Pheromon 1: Pheromon - Rainer Wekwerth - E-Book
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Pheromon 1: Pheromon E-Book

Rainer Wekwerth

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Beschreibung

Stell dir vor, du bist siebzehn Jahre alt. Du stehst vor dem Spiegel und entdeckst in deinen Augen einen goldenen Schimmer, der vorher nicht da war. Aber das ist nicht alles. Plötzlich kannst du die Gefühle der Menschen riechen, brauchst keine Brille mehr und löst die schwierigsten Matheaufgaben im Kopf.
Irgendwie cool.
Irgendwie verstörend.
Noch während du dich fragst, was mit dir los ist, beginnt ein Abenteuer ungeahnten Ausmaßes. Ein Kampf um das Schicksal der ganzen Welt – und du bist mittendrin.

„Eine spannende Geschichte, wie man sie noch nie gelesen hat. Großartig!“ Andreas Eschbach

Nominiert für den Skoutz Award, den Buxtehuder Bullen und den Deutschen Phantastik Preis im Jahr 2019.
Auf der Auswahlliste für die Ulmer Unke als bestes Jugendbuch 2018.

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Das Buch

„Eine Geschichte, wie man sie noch nie gelesen hat. Großartig!“ Andreas Eschbach

Stell dir vor, du bist siebzehn Jahre alt. Du stehst vor dem Spiegel und entdeckst in deinen Augen einen goldenen Schimmer, der vorher nicht da war. Aber das ist nicht alles. Plötzlich kannst du die Gefühle der Menschen riechen, brauchst keine Brille mehr und löst die schwierigsten Matheaufgaben im Kopf.

Irgendwie cool.

Irgendwie verstörend.

Noch während du dich fragst, was mit dir los ist, beginnt ein Abenteuer ungeahnten Ausmaßes. Ein Kampf um das Schicksal der ganzen Welt – und du bist mittendrin.

Die Autoren

© christian witt

Rainer Wekwerth hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und dafür Preise gewonnen. Zuletzt die Jugendbuchpreise Segeberger Feder, Goldene Leslie und Ulmer Unke. Mit seiner »Labyrinth«-Trilogie landete er zudem auf der Spiegelbestsellerliste. Die Kinoverfilmung ist in Vorbereitung. Rainer Wekwerth ist verheiratet, Vater einer Tochter und lebt in der Nähe von Stuttgart.

Mehr über Rainer Wekwerth: www.wekwerth.com

Rainer Wekwerth auf Facebook: www.facebook.com/rainer.wekwerth

© privat

Thariot hat eine Schwäche für spannende Geschichten. Bereits als Fünfzehnjähriger begann er mit dem Schreiben, vor allem Kurzgeschichten, bis er dann in 2009 die Arbeit an seinem ersten Buch startete. Thariot, in seinem letzten Leben von Beruf IT-Manager, ist ein Bildermensch. Er hat die Fähigkeit, Bilder schnell in Wörter zu übersetzen, und kann es einfach nicht lassen, diese auf Papier zu bringen.

Mehr über Thariot: www.thariot.de

Thariot auf Facebook: http://www.facebook.com/Thariot

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch! Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren: www.planet-verlag.de

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Viel Spaß beim Lesen!

»Wir werden noch eine Chance kriegen«, sagte Jake und stieß seinen Freund mit dem Ellenbogen an. Alan saß mit hängendem Kopf neben ihm auf der Bank, während um sie herum das Stadion tobte. Ganz Vernon Hill schien sich hier versammelt zu haben, um das für die State Finals entscheidende Highschool-Footballspiel gegen Sycamore mitzuerleben.

Kurz vor Ende des letzten Quarters stand es 36:30 für Sycamore, die auch jetzt wieder im Ballbesitz waren und die Chance hatten, den Sack endgültig zuzumachen. Bisher lief es nicht gut für Vernon High. Weder Alan noch er waren in Topform.

An den Fans lag es nicht. Um sie herum wütete ein Orkan aus Anfeuerungsrufen für die eigene Defense, die unbedingt den gegnerischen Angriff stoppen musste, wenn es für Jakes Team noch eine Möglichkeit geben sollte, das Blatt zu wenden.

Ein heißer Wind wehte durchs Stadion, es war August, Sommer in Illinois. Schweiß lief Jake über die Stirn, er schwitzte wie verrückt. Da half auch alles Abwischen mit dem Handtuch nicht. Dabei hatte er heute nur wenige Einsätze gehabt, denn Trainer Sanchez hatte bei den meisten Spielzügen auf Steve Miller als Tight End in der Angriffsformation gesetzt.

Steve war okay, aber nicht unbedingt besser als er. Er hatte allerdings einen entscheidenden Vorteil – er trug keine Kontaktlinsen, die ständig durch den Schweiß verschmierten, der ihm in die Augen tropfte.

Während Jake beobachtete, wie sein Team von Sycamore vorgeführt wurde, hatte er eigentlich das Gefühl, dass heute ein besonderer Tag war. Irgendetwas war anders als sonst. Trotz der Aufregung, die ihn erfasst hatte, funktionierten seine Sinne ungewöhnlich gut. Er hörte einzelne Stimmen der Zuschauer aus dem Sturm der Anfeuerung heraus. Selbst der Geschmack des Kaugummis, den er von einer Seite des Mundes in die andere schob, war intensiver. Nur mit dem Sehen war es wie immer. Leider.

Auf dem Spielfeld wurde es ernst. Gerade nahm die Defense Aufstellung und positionierte sich der Angriffslinie von Sycamore gegenüber.

»Wir schaffen das!«, sagte Jake noch einmal. »Wir werden den Ball bekommen!« Er wollte nicht aufgeben. Nicht heute!

Alan nahm die Hände vom Gesicht. »Und dann?«

»Dann haben wir die Chance, die wir brauchen!«

»Beide Wide Receiver sind verletzt, wir haben keinen Ersatz, und egal wo wir den Ball bekommen, für ein Laufspiel wird es zu weit sein.« Alan fehlte eindeutig die Zuversicht.

»Und darum wirfst du auf mich. Wie viel Sekunden haben wir noch?« Jake spürte das Feuer in sich, er würde es schaffen. Alan brauchte den Ball bloß auf ihn zu werfen.

Sein Kumpel wandte sich ihm zu. Unglauben spiegelte sich auf seinem Gesicht. »Du siehst nicht mal die verdammte Stadionuhr und willst, dass ich einen Pass auf dich werfe?«

»Sind die Kontaktlinsen. Durch den Schweiß beschlagen … das legt sich beim Laufen. Also, wie lange noch?«

»Achtzehn Sekunden.«

Auf dem Feld ging das Spiel weiter. Sycamore in der Offense. Dritter Versuch, knapp hinter der Mittellinie und zehn Yards zu gehen. Der gegnerische Quarterback hatte den Ball in der Hand und wollte ihn an seinen Running Back übergeben, aber der kam ins Stolpern und ließ ihn fallen. Sofort stürzte sich ein Verteidiger darauf und sicherte ihn.

Das Stadion explodierte. Die Leute drehten vollkommen durch. Vernon Hill am Limit. Alle waren von ihren Sitzen aufgesprungen und brüllten, was das Zeug hielt. Jake hatte das Gefühl, sich im Auge des Sturms zu befinden, während um ihn herum ein Hurrikan brandete. Sein Team hatte nun die Chance, alles zu wenden. Es fehlte ihnen nur ein Touchdown.

»Was ist jetzt, Alan? Setzt du mich ein?«

»Kann ich mich auf dich verlassen?«

»Zu einhundert Prozent. Ich werde den Ball fangen und bis in die Endzone marschieren.«

»Mann, wehe, das klappt nicht.«

»Vertrau mir.«

»Sanchez wird mir den Kopf abreißen. Der will bestimmt was anderes.« Alan blickte zu ihrem Coach.

»Wenn wir gewinnen, klopft er uns auf die Schultern. Wir werden verdammte Helden sein.« Jake glaubte an das Team, an sich.

»Oh Gott, worauf lasse ich mich da bloß ein?«, meinte Alan und schüttelte den Kopf, dann boxte er Jake in die Seite. »Tu es einfach!«

Der Trainer nahm inzwischen seine letzte Auszeit und kam zu Alan und Jake herübergehastet. Um sie herum gruppierte sich die gesamte Offense.

Sanchez hatte ein Klemmbrett in der Hand und kritzelte den nächsten Spielzug darauf. Ein Laufspiel. Er plante, den Fullback durch die gegnerische Reihe brechen zu lassen, und hoffte, dass Eric Dickerson es bis ins Endfeld schaffte.

»Coach, das wird nicht klappen«, sagte Alan, der als Einziger im Team dem Trainer widersprechen durfte. »Wir haben nur einen Versuch, und Dicky humpelt seit dem zweiten Quarter.«

Sanchez blickte Dickerson an. Der untersetzte Junge mit den breiten Schultern und den blonden Haaren grinste gequält. »Ich pack das schon.«

»Dann machen wir es so«, sagte der Coach, der Jake noch nicht einmal angesehen hatte.

Der Schiedsrichter pfiff und rief beide Mannschaften wieder aufs Feld. Als das Team sich in Angriffsformation stellte, gab Alan die codierte Ansage, dass er einen anderen Spielzug gewählt hatte. Er würde einen langen Ball auf den Tight End werfen. Seine Offensive Line sollte ihm die Zeit verschaffen, die er brauchte, um den Wurf anzubringen.

Hanley, der Center, drehte sich zu ihm um. »Ist das dein Ernst?«

»Ja, und jetzt wirf mir den verdammten Ball zu.«

Jake hatte jedes Wort gehört. Er stand links außen an der Line of Scrimmage, direkt neben Robertson, dem schwarzen Offensive Tackle, der sich nach unten beugte, um sich bereitzumachen, ihn aber ernst anblickte.

»Warum schnaufst du so?«, fragte er. »Man kann dich im ganzen Stadion hören.«

»Heuschnupfen«, antwortete Jake. »Ist heute besonders schlimm.«

»Fang bloß den Ball«, knurrte er. »Ich will ins Final.«

Jake antwortete nicht. Alan stand jetzt bereit. Die Uhr tickte. Noch fünf Sekunden.

Im Stadion wurde es totenstill. Keine Rufe, keine Anfeuerung. Alle wussten, worum es ging. Dies war der letztmögliche Spielzug des Heimteams. Entweder sie erzielten einen Touchdown und fuhren ins Finale der Staatsmeisterschaft, oder ein ganzes Jahr harter Arbeit wäre umsonst gewesen.

Alans Kommandos schallten über den Platz. Beim dritten Ruf warf Hanley den Ball zwischen seinen Beinen hindurch nach hinten.

Jake sah, wie Alan ihn fing und sich nach hinten bewegte, um mehr Freiraum zu bekommen. Die Offensive Line drängte sich den gegnerischen Verteidigern entgegen, versuchte, ihren Quarterback zu schützen. Jake rannte los. Jetzt war er dran.

Jake täuschte den Defensive End und spurtete an der Außenlinie entlang. Er keuchte, während er stur nach vorne schaute. Er musste dreißig Yards zurücklegen, bevor er ins Halbfeld abbiegen, sich umdrehen und den Pass annehmen konnte.

Der rechte Linebacker von Sycamore hatte sich an seine Fersen gehängt, war aber nicht schnell genug, um seinen Laufweg zu stören.

Jake erreichte das Halbfeld. Aus dem Augenwinkel sah er den Free Safety des anderen Teams heranstürmen. Um den musste er sich kümmern, sobald er den Ball von Alan gefangen hatte, denn mit Sicherheit würde sich der Typ sofort auf ihn stürzen. Jake plante eine Bewegung nach vorn, würde aber seitlich ausweichen und so vielleicht den Verteidiger täuschen.

Er stoppte den Lauf an der gegnerischen Zwanzig-Yard-Linie und drehte sich um. Wie aus dem Nichts kam der Ball auf ihn zugeflogen, perfekt von Alan geworfen. Weder zu hoch noch zu kurz. Es war der vollkommene Pass.

Jake streckte dem Ball seine Hände entgegen. Sein Herz raste. Fast konnte er ihn schon in seinen Händen spüren. Sie würden gewinnen. Der Safety rannte auf ihn zu, aber er würde zu spät kommen und den Fang nicht verhindern können.

Direkt aus dem Himmel herab kam der Ball auf ihn zu. Gleich würde er ihn fangen. Das Stadion tobte. Sie würden gewinnen. Ein Sonnenstrahl fiel auf seine Augen. Alles wurde weiß. Die Kontaktlinsen wurden für einen Bruchteil undurchsichtig. Nicht jetzt! Jake stöhnte auf. Stille. Der Ball prallte gegen seine Fingerspitzen, flog von dort davon und fiel zu Boden. Der Safety rannte ihn trotzdem über den Haufen. Jake wollte sterben.

Incomplete.

Der Pfiff des Schiedsrichters ertönte. Das Spiel war aus. Sie hatten verloren.

Sycamore hatte sie besiegt.

»Das war echt Mist«, knurrte Alan, als Jake die Umkleidekabine betrat.

Keiner von den anderen sah ihn an. Seine Teamkameraden schauten auf den Boden oder hatten sich abgewandt.

Jake wusste, er hatte die Sache vermasselt. Er ganz allein. Nicht nur, dass er Alan dazu überredet hatte, einen langen Pass auf ihn zu werfen und sich damit den Anordnungen des Coaches zu widersetzen, er war es, der dem Team die einzige Chance geraubt hatte, das Finale der Staatsmeisterschaft zu erreichen. Vielleicht hätte es Dickerson mit einem Lauf bis ins Endfeld geschafft, aber das würde er nun nie erfahren. Er hatte es versaut!

Hochmut, Stolz und grenzenlose Dummheit hatten ihn dazu verleitet, sich selbst zu überschätzen.

»Es tut mir wirklich leid«, meinte Jake, der wusste, dass die Entschuldigung nicht genügte.

»Das macht es jetzt auch nicht besser. Sanchez hat mir den Arsch aufgerissen. Er überlegt sich, ob er mich in der nächsten Saison noch als Quarterback einsetzen will. Meinte, er könne sich keinen Teamkapitän leisten, der den Anordnungen des Trainers nicht folgt und sein eigenes Ding durchzieht. Wortwörtlich hat er gesagt: ›Das ist ein Teamsport, ein Mannschaftsspiel, da haben Egoisten wie du und Merdon nichts verloren.‹«

»Sind wir aus dem Team geflogen?«

»Nein, aber es fehlt nicht mehr viel! Wir haben noch das Benefizspiel gegen Deerfield, da kann er bei den vielen Verletzten, die wir haben, kaum auf uns verzichten.«

Auf ihn konnte er sicher verzichten. Alan sagte zwar wir, meinte aber sich. »Ich dachte wirklich, ich bringe das.«

»Und ich dachte, Suzi Hastel will was von mir. Jetzt ist sie mit Greg zusammen. Manchmal täuscht man sich.«

»Dass du Ärger mit dem Trainer hast, tut mir leid.«

Alan legte ihm die Hand auf die Schulter. »Jake, du bist mein bester Freund, aber hör mit dem Gequatsche auf. Wir haben es versaut. Punkt. Aus. Ende.«

Hanley kam aus der Dusche. Mit seiner Größe von knapp zwei Metern und einhundertzwanzig Kilogramm vor dem Frühstück überragte er jeden im Raum. Das rötliche nasse Haar klebte an seinem Schädel, als er mit mürrischem Gesichtsausdruck auf Jake zukam und sich vor ihn hinstellte. Hanley trug nur ein Handtuch um die Hüften. Wasser lief über seine breite Brust hinab und tropfte auf den Boden. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er Jake an.

Dann sagte er nur ein Wort: »Arschloch!«

Als er davonging, um sich anzuziehen, atmete Jake tief aus.

»Ich bin froh, dass wir das geklärt haben«, sagte er zu Alan.

Der grinste: »Ich glaube, um den musst du dir keine Sorgen machen, aber Robertson ist gar nicht gut auf dich zu sprechen.«

Jake sah zu dem schwarzen Jungen hinüber, der finster zurückblickte.

»Halt dich lieber eine Weile von ihm fern«, meinte Alan.

Jake seufzte. »Wird besser sein.«

»Gehen wir ins Golden?«

Jake war überrascht, dass Alan ihn fragte. Es war Tradition, nach jedem Spiel ins »Golden Diners« zu gehen und dort noch eine Weile mit den Teamkameraden und den Fans abzuhängen, aber heute? Nach der Nummer, die er gebracht hatte? Die Leute würden ihn in der Luft zerreißen.

»Besser nicht«, sagte er.

»Jake, am Montag ist wieder Schule, du kannst der Sache so oder so nicht ausweichen.«

»Das ist mir schon klar, aber ich glaube, heute will mich keiner mehr sehen, und die enttäuschten Blicke der anderen verfolgen mich jetzt schon bis in den Schlaf.«

»Wie du meinst.«

Alan streifte sein Trikot ab. Darunter kam eine breite Narbe zum Vorschein, die über seine ganze Brust lief. Als kleiner Junge war er beim Spielen durch die große Scheibe der Veranda gebrochen und damals fast daran verblutet. Jake war dabei gewesen. Diesen Moment würde er niemals vergessen.

Sein Freund bemerkte den Blick und schaute an sich herab. »Ist schon lange her, was?«

»Damals dachte ich, du stirbst.«

»Yeah, aber dann hätte ich dir doch deinen heutigen Auftritt vermasselt. Wer sonst hätte diesen absolut perfekten Pass werfen können, den du Blinder nicht gefangen hast. Sogar meine kleine Schwester Nelly hätte das hingekriegt.«

Gegen seinen Willen musste Jake grinsen. »Wahrscheinlich«, sagte er. »Aber die hat leider nicht mitgespielt.«

»Jetzt komm schon mit ins Golden. So schlimm wird’s nicht werden.«

Jake schüttelte den Kopf. »Ich gehe nach Hause und zieh mir im Internet Videos über rituellen Selbstmord rein. Vielleicht heitert mich das auf.«

Alan lächelte. »Du bist schon ’ne Marke, Jake Merdon.«

»Ich hau dann mal ab.«

»Duschst du nicht?«, fragte Alan überrascht.

»Mach ich zu Hause.«

»Na dann, man sieht sich.«

Alan reichte ihm die Hand, und Jake schlug ein. »Bis Montag.«

Der Gang durch die Katakomben des Stadions kam Jake heute länger vor als sonst. Er überlegte, ob er gleich nach Hause oder noch irgendwo spazieren gehen sollte, um seine Nerven zu beruhigen. Seine Mutter war bestimmt schon von der Arbeit zurück und würde ihn umarmen und versuchen zu trösten, sobald er durch die Haustüre schritt. Aber das konnte er jetzt nicht gebrauchen.

Jake beschloss, auf den Bus zu verzichten und die drei Meilen zu laufen. Außerdem musste er im Drugstore vorbei und sein Medikament gegen den Heuschnupfen abholen, der ihn wie jedes Jahr um diese Zeit plagte. Das Mittel machte ihn müde, aber vielleicht war das heute nicht das Schlechteste. Als Jake das Stadion verließ, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten der Mauer.

Robertson.

Der junge Schwarze kam auf ihn zugeschlendert, wirkte dabei aber keinesfalls entspannt, sondern wie ein Raubtier auf der Jagd. Jake hatte gar nicht bemerkt, dass er die Umkleidekabine vor ihm verlassen hatte. Er blieb stehen.

Was sollte er auch sonst tun, wegrennen wäre lächerlich, und außerdem konnte er der Konfrontation sowieso nicht aus dem Weg gehen, Robertson saß bei ihm in der Klasse.

Sie waren ungefähr gleich groß, aber Robertson war kräftiger, durchtrainierter, ein lebendes Bündel aus Muskeln. Sein Gesicht war vollkommen unbewegt. Er sprach kein Wort.

»Was soll das werden?«, fragte Jake. »Willst du mir Angst machen?«

Robertson stieß ihn hart vor die Brust, sodass er zwei Meter zurücktaumelte.

»Du hast es versaut!«, zischte der andere. »Ich habe dir gesagt, fang bloß den Scheißball, aber du hast es echt versaut. Das kotzt mich an. Mit der Staatsmeisterschaft in der Tasche hätte ich mir Hoffnungen auf ein Stipendium und die Aufnahme in ein gutes College machen können, aber das kann ich ja nun vergessen.«

»Mann, Michael, das tut mir echt leid …«

»Spar dir den Mist. Ich will davon nichts hören. Geh mir einfach in Zukunft aus dem Weg.«

»Ich …«

Da hatte sich Robertson schon umgedreht und ging davon.

Von draußen drang Sirenengeheul durch das Fenster. Travis sah auf seine Hand. War das Angst? Die Antwort würde er nicht zwischen seinen faltigen Fingern finden. Sie lag vor der Tür. Jeden Tag wieder. Er sollte die Vergangenheit ruhen lassen. Das Zittern legte sich. Er nahm die Keycard, steckte sie in die Innentasche des Wollmantels und klappte den Kragen hoch. New York im Januar war lausig kalt.

Travis blickte auf seine Armbanduhr, löste die Krone und zog das Uhrwerk auf. Drei langsame Züge. Tag für Tag. Rituale halfen zu überleben. Er verließ sein Apartment, zog die Wohnungstür zu und drückte den Aufzugsknopf. Die Tür hatte drei Schlösser, keines davon benutzte er. Wozu auch, bei ihm gab es nichts zu holen. Es piepte. Die mit Graffitis dekorierte Doppeltür des Aufzugs öffnete sich. Ohne aufzublicken, fuhr er ins Erdgeschoss. Es piepte erneut, und die Metalltür des nach Fäkalien riechenden Aufzugs gab den Weg zum Korridor frei. Das Licht flackerte, links von ihm befanden sich Dutzende teils aufgebrochene Briefkästen und rechts ein verbrannter Kinderwagen.

Die Zukunft liegt in den Händen unserer Kinder, dachte er und legte seine Hand auf die biometrische Sicherung der Eingangstür. Sicherheitsglas, Kameras und ein Türrahmen, der einen Truck aufhalten konnte, brachten wenig, wenn die Chaoten bereits im Haus wohnten.

»Hey Alter!«, raunte ihn jemand von der Seite an, der ihm umgehend ein Messer auf den Mantel drückte. »Her mit der Kohle!«

»Ganz ruhig … ich werde jetzt langsam in meinen Mantel greifen.« Travis spürte den Druck der Klinge an der Seite und roch den Alkohol, den der Junge getrunken hatte. Beides Dinge, auf die er gerne verzichtet hätte. Wobei der gute »Junge« einen Kopf größer und mindestens dreißig Kilogramm schwerer war als er. Zudem hatte er sich ein auffälliges Tribal auf den Hals tätowieren lassen. Ein netter Kerl.

»Hey Alter … nur eine falsche Bewegung und ich steche dich ab!«

»Der soll seine Kohle rausrücken!«, rief ein zweiter Jugendlicher, den Travis erst jetzt sah. Sie waren sogar zu dritt, drei Jungs, nein, sie waren zu viert. Unter ihnen befand sich auch ein Mädchen, das schwieg und abseits stand.

»Hier … nehmt das Geld.«Travis gab ihnen seine Brieftasche. Es gab Schöneres, als am Morgen direkt vor seiner Haustür überfallen zu werden.

»Hast du nicht mehr?«, fragte der zweite, der das Geld nahm und Travis die leere Brieftasche ins Gesicht warf.

»Würde ich sonst hier wohnen?«

»Verarsch mich nicht!« Der zweite des räuberischen Quartetts, ein drahtiger Typ mit vernarbtem Gesicht, schien der Wortführer zu sein. Das Mädchen drehte sich weg, dem Anschein nach war ihr die Situation unangenehm. Verdammt! War sie etwa schwanger? Die Wölbung war nicht zu übersehen. Unter der grauen Kapuze ragten lange blonde Haare hervor, aber ihr Gesicht konnte er nicht erkennen.

»Der alte Sack lügt!« Der Tätowierte mit dem Messer drückte ihm jetzt den Unterarm an die Kehle. Travis japste nach Luft. Eine Gegenwehr war nicht möglich. Die wollten ihn fertigmachen!

»Was macht ihr da?«, rief eine andere Stimme ermahnend dazwischen. Jemand stieg aus einem Fahrzeug.

»Verpiss dich!« Der Typ mit den Narben ging auf die Stimme zu. Erst jetzt erkannte Travis den Paketboten, der seinen Lieferwagen verlassen hatte: Ein groß gewachsener Farbiger, mit einem roten Kanister an der Seite, kam auf sie zu.

»Lasst den alten Mann in Frieden!« Travis’ Retter würde sich jetzt selbst in Schwierigkeiten bringen. Große Schwierigkeiten!

»Fresse, Nigger!« Auch das Narbengesicht zog ein Messer, worauf das Mädchen in der Gruppe vergebens versuchte, ihn zurückzuhalten. »Bitch. Halt dich da raus!«

»Du solltest auf sie hören!«, sagte der Paketbote.

»Du wirst jetzt bluten, Nigger!« Noch zwei Meter, der Überfall eskalierte.

»Echt jetzt?« Das Gesicht des Paketboten verfinsterte sich. Er zögerte nicht, den Halbstarken mit dem roten Kanister niederzuschlagen. Travis hatte keine Ahnung, ob Ziegelsteine darin waren, aber die Wucht des Schlages hatte den Jugendlichen auf den Boden der nasskalten Seitenstraße befördert.

»Pete, lass uns abhauen!« Die ersten Worte des dritten Jugendlichen, eindeutig der Klügste in der Runde. Der große Typ, der Travis in Schach gehalten hatte, ließ von ihm ab und half dem Narbengesicht auf. Travis rutschte auf den Boden. Er sollte jetzt weglaufen, wenn es seine Beine mitgemacht hätten. Das Mädchen sah ihn an. Direkt in die Augen. Nicht älter als sechzehn. Blaue Augen. Angsterfüllt. Augen, die nach Hilfe riefen. Sie sagte nichts und lief davon.

»Nigger, dafür wirst du sterben!«, rief der Junge mit den Narben, der jetzt um eine Platzwunde an der Wange reicher war.

»Schon klar …« Der Paketbote wirkte unbeeindruckt, er arbeitete offensichtlich schon länger in diesem Viertel. Er beugte sich zu Travis herunter. »Mister, sind Sie verletzt?«

»Nein, nein … mir geht es gut.« Travis rappelte sich wieder auf. »Wir sollten die Polizei rufen.«

»Das habe ich bereits getan.« Der Paketbote zeigte auf das Display, das am Unterarm seiner braunen Arbeitskleidung in den Stoff eingearbeitet war. »Die Polizei hat alles live mitgehört … das Einsatzfahrzeug landet in dreißig Sekunden.«

»Danke.« Travis lächelte bemüht, auch wenn die Polizei in weniger als einer Minute an jedem Einsatzort in der Stadt war, genügten dennoch nur Sekunden, um ein Leben zu beenden.

»Sir, Ihren Namen bitte«, fragte der Officer einige Minuten später. Travis saß in dem weißen NYPD-Wagen mit blauen Streifen, der bewegungslos einen halben Meter über dem Boden schwebte. Ein Sanitäter versorgte seine Hand, an der er sich im Abrutschen verletzt hatte.

»Travis Jelen.«

»Ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Ja, ja … ich habe nichts … alles gut … Danke.« Nichts war in Ordnung, das war nicht der erste Überfall, den er über sich hatte ergehen lassen müssen.

»Sind Sie krankenversichert?«

»Nein.« Das war Travis schon lange nicht mehr. Der Sanitäter zuckte nur mit den Schultern und behandelte ihn weiter.

»Sir, darf ich Ihre ID scannen?«, fragte der Officer höflich.

»Klar.« Travis legte seine rechte Hand auf ein mobiles Identifikationsgerät, das umgehend seinen Namen und seine Adresse bestätigte.

»Sie wohnen hier, Sir?«

»Ja.« Travis konnte es nicht leugnen. Das Apartment hatte früher seinen Eltern gehört. Als er 2050 geboren wurde, sah die Gegend besser aus.

»Wo wollten Sie heute Morgen hin?«

»Zur Arbeit …« Wie jeden Morgen. »Ich bin Arzt.«

Der Officer nickte, während er auf dem transparenten Eingabegerät Notizen machte. Travis konnte seine persönlichen Daten sehen: Geburtsdatum, Steuer-ID und sein Strafregister. Der Kollege des Officers befragte gerade den Paketboten.

»Sir, haben Sie Alkohol getrunken?« Die Frage musste kommen.

»Ich bin trocken.« Travis hatte seit drei Jahren keinen Tropfen mehr angerührt. Diese Zeit wollte er nie wieder erleben.

»Sie wurden mit der Auflage aus der Haft entlassen, weitere neunzehn Monate abstinent zu leben. Kein Alkohol und natürlich auch keine illegalen Genussmittel.« Am Officer lag es nicht, der machte nur seinen Job. Travis war der Idiot gewesen, der damals ausgerastet war. »Sir, darf ich Ihre Blutwerte kontrollieren?«

»Natürlich …« Travis hatte nichts zu verbergen. Bereitwillig ließ er den Beamten mit einem zigarettenschachtelgroßen Gerät seinen Handrücken abrollen. Die Analyse seines Hautschweißes dauerte nur zwei Sekunden. Eine grüne Anzeige aktivierte sich: clean.

»Sir, danke für Ihr Verständnis … Sie sind Arzt, Sie kennen die Vorschriften.« Der Officer machte nicht den Eindruck, als ob er ein anderes Ergebnis erwartet hätte. Travis nickte. »Kannten Sie die Angreifer?«

»Nein.«

»Können Sie die Täter beschreiben?«

»Männlich, zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren, einer einen Meter neunzig groß, neunzig Kilogramm schwer, hatte eine auffällige Tätowierung am Hals. Ein anderer, einen Meter fünfundsiebzig groß, fünfundsechzig Kilogramm schwer, hatte zahlreiche Aknenarben im Gesicht.« Die beiden hatte er nicht vergessen.

»Es waren zwei?«

»Da war noch ein dritter … den ich aber nur schlecht sehen konnte. Alle trugen Jeans, dunkle Kapuzenpullis und Turnschuhe.« Travis überlegte, ob er auch das schwangere Mädchen erwähnen sollte. Nein, sie durfte schon genug Ärger am Hals haben.

»Also drei?«

»Ja.«

»Sind Sie sicher?« Der Officer, ein jüngerer Beamter um die dreißig, mit kurzen dunklen Haaren, sah ihn an.

»Ich denke schon …«

»Sie denken schon?«

»Ja … mehr habe ich nicht gesehen. Der Junge mit dem Messer hatte mich mit dem Unterarm am Hals gegen die Tür gedrückt.« Travis berührte vorsichtig die schmerzende Stelle. Der Sanitäter, der inzwischen selbst in seinem Fahrzeug einen Bericht ausfüllte, hatte ihm eine Salbe auf das Hämatom aufgetragen.

»Das sehe ich.« Der Officer blickte zu seinem Kollegen, der mit den Schultern zuckte. Die beiden waren vernetzt, sie sahen in Echtzeit jedes Detail, das der andere dokumentierte. »Sir, haben Sie bei den Angreifern auch eine weibliche Person gesehen?«

»Nein.«

»Jemand mit blonden Haaren?«

»Sorry … nein.« Travis blieb dabei, er wollte das Mädchen nicht mit hineinziehen.

»Der Mitarbeiter des Lieferdienstes hat vier Jugendliche gesehen. Darunter ein Mädchen.«

»Dem kann ich nicht widersprechen … aber ich habe sie nicht gesehen.«

»Sie soll schwanger gewesen sein.« Der Officer ließ nicht locker.

»Ähm … was soll ich sagen … ich habe sie nicht gesehen.« Langsam empfand Travis das Gespräch als unangenehm. Er sah auf die Uhr, er hatte bereits über eine Stunde verloren.

»Fresse, Nigger!« Der Officer spielte eine Aufzeichnung ab, »Bitch! Halt dich da raus!«, an die Travis nicht mehr gedacht hatte.

»Sir, wen hat der Jugendliche mit Bitch gemeint? Der Paketbote hat ausgesagt, dass sie versucht hat, den Angreifer aufzuhalten.«

»Ähm …« Travis fühlte sich ertappt. »Ich weiß es nicht.«

»In Ordnung … bei Ihren persönlichen Daten fehlt eine Mail-Adresse. Wie können wir Sie bei weiteren Fragen erreichen?«

»Ich habe keinen Computer.« Bereits drei Jahre nicht mehr. Computer und Alkohol waren für Travis dasselbe, weswegen er beides nicht mehr anfasste.

»Virtueller Kommunikator?«

»Nein.« Travis liebte es, offline zu sein, nur aus diesem Grund lebte er noch.

»Telefon?«

Travis schüttelte den Kopf.

»Okay …« Der Officer lächelte. »Warum auch nicht.«

»Kann ich jetzt gehen?« Travis wollte heute auf jeden Fall noch zur Arbeit.

»Natürlich. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Sir. Hier ist meine Karte … wenn Sie auf Ihrer Insel eine netzfähige Trommel finden, können Sie mich gerne ansprechen.«

»Danke.« Travis lächelte, der Officer hatte das Herz am rechten Fleck.

Travis stieg die Treppe zur Subway hinunter. Hunderte Menschen strömten an ihm vorbei. Auf dem Weg zur Arbeit, auf dem Weg nach Hause oder auf dem Weg sonst wohin. Leute trugen netzfähige Brillen, vernetzte Jacken mit Displays auf den Unterarmen oder bedienten verschiedenste mobile Geräte. Jeder war online. Die kompletten Flanken der Treppen bestanden aus Leinwänden, auf denen gerade ein NFL-Werbespot lief. Football interessierte ihn auch nicht. Ein medialer Overkill, aber Travis wäre ohne die Subway zu lange unterwegs gewesen.

Der Überfall hätte ihm Sorgen bereiten sollen. Tat er aber nicht. War ja nichts passiert. Die hatten ihm nur ein paar Dollar und einen abgelaufenen Büchereiausweis abgenommen. Damit kam er klar. Travis liebte den Big Apple, sein Geld trug er deshalb auf drei Brieftaschen verteilt. So würde ihm niemand alles auf einmal stehlen können, und die meisten kleinen Gauner gaben sich mit der Beute zufrieden.

Travis wartete auf die Subway, als sein Blick an einer grauen Kapuze hängen blieb. Die Größe stimmte. War das das Mädchen? Sie stand nicht weiter als zehn Meter von ihm entfernt. Dazwischen befand sich allerdings ein Meer von vernetzten Zombies auf ihrem Marsch in die Verdammnis. Jetzt fuhr auch noch die Subway ein, und die ganze Masse setzte sich in Bewegung.

»Hey!«, rief Travis und hob den Arm. Idiotisch, da niemand auf ihn reagierte, selbst die graue Kapuze nicht. Er sah kaum etwas von ihr, da waren einfach zu viele Menschen.

»Du mit der grauen Kapuze!« Travis hätte auch ihren Namen rufen können, wenn er ihn gewusst hätte, das Ergebnis wäre dasselbe gewesen. Ein Stationssprecher sagte etwas, was Travis nicht verstand. Menschen redeten durcheinander. Der ganz normale Wahnsinn in der Vierzig-Millionen-Stadt. An der Decke der Subway-Station war eine Projektion zu erkennen: Human Future Project – Für eine bessere Zukunft. Die weltweite Hilfsorganisation kannte Travis sogar trotz seines Medienboykotts.

»Hey! Mädchen!« Keine Chance, sie reagierte nicht. Travis versuchte, zu ihr in die überfüllte Subway durchzukommen. Hatte er etwa gerade blonde Haare gesehen?

»Darf ich, bitte!« Travis kämpfte gegen die Masse, dagegen war überfallen zu werden wie Urlaub. Nur noch drei Meter. Jemand stieß ihn in die Seite. Ein anderer trat ihm auf den Fuß.

»Mädchen mit der grauen Kapuze!«, rief Travis laut und erntete dafür unfreundliche Blicke eines Mannes, dem er direkt ins Ohr geschrien hatte. »Entschuldigung.« Noch zwei Meter.

»Die Zukunft aller liegt in den Händen unserer Kinder«, erklärte eine adrette Sprecherin in der Projektion über seinem Kopf.

Travis streckte seinen Arm, er wollte mit ihr sprechen, er musste mit ihr sprechen. Warum eigentlich? Weil sie ihn überfallen hatte? Weil sie ein Kind bekam? Er wusste es nicht.

Nur noch einen Meter. Sie betrat die Subway. Travis berührte sie an der Schulter. Dabei glaubte er Erdbeeren riechen zu können. Wie bitte? Vermutlich war das nur die Salbe an seinem Hals. Er schwitzte. Die Türen schlossen sich. Jetzt stand er hinter ihr. Umringt von Menschen. Sie würde mit ihm sprechen müssen.

»Hey, ich muss mit dir reden!« Travis hatte es endlich geschafft.

»Worüber?«, fragte der junge Mann mit dem grauen Kapuzenpulli, der sich sichtlich verwundert zu ihm herumdrehte.

»Ähm …« Travis war ein Idiot. »Entschuldigung … eine Verwechslung.«

»Schon okay.« Der junge Mann nickte. Nur eine Verwechslung.

Travis schüttelte sich, was war los mit ihm? Verlor er gerade seinen Verstand? Was wollte er von dem Mädchen? Er wusste es nicht.

Ein Tag war seit dem Spiel gegen Sycamore vergangen. Eine Nacht mit wenig Schlaf und hässlichen Kommentaren in den sozialen Netzwerken.

Alan erging es nicht besser. Auch er wurde verhöhnt und bekam üble Dinge an den Kopf geschmissen. Zum Beispiel dass ein Loser wie er es niemals bis in die NFL schaffen würde. Dabei hatte er nie gesagt, dass er das wollte. Bloß weil er überragend Football spielte und zudem ein Ausnahmequarterback war, gingen gleich alle davon aus, dass er davon träumte, Profi zu werden. Jake aber wusste, dass das nicht Alans Ziel war. Alan wollte Arzt werden. Niemand außer ihm kannte diesen Wunsch, und das war sicher auch besser so.

Er selbst träumte davon, zur Air Force zu gehen und Kampfpilot zu werden, aber mit seiner Kurzsichtigkeit konnte er das wohl vergessen. Das Problem war nur, er hatte nie etwas anderes werden wollen, und nun wusste er nicht, wohin die Reise gehen würde.

Jake schlug die Bettdecke zurück und tappte barfuß über den Holzboden ins Bad. Was er im Spiegel sah, verbesserte seine miese Stimmung nicht gerade. Er sah schlicht gesagt zum Kotzen aus. Die dunklen Haare klebten an seinem Schädel, und unter den Augen hatte er Ringe, die als Taucherbrille durchgehen würden. Wahnsinn!

Lustlos versuchte er, seine Frisur in Ordnung zu bringen, aber selbst Wasser und Haargel sorgten für kein akzeptables Ergebnis. Egal, er würde das Haus heute sowieso nicht verlassen, wenn er das überhaupt jemals wieder tat.

Morgen war Schule. Da würde das Spießrutenlaufen erst richtig losgehen. Jemanden auf einer Internetplattform fertigzumachen, war ja ganz nett, aber sicherlich war die Befriedigung viel größer, wenn man den Arsch, der das Spiel gegen Sycamore vergeigt hatte, persönlich leiden sah.

Yeah, die werden es mir so richtig geben.

Für Alan würde es nicht ganz so schlimm werden, immerhin war er das größte Talent, das Vernon jemals gesehen hatte. Allein ihm war es zu verdanken gewesen, dass sie es bis in die Play-offs und fast ins State Final geschafft hatten.

Nein, ihn würden sie bloß aufziehen, schließlich wusste jeder, was man an ihm hatte und dass jede gottverdammte Highschool in Illinois ihn mit Handkuss aufnehmen würde. Bis zum College konnte Alan noch viele wichtige Footballspiele entscheiden, es kam also darauf an, für wen er spielte.

Jakes Handy auf dem Waschbeckenrand vibrierte. Er warf einen kurzen Blick aufs Display. Wenn man vom Teufel sprach. Jake hob ab.

»Na, wie geht’s, Alter?«

Gute Frage. Darüber musste er nachdenken. Nein, eigentlich doch nicht.

»Beschissen«, antwortete er. »Kennst du den neuesten Spruch auf ASK über mich?«

»Ich denke, ich kenn sie alle.«

»Den nicht.«

»Okay, lass hören.«

»Wie schafft es Jake Merdon, sicher den Ball festzuhalten?«

»Antwort?«

»Indem er seinen rechten Hoden umklammert.«

Alan brüllte los vor Lachen. »Der ist gut«, keuchte er. »Komm, du musst zugeben, dass er nicht schlecht ist.«

»Hahaha«, knurrte Jake. »Du bist mein bester Kumpel und …«

»Hey, nimm’s locker. Die kriegen sich schon wieder ein. Draußen scheint die Sonne, und wir könnten in den Park gehen.«

»Was, den Kids beim Spielen zusehen?«

»Alter, es geht um die großen Schwestern, die auf die lieben Kleinen aufpassen müssen und für jede Ablenkung dankbar sind. Im Park wimmelt es nur so von ihnen. Bestes Jagdgebiet.«

»Nichts für mich, ich bleibe daheim und leide.«

»Ach, jetzt komm schon.«

»Montag ist Schule.«

»Wird sicher lustig.«

»Dich scheint das alles kaltzulassen.«

Einen Moment schwieg Alan, dann sagte er: »Quatsch. Ich habe mir jetzt zwei Tage lang jeden Shit über uns reingezogen, den die anderen so von sich geben, aber jetzt ist Schluss damit. Das Leben geht weiter, und Football ist nur ein Spiel.«

»Den Spruch solltest du rahmen lassen und Sanchez schenken.«

»Siehst du, und schon geht es dir besser. Also auf in den Park.«

»Nein, ich bleibe hier. Auf CBS laufen die alten Frankensteinfilme, die werden mich aufmuntern. Wenigstens ein Loser, den es noch schlimmer als mich erwischt hat.«

»Letztes Wort?«, fragte Alan.

Jake nickte, aber dann fiel ihm ein, dass sein Freund es ja nicht sehen konnte.

»Wir sehen uns morgen.«

Nachdem er aufgelegt hatte, wusch er sich das Gesicht. Eindeutig eine Verbesserung. Während noch die Tropfen über seine Wangen hinabliefen und er nach dem Handtuch griff, vibrierte sein Handy erneut. Wahrscheinlich Alan, der nicht aufgeben wollte und versuchte, ihn doch noch zu überreden, das Haus zu verlassen.

Jake hob das Handy an. Eine WhatsApp-Nachricht von einer ihm unbekannten Nummer. Es war eine Bildanzeige. Ein Logo, weiße Schrift auf rotem Hintergrund. Sah irgendwie nach Werbung aus, aber es wurde kein Produkt und keine Dienstleistung angeboten. Außerdem war Werbung über WhatsApp verboten.

Human Future Project

Drei Worte. Mehr nicht. Kein Absender vermerkt. Merkwürdig. Eine derartig seltsame Nachricht hatte er noch nie erhalten, aber irgendwie passte es zu seiner Situation. Er grinste.

Yeah, dachte Jake, mich jetzt in die Zukunft zu beamen, wäre super.

Dann löschte er das Bild und ging nach unten.

»Hast du dein Heuschnupfenmittel genommen?«, fragte seine Mutter, als er am Tisch Platz nahm. Sie schaute von der Illustrierten auf, in der sie gelesen hatte.

»Guten Morgen, Mom«, sagte Jake.

»Heute geht Wind und treibt die Pollen in die Stadt, da kann es für dich schlimm werden. Außerdem ist es schon Mittagszeit, und gleich gibt es Essen.«

»Kein Frühstück?«

»Nein, ich muss ins Krankenhaus, meine Schicht beginnt in einer Stunde, und vorher möchte ich etwas essen, sonst komme ich den ganzen Tag nicht mehr dazu.«

»Hat Dad sich gemeldet?«

Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Du meinst wegen dem Spiel?«

Er nickte.

»Nein, hat er nicht, und übrigens hat er auch kein Geld geschickt. Er ist drei Monate im Rückstand.«

»Mom, er lebt jetzt in New York, hat keinen Job …«

»… und ich schiebe Doppelschichten«, unterbrach sie ihn. »Jake, versteh mich nicht falsch. Ich mag deinen Vater. Immer noch. Trotz Scheidung, aber er muss seinen Pflichten nachkommen. Ich muss es auch.«

»Ich weiß«, seufzte Jake.

»Also, hast du das Medikament genommen?«

»Ja«, log Jake. In Wirklichkeit waren ihm die Tabletten bereits gestern ausgegangen. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich nach dem Spiel im Drugstore Nachschub zu besorgen, aber nach der Begegnung mit Robertson war er vollkommen durcheinander gewesen und hatte es vergessen. Allerdings, jetzt wo er darüber nachdachte, musste er feststellen, dass er sich gut fühlte. Keine Atemprobleme, keine geschwollene Nase und keine tränenden Augen und das, obwohl das Fenster in der Küche offen stand. Vielleicht flogen heute nicht so viele Pollen in der Gegend herum oder irgendwelche, auf die er nicht allergisch war.

Als er darüber nachgrübelte, roch er etwas Verbranntes.

»Mom, hast du was auf dem Herd?«, fragte er.

»Im Backofen. Heute gibt es Grillhähnchen und Kartoffelbrei. Warum?«

»Es riecht … na ja, angekokelt …«

»Was?«

Sie sprang vom Tisch auf, hastete in die Küche. Jake hörte das Zischen des Backofens, als sie die Glastür öffnete. Der wunderbare Duft von gebratenem Fleisch zog herüber.

»Gott sei Dank«, stöhnte seine Mutter. »Alles in Ordnung. Wir können gleich essen. Deck bitte den Tisch.«

Komisch. Jake war sich sicher gewesen, dass da etwas verbrannte. Er zuckte mit den Schultern.

Während er Teller und Besteck auf dem Tisch platzierte, trug seine Mutter die Keramikform mit dem knusprig gebratenen Huhn herein. Sie stellte die Schale ab und eilte in die Küche, um den Kartoffelbrei zu servieren.

Jake lud sich den Teller voll und nahm sich ein Bruststück. Seine Mutter war eine gute Köchin und das hier sein absolutes Lieblingsessen, er hatte nicht vor, allzu viel Zeit zu verlieren.

»Jake, bitte.«

»Was denn?«

»Du weißt es.«

»Müssen wir jedes Mal vor dem Essen beten? Kein Mensch außer uns macht so etwas heute noch.«

»Wir haben Gott dafür zu danken, dass es uns gut geht.«

»Amen.«

Seine Mom sah ihn streng an, dann beugte sie das Haupt und murmelte ein leises Gebet.

»Jetzt kannst du loslegen.«

Als Jake den letzten Bissen in den Mund schob, einen Schluck Wasser trank und alles herunterspülte, war der Geruch wieder da. Während des Essens hatte er ihn vergessen, aber nun war er stärker als zuvor. Irgendetwas brannte. Eindeutig.

Seine Mutter war bereits am Gehen. In der offenen Haustür drehte sie sich noch einmal um.

»Kannst du bitte den Tisch abräumen und den Geschirrspüler einschalten?«, fragte sie.

»Klar, mach ich«, sagte Jake, war aber in Gedanken bei dem merkwürdigen Geruch.

»Ich nehme den Bus. Du hast also das Auto, falls du bei dem schönen Wetter etwas unternehmen willst. Hab dich lieb.«

»Ich dich auch.«

Dann war sie weg.

Jake schnupperte. Rauch. Feuer. Er ging in die Küche. Öffnete den Backofen. Alles okay, noch lauwarm, aber da brannte nichts. Jake legte seine Hand auf jede einzelne Herdplatte. Alle aus. Dann blickte er sich in der Küche um. Kontrollierte die elektrischen Geräte. Nichts.

Verwirrt blieb er mitten im Raum stehen.

Wo war der Geruch am stärksten?

Er wechselte die Position.

Hier. Unter dem offenen Küchenfenster.

Der Geruch nach Feuer kam von draußen.

Vielleicht verbrennt MrHickins Laub im Garten?

Nein, dafür war es zu früh im Jahr, und außerdem glaubte er nicht, dass der alte Mann noch im Garten herumzündelte. Sein Nachbar war an die neunzig Jahre alt, lebte allein und war etwas wacklig auf den Beinen. Trotzdem ging Jake zur Tür hinaus und schaute sich um.

Es war heiß an diesem Tag. Die Sonne brannte vom Himmel herab, kribbelte auf seinen nackten Armen.

Hier war der Geruch noch intensiver, und spätestens jetzt wurde Jake klar, dass es kein normaler Geruch war. Kein Essen, kein brennendes Laub. Es war etwas anderes. Etwas Größeres.

Aber nirgends war Rauch zu sehen.

Was sollte er jetzt tun?

Sein Gefühl sagte ihm, dass ein Feuer ausgebrochen war, aber er wusste nicht wo. Auch nicht, was da brannte. Doch er spürte, dass von dem Brandgeruch Gefahr ausging. Irgendetwas in Jake sagte ihm, dass es so war.

Für einen Moment überlegte er, die Feuerwehr anzurufen. Aber was sagen? Die Leute würden ihn für einen Spinner halten.

Diese Option fiel also schon mal weg. Dennoch, er konnte nicht einfach nichts tun. Vielleicht war jemand in Gefahr und selbst wenn nicht, war er es sich einfach schuldig nachzuforschen.

Verdammt!

Eigentlich hatte er den ganzen Tag im Haus bleiben wollen, aber daraus wurde nun nichts mehr. Er ging wieder nach drinnen und holte sich die Autoschlüssel seiner Mutter.

Der Honda Civic stand vor der Garage, deren Schwenktor sich schon längst nicht mehr öffnen ließ. Im Sommer kein Problem, aber im Winter wurde es hier verdammt kalt, und dann sprang der alte Wagen nicht mehr an. Mehr als einmal war seine Mutter zu spät zum Dienst gekommen und hatte sich Ärger mit der Krankenhausleitung eingehandelt.

Jakes Blick wanderte über die vielen Rostbeulen. Die Karre sah aus wie ein Leopard mit braunen Flecken auf grünem Fell. Verdammt peinlich, damit herumzufahren, aber immer noch besser, als zu Fuß zu gehen. Er stieg ein.

Wie immer musste er die Fahrertür zweimal zuschlagen, bevor sie endlich ins Schloss fiel. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Kaum Benzin.

Danke, Mom.

Er startete den Motor, der ächzend zum Leben erwachte, und ließ die Fensterscheibe herunter.

Jake hatte sich vorgenommen, dem Geruch zu folgen. Obwohl man nichts sah, war er so stark, dass er ihm bestimmt problemlos nachspüren konnte, wenn er sich aus dem Fenster beugte und die Nase in den Wind hielt.

Er setzte aus der Einfahrt zurück und fuhr die Straße hinunter.

Seit zehn Minuten kurvte Jake nun durch die Stadt, folgte dem Geruch, bog in Seitenstraßen ein, die er noch nie zuvor im Leben gesehen hatte, und rollte über verlassene Fabrikgelände. Ganz so einfach war die Sache dann doch nicht. Der ständig wechselnde Wind trieb sein Spiel mit ihm. Immer wenn er schon glaubte, die Spur verloren zu haben, schnappte er wieder einen Hauch auf. Und dieser Hauch wurde zusehends intensiver.

Jake glaubte inzwischen sogar herausriechen zu können, was da alles brannte und kokelte. Er identifizierte Stoff, Holz und etwas Plastik. Die Mischung konnte alles Mögliche sein, höchstwahrscheinlich verbrannte nur irgendein Idiot Müll, obwohl Sonntag war. Aber da war etwas in Jake, das ihn weitersuchen ließ. Eine Art Bauchgefühl, jedoch stärker, als er es jemals zuvor gespürt hatte.

Schließlich erreichte er den Stadtrand und fuhr langsam eine schmale Straße entlang, die zu einem Haus führte, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Zweistöckig, mit Wänden, von denen die ehemals weiße, jetzt aber graue Farbe abblätterte, und einer kleinen Holzveranda als Anbau. Alles in allem wirkte das Haus ziemlich heruntergekommen, und Jake fragte sich, ob es verlassen war, als er Vorhänge in den Fenstern entdeckte. Er hielt an.

Hier war der Geruch überwältigend.

Eindeutig. Etwas brannte in dem Haus, auch wenn von außen nichts zu sehen war. Keine Flammen. Kein Rauch. Nichts. Alle Fenster geschlossen.

Jake stieg aus und rannte zum Hauseingang. Er klopfte gegen die Tür.

Keine Reaktion. Jake lauschte, nichts zu hören. Der Geruch war inzwischen atemraubend. Er gab alle Zurückhaltung auf und hämmerte gegen das Holz.

Die Tür schwang nach innen. Eine schwarze dichte Rauchwolke hüllte ihn ein. Jake stolperte zurück, hielt sich den Arm vor die Nase. Hustete heftig.

Der Rauch verzog sich. Endlich konnte er etwas sehen. Vor ihm lag ein Flur. Mäntel und Jacken hingen an einer Garderobe. Teppich bedeckte den Boden. Eine alte Kommode presste sich an die Wand.

Kein offenes Feuer, aber Rauch zog aus einer offenen Kellertür herauf.

»Hallo?«, rief Jake. Lauschte. »Ist da jemand?«

Stille. Kein Geräusch.

Während er weiterrief und überlegte, die Feuerwehr zu verständigen, hörte er ein leises Krächzen. Dann hustete jemand. Es klang schwach.

Jake zögerte keine Sekunde und stürmte ins Haus.

Das war nicht sein Tag heute. Travis verließ die Subway mit dem Gefühl, etwas verloren zu haben. Merkwürdig, denn er wusste nicht, was. Das blonde Mädchen mit der Kapuze beschäftigte ihn immer noch. Kannte er sie? Vielleicht von früher? Nein, eigentlich konnte er sich Gesichter gut merken. Da war etwas anderes, das ihn beunruhigte, aber Instinkte konnten auch trügerisch sein.

»Ich brauche einen Kaffee …«, murmelte er und schritt die Treppe hinauf. Menschen, Werbung, Stimmen und der Lärm der nur zehn Meter über der Straße langsam fliegenden Gleiter, drangen nicht mehr zu ihm hindurch. Nur vier U-Bahnstationen genügten, um in eine andere Welt einzudringen: New York lebte, pulsierte und drohte jeden Moment überzulaufen.

Ein lebensgroß holografisch animiertes Model mit einem knappen roten Sommerkleid, das mit weitem Hüftschwung das Ende des Winters zelebrierte, zog die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich. Technologie und Kommerz machten beinahe alles möglich. Läden, Displays, Animationen, davon gab es hier mehr, als er ertragen wollte.

Nur noch einen halben Block, dann hatte er es geschafft. Die Hilfsorganisation, für die er unentgeltlich arbeitete, unterhielt in der Warren Street, direkt am City Hall Park, ein medizinisches Zentrum für Obdachlose. Das Walker-Center. Menschen in Not, von denen es im Jahr 2118 sicherlich weniger gab als vor hundert Jahren. Aber sie waren noch da. Besonders in großen Städten wie New York, das anscheinend eine magische Anziehungskraft auf alle gestrandeten Seelen des Kontinents ausübte.

»Hallo Travis …« Susan Walker begrüßte ihn, die Frau, die an der Tür aufpasste, dass sich alle im Center anständig benahmen. »Bist du von einem Truck überfahren worden, oder was ist passiert?«

»Frag nicht.«

»Was ist mit deinem Hals?« Susan, die nur fünf Jahre jünger war als er, war eine bemerkenswerte Person. Sie wog vielleicht gerade einmal sechzig Kilogramm, ging nicht mehr sehr schnell und vermochte es mit nur einer Geste, auch die wildesten ihrer Gäste zur Räson zu bringen. In den Jahren, seitdem Travis sie kannte, wurde sie noch nie angegriffen.

»Gestolpert.«

»Papperlapapp … du bist überfallen worden«, erklärte sie resolut und klappte den Kragen seines Mantels herunter.

»Nichts passiert …« Man konnte sie noch nicht einmal anlügen, wenn man es gut meinte.

»Das sieht aus, als ob dich ein Pferd getreten hätte … Du weißt es doch besser! Solche Verletzungen sind nicht harmlos!«

»Ja.«

»Du brauchst einen Arzt!«

»Möchtest du mich versorgen?«

»Das hättest du wohl gerne!« Susan presste die Lippen zusammen und boxte ihn auf den Arm. »Da warten über zwanzig Patienten auf dich … sind heute besonders viele.«

»Darum sind wir hier!« Travis war sich sicher, das Hämatom in den Griff zu bekommen.

»Darum sind wir hier …« Susan wandte sich bereits dem nächsten Gast zu. Eine Asiatin, die mit ihrem Kind das Center betrat. Unsicher, fröstelnd und mit den Augen nach Halt suchend. »Schön, dass du zu uns gekommen bist. Komm, wärme dich erst einmal auf. Möchtest du eine warme Tasse Tee?«

Die Asiatin nickte schüchtern, das Kind auf ihrem Arm, vielleicht zwei Jahre alt, sah Susan nicht an. Eine herzliche Begrüßung wie unter Freunden wirkte Wunder, obwohl Travis sich sicher war, sie noch nie zuvor im Center gesehen zu haben.

Travis ging in seinen Behandlungsraum, zog den Mantel aus und sah in den Spiegel. Ein alter Mann blickte zurück, grauhaarig, hager und mit Falten, die tief genug waren, um Münzen festzuhalten. Seine Augen wirkten bereits am Vormittag müde. Für einen Moment dachte er an einen Drink, so wie früher, der machte alles leichter. Nein, er schüttelte sich. Niemals wieder! Er würde keinen Alkohol anpacken!

Das Hämatom an seinem Hals reichte in Form eines Dreiecks vom Kinn zum Ohr und bis zum Schlüsselbein.

Es klopfte an der Tür.

»Herein.« Travis zog sich den weißen Kittel über, damit ihn niemand mit einem Obdachlosen verwechselte.

»Kannst du übernehmen?«, fragte Jeremie, ein junger Arzt, der in dieser Woche nur vormittags aushelfen konnte. In einer Stunde würde seine Schicht im Presbyterian Lower Manhattan Hospital beginnen.

»Ja.«

»Jetzt zeig mir schon deinen Fuß!«, forderte Travis seinen ersten Kunden auf. Martin lebte bereits ewig auf der Straße, früher sollte er einmal Bücher geschrieben haben. Aber jetzt war der alte Mann nicht einmal mehr in der Lage, seinen Namen aufzuschreiben.

»Kannst du mir nicht eine Pille geben?«

»Die du dann verkaufst … nein.« Travis wusste, dass viele ihrer Kunden Medikamente, die im Center verteilt wurden, verkauften, um Alkohol zu bekommen. Martins Fuß war so dick angeschwollen, dass er kaum noch laufen konnte. Betrunkene Obdachlose bemerkten nicht, wenn ihnen in der Kälte Zehen abfroren. Ab einem gewissen Punkt tat es nicht mehr weh.

»Aber ich brauch nur eine Pille!« Martin blieb stur, stand gebeugt vor der Behandlungsbank und sah durch seine zerzausten Haare auf den Boden. Travis hätte ihm eine Standpauke halten können, ihm sagen können, dass er an Wundbrand sterben konnte. Aber wer wollte das hören? Martin nicht und er auch nicht.

»Zeig mir deinen Fuß … dann gebe ich dir eine Pille. Einverstanden?«Travis sah seine Behandlungsmethoden pragmatisch.

»Versprochen?« Martin sah auf.

»Versprochen!«

»Ich vertrau dir, Doc!« Martin setzte sich.

»Das kannst du …« Travis schloss einen Schrank auf, nahm eine kleine Flasche Bourbon und gab sie seinem Patienten. Einem Kind gab man schließlich auch etwas zu spielen.

»Doc, du bist ein Freund!« Martin trank und lehnte sich zurück, während Travis den Schuh öffnete. Es stank nach verwestem Fleisch.

»Tut das weh?«

»Alles in Ordnung.« Martin spürte nichts mehr. Travis hatte den klammen Halbschuh ausgezogen, die ehemals weiße Socke war inzwischen rot, braun und schwarz. Mit einer Schere schnitt er sie auf, reinigte die Wunde, entfernte totes Gewebe, setzte zwei Spritzen, desinfizierte alles und verband den Fuß. Der Mann gehörte in eine Klinik.

»Bin ich fertig?«, fragte Martin, den sein verletzter Fuß offenbar nicht belastete, einen Augenblick später. Travis ließ ihm den Bourbon, den würde er zumindest nicht verkaufen.

»Frag Susan nach einem Paar neuer Schuhe.«

»Mache ich.« Martin humpelte los. Travis wusste nur zu gut, dass nicht viel gefehlt hatte und ihm wäre es ähnlich ergangen. Er griff nach dem Kaffee und stellte erst, als er die kalte Tasse an den Lippen spürte, fest, dass sie leer war. Nebenan gab es Nachschub. Die Tür öffnete sich, und sein nächster Patient betrat das Behandlungszimmer.

»Einen Moment bitte … ich komme gleich«, rief Travis aus dem Nebenraum, in den sich die Pflegekräfte zu einer kurzen Pause zurückziehen konnten. Auch die Kanne hier war leer. Dann weiter in die große Küche für alle, dort würde er sicherlich frischen Kaffee bekommen.

»Ist es nicht wunderbar, dass es auf der gesamten Welt seit dreiundzwanzig Jahren keine kriegerische Auseinandersetzung mehr gab?«, fragte eine bekannte Politikerin den Moderator einer Talkshow im Netz. Dieses Jahr waren Wahlen, sie musste noch Punkte für den Senat sammeln. Das Interview lief auf einem Display an der Wand.

»Es gibt Stimmen, die die Früchte dieser Politik früheren Regierungen zubilligen. Vor allem Europäer, die bereits vor Dekaden protektionistischen Tendenzen unserer Administration entgegenwirkten.« Der Moderator zeigte sich kritisch.

»Ich bitte Sie, das sind unsere Freunde. Es gab nie eine europäische Linie gegen uns. Die Vereinten Nationen können wegen unserer Politik der letzten hundert Jahre auf einen fünfundneunzigprozentigen Rückgang der weltweiten Armut zurückblicken. Der Terrorismus ist Vergangenheit. Fundamentalistische Ideologien haben an Bedeutung verloren.

Auch die Kriminalität ist auf einem historischen Tiefstand. Wir leben in einer intakten Gesellschaft, in der jeder seinen Platz finden kann. Zugegeben … in einigen großen Metropolen müssen wir noch Altlasten aufarbeiten, aber seien Sie versichert, dass …«

Die Worte der Politikerin waren schwer zu ertragen. Travis hörte ihr nicht länger zu und ging mit einem dampfenden Kaffee wieder in den Behandlungsraum. Nach ihren Worten konnte er sich also glücklich schätzen, in einer der wenigen noch existierenden schlechten Gegenden zu wohnen.

»Wie kann ich dir helfen?«, fragte Travis, nachdem er die Tür geschlossen und den Kaffee auf einem Wandregal abgestellt hatte.

»Ich …« Augen so groß wie Untertassen sahen ihn an. Umrandet mit dem verschreckten Gesicht einer jungen Frau. Einer schwangeren jungen Frau mit blonden Haaren, die auf dem Bändel ihres grauen Kapuzenpullis kaute. Sie stoppte nach dem ersten Wort. Natürlich hatte sie ihn sofort erkannt.

Travis kam nicht dazu, etwas zu sagen, sie sprang auf und hastete zur Tür. Obwohl schwanger, war sie immer noch schneller als er. »Warte … bitte … ich werde dir helfen!«

Drei Schritte vor der Tür krampfte sie und blieb keuchend stehen. Travis ging ihr nach. Langsam, er wollte sie nicht jagen. Sie begann zu weinen und sackte kraftlos auf die Knie.