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Mike hat eine Leidenschaft. Role-Play-Games, kurz RPGs. Und am liebsten spielt er zusammen mit Chain. Er kennt ihn schon seit eineinhalb Jahren, aber eigentlich weiß er überhaupt nichts von ihm. Mikes Enttäuschung über das geplatzte Treffen auf einer Convention lässt langsam nach, denn inzwischen hat sich in seinem Reallife so viel verändert, dass er gar nicht mehr weiß, wie er alles unter einen Hut bringen soll. Auf der einen Seite ist da Chain, der sich immer weiter rar macht, auf der anderen Seite Leon, der ja nun nicht mehr mit Hannah zusammen ist, dazu viel netter als gedacht und zu allem Überfluss … hat der Typ auch noch verdammt weiche Lippen. In der zweimonatlich erscheinenden Serie von Julia Will sind bislang erschienen: Band 1: Der Prinz auf der Erbse Band 2: Feuer frei Band 3: Streng geheim Band 4: Ungeküsst Band 5: Dance with me Band 6: Verbotene Früchte Band 7: Déjà-vu Band 8: Happy birthday Band 9: Ich bin hier!
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Seitenzahl: 152
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Play with me
Band 6
Verbotene Früchte
Julia Will
© 2020 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein
Lektorat: Susanne Pavlovic, TextehexeUmschlaggestaltung: cover & books Buchcoverdesign
Alle Rechte vorbehalten
ISBN TB – 978-3-95869-138-4Printed in the EU
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar
v1 20
Wir alle wissen doch, dass die verbotenen Früchte mit Abstand am besten schmecken ... Wenn nur die Bauchschmerzen hinterher nicht wären ...
Leon
Meine Knie fühlen sich an, als würden sie jeden Moment nachgeben, und das ekelhaft klebrige Gefühl in meinem Schritt trägt auch nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei. Ebenso wenig wie das hoffnungslose Chaos in meinem Kopf. Was, zur Hölle, war das? Was ist da bitte in mich gefahren?
Oder in ihn! In uns!
Ich dachte ... Ich wollte doch nur ein bisschen Ruhe. Ich wollte sichergehen, dass uns niemand überrascht und dann ... Hölle nochmal. Das war so weder geplant noch ... Ich weiß es nicht. Aber ich bereue es nicht. Es war irre.
Ich habe vollkommen die Beherrschung verloren. Das ist mir noch nie passiert! Aber gerade ... Mike ... Es hat mich einfach mitgerissen. Seine Lippen, seine Hände, die Art, wie er mich angefasst hat ... Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Und eigentlich habe ich es gar nicht erst versucht.
Ich habe keine Ahnung, wie es ihm ging, aber ich war vollkommen überwältigt von all den Empfindungen.
Natürlich hatte ich Sex mit Hannah und vor ihr auch mit anderen Frauen. Zu behaupten, sie hätten mich nicht erregt, wäre gelogen. Ich hatte immer Spaß beim Sex und bin hinterher vollauf zufrieden gewesen. Aber das gerade ... Und wir haben nicht mal wirklich miteinander geschlafen. Allein ihn zu küssen und von ihm geküsst zu werden, bewusst, ohne, dass er mich für einen anderen hält ...
Schon im Zelt war es etwas Besonderes, anders als alles, was ich kannte, aber das gerade an dieser Mauer ... Mein Puls rast immer noch. Wahnsinn.
Ich hatte keine Ahnung, dass so etwas möglich ist. Dass ich in der Lage bin, so zu empfinden.
Ich höre seine leisen Schritte hinter mir. Er sagt nichts, folgt mir einfach, obwohl ich keine Ahnung habe, wohin ich uns führe. Die ersten Menschen tauchen vor uns auf, also scheinen wir richtig zu sein. Seine warme Hand schließt sich um mein Handgelenk.
Er sagt immer noch nichts. Die Menge wird dichter, und dann geht das Geschubse wieder los.
»Hast du eine Ahnung, wo dein Bruder sein könnte?«, fragt er dicht an meinem Ohr. Sein Atem streicht über meine Haut und ich schaudere. Am liebsten würde ich mich zu ihm umdrehen und ihn küssen. Meine Lippen pochen immer noch. Die Erinnerung an die seinen ist noch überdeutlich und trotzdem ... Es war noch nicht genug. Ich will mehr.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen, bei dieser plötzlichen Erkenntnis. Ich will mehr! Mehr von seinen Küssen, mehr von seinen Händen, mehr von ... Mike. Kurz zuckt eine Erinnerung an vergangene Sexszenen aus unseren RPGs durch meinen Kopf. Mike über mir drückt mich mit seinem Gewicht in die Matratze, während er sich immer wieder hart in mich –
»Alles okay?«
Erschrocken zucke ich zusammen, versuche dann krampfhaft mein Gesicht wieder unter Kontrolle zu bekommen.
»Ja!«
»Na gut ... Du sahst grade so merkwürdig aus. Weißt du jetzt, wo wir hinmüssen?«
»Es ist nichts, komm!«, fahre ich ihn an, dränge mich rücksichtslos durch die Menschen.
Mein Gesicht brennt! Und ich bin nicht sicher, ob vor Scham oder vor Erregung. Mir war immer klar, dass ich den passiven Part übernehmen werde, sollte ich jemals mit einem Mann Sex haben. Ich weiß nicht mal warum. Eigentlich sollte man meinen, dass ich lieber der Top wäre, nachdem ich immer nur Sex mit Frauen hatte, aber warum auch immer, hat mich die Rolle des Sub immer fasziniert.
Und die Selbstverständlichkeit, mit der Flynn Josuha dominiert hat, hat mich immer nur bestätigt. Sich einmal vollkommen hingeben, loslassen, keine Rücksicht nehmen, nicht denken.
Das, was ich vorhin in dieser Gasse getan habe. Genau das. Und ich will es wieder.
Ich will ... Ich will Sex mit Mike. Gott, dieses verdammte Kribbeln überall!
»Sicher, dass alles okay ist? Ist dir schlecht? Soll ich dir ne Cola bringen?«
»Es geht mir gut!«, zische ich gereizt, schiebe ihn auf Abstand, obwohl ich ihn lieber an mich ziehen und ihn küssen würde.
»Okay, okay. Wo gehen wir hin?«, fragt er, klingt etwas unsicher, was ich auch vollkommen verstehen kann. Mir ist selbst klar, dass ich viel zu gereizt reagiere, aber ich bin mit der ganzen Lage hoffnungslos überfordert. Tief durchatmen. Ich muss mich beruhigen.
»Ich ... Ich bin nicht sicher«, gebe ich schließlich ruhiger zu, sehe mich jetzt zum ersten Mal bewusst um und erkenne immerhin, wo wir uns gerade befinden. »Wir können bei deinen Freunden vorbei gehen und sehen, ob Alexander und Nicklas dort sind?«, schlage ich vor. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich seinen Gesichtsausdruck deuten soll. »Ich würde dann irgendwo warten«, füge ich an und er nickt.
»Klingt nach nem Plan.« Sein Blick liegt weiterhin schwer auf mir, dann atmet er tief durch und ich weiß, was er sagen will, noch bevor das erste Wort seine Lippen verlässt. Am liebsten würde ich ihm den Mund zu halten. »Ich denke, wir sollten vielleicht darüber reden, was da gerade passiert ist.«
Es kostet mich alles an Selbstbeherrschung, die ich aufbringen kann, mein Gesicht unbewegt zu halten.
»Wozu? Wir haben rumgemacht.« Ich bin für dieses Gespräch nicht bereit! Ich muss erst in Ruhe darüber nachdenken!
»Ja ...«, erwidert er ratlos, sieht runter auf seine Füße.
»Eben. Was gibt es da groß zu bereden?«
»Na ja ... Ich weiß nicht.«
»Dann ist ja alles gesagt.« Das Letzte, was ich jetzt hören will, ist, wie schlecht er sich Hannah gegenüber fühlt. Das hier gehört uns. Ihm und mir. Ich möchte nicht, dass sie darin involviert wird. Ich habe nichts Falsches getan. Hannah und ich sind nicht mehr zusammen!
»Hm ...« Zögerlich greife ich nach seiner Hand und drehe mich zu ihm.
»Es war schön, okay? Belassen wir es dabei.« Ich kriege es nicht hin, ihm dabei ins Gesicht zu sehen, starre auf sein Oberteil. Sein Kragen ist oben rechts eingerissen. War das die ganze Zeit schon so?
»Ist gut.« Und dann sagt er nichts mehr, bis wir auf dem Platz bei seinen Freunden ankommen und tatsächlich sitzen dort auch Nicklas und mein Bruder.
Es ist merkwürdig, Alexander so zu sehen. So gelöst, inmitten von Menschen, die ihm fremd sind.
Das ist so untypisch und dennoch wirkt er so entspannt, wie ich ihn selten gesehen habe, außer, wenn er mit mir zusammen ist. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, ihn mit Nicklas zusammenzubringen. Ihm gegenüber sitzt Hannah, mit dem Rücken zu mir. Es fühlt sich seltsam an, sie zu sehen, aber nicht mehr zu ihr zu gehören. Dass es jetzt nicht mehr selbstverständlich ist, dass sie zu mir kommt, mich küsst und sich in meine Arme schmiegt. Nicht, dass ich es vermisse! Es ist nur noch ungewohnt. »Okay, also wartest du hier? Ich sage deinem Bruder, dass du da bist?«
»Ist wahrscheinlich besser so, ja«, gebe ich nickend zurück und mache einen Schritt zur Seite, um Mike vorbei zu lassen. Kurz sieht er mich hilflos an. Wahrscheinlich weiß er nicht, wie er sich von mir verabschieden soll. Leider bin ich ihm da keine große Hilfe, denn ich weiß es auch nicht.
»Okay, dann ... Wir sehen uns.«
»Ja.«
»Ja ... Ich geh dann jetzt.«
Ich nicke nochmal, kann aber nicht aufhören, ihn anzusehen, genauso wie sein Blick weiterhin an mir klebt. Die Sekunden ziehen sich und ich merke erst, dass mein Blick zu seinen Lippen gewandert ist, als er sich vernehmlich räuspert.
»Okay, ich hab keine Ahnung, was das hier zwischen uns ist, aber ... wäre ein letzter Kuss okay?«
Allein bei diesen Worten erfasst ein heißes Kribbeln meinen gesamten Körper und mein Nacken fängt an zu brennen. Ist das klug? Hier, wo die Gefahr besteht, dass einer von den anderen uns sieht? Aber offenbar ist es ihm egal. Zumindest egal genug, um mich darum zu bitten, und ich will das! Ich will, dass er mich küsst und am besten nie wieder damit aufhört!
»Ja ...«, schaffe ich es nach unendlichen drei Sekunden zu antworten, greife nach seiner Hand und dränge mich rückwärts wieder in die Menge, bis ich sicher bin, dass wir außerhalb der Sichtweite seiner Freunde und vor allem Hannah sind. Er lässt sich einfach mitziehen und dann ist er wieder bei mir. Seine Hand legt sich warm in meinen Nacken, beschert mir angenehme Gänsehaut, dann küsst er mich. Dieser Kuss ist wieder ganz anders. Zärtlicher und vorsichtiger als die anderen. Ein sanftes Prickeln zieht von meinen Lippen aus durch meinen ganzen Körper, lässt mich schwindeln und meine Arme Halt suchend um seine Schultern schlingen. Dann ist es wieder vorbei und ich unterdrücke gerade noch ein enttäuschtes Seufzen. Seine blauen Augen leuchten mich sogar in der Finsternis an.
»Es war wirklich sehr schön«, sagt er leise, bringt mich dazu, den Griff um ihn noch zu verstärken. Können wir nicht einfach hierbleiben? Verborgen zwischen all den Leuten, weit weg von den anderen? Ich ahne, was kommt, als ein trauriger Zug sich um seine Mundwinkel legt. Ich will es nicht hören! »Aber wir dürfen das nicht machen. Ich darf nicht. Ich würde ihr das Herz brechen. Du verstehst das, oder? Es würde keine Rolle spielen, ob wir das hier nur als Spaß sehen. Es würde ihr wehtun und das will ich nicht.«
Ich hasse ihn langsam wirklich dafür, dass er so ein verdammt rücksichtsvoller Mensch ist! Immer sind die Gefühle anderer ihm wichtiger! Immer sind andere Menschen ihm wichtiger! Erst Nicklas, jetzt Hannah!
Erst als mein Kiefer anfängt zu schmerzen, merke ich, wie fest ich meine Zähne aufeinanderbeiße vor lauter Wut und Enttäuschung.
»Ich weiß«, presste ich schließlich mühevoll heraus und zwinge mich selbst dazu ihn loszulassen.
»Gut, danke. Aber wir sind trotzdem weiter Freunde, oder?«, fragt er vorsichtig und streicht sich unsicher durch die blonden, inzwischen ziemlich zerwühlten Haare.
»Sicher.«
»Super. Also dann, wir sehen uns!« Und dann ist er weg. Stumm folge ich ihm ein paar Schritte, bleibe dann aber mit immer noch gebührend Abstand stehen und beobachte, wie er sich durch die Leute schiebt, bis er schließlich bei Alexander und den anderen ankommt. Er beugt sich zu meinem Bruder, sagt ihm etwas ins Ohr und deutet dann in meine Richtung. Ich hebe ganz automatisch die Hand, damit Alexander mich sieht und er winkt mir kurz zu, dann steht er auf und verabschiedet sich von allen, inklusive Nicklas, der einen zärtlichen Kuss bekommt. Anschließend schiebt er sich vorsichtig durch die Menge und kurz darauf steht er vor mir.
»Hallo, kleiner Bruder.«
»Hi«, murre ich unbegeistert und verziehe das Gesicht zu einem missglückten Lächeln.
»Hattest du eine schöne Zeit?« Der Schalk blitzt in seinen dunklen Augen und ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Zunge. Wie meint er das?!
»Was?«
»Nicklas hat erwähnt, dass es zwischen dir und diesem Mike knistert. Darum haben wir euch auch alleine gelassen.« Er mustert mich amüsiert, während ich ihn geschockt anstarre. Das war Absicht?
»Was, wenn wir uns getrennt hätten, um euch zu suchen?«
»Oh, Nicklas meinte, dass Mike dich niemals stehen lassen würde. Und offenbar hatte er damit recht. Was ist mit deiner Hose?«
Für einen furchtbar schrecklichen Moment wird mir so heiß, dass mir fast der Kopf platzt. Dann wird mir klar, dass Alexander nicht in meinen Schritt, sondern auf meine Hosenbeine sieht. Die Flecken unserer fallengelassenen Cocktails zeichnen sich auf dem nicht allzu dunklen Jeansstoff überdeutlich ab. Mein Schritt dagegen ist trocken. Zumindest von außen.
»Jemand hat sein Getränk fallen lassen.«
»Ah. Und, was habt ihr gemacht, in der letzten Stunde?«
»Nichts.« Die Antwort kam viel zu schnell und zu hastig und das sanfte Schmunzeln auf seinen Lippen sagt mir, dass ihm das nur zu bewusst ist.
»So, so. Ich war wirklich überrascht, als ich hörte, dass du auch Interesse an Männern hast.«
»Ach, meinst du, ich bei dir nicht? Auch wenn ich es in deinem Fall nie ausgeschlossen hatte, wenn ich ehrlich bin.« Er zuckt lächelnd die Schultern, dann legt er einen Arm um mich und bugsiert mich durch die Menschen in Richtung der nächsten Bahnstation.
»Nun, was soll ich sagen ... So lange ich zu Hause gewohnt habe, konnte ich dieser Neigung natürlich nicht nachgehen, aber jetzt ...« Lächelnd wiegt er den Kopf, zuckt dann die Schultern und lacht leise.
»Ich bin ehrlich gesagt ein bisschen irritiert, dass Nicklas deinen Geschmack trifft.«
»Warum?« Er klingt dabei so ehrlich verwirrt, dass ich mich frage, ob Nicklas sich ihm gegenüber so viel anders verhält als mir gegenüber.
»Na ja, er ist laut, auffällig, egoistisch und ein erpresserisches Miststück.«
Jetzt lacht er wieder.
»Von Letzterem weiß ich nichts. Aber ich finde es gut, wenn jemand weiß, wie er seinen Willen durchsetzen kann. Ich mag es, wie hartnäckig und ausdauernd er sein kann.«
»Er hat noch niemals jemandem gesagt, dass er ihn liebt«, werfe ich ein, weiß nicht mal so genau, warum ich ihm das sage.
»Ein ehrlicher Mann.«
»So kann man es sich natürlich auch hindrehen.« Schnaubend schüttle ich den Kopf.
»Sei nicht ungerecht, nur weil er dich ein bisschen unter Druck gesetzt hat. Ich denke, er meint es tatsächlich gut mit euch. Zwar vor allem, weil er Mike mag, aber dir kommt das doch auch entgegen.« Leider hat er damit gar nicht so Unrecht. Dennoch gefallen mir die Methoden nicht, mit denen Nicklas sich durchsetzt.
»Hn.«
»Nun gut, lassen wir das. Ich mag ihn, mehr ist nicht wichtig.«
»Stimmt wohl«, brumme ich erleichtert. Ich will ihm das Ganze ja auch eigentlich nicht schlecht reden. Ich freue mich, dass er mit Nicklas glücklich ist, oder zumindest auf dem besten Weg dorthin.
»Und um nochmal darauf zurückzukommen: Was habt ihr in der letzten Stunde gemacht?«
Mein Gesicht wird direkt wieder heiß.
»Das geht dich gar nichts an«, maule ich ihn an.
»Das freut mich für dich.« Dieses wissende Grinsen macht mich wahnsinnig!
»Tu nicht so, als wüsstest du alles!«
»Dein Gesicht erzählt mir genug.«
»Hör auf, in mir zu lesen wie in einem Buch! Ich will das nicht!«
»Aber es ist wirklich faszinierend, was da alles steht«, triezt er mich munter weiter und ich wende mich murrend ab. Niemand schafft es so spielend leicht, mich aus der Reserve zu locken, wie Alexander. Ich habe nicht mal Mike gezeigt, wie es in mir aussieht, aber mein Bruder reißt all meine Mauern so mühelos ein, als wären sie gar nicht da.
»Lass mich in Ruhe!«, schmolle ich jetzt wirklich, verschränke sogar die Arme vor der Brust. Vielleicht ein wenig kindisch, aber daran merkt er meistens, wenn es mir wirklich zu viel wird, und so auch jetzt.
»Ach, ach, kleiner Bruder, nimm es mir nicht übel! Ich freue mich doch nur für dich!«
»Hm.«
»War es denn schön?« Und weil er ohnehin keine Ruhe geben wird und allein die Erinnerung an Mike und das was wir getan haben, mir ein ziemlich zufriedenes Lächeln ins Gesicht zaubert, gebe ich schließlich nach und nicke.
»Ja. Es war schön.« Mehr sage ich dazu aber wirklich nicht, denn auch wenn ich weiß, dass ich mit Alexander über alles sprechen kann, ist das hier immer noch zu neu und zu fremd. Ich muss mich damit erst selbst auseinandersetzen.
»Was habt ihr denn so gemacht?«, frage ich stattdessen, während wir uns langsam der nächsten Station nähern.
»Nicht sehr viel. Nicklas hat mir im Groben erzählt, was da zwischen euch ist oder eher sein könnte.« Unwillig kneife ich meine Augen zusammen. Der Kerl soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und seine Nase nicht in meine Stecken!
»Aha.«
»Er hat mir davon erzählt, dass ihr schon fast zwei Jahre miteinander schreibt.« Prompt wir mein Gesicht ein bisschen wärmer.
»Auch ... was?«, frage ich vorsichtig und Himmel, das ist mir jetzt wirklich peinlich.
»Das musste er mir nicht sagen, das konnte ich mir bereits denken, und so wie du mich ansiehst, liege ich goldrichtig mit meiner Vermutung! Zwei Jahre sind eine lange Zeit.« Ich schlucke gequält und versuche mich zu beruhigen. Dann weiß er eben, dass ich mit Mike homoerotische Texte schreibe, und? Er ist selbst schwul, nicht bi, wie ich. Er wird mich dafür nicht verurteilen! »Wusstest du eigentlich, dass Hannah eure Texte gelesen hat?«
Von einem Moment auf den anderen wird mir erst eiskalt, dann verdammt heiß und ich spüre, wie ich die Kontrolle über mein Gesicht verliere.
»S-S-Sie hat was?!« Ich muss mich verhört haben! Anders kann es gar nicht sein!
»Nicklas hat mir erzählt, dass Mike ihr eure Geschichten schickt. Und, dass sie sie wohl ziemlich anregend findet.« Erinnerungen blitzen auf an Momente, in denen sie neben mir saß, während ich gelernt oder Sachen gepackt habe, um bei ihr zu übernachten. Sie hat am Handy gelesen und hin und wieder leise gekichert oder geseufzt, und immer, wenn ich gefragt habe, was sie da macht, hat sie geantwortet: Nichts, ich lese nur was. Am Ende hat sie ... während ich quasi neben ihr saß, darüber gelesen, wie Josuha und Flynn ... Wie Mike mich ... Oh mein Gott!
»Dieser Mistkerl!« Wie konnte er es wagen? Das war etwas nur zwischen ihm und mir! Wie konnte er zulassen, dass das jemand liest? Und dann auch noch ausgerechnet Hannah! »Ich erschlage ihn«, grolle ich wütend die Hände zu Fäusten geballt und bin drauf und dran, kehrt zu machen und Mike die Prügel seines Lebens zu verpassen. Verdient!
»Stopp, stopp, stopp, du kannst leider gar nichts machen! Oder hast du ihm in der letzten Stunde gesagt, dass du der Mann aus dem Internet bist?« Wütend sehe ich Alexander an und werde direkt noch aggressiver, als mir klar wird, dass er vollkommen Recht hat. Ich kann ihn nicht zur Rede stellen, diesen verräterischen Mistkerl! Weder ich selbst noch Chain. Die einzige Reaktion, die mir bliebe, wäre, mich nicht mehr zu melden. Oder keine Lemons mehr zu schreiben. Schon wieder. Ich bezweifle, dass Mike das nochmal mitmacht, ohne sich dann vollkommen von mir abzuwenden, und das will ich eigentlich auch nicht. Verdammt! Ich will ihn gerade einfach nur verprügeln! Und ihm dann sagen, dass er das zu lassen hat!