Piraten - Simon Scarrow - E-Book
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Piraten E-Book

Simon Scarrow

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Beschreibung

Römisches Reich, 25 n.Chr.: Seine erste Fahrt zur See mündet für den jungen Telemachos in einen Kampf um Leben und Tod. Das Handelsschiff, auf dem er angeheuert hat, wird gekapert. Um seine Haut zu retten, muss er sich wohl oder übel den Männern des grausamen Kapitäns Bulla anschließen. In der brutalen Welt der Seeräuber verdient sich Telemachos durch Zähigkeit und Geschick den Respekt der Mannschaft. Als am Horizont die Segel der römischen Flotte in Sicht kommen, ist er längst selbst zum Piraten geworden. Die letzte Schlacht naht!

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Seitenzahl: 601

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DAS BUCH

»Sie werden versuchen, uns zu entern, und dann greifen wir nach allem, was als Waffe herhalten kann, und kämpfen um unser Leben.« Leitos setzte ein grimmiges Lächeln auf. »Wir lassen uns nicht einfach abschlachten, ohne uns zu wehren.«

Die Furchtlosigkeit des ersten Offiziers machte Telemachos Mut. Trotzdem verfluchte er Clemestes insgeheim für sein Zaudern und wunderte sich, dass der Kapitän nicht schon nach dem ersten Sichten des Schiffs die Flucht ergriffen hatte. Jetzt hing es von der Gnade der Elemente ab, ob sie den Piraten zum Opfer fielen. In der nächsten Stunde drängten sich die Matrosen achtern an der Reling und hielten mit gereckten Hälsen Ausschau nach dem sich rasch nähernden Seeräuberschiff. Clemestes stapfte auf dem Deck hin und her und schaute immer wieder hinauf zum Großsegel, das sich im steifen Ostwind straff spannte. Trotzdem wurde der Abstand zu den Piraten immer kleiner.

Clemestes wandte sich an den ersten Offizier. »Hol die Waffen raus, Leitos. Verteil sie an die Stärksten. Die anderen müssen sich mit dem behelfen, was da ist.«

Dass das Leben auf der Straße, ohne den Schutz einer Familie, gefährlich ist, weiß der junge Telemachos schon lange. Doch dass jeder Atemzug der letzte sein kann, erfährt er erst auf Hoher See, im Angesicht des Ozeans und der Piraten.

DER AUTOR

Simon Scarrow wurde in Nigeria geboren und wuchs in England auf. Nach seinem Studium arbeitete er viele Jahre als Dozent für Geschichte an der Universität von Norfolk, bevor er mit dem Schreiben begann. Mittlerweile zählt er zu den wichtigsten Autoren historischer Romane. Mit seiner großen Rom-Serie und der vierbändigen Napoleon-Saga feiert Scarrow internationale Bestsellererfolge.

Besuchen Sie Simon Scarrow im Internet unter www.simonscarrow.co.uk

SIMON SCARROW

T. J. ANDREWS

PIRATEN

Aus dem Englischen von Tamara Rapp

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Pirata erschien erstmals 2019 bei Headline Publishing Group, Hachette UK, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 07/2022

Copyright © 2019 by Simon Scarrow

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Friedrich Mader

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (Luis Loro, Michael Rosskothen)

Gestaltung der Karte: © Tim Peters

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-27247-0V002

www.heyne.de

HANDELNDE FIGUREN

Telemachos: eine junge griechische Waise

Nereus: Telemachos’ älterer Bruder, ein Sklave

Nestor: ein gefürchteter Piratenführer

Agrios: Kapitän des Piratenschiffs Pegasos

Caius Munnius Canis: Präfekt der Flotte von Ravenna

SELENE

Clemestes: Kapitän

Leitos: erster Offizier

Geras: ein Matrose

Syleus: ein Matrose

Dimithos: Steuermann

POSEIDONS DREIZACK

Bulla: Kapitän

Hector: erster Offizier

Castor: Quartiermeister

Skiron: Folterknecht

Longarus: Ausguck, eins der jüngsten Besatzungsmitglieder

Virbius: erfahrener Seemann

Bassus: thrakischer Kämpfer

Proculus: Schiffszimmermann und Aushilfsarzt

Lasthenes: syrischer Pirat

Calkas: Steuermann

KAPITEL 1

Piräus, Anfang 25 A. D.

Eine scharfe Windbö ließ beißenden Regen auf den griechischen Kapitän niederprasseln, der auf der trüb beleuchteten Straße dahinstolperte. Es war ein ungemütlicher Vorfrühlingsabend, und die Hafengegend lag wie ausgestorben da. Clemestes hastete weiter und schielte immer wieder über die Schulter nach den drei bulligen Gestalten knapp hinter ihm. Der erfahrene Kapitän des Handelsschiffs Selene war gerade von einer erfolgreichen Fahrt nach Salamis mit einer Ladung Garum und Klippfisch zurückgekehrt. Obwohl er letztlich nur einen schmalen Gewinn erzielt hatte, der kaum die Kosten der Mannschaft und des Schiffs deckte, war es ihm besser ergangen als den meisten seiner Standesgenossen. Zwei Jahre mit schlechten Ernten und Piratenangriffen hatten das Handelsaufkommen hier im Hafen schrumpfen lassen, und die Kapitäne der Kauffahrer machten schwere Zeiten durch. Mehrere hatten sich gezwungenermaßen aus dem Geschäft zurückgezogen, und viele der Übrigen hatten sich bei den Händlern größere Summen ausleihen müssen, um ihre Verluste aufzufangen. Clemestes hatte beschlossen, den raren Anlass einer gelungenen Reise in einer örtlichen Taverne mit einem Schlauch Mulsum zu feiern. Als sich über den Hafen schon die Dämmerung stahl und das Licht verblasste, hatte er den »Lustigen Seemann« verlassen und sich auf den Weg zurück in die warme kleine Kabine auf seinem Schiff gemacht. Dabei waren ihm die Männer aufgefallen, die ihm folgten.

Der Regen rauschte unablässig auf die Dachschindeln der umgebenden Gebäude, als Clemestes durch die zwielichtigen Gassen des Speicherviertels stapfte. Normalerweise herrschte um diese Stunde bei den Lagerhallen großer Betrieb, wenn die Stauer die meist für Athen bestimmten Güter von frisch eingelaufenen Handelsschiffen ausluden. Doch jetzt hing eine unheimliche Stille über dem Stadtteil. Die Bedrohung durch Piratenbanden, die auf den großen Schifffahrtsstraßen ihr Unwesen trieben, hatte die örtlichen Kaufleute und Schiffseigner verunsichert, und sie scheuten das Risiko eines Transports ihrer Waren durch das Imperium. Unter dem Rückgang des Handelsverkehrs hatte Piräus schwer gelitten, und nichts deutete darauf hin, dass sich die Stadt bald von dieser wirtschaftlichen Flaute erholen würde.

Ohne sein Tempo zu verlangsamen, spähte Clemestes erneut über die Schulter. Die drei kräftig gebauten Männer in ihren braunen Tuniken blieben ihm auf den Fersen, ohne je zurückzufallen. Zuerst hatte er den Gedanken, dass sie ihn verfolgten, als Unsinn abgetan. Doch dann hatte er im Schein einer offenen Tür einen Blick auf ihre Gesichter erhascht und sie aus dem Trubel in der Taverne wiedererkannt. Sie hatten mit ihren Getränken an einem aufgebockten Tisch in einer dunklen Ecke gesessen und die anderen Gäste voller Neugier gemustert. Mit einer allzu starken Neugier, überlegte Clemestes jetzt angespannt. Er hegte keinen Zweifel mehr. Diese Männer waren Banditen. Sie hatten beobachtet, wie er die Taverne verließ, und wollten ihn ausrauben.

Er schluckte schwer, wandte sich wieder nach vorn und zog seinen Umhang eng um sich, als er den Schritt beschleunigte und sich verfluchte, weil er die Strauchdiebe nicht eher bemerkt hatte. Hätte er seine Verfolger gleich nach dem Verlassen der Taverne entdeckt, hätte er ohne Weiteres Zuflucht in einer anderen der vielen billigen Kaschemmen und Weinhäuser suchen können, die auf der Agora ihr florierendes Geschäft betrieben. Doch nein, er hatte sich so am Erfolg seiner Fahrt berauscht, dass ihm die Banditen erst auffielen, nachdem er vom Hauptplatz abgebogen und in die schummerigen, gewundenen Gassen des Speicherviertels vorgedrungen war. Jetzt konnte sich Clemestes nirgends mehr verstecken und abwarten, bis die Räuber die Verfolgung aufgaben. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, die ihn vor dem drohenden Angriff hätte bewahren können.

Er zitterte unter seinem Umhang und schaute sich abermals um. Die Banditen waren jetzt zwanzig Schritt hinter ihm und bewegten sich flink trotz ihrer stämmigen Statur. Clemestes hingegen wurde von einem deutlichen Hinken behindert, die Nachwirkung einer Verletzung, die er während seiner Jahre als erster Offizier auf einem Schiff erlitten hatte. Mit wachsendem Grauen begriff er, dass ihn die Verfolger bald einholen würden.

Er verscheuchte den Nebel aus Trunkenheit in seinem Kopf und kam zu dem Schluss, dass seine einzige Chance darin bestand, sich einen Weg durch das Gewirr von Lagerhallen zu bahnen. Vielleicht konnte er den Banditen auf diese Weise entkommen und sich dann auf den Weg zur Selene machen. Er war in Piräus aufgewachsen und hatte als kleiner Junge häufig Botengänge für die Speicherinhaber erledigt, bevor er sich der Mannschaft eines kleinen Schiffskutters anschloss. Daher kannte er sich in den Gassen des Viertels so gut aus wie kaum ein anderer. Besser als die Räuber, die ihm im Nacken saßen, hoffte Clemestes. Mit ein wenig Glück konnte er sie abschütteln und dann unbehelligt auf sein Schiff und zu seinen Leuten zurückkehren.

Blitzschnell huschte er in eine Seitengasse und schlug mehrere Haken in Richtung des großen Emporions in der Nähe des Kais. Ein übler Gestank nach menschlichen Exkrementen hing in der Luft. Sein Herz schlug schneller, und er flehte zu den Göttern, ihn vor seinen Verfolgern zu beschützen. Er passierte einen kleinen, verlassenen Speicher, der auf schmerzliche Weise von den schweren Zeiten zeugte, die Piräus wegen der Piratenüberfälle durchmachte. Natürlich hatte es schon immer einige Seeräuber gegeben, die die Schiffsrouten belagerten und von Zeit zu Zeit arglose Kauffahrer aufbrachten. Doch in den letzten Jahren hatte sich die Situation verschärft, weil die Piraten, ermutigt von ihren ersten Erfolgen, immer kühnere Raubzüge durch das östliche Mittelmeer und darüber hinaus unternahmen. Inzwischen war es so schlimm, dass Clemestes beschlossen hatte, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen, sobald er seine Schulden abbezahlt hatte. Er hatte vor, die Selene in ein oder zwei Jahren zu verkaufen und sich auf einer Insel in der Ägäis niederzulassen. Er wollte eine Einheimische heiraten, ein Stück Land kaufen, sich um Aussaat und Ernte kümmern und an den Abenden im Wirtshaus mit den anderen alten Recken Seemannsgarn spinnen. Falls er so lange lebte.

Ihm sank der Mut, als er bemerkte, dass zwei der Verfolger ihm noch immer auf den Fersen waren und obendrein näher kamen. Er wandte sich wieder nach vorn und hinkte weiter. In der Ferne hörte er schallendes Gelächter und wusste, dass es nicht mehr weit bis zum Pier war. Auf dem Kai war immer etwas los, und sobald er dort ankam, mussten die Männer hinter ihm die Jagd aufgeben. Obwohl der Handel in Piräus in jüngster Zeit stark gelitten hatte, herrschte am Hafen auch zu dieser späten Stunde ein geschäftiges Treiben von Kaufleuten, Matrosen und Besuchern von Weinschenken. Clemestes hoffte, dass die Banditen in diesem belebten Stadtteil keinen Angriff wagen würden.

Der Kapitän schlüpfte nach rechts in eine enge Gasse zwischen zwei verfallenen Gebäuden und rutschte zweimal beinahe aus, weil er nicht in das Rinnsal aus Pisse und Scheiße tappen wollte, das in diesem Stadtteil frei durch die Straßen floss. In der Dunkelheit konnte er nur wenige Schritt weit sehen und musste sich vorsichtig einen Weg durch den stinkenden Abfall bahnen, der zu beiden Seiten auf die Gasse gekippt worden war. Ein kurzes Stück weiter vorn hing in einem Eisenhalter eine Öllampe, die den Eingang zu einem Speicher neben dem Emporion beleuchtete. In ihm stieg Erleichterung auf, denn nun hatte er den Kai fast erreicht. Als er weiterdrängte, stieß er mit dem Fuß gegen etwas Hartes, Knochiges. Er geriet ins Stolpern und gewann erst im letzten Moment sein Gleichgewicht zurück.

»Au, pass doch auf!«, zischte eine Stimme.

Clemestes hielt inne und warf einen Blick zurück. Mühsam konnte er im Schatten einen liegenden Jungen ausmachen, der sich eine fadenscheinige Decke um den dürren Leib gewickelt hatte. In der finsteren Gasse hatte er ihn nicht gesehen und war über seine ausgestreckten Beine gestrauchelt. Der junge Obdachlose starrte ihn böse an.

Das pochende Geräusch heraneilender Schritte riss den Kapitän aus seiner Versunkenheit, und er humpelte weiter. Bis zur Ecke waren es nur noch zwanzig Fuß, und einen kurzen Moment lang glaubte er schon, seinen Verfolgern entronnen zu sein. Dann bewegte sich im Schatten am Ende der Gasse etwas, und eine vierschrötige Gestalt hastete um die Ecke. Clemestes blieb wie angewurzelt stehen, als er den rasierten Schädel und das von Narben entstellte Gesicht erkannte. Der dritte Bandit. Eisige Angst stieg in ihm auf. Anscheinend war der Mann auf einer parallel verlaufenden Gasse vorausgerannt, um Clemestes den einzigen Weg zum Pier abzuschneiden, während seine zwei Spießgesellen gleichmäßigen Abstand zu ihrem Opfer hielten. Clemestes schlug das Herz bis zum Hals. Der Plan der Straßenräuber war aufgegangen. Er saß in der Falle.

Er fuhr herum und sah die zwei anderen Banditen am Eingang der Gasse auftauchen und entschlossen auf ihn zusteuern. Hektisch um sich blickend suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit. Doch es gab keine. Clemestes lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sich die drei Männer näherten. Er öffnete den Mund zu einem Hilfeschrei, aber einer der Räuber sprang blitzschnell vor und rammte ihm die Faust in den Magen. Die Hand an den Bauch gedrückt, krümmte sich der Kapitän ächzend, und die Luft rauschte ihm aus der Lunge. Derselbe Bandit holte mit dem Stiefel aus und streckte ihn mit einem derben Stoß nieder. Nun fielen die anderen zwei mit einem Wirbel von Faustschlägen und Tritten über ihn her, und durch seinen Kopf brandete ein heftiges Stechen. Schützend hob er die Arme, doch immer weiter prasselten die Hiebe auf ihn nieder. Eine Stiefelspitze bohrte sich in seine ungeschützte Seite. Es knackte laut, und in seiner Brust loderte scharfer Schmerz auf.

»Schnapp dir seine Börse!«

Zwei Räuber traten zurück, und die Schläge hörten auf. Stöhnend fasste sich Clemestes an die lädierte Brust. Er schmeckte Blut. Der Dritte, der eine gebrochene Nase und mehrere Zahnlücken hatte, ließ sich neben ihm auf ein Knie nieder, griff ihm unter den Umhang und packte die am Gürtel festgemachte Geldbörse. Er riss sie los und warf sie seinem Kumpan zu, einem gedrungenen, bärtigen Kerl mit kleinen, dunklen Augen. Dieser spähte in die Börse und runzelte die Stirn.

Dann starrte er Clemestes an, die Augen zu Schlitzen verengt. »Wo ist der Rest?«

Clemestes zuckte zusammen. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Blödsinn! Ich bin doch nicht von gestern, Alter. Wir haben von der Ladung gehört, mit der du angelegt hast. Ein Freund von uns behält alle Güter im Auge, die reinkommen. Er meint, dass du mit deinen Sachen einen anständigen Preis erzielt hast. Jedenfalls mehr als die paar mickrigen Münzen hier.« Der Bärtige tippte auf die halb leere Börse und deutete dann auf seinen Kumpan mit den fehlenden Zähnen. »Du sagst mir jetzt, wo du das übrige Geld hast, oder Cadmus hier schneidet dir deine verdammten Eier ab.«

Cadmus setzte ein bedrohliches Grinsen auf und zückte seinen Dolch.

Clemestes richtete den Blick wieder auf den Bärtigen und schüttelte hastig den Kopf. »Nein, bitte! Das ist alles, was ich habe!«

»Der Hund lügt«, fauchte Cadmus. »Das seh ich genau.«

»Es ist die Wahrheit, ich schwöre es«, beteuerte Clemestes.

Der Räuber musterte ihn kurz, dann wandte er sich an den Mann mit dem Dolch. »Schneid ihm ein Auge raus, Cadmus. Das löst ihm bestimmt die Zunge.«

Das schwache Licht blitzte auf der erhobenen Klinge, als Cadmus auf den Kapitän zutrat. Clemestes lag hilflos auf den regennassen Steinplatten, überwältigt von der Erkenntnis, dass er hier in dieser schäbigen Gasse sein Leben lassen würde und nicht etwa durch das Wüten eines schrecklichen Seeungeheuers oder eines heftigen Sturms, wie er es oft befürchtet hatte. Steif vor Angst beobachtete er, wie sich die Dolchspitze seinem Gesicht näherte, und richtete ein stilles Stoßgebet an die Götter.

Plötzlich erahnte er hinter dem Banditen eine Bewegung. Aus einem Türeingang stürzte sich ein dunkler, geschmeidiger Schemen auf den Bärtigen und rammte ihm die Schulter in den Rücken. Mit einem abgerissenen Ächzen krachte der Räuber nach vorn in einen Haufen Schutt und vermodertes Holz auf der Gassenseite.

Überrascht vom Schmerzensschrei seines Spießgesellen fuhr Cadmus herum und bemerkte die heranstürmende Gestalt. Clemestes erhaschte einen Blick auf das Gesicht des Angreifers und erkannte den jungen Obdachlosen, über dessen Beine er gestolpert war. Fassungslos beobachtete er, wie der magere Bursche über den gestürzten Räuber hinwegsetzte und auf Cadmus zuraste.

»Saukerl!« Cadmus stach mit dem Dolch nach der Kehle des jungen Mannes. Doch dieser war viel wendiger als der klobige Bandit und wich dem Stoß geistesgegenwärtig aus. Cadmus knurrte enttäuscht, als seine Klinge ins Leere fuhr. Brüllend schlitzte er wild durch die Luft und zwang den Jungen, sich mit einer ruckartigen Bewegung nach hinten in Sicherheit zu bringen. Cadmus sprang ihm nach und ließ die Klinge auf seinen Bauch niedersausen. In einer einzigen fließenden Bewegung parierte der Junge den Stoß mit dem Unterarm, huschte auf seinen Gegner zu und rammte ihm die Faust an den Kopf. Dumpf krachte Knochen auf Knochen, und der Schädel des Banditen zuckte nach hinten. Der Dolch entglitt seinem Griff und fiel klirrend zu Boden.

»Pass auf!«, schrie Clemestes.

Der Junge wirbelte herum und bemerkte, dass sich der Bärtige mit einem benommenen Kopfschütteln wieder aufgerichtet hatte und schwankend auf ihn losging. Der Junge hechtete nach vorn und riss den Dolch an sich, bevor er sich dem Banditen entgegenstellte. Als dieser zu einem fahrigen Schlag ausholte, ließ er sich blitzartig in die Hocke fallen und wich geschickt aus. Dann schnellte er auf den Fußballen hoch und stach mit der scharfen Dolchspitze nach seinem Gegner. Untermalt von einem überraschten Ächzen des Mannes, bohrte sich die Klinge tief in den Bauch des Räubers. Sein Mund erschlaffte, und er senkte taumelnd den Blick auf den Griff, der aus seinen Eingeweiden ragte. Von der Wunde breitete sich ein nass glänzender Fleck auf seiner Tunika aus.

Bevor der Bandit gekrümmt zusammensackte, riss ihm der Junge den Dolch heraus und wandte sich Cadmus zu, der sich wieder hochgerappelt hatte. Inzwischen war auch der Dritte herbeigestürzt und stellte sich neben seinen Kumpan. Wachsam beäugten die beiden den Straßenjungen.

»Na kommt schon!«, brüllte dieser. »Wer von euch Schweinen will als Nächster dran glauben?«

Die zwei Räuber zögerten. Ihre Blicke glitten von ihrem verwundeten Spießgesellen zu dem todbringenden Angreifer, der mit dem Dolch in der blutverschmierten Hand vor ihnen stand. In seinen Augen glitzerte ein gefährliches Licht, und seine schlanken Muskeln waren angespannt wie bei einem sprungbereiten Raubtier. Einen Moment lang herrschte atemlose Stille. Dann wurden Stimmen laut, die sich aus der Richtung des Kais näherten. Nach einem letzten bösen Blick auf den Jungen nickte Cadmus seinem Kumpan zu, und die beiden Banditen rannten durch die Gasse zurück in den Speicherbezirk, weg von dem Geräusch. Eine Woge der Erleichterung schwappte über Clemestes hinweg, als er beobachtete, wie sie verschwanden.

Der Junge steckte den Dolch in den Gürtel und eilte zu ihm. »Alles in Ordnung?«

Clemestes zwang sich zu einem Lächeln. »Mir geht’s gleich wieder gut. Bin bloß ein bisschen angeschlagen. Ich dachte, die Kerle bringen mich um.«

»Ziemlich übler Haufen, stimmt. Aber die machen dir keine Scherereien mehr.« Der Junge deutete mit dem Kinn auf den hingestreckten Banditen. »Der zumindest.«

»Wahrscheinlich nicht.« Clemestes schielte nach dem Sterbenden. Er wollte sich erheben, doch die Anstrengung war zu groß, und er sank zitternd vor Schmerz und Schock wieder zurück.

»Hier, lass dir helfen.« Der Junge hielt ihm die Hand hin.

Clemestes fasste danach und zog sich mit einer Grimasse hoch, bis er auf wackligen Beinen stand. Jede Faser seines Körpers schmerzte, und er bekam nur mühsam Luft. »Danke.« Schließlich fixierte er die ausgehungerte Gestalt. »Wie heißt du?«

»Telemachos. Und du?«

»Clemestes. Ich bin der Kapitän der Selene.« Er neigte den Kopf. »Ich stehe tief in deiner Schuld, Telemachos. Du hast mir das Leben gerettet.«

Telemachos zuckte die Achseln. »Ich war bloß zufällig in der Nähe, das ist alles. Das hätte doch jeder getan.«

»Daran habe ich ernste Zweifel.«

Der Kapitän verstummte kurz und betrachtete den Jungen. Er war in zerfledderte Lumpen gekleidet und schien nicht älter als sechzehn oder siebzehn. Über Kinn und Wangen zogen sich knotige weiße Narben. Eins der verlassenen Kinder von Piräus, dachte Clemestes. Allein und ohne Hoffnung. Der Nachwuchs eines Seemanns, der mit einer Einheimischen eine kurze Affäre genossen hatte. Nach der Geburt ausgesetzt und ganz auf sich gestellt. Im Hafen wimmelte es von ihnen. Und doch hatte Telemachos etwas an sich, das seine Neugier weckte. Dieses magere Kerlchen hatte drei abgebrühte Verbrecher besiegt. Clemestes spürte eine feurige Widerstandskraft in ihm.

»Wo willst du hin?«, fragte Telemachos. »Ich helfe dir.«

»Zu meinem Schiff«, krächzte der Kapitän. Er winkte in Richtung Hafen und zuckte zusammen. »Mist … die haben mir eine ganz schöne Abreibung verpasst.«

Telemachos nickte. »Wir sollten lieber verschwinden, falls sie noch mal zurückkommen.«

Er schlang Clemestes den Arm um den Rücken, und die beiden setzten sich in Bewegung. Von hinten hallte ihnen das tiefe Stöhnen des Sterbenden nach.

KAPITEL 2

Der Regen schwächte sich zu einem Nieseln ab und hörte schließlich ganz auf. Durch eine Lücke in der dunklen Wolkendecke brach schwaches Mondlicht. Telemachos stützte den Kapitän auf dem Weg zum Hafen und konnte bereits die Masten und die Takelage von Dutzenden festgemachten Schiffen erkennen. Dieser Anblick war für den jungen Griechen ein vertrauter Teil des Hafenlebens, genauso wie die Gesänge und zotigen Witze der Matrosen, die für die Nacht auf ihre Schiffe zurückkehrten. Auf den Straßen zum Pier befanden sich nur noch wenige Männer, die miteinander stritten oder Würfel spielten. Auf einer Seite des Kais machten Wachen in Zweiertrupps vor den mächtigen, aus Holz gezimmerten Speichergebäuden ihre Runde. Der Hafen selbst blickte hinaus auf zwei Steinmolen. Weiter draußen krachten dunkle Wellen gegen die Dammmauer und zerplatzten zu weißer Gischt, die im fahlen Licht glitzerte.

Clemestes hielt vor einem großen Frachter am hinteren Ende des Kais. »Da ist sie«, verkündete er stolz. »Die Selene. Sicher nicht das schnellste Schiff, aber dafür sehr robust.«

Neugierig ließ Telemachos den Blick über den Kauffahrer wandern. Im Mondschein erkannte er einen stumpfen Bug und einen breiten Rumpf mit einem hochgezogenen Achtersteven, auf dem als Relief die griechische Göttin Selene mit ihrem Mondwagen abgebildet war. Am Heck hing ein großes Steuerruder, und vom Vordeck führte ein schmaler Landesteg hinunter zum Kai. Ohne Ladung lag die Selene hoch im Wasser. Sie war größer als die meisten anderen Schiffe im Hafen, und Telemachos fand, dass sie einen imposanten Anblick bot.

Clemestes nickte seinem Retter zu und lächelte verlegen. »Leider kann ich dir nicht viel zur Belohnung anbieten. Aber vielleicht möchtest du an Bord einen Happen essen und etwas trinken? Das ist das Mindeste, was ich tun kann.«

Schweigend ließ sich Telemachos den Vorschlag des Kapitäns durch den Kopf gehen. Er lebte schon lange auf der Straße und wusste aus Erfahrung, dass bei freundlichen Angeboten von Fremden äußerste Vorsicht geboten war. Andererseits lag seine letzte Mahlzeit bereits zwei Tage zurück, und er spürte ein schmerzhaftes Knurren in seinem Magen. Außerdem machte der Kapitän einen ziemlich harmlosen Eindruck.

Er nickte. »Danke.«

»Gut.« Clemestes rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Hier lang.«

Telemachos half ihm über die Laufplanke hinauf zum Vordeck. Dort schlief eine Handvoll Männer, dick eingewickelt in Tücher oder unter Zeltplanen zum Schutz vor dem Schmuddelwetter. Beim Ersten blieb Clemestes stehen und stupste ihn unsanft an. Laut schnarchend wälzte sich der Matrose auf die andere Seite. Der Kapitän schüttelte ihn heftiger, bis der Mann sich mit undeutlichem Gebrabbel regte.

Schließlich sprang er auf, und in seine glasigen Augen trat ein Ausdruck von Bestürzung, als er die Prellungen in Clemestes’ Gesicht bemerkte. »Heiliger Zeus!«, lallte er. Sein Atem roch nach billigem Wein. »Beim Hades, ist dir was zugestoßen?«

»Mir geht’s gut, Syleus«, antwortete Clemestes. »Ehrlich. Bin in eine Schlägerei geraten, das ist alles. Aber ohne diesen Burschen hier hätte das Ganze viel schlimmer ausgehen können.« Er deutete mit dem Kopf auf Telemachos.

Syleus fixierte den zerlumpten Griechen mit hochgezogener Braue. »Tatsächlich?«

»Weck bitte meinen Kajütendiener«, sagte der Kapitän. »Ich gehe runter in mein Quartier.«

»Aye, Käpt’n.«

Telemachos beobachtete, wie Syleus sich einen Weg zu einer zusammengekauerten Schar unter einem Zelt im Bug des Schiffs bahnte. Er brüllte einen der Seeleute an und weckte ihn mit Tritten. Der Kajütendiener, der einige Jahre jünger war als Telemachos, sprang auf und hastete zur Heckluke, von der eine Treppe hinunter zum Kapitänsquartier führte. Dicht hinter ihm bewegten sich Telemachos und Clemestes langsam über die sonnengebleichten Planken. Clemestes stieg durch die Luke, und der Jüngere folgte ihm über die Treppe zu einer kleinen, schräg ins Heck eingelassenen Kajüte. Telemachos musste unter dem Türsturz den Kopf einziehen, als er das enge Gelass betrat. Auf dem kompakt um den Achtersteven gebauten Schreibtisch hatte der Diener gerade eine Öllampe angezündet, deren Schein die Kajüte kaum zu erhellen vermochte.

»Bring uns was zu essen und zu trinken aus dem Proviantraum, Nessos«, befahl Clemestes.

»Ja, Herr.«

Der Junge wandte sich ab und eilte hinaus. Telemachos spähte in das schummerige Licht. Auf einer Seite des Schreibtischs erkannte er eine schmale Pritsche und daneben auf dem Boden eine massive Geldkassette. In der Luft lag ein starker Geruch nach gebrauchten Tauen und Teer.

Clemestes ließ sich vorsichtig auf der Pritsche nieder und wies auf einen Hocker vor dem Schreibtisch. »Bitte nimm Platz.«

Telemachos folgte der Aufforderung und versuchte sein Unbehagen über das langsame Schaukeln des festgemachten Frachters zu verbergen.

»Zum ersten Mal auf einem Schiff?«, fragte Clemestes.

Telemachos nickte beklommen. »Gesehen hab ich schon viele. Hab mehr oder weniger mein ganzes Leben im Hafen verbracht. Aber ich hab noch nie einen Fuß auf eins gesetzt.«

»Du lebst auf der Straße, nehme ich an?«

»Ja.« Beschämt senkte Telemachos den Kopf. »Schon lange.«

»Was ist mit deinen Eltern?«

»Die sind tot«, antwortete der Junge tonlos.

»Aber du wirst doch irgendwelche Verwandten haben, die dich aufnehmen können? Eine Tante oder einen Onkel vielleicht? Oder einen Bruder? Da muss es doch jemanden geben.«

Achselzuckend wandte Telemachos den Blick ab. Kurz darauf kam der Kajütendiener mit einer Platte herein, auf der Käse, ein paar Schnitze getrocknetes Rindfleisch und Brot lagen. Dann stieg er noch einmal nach oben und kehrte mit zwei Keramikbechern und einem Krug kräftig riechendem Wein zurück. Telemachos leckte sich über die Lippen und beäugte gierig die Speisen. Nachdem Nessos verschwunden war, schenkte Clemestes mit Wasser verdünnten Wein ein und reichte seinem Gast einen Becher. Telemachos fing sofort an, sich Essen in den Mund zu schaufeln, und nahm nur zwischendurch schlürfend einen Schluck. Der Wein rann ihm übers Kinn, als er den Becher absetzte und die Zähne in einen Streifen Fleisch schlug.

Clemestes lächelte mitfühlend. »Es ist bestimmt schwer. Das Leben auf der Straße, meine ich.«

»Man kommt schon irgendwie klar«, erwiderte Telemachos kauend. »Meistens stöbere ich in der Nähe der Speicher herum. Die Kaufleute werfen immer Zeug weg. Oft ist es schimmelig, aber man gewöhnt sich an den Geschmack.« Er stopfte sich Käse in den Mund und rülpste. »Im Winter ist es am schlimmsten. Da ist es bloß noch kalt und nass.«

»Was ist mit deinen Eltern passiert?«

»Das geht nur mich was an.« Gereizt legte Telemachos ein Stück Rindfleisch beiseite und schaute den Kapitän an. »Warum fragst du überhaupt? Das betrifft dich doch gar nicht.«

»Stimmt. Aber du hast mich vor diesen Strolchen geschützt. Dazu braucht es Mut, und so was findet man heutzutage bloß noch selten. Ich würde gern mehr über den tapferen jungen Mann erfahren, der mir das Leben gerettet hat.«

Telemachos schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Held.«

»Trotzdem. Die meisten Leute hätten keinen Finger gerührt, um mir zu helfen. Und wenn ich es mir überlege, fallen mir einige ein, die sich sogar abgewandt und das Weite gesucht hätten. Es macht mich einfach neugierig, warum ein unerschrockener Bursche wie du auf der Straße lebt.«

Eine Weile fixierte Telemachos schweigend das halb beendete Mahl. »Meine Mutter habe ich nie kennengelernt«, erklärte er schließlich leise. »Sie ist bei meiner Geburt gestorben.«

»Das tut mir leid.«

»Leid? Das ist doch nicht deine Schuld. Du hast sie nicht umgebracht.«

»Natürlich nicht. Trotzdem, es ist schwer, ohne Mutter aufzuwachsen.«

Telemachos zuckte bloß die Achseln. »Nach ihrem Tod musste mein Vater uns allein großziehen. Mich und meinen älteren Bruder Nereus. Wir hatten ein kleines Haus unten am Hafen in Munichia. Unser Vater hat auf den Schiffen gearbeitet. Er war Kapitän wie du.«

»Hier? In Piräus?«

Der Junge nickte. »Er hatte ein Handelsschiff. Eher klein. Nicht so groß wie das hier. Er hat sein Bestes versucht, aber es war immer schwer für uns, über die Runden zu kommen. Er konnte nicht mit Geld umgehen und hat es sofort ausgegeben, wenn er welches hatte. Meistens für Glücksspiel und Wein. Wenn er von einer Seereise zurückkehrte, hat er bloß kurz zu Hause vorbeigeschaut und ist dann sofort zum Saufen in die nächste Taverne gegangen. Manchmal blieb er wochenlang verschwunden. Eigentlich hab ich ihn kaum zu Gesicht bekommen. Wenn sich jemand um mich gekümmert hat, dann war das Nereus. Hat immer ein paar Münzen aus der Börse meines Vaters genommen, wenn der seinen Rausch ausgeschlafen hat, damit wir genug Geld für Essen und Kleider hatten, solange der Alte unterwegs war. Mein großer Bruder hat damals viel mehr für mich getan als mein Vater.« Er verstummte und stocherte in seinem Essen.

Clemestes betrachtete ihn schweigend.

Nach einer Weile legte Telemachos ein Stück Brot beiseite und blickte den Kapitän an. »Eines Tages sind wir runter zum Kai gegangen und wollten das Schiff meines Vaters beim Einlaufen beobachten wie immer, wenn seine Rückkehr angekündigt war. Wir warteten und warteten, doch sie kamen nicht. Allmählich wurde es dunkel, und wir machten uns Sorgen. Schließlich lief ein anderes Schiff ein, und ein Freund meines Vaters entdeckte uns unten am Pier. Er trat zu uns, und sobald ich seinen Gesichtsausdruck bemerkte, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Er erzählte uns, dass das Schiff meines Vaters vor Delos in einen Sturm geraten war. Der Wind hatte sie auf die Felsenküste zugetrieben, und das Schiff war zerschellt. Als ihnen endlich ein anderes zu Hilfe kam, waren nur noch wenige Matrosen am Leben, die an Holztrümmer geklammert im Wasser schwammen. Vater gehörte nicht zu ihnen. Er ist auf See geblieben.«

»Wie alt warst du damals?«

»Sechs.« Telemachos zählte im Kopf nach. »Das war vor zehn Jahren.« Traurig lächelte er den Kapitän an. »Ich kann mich kaum noch erinnern, wie mein Vater aussah.«

»Was wurde aus dir und deinem Bruder?«

»Vater hat einen Berg Schulden hinterlassen. Nach seinem Tod haben wir rausgefunden, dass er seine Spielsucht mit Darlehen finanziert hatte. Einem Geldverleiher am Hafen hat er eine große Summe geschuldet. Der Mann wollte sein Geld zurück, aber so einen Betrag konnten wir unmöglich aufbringen. Eines Tages ist er mit zwei Leibwächtern bei uns aufgekreuzt, um unsere wenigen Habseligkeiten zu beschlagnahmen und mich und Nereus in die Sklaverei zu verkaufen. Sie haben meinen Bruder gepackt, und mich hätten sie auch mitgenommen, wenn Nereus sich nicht so lang gewehrt hätte, dass ich fliehen konnte. Ich bin ihnen entwischt, aber ich konnte nirgends hin. Seitdem lebe ich auf der Straße.«

»War bestimmt schwer, auf einmal ohne deinen Bruder auszukommen.«

»Ich hatte keine andere Wahl. Wenn Nereus nicht so geistesgegenwärtig gewesen wäre, hätten sie uns beide in Ketten gelegt.«

»Und wo ist er jetzt?«, fragte Clemestes.

»In einer Schmiede drüben in Thorikos.« In Telemachos’ Stimme brodelte der Zorn. »Das habe ich von einem Freund gehört, der in einer Werkstatt arbeitet. Sie kaufen ihr ganzes Werkzeug dort. Decimus Rufius Burrus heißt der Besitzer. Jedenfalls hat mein Freund die Schmiede besucht und Nereus erkannt. Burrus halst ihm alle gefährlichen Sachen auf: das Bedienen der Blasebälge und das Reinigen der Esse. Dieser verfluchte Römer behandelt seine Sklaven wie Dreck und lässt sie schuften bis zum Umfallen. Erst letzten Monat ist einer der anderen bei einem Unfall gestorben. Wenn mein Bruder sich da noch lange abschinden muss, wird es ihm genauso ergehen, fürchte ich.« Telemachos drückte die Augen zu, um seinen Zorn im Zaum zu halten. Als er sie wieder aufschlug, bemerkte er, dass ihn der Kapitän nachdenklich musterte.

Schließlich beugte sich Clemestes mit einem Räuspern vor. »Und wenn es eine Möglichkeit gäbe, deinen Bruder freizukaufen?«

Telemachos schnaubte ungläubig und schüttelte den Kopf. »So viel Geld kann ich nie auftreiben. Ich verdiene mir höchstens mal ein paar As, wenn ich Passagieren, die von Bord gehen, beim Tragen ihres Gepäcks helfe. Die Ausbeute ist eher bescheiden. Da müsste ich zehn Leben lang sparen, damit ich ihn loskaufen könnte.«

»Vielleicht.« Sinnierend strich sich Clemestes übers Kinn. »Oder vielleicht auch nicht.«

Telemachos runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«

»Einen wie dich könnte ich in meiner Mannschaft gut gebrauchen. Jemand, der seine fünf Sinne beisammenhat und sich nicht vor ehrlicher Arbeit scheut.«

Telemachos starrte den Kapitän entgeistert an. »Du bietest mir … eine Stelle an?«

Clemestes zuckte die Achseln. »Du brauchst Geld, und ich brauche eine Hilfskraft auf meinem Schiff.«

Telemachos machte keinen Hehl aus seiner Skepsis. »Ich hab doch nicht die geringste Ahnung vom Seefahrerleben.«

Der Kapitän winkte ab. »Du bist jung, du wirst den Bogen schnell raushaben. Einer von den Älteren kann dir alles zeigen. Und dümmer als einige von den jetzigen Matrosen kannst du dich gar nicht anstellen.«

»Was hätte ich denn zu tun?«

»Ich habe an eine Stelle als Schiffsjunge gedacht. Anfangs mit halbem Lohn. Zumindest bis du deinen Wert bewiesen hast. Zu deinen Pflichten würde gehören, dass du den Umgang mit Segeln und Tauwerk erlernst, dazu Wachdienst und Handlangertätigkeiten.« Der Kapitän fixierte ihn mit ruhigem Blick. »Ich möchte dich nicht anlügen. Die Arbeit auf einem Schiff ist nicht leicht. Sie kann unangenehm und gefährlich sein. Aber glaub mir, das Leben auf See ist etwas ganz Besonderes. Man lernt fremde Orte kennen und kann etwas aus seinem Leben machen.« Er lehnte sich zurück und zuckte erneut mit den Achseln. »Besser als das Leben auf der Straße ist es allemal.«

Telemachos kniff die Augen zusammen. »Trotzdem verstehe ich das nicht. Warum möchtest du mir helfen?«

»Du hast mir das Leben gerettet, da bin ich dir was schuldig. Und nach allem, was ich höre, hast du es nicht leicht gehabt bis jetzt.«

»Ich brauche deine Almosen nicht. Und dein Mitleid auch nicht.«

»Was ich dir anbiete, hat mit beidem nichts zu tun. Ich bin einfach der Meinung, dass du das Zeug zu einem ausgezeichneten Seemann hast. Du bist zäh und furchtlos. Vielleicht ein bisschen hitzköpfig, aber das ist bei deiner Geschichte kaum anders zu erwarten. Und wer weiß? Wenn du deinen Lohn sparst, kannst du eines Tages vielleicht sogar deinen Bruder aus dieser von allen Göttern verlassenen Schmiede freikaufen.«

Tief in Gedanken starrte Telemachos auf sein Essen. »Wann müsste ich anfangen?«

»Sofort. Du meldest dich morgen früh beim ersten Offizier. Sobald wir unsere nächste Fracht geladen haben und sich das Wetter beruhigt, stechen wir in See.« Der Blick des Kapitäns fiel auf die zerfledderten Sachen seines Gasts. »Wahrscheinlich wirst du auch was aus der Kleiderkammer brauchen. Das wird dir vom Lohn für deine erste Fahrt abgezogen. Aber ich kann dich ja nicht in Lumpen auf meinem Schiff arbeiten lassen.« Unvermittelt klatschte Clemestes in die Hände. »Also? Was meinst du?«

Telemachos überlegte. Vor einer Stunde hatte er vor Kälte und Nässe gezittert und davon geträumt, eines Tages einen Ausweg aus seiner Misere finden zu können. Jetzt saß er mit vollem Bauch im warmen Quartier des Kapitäns und hatte die Möglichkeit, eine Stelle mit anständigem Lohn anzutreten. Er konnte kaum fassen, dass sich sein Schicksal auf einmal so wenden sollte. Trotzdem zögerte er, das großzügige Angebot anzunehmen. Das Leben auf den Straßen von Piräus war elend, doch aus vielen Erzählungen im Hafen wusste er, dass die Arbeit auf Schiffen gefährlich war. Viele wurden vom Meer verschlungen, vor allem im Winterhalbjahr. Sollte er sich wirklich dieser Mannschaft anschließen mit dem Risiko, das gleiche Schicksal zu erleiden wie sein Vater? Dann fiel ihm wieder Nereus ein, der sich in der Schmiede zu Tode schuftete. Seine Entscheidung war gefallen.

Er schaute den Kapitän an. »Also gut, ich nehme an.«

»Freut mich.« Clemestes stand auf und lächelte seinen frischgebackenen Schiffsjungen an. Er ergriff seine Hand und schüttelte sie fest. »Willkommen in deinem neuen Leben auf der Selene, Telemachos.« Seine Augen funkelten. »Du wirst es nicht bereuen.«

KAPITEL 3

Am nächsten Morgen war der Himmel noch immer bedeckt, und eisiger Sprühregen ging auf den Hafen nieder, als die Mannschaft der Selene die letzten Vorbereitungen für die Fahrt traf. In emsiger Geschäftigkeit machten die Matrosen klar Schiff und öffneten die Ladeluke. Clemestes schickte seinen Kajütendiener zum Markt, damit er Vorräte an Zwieback, Wasser und Brot für die anstehende Reise kaufte. Im schwachen Schein der Sonne hinter dunklen Wolkenbänken erschien aus der Richtung der Lagerhallen eine lange Reihe Hafenarbeiter, die die großen, für den Frachtraum der Selene bestimmten Amphoren heranschleppten.

Nachdem er das Quartier des Kapitäns verlassen hatte, war Telemachos von einem Besatzungsmitglied hinauf zum Deck begleitet worden. Geras war ein muskulöser, großspuriger Matrose und hatte, obwohl er nicht viel älter war als Telemachos, ein von den Jahren auf See stark wettergegerbtes Gesicht. Er hatte den Jungen zu einem Platz auf dem überfüllten Achterdeck geführt, wo er sich hinlegen konnte, bevor er sich am nächsten Tag an seine Pflichten machte. Nachdem er aus unruhigem Schlaf erwacht war, bekam Telemachos eine verblichene Tunika aus der Kleiderkammer des Schiffs. Dann stellte ihn Geras dem ersten Offizier vor und eilte davon. Leitos war ein angegrauter Seemann mit grobem Haar, blauen Augen, tiefen Krähenfüßen und einer gezackten Narbe quer über dem Hals. Mittschiffs stehend überwachte er die Männer, die die großen Tonkrüge über das Deck hinunter in den Laderaum trugen.

Den zerrauften Jungen bedachte er mit einem vernichtenden Blick und sprach ihn mit heiserer Stimme an. »Du hast also diese Räuber in die Flucht geschlagen. Wie alt bist du, Junge?«

»Sechzehn.«

Schnaubend runzelte der erste Offizier die zerfurchte Stirn. »Sechzehn, sagt er! Schaust aber nicht so aus. Ich habe schon Bengel übernommen, die mehr Muskeln drauf hatten als du. Das gibt’s doch nicht, dass so eine dürre Bohnenstange wie du diese abgebrühten Kerle vertrieben hat, die den Kapitän überfallen haben.«

»Ich bin stärker, als ich aussehe«, antwortete Telemachos mit zusammengebissenen Zähnen.

Der erste Offizier stimmte ein herzhaftes Lachen an. »Das heißt nicht viel. Aber keine Sorge, Junge. Schlepp erst mal einen Monat lang Taue auf diesem Pott, dann legst du schon zu. Wie viel Seeerfahrung bringst du mit?«

»Keine.«

Leitos wirkte fassungslos. »Warst du nie auf einem Fischerboot?«

Telemachos schüttelte den Kopf und richtete den Blick auf seine nackten Füße. »Ich bin zum ersten Mal auf einem Schiff.«

»Götter der Unterwelt! Kannst du wenigstens schwimmen?«

»Nein«, antwortete Telemachos niedergeschlagen.

Die Geringschätzung im Gesicht des ersten Offiziers war fast mit Händen zu greifen. »Du kannst also nicht schwimmen und warst noch nie zur See. Und so jemand will in Piräus geboren und aufgewachsen sein! Gibt es auch was, das du kannst, Junge?«

Telemachos starrte ihn an. »Ich weiß, wie ich in einem Kampf klarkomme.«

»Das wird dir hier nicht viel weiterhelfen«, gluckste Leitos. »Die Einzigen, die du hier umbringen wirst, sind die Ratten unten im Lastraum. Da wimmelt es nur so von den Scheißviechern.«

»Ein paar Ratten machen mir nichts aus«, entgegnete Telemachos gereizt. »Ich bin auf der Straße groß geworden. Da braucht es schon mehr, damit ich Angst kriege.«

Der erste Offizier wölbte eine buschige Augenbraue. »Tapfer gesprochen. Aber wart erst mal ab, bis du auf See bist. Da gibt es so einiges, wovor man Angst haben kann. Piraten zum Beispiel oder Stürme. Sogar Seeungeheuer.«

»Seeungeheuer?«

»Richtig.« Leitos hob drohend den Finger. »Mit Härte kannst du dich vielleicht auf der Straße durchschlagen, aber die See ist was ganz anderes. Wenn sie den Rappel kriegt, kann sie ein echtes Aas sein, und man tut gut daran, ihr Respekt zu zollen. Das ist die erste Lektion, die jeder Matrose lernen muss. Kapiert?«

Telemachos nickte unsicher. »Ja.«

Die Miene des ersten Offiziers verdüsterte sich. »Das heißt Aye, Junge. Du bist keine Landratte mehr. Also, von einem Schiffsjungen wird erwartet, dass er überall mit anpackt, wo er gebraucht wird. Die Grundlagen lernst du von mir. Da kommt harte Arbeit auf dich zu, aber wenn du dich an deine Befehle hältst und deine Pflichten erfüllst, kannst du bald ein Reff ausschütten wie die Besten. Verstanden?«

»Ja … ich meine, aye.«

»Schon besser.« Leitos wandte sich nach einem halb mit Wasser gefüllten Holzeimer um, dessen Fugen mit Pech abgedichtet waren, und streckte ihn Telemachos hin. »Hier, deine erste Aufgabe. Das Deck schrubben. Der Kapitän mag es makellos, bevor wir ablegen.«

»Schrubben?« Telemachos konnte seine Enttäuschung nicht verbergen.

Leitos fixierte den Jungen zornig. »Hast du was dagegen?«

»Nein.« Telemachos schluckte. Dann glitt sein Blick hinaus zum Hafen. »Wohin segeln wir eigentlich?«

»Nach Moesia. An der Westküste des Schwarzen Meers. Schon mal davon gehört?«

Telemachos schüttelte den Kopf.

Leitos lachte. »Dann mach dich mal auf was gefasst. Die Einheimischen dort sind Wilde. Dagegen sind die Germanen noch kultiviert. Wir legen in einem Ort namens Tomis an. Nördlich der thrakischen Küste. Verglichen mit diesem Dreckloch ist Piräus das reinste Paradies.«

»Warum fahren wir hin, wenn es so trostlos ist?«

»Mendischer Wein.« Der erste Offizier deutete auf die Amphoren, die an Bord gebracht wurden. »Ist bei denen der letzte Schrei. Die Einheimischen zahlen ein kleines Vermögen für das Zeug. Da müsste der Kapitän mit seinem Anteil einen satten Gewinn erzielen.«

»Wie lang brauchen wir bis dorthin?«

»Kommt drauf an. Als Faustregel gilt: Wenn es in die eine Richtung schnell geht, ist die Rückfahrt langsamer als ein einbeiniger Köter. Um diese Jahreszeit sind die Winde ungünstig, das heißt, wir müssen uns übers Schwarze Meer durchkämpfen. Aber auf dem Rückweg bläst der Wind normalerweise von achtern. Ungefähr einen Monat hin und zurück, würde ich schätzen. Vorausgesetzt, wir stoßen nicht auf Piraten.«

Telemachos musterte ihn erschrocken. »Ist das denn wahrscheinlich?«

Leitos zuckte die Achseln. »Das kann immer passieren, Junge. Vor allem da oben. Auf den Meeren im Osten wimmelt es nur so von den Scheißkerlen.« Er zeigte auf seinen Hals. »Was meinst du, wie ich zu dieser Narbe gekommen bin?«

»Das waren Piraten?«

»Damals habe ich auf einem anderen Schiff gearbeitet, der Andromeda. Ist schon ein paar Jahre her. Wir waren mit einer Ladung Reis und einigen Passagieren auf der Rückreise von Perinthos. Wir sind die thrakische Küste runtergesegelt, da sind plötzlich zwei Piratenschiffe aufgetaucht. Zuerst haben wir versucht, ihnen zu entkommen, aber sobald sie ein paar Pfeile auf uns abgeschossen hatten, bekam der Kapitän Angst. Der feige Hund hat sich einfach ergeben, obwohl einige von uns kämpfen wollten. Der Narr dachte, dass uns die Seeräuber schonen, wenn wir ihnen die Beute einfach überlassen.«

»Und?«

»Sie haben den Kapitän massakriert und jeden umgebracht, der sich gewehrt hat. Nachdem sie alles an sich gerafft hatten, was ihnen gefiel, hat ihr Kapitän die Passagiere und Matrosen zusammengetrieben. Er wollte keine Überlebenden, die die Piraten bei der römischen Marine anzeigen konnten. Dann begannen die Hinrichtungen. Die Schweine haben sämtliche Passagiere abgemurkst. Alte, Frauen, Kinder – alle haben sie niedergemetzelt.«

Telemachos erschauerte. »Wie hast du überlebt?«

»Ein kaiserliches Kriegsschiff mit Würdenträgern an Bord ist plötzlich aufgetaucht. Sobald die Piraten es bemerkt haben, haben sie die Beute auf ihr Schiff geschafft und sind geflohen.« Letus hielt einen Augenblick inne. »Nur vier haben den Überfall überlebt. Einem von ihnen wurden beide Augen ausgestochen. Armes Schwein. Glaub mir, Junge. Piraten sind Abschaum, schlicht und einfach. Denen möchte man lieber nicht begegnen. Und jetzt mach dich an die Arbeit. Wir haben noch viel zu tun, bevor wir in See stechen.«

Den Rest des Tages scheuerte Telemachos auf Händen und Knien mit einem groben Sandsteinklotz die Decksplanken. Als er damit fertig war, befahl ihm Leitos, das in den Schiffsrumpf eingedrungene Leckwasser aus der dunklen, rattenverseuchten Bilge zu leeren. Es war Knochenarbeit, und je länger der Tag dauerte, desto mehr bedrückte ihn die Aussicht, dass in den nächsten Monaten ähnlich zermürbende Pflichten auf ihn warteten. Doch dann fiel ihm wieder die verzweifelte Lage seines Bruders ein. Wenn er nicht genug Geld auftrieb, um ihn freizukaufen, musste sich Nereus den Rest seines Lebens unter seinem grausamen römischen Herrn in der Schmiede abschinden. Mit frischer Kraft machte er sich wieder ans Werk, entschlossen, alles Menschenmögliche für seinen Bruder zu tun.

Am späten Nachmittag klang der Regen ab, und eine leichte Brise wehte durch den Hafen, als die Sonne in der grauen Masse des Meeres versank. Im nachlassenden Licht verdoppelten die Seeleute ihre Anstrengungen, weil sie nach der Arbeit noch ein letztes Mal die Annehmlichkeiten von Piräus genießen durften. Nachdem alles erledigt war, machte sich Telemachos auf den Weg zur Ladeluke auf dem Achterdeck, um Proviant aus dem Lastraum nach vorn zum Bug zu bringen, wo die Matrosen ihr Abendessen zu sich nahmen. Er konnte sich nicht erinnern, in seinem Leben schon einmal so hart gearbeitet zu haben. Seine Muskeln waren ganz steif, an den Händen hatten sich brennende Blasen gebildet, und sein Bauch schmerzte vor Hunger. Eine Welle der Müdigkeit schwappte über ihn hinweg, und er sehnte sich nach ein paar Stunden Erholung und Schlaf.

Ein scharfer Geruch nach Teer und Fisch empfing ihn, als er hinab zum Laderaum stieg und auf die Proviantkammer zusteuerte. Unter Deck waren Hunderte von Amphoren in hohen Stapeln angeordnet, die Fugen dicht mit Sand zugepackt. Er bemerkte Syleus und einen anderen Matrosen, die kniend die letzten Amphoren aufschichteten. Syleus schlang einen Knoten in ein ausgefranstes Tau, während der zweite Mann die Krüge festhielt.

Schließlich stand er auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »So, das muss reichen.«

Der andere schob die Lippen vor und betrachtete skeptisch das verschlissene, schlaff durchhängende Seil. »Hat der Kapitän nicht befohlen, dass wir die Ladung mit mindestens drei Tauen sichern sollen? Damit es auch wirklich hält?«

Syleus winkte ab. »Das reicht für den Krempel, wenn du mich fragst. Was sollen wir hier noch lange rummurksen, wenn wir uns stattdessen einen ansaufen können? Das ist bestimmt für mehrere Tage unsere letzte Gelegenheit.«

»Und wenn der Kapitän rausfindet, dass wir es nicht so gemacht haben, wie er wollte?«

»Das findet er nicht raus. Der alte Ziegenbock geht doch nie zum Inspizieren in den Lastraum. Dazu ist er viel zu bequem. Glaub mir, das passt schon so.«

»Ich weiß nicht …«

Syleus klopfte seinem Kameraden auf den Rücken. »Du machst dir zu viel Sorgen, Androcles. Das ist dein Problem.« Er grinste. »Jetzt komm schon. Ich hab Durst. Die erste Runde geht auf mich.«

In diesem Moment huschte eine Ratte über das Deck, und Telemachos fuhr erschrocken zusammen.

Die zwei Seeleute wirbelten herum, und Syleus kniff die Augen zusammen, als er den Schiffsjungen bemerkte. »Was gibt’s da zu gaffen?«, fauchte er.

»Nichts«, antwortete Telemachos wachsam.

»Sehr richtig.« Syleus spuckte auf den Boden und trat auf den Jungen zu. Sein Atem stank nach Zwiebeln, und seine Augen glitzerten böse. »Hier gibt’s nichts zu sehen. Hast du kapiert, Kleiner?«

Telemachos starrte den stämmigen Matrosen schweigend an. Die Narben an den Knöcheln des Mannes zeugten von den vielen Faustkämpfen, die er bestanden hatte. Es hatte keinen Sinn, ihn zu reizen. In der Enge des Lastraums und ohne das Überraschungsmoment hatte er kaum eine Chance gegen die beiden. Schließlich deutete er ein Nicken an.

Grinsend machte Syleus einen Schritt zurück. »Gut. Und jetzt verpiss dich.«

Telemachos trat beiseite, als sich Syleus und Androcles lachend und Witze reißend an ihm vorbei zur Treppe drängten, die hinauf zur Luke führte. Mit einem bleiernen Gefühl im Herzen schaute er ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Syleus hatte offenbar sofort eine Abneigung gegen ihn gefasst. Es war nicht zu übersehen, dass der Mann eine grausame Ader hatte. Er war der Typ, dem es Spaß machte, vermeintlich Schwächere zu schikanieren. Ab jetzt musste Telemachos auf der Hut sein. Er seufzte schwer. Er war noch keinen Tag an Bord der Selene und hatte sich bereits einen der Männer zum Feind gemacht.

Am zweiten Morgen klarte es auf, und eine frische ablandige Brise fegte über das Meer. Sobald die letzten Vorräte verstaut waren, versammelte sich die Besatzung um den Kapitän, der auf dem kleinen Steinaltar am Vordeck ein Opfer darbrachte, damit Poseidon der Selene eine sichere Überfahrt gewährte. Dann gab Clemestes das Zeichen zum Ablegen, und die Mannschaft machte sich ans Werk. Zwei Matrosen zogen den Landesteg ein, während zwei andere die Halteleinen von den Vertäupfählen am Kai lösten. Leitos bellte Telemachos einen Befehl zu, und er eilte hinzu, um mehreren Kameraden mit einem Rundholz zu helfen. Es war erstaunlich schwer, und er ächzte unter der Last, als sie den Schiffsbug hinaus zum Hafenwasser ausrichteten. Sobald sie in sicherer Entfernung vom Pier waren, erteilte Clemestes den Befehl zum Ausfahren der Ruder. Auf seinen Ruf hin packten ein Dutzend der kräftigsten Männer die riesigen, an Deck gelagerten Riemen und steuerten die Selene behutsam auf die schmale Lücke zwischen den Molen zu.

Nachdem sie durch waren, wandte sich der Kapitän an die Mannschaft: »Ruder einziehen!« Er wölbte die Hände vor dem Mund, um sich durch den auflebenden Wind verständlich zu machen. »Großsegel hissen und reffen!«

Sofort verstauten die Seeleute die Ruder, und mehrere kletterten über die Takelage hinauf zur Rah. Leitos rief einen Befehl, und die Männer entrollten das Quersegel, bis das Tuch im Wind knatterte. An Deck holten die anderen die Schoten ein und verzurrten sie mit den Belegnägeln entlang der Reling. Dann laschten die Männer auf der Rah die erste Reffleine fest, bevor sie durch das Takelwerk wieder nach unten kletterten. Voller Bewunderung beobachtete Telemachos die Matrosen, die sich gewandt durch die Webeleinen bewegten, als der Bug der Selene mit stark gerefftem Hauptsegel durch das Wasser pflügte.

»Dimithos!«, rief Clemestes dem Steuermann zu, der hinter dem Mast stand. »Neuer Kurs! Vier Finger nach backbord!«

Der Nubier stemmte sich mit den Beinen auf dem Dach der Kajüte ein und drehte mit seinen kräftigen Unterarmen an der Ruderpinne, bis der Kauffahrer so hart am Wind segelte, wie es der Kapitän wagte. Mit schwirrendem Kopf hielt sich Telemachos achtern an der Reling fest. Um ihn herum brauste die See, und die Selene hob und senkte sich durch die Dünung. Kalter Schweiß lief ihm übers Gesicht, und plötzlich packte ihn eine Welle der Übelkeit. Um sich zu beruhigen, konzentrierte er sich auf den Horizont, aber schon wenig später lehnte er sich über die Seite und leerte seinen Mageninhalt in die schäumende weiße Gischt. Nachdem er die Reste des Erbrochenen ausgespuckt hatte, wischte er sich den Mund ab und klammerte sich wieder mit aller Kraft an der Reling fest.

»Schon seekrank?« Leitos fixierte ihn mit breitem Grinsen.

»Die Götter sollen mich strafen«, stöhnte Telemachos. »Mein Kopf …«

Der erste Offizier brüllte vor Lachen. »Das findest du schon schlimm? Wart nur ab, bis wir im Schwarzen Meer sind. Da kann es ziemlich heftig werden. Dann wirst du erst begreifen, was echte Seekrankheit ist.«

Telemachos drückte sich die Hand an den Bauch. Schon jetzt fürchtete er sich davor, mehrere Tage auf See verbringen zu müssen. »Es wird noch schlimmer?«

»Viel schlimmer!« Leitos klopfte ihm herzhaft auf die Schulter. »Zieh nicht so ein Gesicht. Bald hast du dich daran gewöhnt. Und da, wo wir hinwollen, ist raue See sowieso die geringste Sorge. Ich denke da an die vielen Piraten, die in der Nähe von Moesia ihr Unwesen treiben.«

»Wird uns die Marine nicht schützen?«

»Beim Hades, da besteht keine Hoffnung. Das Schwarze Meer ist der absolute Arsch der Welt im Imperium. Die Römer kümmern sich einen Scheißdreck um die Gegend. Das Problem müssen schon die Einheimischen übernehmen. Und die haben leider kein Geld und keine Flotte für eine wirksame Überwachung der See. Also können die Piraten nach Belieben schalten und walten. Die Götter mögen uns beistehen, wenn wir unterwegs auf welche von diesen Scheißkerlen stoßen.«

Als Telemachos gerade antworten wollte, schlingerte die Selene. Schlagartig wurde ihm erneut übel, und er musste sich heftig würgend über die Reling beugen. Nach einer Weile ebbte der Anfall wieder ab, und er schaute zurück zum Hafen. Salziger Wind peitschte ihm ins Gesicht und ließ seine Haare fliegen. Kurz vergaß er das mulmige Gefühl im Bauch und das Pochen in seinem Kopf, und durch seine Brust flackerte eine merkwürdige Mischung aus Angst und Aufregung. Zum ersten Mal in seinem Leben verließ er die Heimat. Auf einem Schiff voller Fremder, das in einen der entlegensten Winkel des Reichs segelte. Das war die Gelegenheit, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und ein Leben voller Abenteuer auf See zu beginnen. Eine Gelegenheit, die er einfach hatte ergreifen müssen. Ein letztes Mal suchte sein Blick den Hafen. Dann wandte er sich dem offenen Wasser zu, auf das die Selene zuhielt.

KAPITEL 4

Die ersten Tage an Bord verliefen nicht eben glücklich für Telemachos. Abgesehen von den endlosen Pflichten, die ihm Leitos übertrug, hatte der neue Schiffsjunge ständig mit seiner Seekrankheit zu kämpfen, die bei jedem Brechanfall zu Hänseleien vonseiten der älteren Matrosen führte. Jeden Tag schuftete er auf und unter Deck, leerte die stinkende Bilge, schrubbte die Böden und bereitete Mahlzeiten zu. Leitos überwachte ihn streng und prüfte persönlich nach, ob er seine Aufgaben auch wirklich erledigt hatte. Dabei fand der erste Offizier immer etwas auszusetzen und verschlimmerte mit seinen kritischen Bemerkungen noch das Leid des jungen Mannes. Bald wich die nervöse Aufregung seiner ersten Tage auf See einer tiefen Melancholie und Einsamkeit, und er bereute bitter, dass er das Angebot des Kapitäns angenommen hatte.

Jeden Tag meldete er sich nach der Arbeit bei Leitos, und dieser führte ihn in die Grundlagen der Seefahrt ein. Der Unterricht war eine willkommene Abwechslung zur endlosen Monotonie seiner Pflichten. Er lernte, wie man verschiedene Knoten schlang und wie man die Segel entrollte und reffte. Zudem übte er das Klettern in den Wanten und das Vermessen der Seetiefe in seichten Gewässern mit dem Senkblei. Leitos zeigte ihm, wie man das Schiff mit der Pinne lenkte und erklärte ihm die Funktionsweise der Segel und des laufenden Guts. Anfangs fiel es Telemachos schwer, sich zu konzentrieren, während es in seinem Magen weiter rumorte. Doch nach einigen Tagen klang die Seekrankheit allmählich ab, und als sein Selbstbewusstsein wuchs, zeigte er so große Bereitschaft, aus seinen Fehlern zu lernen, dass er damit selbst den mürrischen ersten Offizier beeindruckte.

Jeden Abend suchte die Selene Schutz in einer nahen Bucht. Sobald das Schiff vor Anker lag, ruderten die Männer mit dem kleinen Boot an Land. Am Strand wurde Feuer gemacht, und die Matrosen genossen eine gekochte Mahlzeit, bevor sie sich für die Nacht aufs Schiff zurückzogen. Wenn die letzten Sonnenstrahlen am Horizont glühten, schleppte Telemachos seine müden Knochen zu einem leeren Platz auf dem Achterdeck und legte sich unter dem sternenübersäten Himmel schlafen, während um ihn herum die anderen schon schnarchten. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so erschöpft gefühlt. Und so allein. Nur Geras machte sich die Mühe, in diesen ersten, einsamen Tagen auf See mit ihm zu sprechen.

Auch jetzt schaute der Seemann herüber, als sich Telemachos nach seinem hartem Arbeitspensum mit zerschlagenen Muskeln auf ein notdürftiges Bett aus aufgewickelten Tauen fallen ließ.

»Schwerer Tag?«, fragte er.

Telemachos blickte auf und knurrte unbestimmt.

»Ist keine Schande, wenn du es zugibst«, fuhr Geras fort. »Manche Leute gewöhnen sich einfach nicht ans Meer, und wenn sie es noch so sehr versuchen. Dieses Leben ist nicht für jeden, weißt du.«

»Ich gebe nicht auf«, erwiderte Telemachos wütend. »Da sterbe ich lieber.«

Überrascht von der Heftigkeit des Jungen zog Geras die Braue hoch. »Wie bist du überhaupt darauf gekommen, dir einen Platz auf diesem Schiff zu suchen? Nimm’s mir nicht übel, aber wie ein Seefahrer siehst du nicht unbedingt aus.«

»Mein Bruder Nereus. Er ist Sklave. Ich habe mir geschworen, dass ich ihn freikaufe. Dafür muss ich Geld sparen.«

»Und da hast du dir gedacht, du versuchst dein Glück auf einem Schiff?«

Telemachos zuckte die Achseln. »Was anderes ist mir nicht eingefallen.«

Geras blies die Backen auf. »Da wärst du besser in eine Gladiatorenschule gegangen. Oder zu einer Diebesbande. Selbst wenn du dich als Matrose behauptest, dauert es Jahre, bis du so viel Geld zusammenhast.«

»Irgendwas muss ich probieren. Ich will meinen Bruder da rausholen.«

»Versteh schon.« Geras gähnte. »Ich für mein Teil gebe meinen Lohn lieber für Huren und Wein aus. Und davon hat Moesia reichlich zu bieten. Die Einheimischen sind vielleicht verschlagen, aber die Frauen haben den einen oder anderen Kniff drauf. Tu dir lieber einen Gefallen und schau mal bei ihnen vorbei. Das muntert dich auf.«

Telemachos lächelte halbherzig. »Danke. Aber ich muss jede Sesterze sparen, die ich verdiene. Auch wenn es Jahre dauert, irgendwo muss ich anfangen.«

»Wie du meinst, Kumpel. Wirst sowieso ein anderes Lied singen, sobald du merkst, wie launisch die See ist.«

»Was soll das heißen?«

»Es lohnt sich nicht, zu weit nach vorn zu blicken, das ist alles. Nicht, wenn das Meer dich jederzeit holen kann. Ein Seemann hat es besser als eine Landratte, aber dafür ist die Arbeit auch gefährlicher. Jeder Kamerad hier kennt jemanden, der auf See geblieben ist. Wenn du mich fragst, vergiss deinen Bruder lieber und genieß die Zeit, solange du kannst.«

Telemachos schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Nereus ist mein einziger Verwandter, und ich verdanke ihm mein Leben.«

Am achten Tag passierte die Selene die schmale Straße zwischen Thrakien und Bithynien und gelangte ins Schwarze Meer, über dem sich im Osten ein dunkles Wolkenband zusammenballte. Obwohl er seinen Pflichten nachging, konnte Telemachos die wachsende Anspannung der Matrosen nicht entgehen. Sogar Clemestes wirkte besorgt. Der Kapitän stand auf dem Vordeck, den Horizont fest im Blick. Sie segelten an der Küste entlang nach Nordwesten Richtung Odessus und hielten Ausschau nach irgendwelchen Anzeichen von Piraten, die hier bekanntermaßen den Kauffahrern auflauerten.

Auch Leitos beobachtete gespannt den azurblauen östlichen Horizont.

»Sind wir in Gefahr?«, fragte ihn Telemachos.

Leitos zuckte die Achseln. »Nicht mehr als jedes andere Schiff. Das Meer hier in der Gegend ist tückisch. Die Piraten werden sich dicht an der Küste halten, genau wie wir.«

Telemachos versuchte, seine Unruhe zu überspielen. »Sollten wir dann nicht weiter draußen segeln?«

»Nicht in dieser rauen See. Zu gefährlich. Wir müssen nah beim Land bleiben, falls uns die Elemente Scherereien machen. Das Wetter sieht im Moment nicht besonders günstig aus.«

»Wenn wir also zu weit weg von der Küste segeln, geraten wir in einen Sturm, und wenn wir nah dran bleiben, laufen wir Gefahr, auf Piraten zu stoßen?«

Leitos lächelte leise. »Du lernst dazu, Junge. Auf See kommt keine Langeweile auf.«

»So kann man es auch ausdrücken.«

Verunsichert spähte Telemachos erneut hinaus zum Meeresrand. Das Leben in den Elendsvierteln von Piräus war bestimmt kein Zuckerschlecken, doch die einzigen Bedrohungen waren Bettler, die sich um Essensreste stritten, und die unflätigen Beleidigungen wütender Einwohner. Hier dagegen lauerte die Gefahr überall.

Am späten Nachmittag wurde der Wind stärker und drehte schließlich wild hin und her. Die Stimmung der Matrosen verschlechterte sich, als eine brodelnde dunkle Wolkenbank auf das Schiff zujagte. Aus dem Augenwinkel bemerkte Telemachos, dass Leitos mit mahlenden Kiefern hinaus übers Wasser starrte.

»Was ist?«

Der erste Offizier kniff die Augen zusammen. »Sieht nach einem Sturm aus. Nach einem großen. Bewegt sich schnell. Wird bald hier sein.«

Telemachos folgte dem Blick des Seemanns. Der Horizont war hinter einem mehrere Meilen breiten dunkelgrauen Vorhang verschwunden, der auch die Sonne verhüllte. Clemestes stand auf dem Achterdeck und beobachtete mit angespannter Miene den rasch heranrasenden Sturm. Schließlich erteilte er den Befehl, das Schiff hinaus aufs Meer zu steuern.

Telemachos wandte sich wieder an Leitos und deutete zur Küste, die keine Meile entfernt war. »Warum segeln wir nicht aufs Land zu?«

Leitos schüttelte den Kopf. »Wir brauchen Abstand, damit uns der Wind nicht auf die Felsen drückt.« Er spuckte aus und starrte auf den heranrauschenden dunklen Dunst. »Das müssen wir wohl abwettern.«

Keine Stunde später brach der Sturm mit schrecklicher Wucht über sie herein. Wütend fegte der Wind über den Kauffahrer, gefolgt von einem eisigen Regenguss. Große Tropfen klatschten aufs Deck und durchweichten die Matrosen in ihren Tuniken bis auf die Haut. Das Schiff stampfte und rollte. Umtost von Brechern, hielten sich die Matrosen fest und schützten sich nach Kräften vor der eisigen Sturzflut. Auch Telemachos krallte sich verzweifelt an die seitliche Reling, und die Gischt schlug ihm wie mit Krallen ins Gesicht. Er hob den Blick und erkannte, dass der Wind das Schiff unerbittlich aufs Land zutrieb. Die Küste schien inzwischen bedrohlich nah, und obwohl er kaum mehr als eine Woche auf See verbracht hatte, war ihm die Gefahr sofort klar.

»Alle Mann!« Das Brüllen des Kapitäns drang nur schwach durch das Jammern des Windes in den Wanten. »Segel bergen! Anker werfen!«

Bellend gab Leitos den Befehl weiter. Mehrere Matrosen kletterten die Takelage hinauf und schoben sich mühsam durch den peitschenden Wind und Regen hinaus auf die Rah. Gleichzeitig eilte eine Handvoll Männer zum Bug, um das Focksegel einzuholen. Zusammen mit den übrigen nahm Telemachos seine Position zum Ankerwerfen ein. Genau in diesem Moment rollte die Selene zur Seite, und ein schriller Schrei zerriss die Luft. Ohne die Reling loszulassen, spähte Telemachos nach oben. Androcles war abgerutscht und klammerte sich mit beiden Armen an der Rah fest, die Beine baumelnd in der Luft. Schon schob sich der Seemann neben ihm Zoll für Zoll heran, doch dann ging erneut ein Ruck durch das Schiff. Androcles verlor den Halt und stürzte kreischend in die Tiefe. Kurz darauf versank er in den grauen Wogen, und seine Hilferufe brachen jäh ab. Mehrere Männer beobachteten die Stelle, wo er ins Wasser getaucht war, doch er blieb verschwunden.

»Telemachos!« Leitos deutete zur Takelage. »Hilf mit! Rauf mit dir, sofort!«