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Meister Seppel, der Marionettenschnitzer, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus: die Puppe, die er gerade geschnitzt hat, ist lebendig! Er tauft sie Pinocchio und schnell zeigt sich: Pinocchio ist eigensinnig und rücksichtslos. Um ihm ein Schulbuch besorgen zu können, verkauft Meister Seppel seine einzige Jacke. Auf dem Weg zur Schule fühlt sich Pinocchio aber magisch von einem Puppentheater angezogen. Das ist der Anfang eines bewegten Abenteuers, in dem sich Pinocchio durch seinen Eigensinn immer wieder in große Probleme bringt. Trotzdem erfüllt sich am Ende Pinocchios großer Wunsch - ein richtiger Junge aus Fleisch und Blut zu werden.
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Seitenzahl: 181
Carlo Collodi
Pinocchio
Impressum
Cover: Zeichnung "Pinocchio" (1883) von Enrico Mazzanti
Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2015
ISBN/EAN: 9783958702332
Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.
www.nexx-verlag.de
Es war einmal ...
»Ein König!« – meinen gleich die klugen kleinen Leser.
Aber diesmal, Kinder, habt ihr weit daneben geraten. – Es war einmal: ein Stück Holz, ja, ein ganz gewöhnliches Holzscheit! Draußen lag es im Wald mit vielen anderen Stücken auf der Beige. Ein Fuhrmann kam, lud sie alle auf den Wagen und fuhr damit zur Stadt dem Schreiner-Toni vor das Haus. Das Holz wurde gesägt und gespaltet; denn im kalten Winter sollte es im knisternden Ofen die Stube wärmen. – Ein Glück, dass Toni das eine Scheit bemerkte. Es war so hübsch gerade und hatte keinen Ast; darum stellte es der Schreiner in eine Ecke seiner Werkstatt und dachte: »Ein gutes, glattes Stück, Es wär schade, es zu verbrennen.«
Toni verstand sein Handwerk und war überall bekannt. – Man nannte ihn freilich nur den Meister Pflaum; doch das kam davon, dass seine zierlich runde Nasenspitze so deftig blau glänzte wie eine reife Pflaume, die unberührt am Baum hängt.
Eines Tages war Meister Pflaum daran, einen Tisch zu her zu stellen. Er sah sich in der Werkstatt nach dem passenden Holz um, erblickte das Scheit in der Ecke, rieb sich freudig die Hände und murmelte zufrieden vor sich hin: »Das Stück da kommt mir wie gerufen, das gibt ein Tischbein.« Gleich nahm er das scharfe Beil, um die Rinde abzuschlagen. Der erste Hieb fiel auf das Holz, da – »Ohje, ohje«, wimmerte erbärmlich ein zartes Stimmchen, »nicht so arg schlagen, nicht so arg!«
Potz Blitz! was war das? – Kalte Angst kam über den guten Schreiner, die Haare standen ihm zu Berg, er hatte nicht mehr Zeit, die ausgestreckte Hand mit dem Beil sinken zu lassen, und so stand er unbeweglich da, wie das Einfahrtszeichen an der Eisenbahn, wenn es dem daher brausenden Zug »Halt!« gebietet.
Nach einiger Zeit erholte sich Meister Pflaum von seinem Schrecken, und nun durchsuchte er ängstlich die ganze Werkstatt. – Es war niemand zu sehen. Er guckte unter die Hobelbank – niemand! in den stets verschlossenen Schrank – niemand! In den Korb mit den Hobelspänen und dem Sägemehl – niemand! Er machte die Tür auf und sah auf die Straße – auch niemand! Nanu? ...
Mit erzwungenem Lachen kratzte sich der Schreiner hinter den Ohren und sprach:
»Ganz klar! Ich hab's. – Das Stimmchen war eine närrische Einbildung. Nur wieder mutig an die Arbeit!«
Fest nahm er das Beil in die Hand, kräftiger noch wie das erste Mal führte er den Hieb auf das Holz, tief drang die scharfe Schneide ein: »Au! Wie hat das weh getan!« klagte laut das gleiche Stimmchen.
Jetzt wurde Meister Pflaum wie versteinert: seine Augen traten weit hervor aus den Höhlen, sein Mund stand weit offen, die Zunge hing ihm über die Unterlippe herab so tief wie bei den Wasserspeiern am Springbrunnen.
Nach einiger Zeit fand er die Sprache wieder; aber er zitterte immer noch entsetzlich und fragte stotternd:
»Wo mag denn nur dies Jammer-Stimmchen hergekommen sein? Das Holz da wird doch nicht weinen und klagen können wie ein kleines Kind! – Unmöglich! – Schau mir's nur einer an: ist es nicht ein Scheit wie jedes andere? Hätte man es gesägt und gespaltet, dann wäre es vielleicht längst zu Asche verbrannt. – Nanu!? – Oder ... wirklich! Kann es sein? – Versteckt sich Jemand im Holz? – Na! Der hätte sich einen ungeschickten Platz gesucht! Wart, dir will ich's bequemer machen; gleich helf' ich dir heraus.«
Sprach's, packte das unschuldige Scheit mit beiden Händen und warf es erbarmungslos an die Wand der Werkstatt.
Nun stand er da ganz still; er horchte, er neigte seinen Kopf gegen das Holz hin und lauschte. Zwei – drei – fünf Minuten waren schon vergangen – Alles blieb ruhig, Nichts regte sich – gar Nichts.
»Es ist doch zum Lachen ... haha!« sprach jetzt der mutige Schreiner und fuhr sich durch die struppigen Haare. »Wie man so dumm sein kann! – Versteht sich! Das Stimmchen hab' ich mir eingebildet. – Nein! Schon so viel Zeit verloren! Jetzt geht es in allem Ernst an die Arbeit!«
Und doch hatte er immer noch Angst. Zwar fing er an, ein lustig Liedlein vor sich hin zu singen; aber er tat es nur, um sich Mut zu machen.
Mit dem Beil traute er sich nicht mehr an das verhexte Holz; ein bisschen besser wollte er es doch behandeln. So spannte er das Scheit auf die Hobelbank, holte von der Wand einen langen Hobel und ließ ihn über das raue Holz hin und her gleiten.
Auf einmal kichert's und lacht's in der Werkstatt:
»Hör auf! – Ich bin so kitzelig!« Da war's mit Meister Pflaums Mut vorbei. Wie vom Blitz getroffen sank er nieder und war wie tot. – Als er wieder zu sich kam und die Augen aufmachte, merkte er, dass er auf dem Boden saß.
Wenn ihr ihn hättet sehen können! Starr glotzten seine Augen aus dem verstörten Gesicht, und die runde Nasenspitze saß mitten drin wie eine schwarzglänzende Tollkirsche.
Es klopfte an.
»Nur herein!« rief der Schreiner; er saß noch immer auf dem Boden.
Ein lustiger Alter kam zur Tür herein; es war der Seppel. Von seinem Handwerk hatte er den Namen »Schnefler«, denn er war ein geschickter Holzschnitzer. Die bösen Buben in der Nachbarschaft hießen ihn freilich nur den »Gelbfinken«. Seine gelbe Perücke hat diesen Spitznamen verschuldet.
Der »Schnefler-Seppel« war sehr jähzornig. Gnade Gott dem, der ihn »Gelbfink« nannte. Das machte ihn teufelswild und im Zorn kannte er sich selbst nicht mehr.
»Guten Tag, Meister Toni!« grüßte Seppel artig, »was machst du denn auf dem Boden?«
»Ich will den Ameisen das ABC beibringen.«
»Ein neuer Beruf! – Guten Erfolg!«
»Was bringt dich heute zu mir, Seppel?«
»Eine kleine Sorge, Toni; ich möchte dich um einen Gefallen bitten. – Heute früh ist mir ein neuer Gedanke in den Kopf gekommen.«
»Lass hören!« sagte der Schreiner und stand vom Boden auf.
»Ich möchte mir einen hölzernen Hampelmann schnitzen; denn ich habe eine neue Art erfunden, den Zauberhampel. Fechten und seiltanzen muss er mir lernen. Dann reise ich mit ihm durch die Welt und verdiene mein Brot. – Was meinst du dazu, Toni?«
»Sehr gut, Gelbfink!« kreischte ein feines Stimmchen.
Seppel hörte »Gelbfink«, wurde vor Zorn rot wie eine Himbeere und fuhr den Schreiner wütend an:
»Warum sagst du mir eine Grobheit?«
»Wer?«
»Du! – Gelbfink hast du mich geheißen!«
»Aber ich nicht!«
»Wer denn? vielleicht ich selber? – Lüg nicht! – Du hast's gesagt!«
»Nein!«
»Doch!«
»Nein!!«
»Doch!!«
Immer hitziger wird der Streit. Mit Worten ist ihr Zorn nicht mehr zufrieden: schon packen sie sich an den Kitteln; der eine schlägt, der andere beißt; jetzt ringen sie miteinander auf dem Boden; jetzt schnellen sie beide auf und lassen einander los. Zwei Siegern gleich stehen sie da, einer stolzer wie der andere. Der Schnefler zerknittert Tonis Zipfelmütze in seiner Faust; Meister Pflaum aber schwingt als Siegesfahne den künstlichen Haarwuchs des »Gelbfinken«.
Eine Zeitlang schauen sie sich triumphierend an; dann sagt der Schreiner:
»Gib mir meine Mütze her!«
»Wenn du mir meine Perücke gibst.«
Lachend tauschten die beiden Alten ihre Beute aus, gaben einander die Hand und versprachen treu und fest, nie mehr zu raufen, sondern stets gute Freunde zu bleiben.
»Nun denn, lieber Seppel«, fing der Schreiner an, »womit kann ich dir dienen?«
»Ich suche ein Stück Holz für meinen Hampelmann; hast du ein passendes?«
Toni nahm das Scheit von der Hobelbank, das ihm so viel Angst eingejagt hatte, und wollte es dem Freund in die Hand geben.
Wupp!! – Das Scheit schnellt dem guten Meister Pflaum aus der Hand, überschlägt sich und versetzt dem armen Seppel einen derben Hieb auf die harten Knochen seiner Schienbeine.
»Au!! – au!! – So, Toni! – Ist das die Freundschaft? Die Beine hast du mir halb abgeschlagen! – Au!«
»Ich habe es nicht getan; du kannst es mir glauben.«
»Dann bin ich es wieder selbst gewesen!«
»Das Holzscheit war's.«
»Rede nicht so einfältig! Du hast es mir an die Beine geschlagen!«
»Es ist nicht wahr!«
»Verlogener Kerl!«
»Seppel, keine Unarten! – Sonst heiße ich dich Gelbfink.«
»Esel!«
»Gelbfink!«
»Ochs!«
»Gelbfink!«
»Dummer Affe!«
»Gelbfink!«
Dreimal »Gelbfink«, das war für Seppel zu viel. Es ging ihm Hören und Sehen aus, er stürzte auf den Schreiner los, und der Kampf entbrannte hitziger als zuvor.
Schließlich hatte der Schreiner-Toni zwei rote Kratzer mehr auf seiner blauen Pflaumennase; dem Seppel aber fehlten zwei weitere Knöpfe an der Weste. – Ihre Rechnung war damit ausgeglichen; sie drückten einander die Hand und gelobten sich aufs neue ewige Freundschaft.
Seppel nahm sein Holzscheit, dankte dem guten Meister Pflaum, und obwohl ihn sein Bein noch schmerzte, hinkte er doch fröhlich nach Hause.
Ein kleines Zimmer zu ebener Erde war Seppels ganze Wohnung. Es hatte ein einziges Fenster und war nur notdürftig ausgestattet. Ein wackeliger Stuhl, ein wurmstichiger Tisch, ein elendes Bett, das waren die Möbel des armen Schneflers. – In der Ecke stand ein kleiner eiserner Ofen; er brannte lustig, und das Wasser in dem Topfe, der darauf stand, kochte und dampfte, dass es eine Freude war.
Als Seppel nach Hause kam, nahm er gleich sein Werkzeug und fing an, den Hampelmann zu schnitzen.
Es quälte ihn nur noch eine Sorge. Er wackelte mit dem Kopf hin und her, sann und dachte und fragte sich: »Ein Name!? – Ein Name!? – Was für einen Namen soll ich meinem Hampel geben?« Plötzlich sprang er auf, griff sich an die Stirn und sagte:
»Ja! – ›Pinocchio‹ muss er heißen. Das ist ein schöner Name und er bringt ihm Glück. Ich habe eine ganze Familie Pinocchio gekannt: der brave Vater Pinocchio, die fleißige Mutter Pinocchio, die Pinocchio-Buben, alle so tüchtig, und Allen ist es in der Welt gut gegangen. Einer von ihnen hat sogar Kienholz in der Stadt verkauft.«
Als Seppel den Namen gefunden hatte, arbeitete er mit doppeltem Eifer. – Schon konnte man die Haare, die Stirn, die Augen des Hampelmannes erkennen.
Wie zittert da plötzlich die Hand des emsigen Schnitzers! – Die Holzaugen rollen wie Glaskugeln, bleiben stehen und schauen den Meister starr und steif an.
Seppel wurde stets ärgerlich, wenn ihn jemand fixierte, und sagte jetzt gereizt:
»Stiert mich nicht so blöde an, ihr hölzernen Glotzaugen!«
Allein die Augen kümmerten sich um des Meisters Worte nicht. – Verstimmt arbeitete Seppel weiter und formte die Nase.
Eine neue Überraschung! – Aus dem Gesicht heraus wächst und wächst das Holz, und in wenigen Minuten steht eine Nase da, so lang und spitz wie eine Gelbe Rübe.
Alle Mühe, sie kurz und stumpf zu schneiden, ist verloren; je mehr der arme Seppel schnitzt, desto schneller wächst die Nase. Er musste sie schließlich lassen, wie sie wachsen wollte.
Geduldig fuhr er fort zu arbeiten und bildete den Mund. – Eine andere Ungezogenheit: der Hampelmann lacht und schneidet Grimassen.
»Lass das dumme Lachen!« gebietet der Meister; aber alles Reden ist umsonst.
»Lass mir das Lachen, ich sag' es dir zum letzten Mal!« Siehe da! Der Kleine lacht nicht mehr, er streckt aber die Zunge weit heraus.
Seppel wollte sich nicht mehr stören lassen, tat, als merke er Nichts, und schaffte ruhig weiter. Das Kinn, der Hals, die Schultern, der Leib, die Arme, die Hände des hölzernen Männleins gelangen dem Künstler tadellos. – Seppel schnitzte eben die Füße, als er merkte, dass ihm jemand die Perücke vom Kopf zog. Er schaute auf und sah – nein, diese Buberei! – die Kopfbedeckung in der Hand des Hampelmanns.
»Pinocchio, setz' mir gleich die Perücke wieder auf!«
Der Schlingel aber hatte sich die gelbe Mütze schon über den eigenen Kopf gezogen und steckte so tief darin, dass er schier erstickte. All diese Unarten des Hampelmanns verdarben dem wackeren Seppel die gute Laune. Traurig und wehmütig hielt er mit der Arbeit inne und sprach:
»Womit habe ich das verdient? – Wollte ich nicht einen schönen braven Hampelmann zuwege bringen? – Und nun! – Was soll das noch werden? – Er ist ein Schlingel, noch ehe er fertig ist. Ich fürchte, ach, er wird ein Unglücksbube.«
Tränen glänzten dem guten Alten in den Augen. Er hätte am liebsten aufgehört zu schnitzen; aber nun wollte er doch den Zauberhampel ganz ausführen.
Unter des tüchtigen Meisters Hand entstanden ein Paar zierliche Beine und Füße.
Seppel freute sich seiner Kunst, da – erhielt er einen Tritt auf die Nasenspitze.
»Ich habe es nicht besser verdient«, murmelte er, »ich hätte das alles früher erwägen müssen; jetzt ist es zu spät. – Hätte ich doch nie an einen Zauberhampel gedacht!«
Nun war das Werk vollendet, und der Meister sollte bald Zauber genug erleben.
Seppel nahm seinen hölzernen Pinocchio und stellte ihn auf den Boden, damit er das Gehen lerne.
Der Hampel hatte steife Glieder und konnte noch nicht marschieren. Vater Seppel führte ihn an der Hand und zeigte ihm, wie man einen Fuß vor den andern stellt.
Bald waren die Beine gelenkig und Pinocchio konnte allein im Zimmer umhergehen. Auf einmal bemerkte er die Tür, ein Sprung auf die Straße, und er rannte davon. Gleich lief ihm Seppel nach; aber er konnte ihn nicht mehr einholen. Der Hampelmann sprang wie ein Hase. Wie klapperten seine Holzfüße auf dem Straßenpflaster! Hundert Bauernkinder, die mit Holzschuhen zur Kirche kommen, hätten keinen ärgeren Lärm machen können.
»Haltet ihn! – Packt ihn!« schrie Vater Seppel. Aber die Leute auf der Straße blieben alle höchst verwundert stehen, als sie den hölzernen Hampelmann wie einen Pudel rennen sahen. Dann fingen sie an zu lachen, und lachten so toll, dass man sich's gar nicht vorstellen kann.
Zum guten Glück kam ein Schutzmann. Der hatte das Spektakel gehört und dachte, es sei mal wieder ein Pferd durchgebrannt. Drum stellte er sich mit gespreizten Beinen mitten auf die Straße und war fest entschlossen, den Gaul zu halten und größeres Unglück zu verhüten.
Pinocchio hatte schon von Weitem das Hindernis erkannt, das ihm die ganze Straße versperrte. Da kam dem Hampelmann ein schlauer Gedanke. Er rannte im vollen Laufe auf den Schutzmann zu, bückte sich flink und wollte ihm zwischen den weit gespreizten Beinen durchschlüpfen.
Aber er hatte sich verrechnet. Der stramme Polizist rührte sich nicht vom Platz. Mit einer geschickten Handbewegung packte er den Durchbrenner. Ratet mal, wie? – Die Nase war Pinocchios Unglück. Sie war ja viel zu lang; der Schutzmann erwischte sie und hielt ihn daran fest.
Er übergab den Schlingel gleich dem Vater Seppel. Schon wollte ihm dieser eine kräftige Ohrfeige geben, aber es ging nicht. Ratet mal, warum? – In seiner Eile hatte der Schnefler dem Hampelmann keine Ohren geschnitzt.
Da fasste der Meister den Kleinen im Genick und schob ihn fort. Pinocchio sperrte sich, so gut er konnte; aber es half ihm nichts. Seppel wackelte ganz bedenklich mit dem Kopf und sprach:
»Marsch, nach Hause! Pass nur auf, daheim wollen wir miteinander abrechnen.«
Da der Wind von dieser Seite pfiff, wollte Pinocchio nicht mehr weiter und legte sich auf den Boden. Es dauerte nicht lange, dann kamen auch schon ein Paar Straßenbummler und stellten sich um die beiden herum. Sie schwatzten hin und her. – »Armes kleines Hampelchen«, meinte einer, »du hast ganz recht, wenn du nicht nach Hause willst. Der Seppel ist ein Grobian und wird dich halbtot schlagen.«
Andere spöttelten boshaft und sagten:
»Der Schnefler-Seppel! – Ja, ja! – Er hat ein zuckersüßes Gesicht. Aber man kennt ihn. Ein Unmensch ist er, ein Rabenvater. Bei diesem Ungeheuer wird der unschuldige Kleine gut aufgehoben sein! Seht doch mal wieder die kluge Polizei.«
Immer größer wurde die Menschenmenge, immer lauter ihr Schimpfen. Da kam der Schutzmann wieder, verhaftete den Meister Seppel und führte ihn fort ins Gefängnis.
Der unglückliche widersetzte sich nicht. Er weinte still und sprach:
»Der Zauberhampel wird mein Sorgenkind. – Wie habe ich mir doch Mühe gegeben, einen ordentlichen Kleinen aus dem Holz zu schneiden! – Wenn man doch nur an Alles vorher denken könnte! Jetzt bin ich selber schuld an meiner Schande.«
Guter Vater Seppel, das war nur ein schwacher Anfang. Wenn du ahnen könntest, was für Sorgen und Leiden dein Zauberhampel noch über dich bringt, du müsstest völlig verzweifeln.
Seppel wurde unschuldig ins Gefängnis geführt, Pinocchio, der Schlingel, war frei.
Hättet ihr ihn sehen können, wie er davon lief! Er wollte keinen einzigen Menschen mehr sehen, sprang zur Stadt hinaus in die Felder, setzte über hohe Dorn- und dichte Brombeer-Hecken, er machte Sprünge über Löcher und Wassergräben wie ein flinkes Reh und irrte ziellos umher wie ein gehetzter Hase.
Endlich kam er nach Hause. Die Tür stand noch offen. Er trat ein und schlug sie hinter sich zu. Dann setzte er sich mitten in der Stube auf den Boden, holte tief Atem und stieß die Luft wieder aus mit einem langen, zufriedenen: Aaah!
Leider dauerte seine Behaglichkeit nicht lange. Es gab ein Geräusch im Zimmer, ein Zirpen: Kri-kri-kri! – Pinocchio schaute überall herum und fragte furchtsam:
»Was soll das heißen? – Wer ist denn hier?«
»Ich!« lispelte ein zartes Stimmchen. Pinocchio drehte sich um und sah eine schwarze Grille langsam die Wand hinaufklettern.
»Wer bist du?«
»Ich bin das Lispel-Heimchen und wohne seit hundert Jahren in diesem Zimmer.«
»Das aber von heute an mir gehört«, ergänzte Pinocchio grob diese Worte. – »Bitte, mache dich aus dem Staub und lass es dir nicht zweimal sagen.«
»Wenn es sein muss, kann ich gehen. – Darf ich dir vor dem Abschied noch eine gute Lehre geben?«
»Meinetwegen! – aber kurz!«
»Schlecht geht es allen Kindern, die nicht auf ihre Eltern hören und eigenmächtig aus dem Haus laufen. Sie rennen ins Unglück und müssen einmal ihren Ungehorsam bereuen.«
»Predige nur, du Grillenkopf, und quieke, solange es dir beliebt. Trotzdem gehe ich morgen früh schon wieder fort. Dann kannst du hier wieder einziehen. Mir gefällt es nicht. Wenn ich bleibe, schickt man mich morgen zur Schule, und – gern oder ungern – müsste ich etwas lernen. Aber, offen gestanden, dazu habe ich gerade am wenigsten Lust. Schmetterlinge jagen und Vogelnester ausheben ist viel schöner!«
»Oh du G'scheitle! Weißt du, wieweit man es damit bringt? – Du wirst bald ein großer Esel sein und alle lachen dich aus!«
»Hältst du gleich den Schnabel, du schwarze Unglücksgrille«, schimpfte Pinocchio.
Aber Lispel-Heimchen bewahrte sein kaltes Blut und seine ernste Ruhe; es nahm dem Schlingel die Unart nicht übel und fuhr in ernstem Ton fort:
»Wenn es dir nicht passt, in die Schule zu gehen, lerne ein Handwerk; dann kannst du dir doch das Brot verdienen!«
Dem Pinocchio ging jetzt die Geduld aus und er sagte spitz:
»Weißt du, Piepser, welches Handwerk mir am besten gefällt?«
»Nein!«
»Also pass auf! – Gut essen und trinken, schlafen und spielen und den lieben langen Tag auf der Straße herumstreichen, das ist das schönste Handwerk!«
»Mag sein, aber merke dir wohl: alle, die so leben, enden einmal im Krankenhaus oder im Zuchthaus.« So sagte mit kalter Seelenruhe Lispel-Heimchen.
»Nimm dich in Acht, Grillenköter, mit deiner bösen Zunge! Wenn mir die Galle steigt! ... Nimm dich zusammen! ...«
»Armer Pinocchio, du tust mir wirklich leid!«
»Warum soll ich dir leid tun?«
»Du bist halt ein Hampelmann und hast einen Holzkopf.«
Jetzt schnellte Pinocchio wütend vom Boden auf, riss einen Holzhammer von der Schnitzelbank und schleuderte ihn gegen das Lispel-Heimchen.
Vielleicht wollte er daneben zielen; aber der Hammer flog dem Tierchen gerade auf den Kopf. – Lispel-Heimchen zirpte eben noch: kri-kri-kri, dann ging ihm der letzte Atem aus, und es blieb wie eine getatschte Fliege an der Wand hängen.
Indessen war es Abend geworden, und Pinocchio erinnerte sich, dass er noch Nichts gegessen hatte. Er spürte eine Leere im Magen und fühlte starken Appetit. Im Handumdrehen war der Appetit schon Hunger und verlangte gestillt zu werden.
Auf dem eisernen Ofen in der Ecke stand ein Topf. Pinocchio hob den Deckel ab und schaute hinein. – Nichts als Wasser. Er sah sein dummes Gesicht darin abgespiegelt und setzte kopfschüttelnd den Deckel wieder auf den Topf.
Der hungrige Pinocchio rannte im Zimmer auf und ab, zog alle Schubladen aus, öffnete alle Kästchen. – Oh wenn er doch ein Stückchen Brot finden würde, auch wenn es ganz trocken wäre! Sogar mit einer alten, harten Kruste hätte er sich begnügt, aber gar Nichts war da auf Vorrat bei seinem armen Vater Seppel.
Indes wurde der Hunger immer stärker und Pinocchio fing an zu gähnen. Er riss den Mund entsetzlich auf und glaubte, sein Magen gehe ihm davon. Mutlos und verzweifelt fing er an zu weinen und sprach:
»Ja, ja! Lispel-Heimchen hat doch Recht gehabt und hat es so gut mit mir gemeint. – Aber ich war eigensinnig und unartig; ich habe dem Vater nicht gehorcht und bin ihm davongelaufen. – Wenn doch nur der Vater da wäre! – Durch meine Schuld ist er ins Gefängnis gekommen und ich muss daheim vor Hunger sterben. – Der Hunger tut so weh; er ist eine schreckliche Krankheit.« –
Hurra! – Dort liegt etwas auf dem Kehrichthaufen. Pinocchio springt hin, hebt es auf und ruft:
»Ein Ei! Ein Ei!« – Der halbverhungerte Hampelmann kann sein Glück kaum fassen. Er hält das Ei in beiden Händen, drückt es an die Wangen, küsst und streichelt es.
»Jetzt mache ich mir einen Eierkuchen«, sagt er überglücklich, »oder soll ich es einschlagen? – Oder weichkochen? – Das Einschlagen geht am schnellsten; ich kann nicht mehr lange warten mit meinem Hunger.«