diese heimtückischen Wesen gelernt hatte, war sie nicht auf ein Zusammentreffen vorbereitet. Noch nicht.

Die zweite Regel lautete: Wenn du die erste gebrochen hast, gehe niemals einen Pakt mit einem Teufel ein. Es sei denn, du willst deine Seele verlieren. Eine Grundregel, die viele neugierige Touristen nicht zu beherzigen schienen, denn sie strömten nur so an Orte wie New Orleans – Orte mit magischen Wurzeln – und hielten nach Dingen Ausschau, von denen sie keine Ahnung hatten.

Wer sich von der Faszination für Wesen leiten ließ, die im Dunkeln lauerten, war in den seltensten Fällen sonderlich begeistert, wenn er tatsächlich einem begegnete.

Ophelia sah sich um. Außer ihnen entdeckte sie nur wenige andere Leute: ein paar Händler, die gerade ihre Arbeit beendet hatten, und einige mutige Straßenkünstler, die ihr Tagwerk begannen. Das beruhigte sie zwar nicht, aber wenigstens waren sie nicht ganz allein.

Wie um diese Tatsache zu untermauern, rauschte eine Kutsche an ihnen vorbei. Das Klipp-Klapp der Pferdehufe auf dem Straßenpflaster verschmolz mit verführerischen Jazzklängen, die in der Ferne zu einem Crescendo anschwollen. Ein entgegenkommendes Paar schüttelte den Kopf über die Arm in Arm laufenden Schwestern. Ophelia konnte nicht sagen, ob sie irgendetwas an ihnen auszusetzen hatten oder ob die Neuigkeit über den Tod ihrer Mutter doch bereits die Runde gemacht hatte und sie sich genötigt fühlten, ihnen ihr Beileid zum Ausdruck zu bringen. So oder so, der eiskalte Blick, den Ophelia ihnen zuwarf, genügte, um sie zusammenzucken und weitereilen zu lassen.

»Sieht aus, als wäre Moms Gabe auf dich übergegangen. Du beunruhigst die Leute«, sagte Genevieve und zog die Nase kraus. »Ich muss zugeben, Ophie – es ist nicht gerade leichter geworden, dich anzuschauen.«

Dass ihre Schwester Ophelias neue Augenfarbe verstörend fand, war keine Überraschung. Genevieve hatte stets Probleme damit gehabt, ihrer Mutter direkt in die Augen zu sehen, und nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie die Familientradition nicht fortführen würde, sollte Ophelia tragischerweise ohne Nachkommen sterben.

Die Irritation, mit der andere auf ihre seltsame kleine Familie reagierten, hatte Genevieve schon immer gestört, und ab einem gewissen Alter hatte sie sich sogar geweigert, ihre Mutter in die Stadt zu begleiten, weil sie auf Genevieves Freunde aus der feinen Gesellschaft hätten treffen können. Ophelia hatte sich noch nie daran gestört.

Vielleicht weil Ophelia wusste, dass sie eines Tages dasselbe Schicksal erwartete. Oder vielleicht war es Genevieve auch unangenehm, weil ihre Freunde es ihr eingeredet hatten. Ophelia hingegen hatte nie eine Clique gehabt, die einen derartigen Gruppenzwang auf sie hätte ausüben können. Die wenigen Gelegenheiten, bei denen Ophelia sich auf einen Verehrer eingelassen hatte, hatten in kurzen, leidenschaftlichen Affären geendet, die genauso schnell im Sande verlaufen waren, wie sie begonnen hatten. Nicht ein Einziger hatte es je so weit gebracht, dass sie ihn mit nach Hause genommen hätte.

Ophelia konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob sie ohne ihre Mutter überhaupt in der Lage sein würde, sich in diese Gesellschaft zu integrieren. Mit dem Tod kannte sie sich aus. Die wahre Herausforderung war das Leben.

Da erschauderte Genevieve neben ihr und sah mit einem seltsamen Blick über ihre Schulter.

»Was ist?«, fragte Ophelia.

Genevieve zögerte. »Einer meiner Freunde hat vorhin was gesagt … über …« Sie schüttelte den Kopf. »Egal. Lass uns einfach nach Hause gehen. Mir ist kalt.«

»Nehmen wir uns eine Kutsche«, sagte Ophelia bestimmt, weil sich die Nacht weiter herabsenkte. »Ich weiß, wir sollten das Geld sparen, aber ich will keine Sekunde länger hier draußen unterwegs sein.«

Eine Nacht bis Phantasma

4

Die geschäftliche Seite der Nekromantie

Jemand hämmerte an die Haustür.

Mit einiger Mühe öffnete Ophelia die Augen und kämpfte sich widerwillig aus dem Bett. Sie suchte nach irgendetwas zum Anziehen, damit sie vorzeigbar aussehen würde, dann ging sie hinunter, um zu nachzusehen, was der Tumult sollte.

Genevieve steckte den Kopf aus ihrer Zimmertür, wütend über die viel zu frühe Störung. Aus den verschwollenen Augen ihrer Schwester schloss Ophelia, dass sie beide nicht viel Schlaf abbekommen hatten. Sie selbst hatte bis in die Hexenstunden wach gelegen – die Zeit zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens, wenn der Schleier zwischen der Welt der Sterblichen und der anderen Seite am durchlässigsten war. Unaufhörlich hatten ihre Gedanken um die Zukunft gekreist, um ihre Magie und das seltsame Medaillon, das unter ihrer Kehle pulsierte …

Ophelia rieb sich die Augen und riss die Haustür auf. Hektisch blinzelte sie gegen das grelle Morgenlicht an, das hereinflutete. Als sich ihre Sicht endlich klärte, konnte sie zwei Männer auf der Veranda ausmachen, die sie nicht kannte und die außerdem aussahen, als befänden sie sich so früh an diesem Morgen überall lieber als auf diesem Anwesen – was ihr zufälligerweise ebenfalls recht gewesen wäre.

»Ophelia Grimm?«, fragte der eine.

Es war ein älterer, untersetzter Gentleman mit einem dichten, grau melierten Schnurrbart, der leicht schief gestutzt war. Sein Kollege war deutlich jünger und schlanker. Bart und Haare waren leuchtend rot, was in auffälligem Kontrast zu seinem dumpfgrauen, dreiteiligen Anzug stand. Argwöhnisch musterten beide Männer die wuchernden Rosen, die sich um die Stützpfeiler der Veranda rankten und mit ihren Dornen fast bedrohlich wirkten. Vermutlich fanden sie dieses Dickicht vor der Haustür sonderbar, doch Rosen waren nun mal Tessie Grimms bevorzugtes Mittel gewesen, um unerwünschte Gespenster aus- und heraufbeschworene einzusperren. Grimm Manor war von Rosen umgeben. Kräftige Ranken krochen an der Hausfassade hinauf, wanden sich um Zäune und Gartentore.

Sind Rosen rot, so bannen sie den Tod, hatte ihre Mutter stets rezitiert.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Ophelia nicht direkt unfreundlich, aber doch in einem Tonfall, der durchklingen ließ, dass dies nicht unbedingt die passendste Zeit für einen Besuch war. Genevieve trat hinter sie und funkelte die beiden Männer an.

»Verdammte Scheiße, wer klopft denn so früh am Morgen an irgendwelche Haustüren?«, fauchte Genevieve. »Unsere Mutter kann keine Termine mehr annehmen. Wenn einer Ihrer Verwandten tot ist, dann müssen Sie eben einfach damit klarkommen wie wir alle!« Ophelia presste die Lippen zusammen, um nicht loszulachen. Die Männer wirkten weniger amüsiert.

»Bitte entschuldigen Sie den unangemeldeten Besuch«, sagte der Schnurrbärtige. »Mein Name ist Mr. Mouton, und das hier ist Mr. Lafitte. Wir kommen von der New Orleans City Bank. Dürfen wir eintreten?«

»Warum?«, blaffte Genevieve.

»Es gibt da eine Angelegenheit, die wir klären müssen. Wegen Ihrer, ähm, Mutter. Man hat uns über ihr kürzliches … Dahinscheiden informiert. Unser Beileid.«

Genevieves Augen wurden schmal. »Eine Angelegenheit?«

»Bezüglich der Nekromantie?«, hakte Ophelia nach.

»Nein.« Mr. Mouton schüttelte den Kopf. »Es geht um die finanzielle Lage von Grimm Manor.«

»Was soll das heißen? Das Anwesen befindet sich seit fast einem Jahrhundert im Besitz unserer Familie.«

»Leider scheint Ihre Mutter es als Sicherheit für einen Kredit eingesetzt zu haben, und …«

»Geh ruhig wieder schlafen, Ophie, ich mache das hier schon«, bot Genevieve an und schob sich vor Ophelia. »Wir müssen ja nicht beide heute Morgen noch Kopfschmerzen kriegen.«

Die Bemerkung hatte beiläufig geklungen, doch ihre verspannten Schultern machten Ophelia misstrauisch.

Bevor sie Genevieves Angebot ablehnen konnte, platzte der Rothaarige heraus: »In diesem Haus hier spukt es, oder?«

»Oh, um Himmels willen, Mr. Lafitte«, tadelte Mr. Mouton seinen Kollegen, bevor er sich wieder an die Mädchen wandte. »Ich muss mich entschuldigen, er kommt nicht von hier. Er kennt sich mit gewissen … Wesenheiten nicht aus, die wir hier in unserer kleinen Gemeinschaft haben.«

»Ich habe die Sache mit der Nekromantie für einen Scherz gehalten«, gab Mr. Lafitte erschüttert zurück.

»Wie ich gerade sagen wollte«, fuhr Mr. Mouton fort. »Ihre Mutter hatte Schulden. Es gibt da einige Dokumente, die Sie sich ansehen und unterzeichnen müssten, und Dinge, die wir besprechen sollten. Wären Sie bereit, uns in die Stadt zu begleiten?«

»Ich mach das schon«, bot Genevieve noch einmal an.

»Können Sie sich ausweisen, Mr. Mouton?«, meldete sich Ophelia zu Wort, bevor Genevieve aus dem Haus treten konnte. »Woher sollen wir wissen, dass Sie nicht vorhaben, uns zu entführen?«

Der Mann schnaubte, schob jedoch eine Hand in die Manteltasche und zog eine Visitenkarte hervor. Auf das dicke Papier war das offizielle Siegel der New Orleans City Bank geprägt, und darunter stand sein Name.

»Siehst du, Ophie? Alles in Ordnung«, betonte Genevieve. »Geh wieder schlafen, ich …«

»Leider«, fiel Mr. Mouton ihr ins Wort, »muss ich Sie beide bitten, mich zu begleiten, da Ihnen das Anwesen zu gleichen Teilen gehört.«

Die Muskeln an Genevieves Kiefer traten leicht hervor, aber sie nickte. »Geben Sie uns einen Moment, um abzuschließen.«

»Als ob irgendjemand hier einbrechen würde«, murmelte Mr. Lafitte, als Mr. Mouton verkündete: »Vor dem Gartentor dort drüben steht unser Auto. Wir warten.«

Ophelia kehrte ins Haus zurück, um den Schlüssel vom Tisch im Flur zu holen. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus wegen der Worte des Mannes und wegen Genevieves merkwürdiger Reaktion. Finanziell dürfte es eigentlich keine Probleme geben. Ihr Erbe sollte reichen, um gleich drei Häuser zu kaufen, wenn sie es wollten.

Ophelia atmete tief durch und tippte dreimal auf den Schlüssel in ihrer Hand, bevor sie ihn in die Tasche ihres schwarzen Nadelstreifenrocks steckte. Sie griff nach dem ebenfalls schwarzen Samtband, das auf dem Flurtisch lag, wand es sich um die weichen Locken und band es zu einer Schleife. Dann steckte sie noch ein paar Münzen ein – nur zur Sicherheit.

Als sie abgeschlossen hatten, schritten die beiden Schwestern die lange Auffahrt hinunter auf das Automobil zu, das vor dem Gartentor parkte. Der Motor röhrte, und der Auspuff stieß übel riechenden Qualm aus, weshalb Ophelia das Gesicht verzog, während sie ihre Handschuhe aus der Tasche holte und überstreifte. Mr. Lafitte stieg auf der Beifahrerseite aus und sah ihnen mit skeptischer Miene entgegen. Dann zog er an einem Metallhebel hinter seinem Sitz, der daraufhin nach vorne klappte. Mit einer einladenden Geste wies er die Mädchen an, auf die Rückbank zu klettern. Bevor sie sich jedoch in das Auto zwängen konnten, hörten sie das Klappern von Pferdehufen. Eine Kutsche tauchte in der Ferne auf und näherte sich ihnen. Alle hielten inne.

»Was denn jetzt noch?«, murmelte Ophelia.

Eine Frau mittleren Alters mit stumpfbraunem Haar beugte sich aus dem Kutschenfenster. »Hallo … ich habe einen Termin. Um acht … bei Tessie Grimm. Das hier ist doch ihr Haus, oder?«

Genevieve sah der Frau fest in die Augen. »Sie ist tot.«

Ophelia schnalzte missbilligend mit der Zunge, während ihre Schwester sich bereits abwandte, nach der Hand griff, die Mr. Lafitte ihr sichtlich widerwillig anbot, und ins Auto kletterte.

Ophelia wandte sich wieder der Frau zu. »Es tut mir leid, aber alle Termine sind abgesagt. Wir sind nur noch nicht dazu gekommen, uns zu melden.«

Erschrocken und mitleidig starrte die Frau sie an, eine Hand auf die Brust gelegt. »Es tut mir leid, das zu hören. Ich habe gerade neulich noch mit ihr gesprochen …«

»Das haben wir auch«, rief Genevieve aus dem Auto.

»Sie müssen meine Schwester entschuldigen.« Ophelia kniff sich in die Nasenwurzel, dann winkte sie der Frau zum Abschied zu und wandte sich ab, um sich neben ihre Schwester auf den Rücksitz zu quetschen. Als sie beide saßen, klappte Mr. Lafitte seinen Sitz wieder zurück, stieg ebenfalls ein und schlug die Tür zu.

»Musst du immer so unverschämt sein?«, flüsterte Ophelia ihrer Schwester zu.

Genevieve rollte mit den Augen und ließ sich gegen die gepolsterte Lehne sinken.

»Bequem, nicht wahr?«, fragte Mr. Mouton und schaltete in den ersten Gang. »Es ist das allerneueste Modell«, fuhr er fort, ohne auf eine Antwort zu warten.

Keines der Mädchen machte sich die Mühe, etwas zu erwidern, sie falteten nur sittsam die Hände im Schoß und schauten aus den Fenstern, während sie Grimm Manor hinter sich ließen. Die nächsten zehn Minuten verbrachten die beiden Männer damit, sich über Autos zu unterhalten, was vermutlich das Langweiligste war, was Ophelia in ihrem ganzen Leben gehört hatte. Irgendwann verstummten sie abrupt.

»Dann ist es also wahr«, sagte Mr. Mouton leise, den Kopf zum Fahrerfenster gedreht.

Mr. Lafitte, der seinem Blick gefolgt war, erschauderte. »Habe ich Ihnen doch gesagt. Angeblich soll es einfach … aufgetaucht sein.«

Ophelia rutschte näher zu ihrer Schwester und drückte sich an Genevieves warmen Körper, um ebenfalls hinausschauen zu können. Das Medaillon auf ihrer Brust begann zu pulsieren, doch durch das kleine Fenster konnte sie nichts weiter als eine Menschentraube sehen. Genevieve fing ihren Blick auf und zuckte mit den Schultern.

»Ich war immer der Meinung, dass nur Verrückte solche Gerüchte glauben«, sagte Mr. Mouton. »Jeder, der dumm genug ist, durch diese Tore zu gehen, hat verdient, was ihn dort erwartet.«

Ophelia blendete die Stimmen der Männer aus und legte die Stirn gegen das Fenster auf ihrer Seite. Das Glas war feucht von der schwülen Morgenluft, und sie war so müde. Noch schlimmer, sie war müde und machte sich Sorgen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, was es mit den Finanzen ihrer Mutter für Probleme geben sollte. Offenbar so ernste Probleme, dass die Bank jemanden zu ihnen nach Hause schickte. Ihre Mutter hatte sie immer glauben lassen, das Anwesen wäre abbezahlt und sie müssten nur genug verdienen, um alles instand zu halten und ihre alltäglichen Ausgaben zu decken. Trotzdem war das Geld knapp. Sie waren vom Verdienst ihrer Mutter abhängig gewesen und von dem, was die Kunden ihnen ins Haus brachten.

Kurz fragte sich Ophelia, ob sie vielleicht eine Art Erbschaftssteuer zahlen oder ihre Wertgegenstände veräußern mussten, um Grimm Manor auf sich überschreiben zu lassen. Aber abgesehen von ein paar Schmuckstücken und den Antiquitäten, die ihre Mutter gesammelt hatte, gab es nichts, was sich zu verkaufen lohnte. Ihren wertvollsten Besitz trug Ophelia um den Hals.

Als wüsste das Medaillon, was sie dachte, begann es wieder zu pulsieren. Die Goldkugel befand sich schon seit Generationen in Familienbesitz und war mit einem mächtigen Zauber belegt, der sie an ihre Trägerin band. Ihre Mutter hatte immer behauptet, das Medaillon würde sie durch schwere Zeiten leiten und dass es dies eines Tages auch für Ophelia tun würde.

Sie senkte den Blick und rieb mit dem Daumen über das geprägte, damastartige Muster der Fassung, fuhr über den karmesinroten Stein in der Mitte. Dann drehte sie den Anhänger um und las die vertrauten Worte auf der Rückseite: Folge deinem Herzen.

Fast hätte sie geschnaubt. Was für ein Klischee und so viel leichter gesagt als getan. Ophelia schob einen Fingernagel in den Verschluss des Medaillons und versuchte, es zu öffnen. Es bewegte sich nicht. Ihre Mutter hatte also nicht gelogen, die vielen Male, die Ophelia sie gefragt hatte, ob sie nicht nachsehen könnte, was sich im Innern des Anhängers verbarg.

»Du zappelst«, murmelte Genevieve neben ihr, die geistesabwesend an ihren perfekt manikürten Fingernägeln herumfummelte.

Ophelia sah ihre Schwester an. »Ich bin nervös, du nicht?«

Genevieve ließ die Hände wieder in den Schoß sinken und drehte sich zum Fenster, verbarg ihre Miene. »Das wird schon.«

Ophelia verengte die Augen zu Schlitzen. »Weißt du irgendwas darüber?«

Bevor Genevieve antworten konnte, bog das Auto scharf nach rechts ab, und Ophelia wurde gegen sie gedrückt.

»Da wären wir«, verkündete Mr. Mouton. »Die New Orleans City Bank.«

5

Die Angelegenheit

Das … verstehe ich nicht.«

Mr. Mouton seufzte, wohl aus Frust, weil er es Ophelia zum dritten Mal erklären musste oder weil er allmählich zu dem Schluss kam, dass sie einfach zu begriffsstutzig war zu begreifen, was er ihr sagen wollte.

Er fummelte an seiner Krawatte herum und beugte sich vor, um mit der freien Hand auf das Dokument vor ihr zu deuten. »Ihre Mutter hat die Zahlungen vor ein paar Monaten eingestellt. Sie war eine wichtige Stütze unserer Gesellschaft, und wir erkennen an, was sie für die trauernden Familien in New Orleans getan hat. Wir haben versucht, diese Unannehmlichkeit so lange wie möglich hinauszuzögern, aber vor zwei Monaten hat die Bank den Zwangsvollstreckungsprozess eingeleitet. Der heutige Tag markiert den Beginn des letzten Monats, bevor das Anwesen in unseren Besitz übergeht. Wir brauchen Ihre Unterschrift als Bestätigung, dass Sie über diese Angelegenheit informiert wurden.«

»Aber warum hat sie überhaupt einen Kredit aufgenommen? Grimm Manor befindet sich seit Generationen in Familienbesitz. Meine Schwester und ich haben unser ganzes Leben dort verbracht, und ich habe kein einziges Mal einen Mahnbrief gesehen oder …«

Er unterbrach sie, indem er zweimal auf die entsprechende Zeile tippte. »Hier steht, dass sie aus persönlichen Gründen einen Bargeldkredit beantragt und das Anwesen als Sicherheit hinterlegt hat. Fast fünfunddreißigtausend Dollar – zuzüglich Zinsen. Sie hat bisher nur fünftausend Dollar zurückgezahlt. Sehen Sie? Dies hier sind die Durchschriften des Schecks.«

Ophelia streckte die Hand aus und tippte, fast unbewusst, ein weiteres Mal auf die Zeile, auf die er gerade gedeutet hatte, dann ließ sie die Hand sinken und musterte die Dokumente zwischen ihnen erneut. Er warf ihr einen fragenden Blick zu, doch sie ignorierte ihn, versuchte, diese neue Information zu verarbeiten.

Drei der Schecks über jeweils eintausend Dollar waren in der ordentlichen Handschrift ihrer Mutter ausgestellt worden. Die anderen beiden allerdings … Ophelia verengte die Augen zu Schlitzen. Die leicht verwackelten »S« waren der einzige Hinweis darauf, dass jemand die Unterschrift gefälscht hatte. Sie sah Genevieve an, die angesichts dieser Neuigkeiten seltsam still war, doch ihre Schwester erwiderte den Blick nicht.