Poesie und Politik - Jochen Hörisch - E-Book

Poesie und Politik E-Book

Jochen Hörisch

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Beschreibung

Von Wieland über Goethe und Zola bis Amanda Gorman – warum interessieren wir uns für das politische Urteil von Autorinnen und Autoren?

Wer Romane, Gedichte oder Theaterstücke schreibt, gilt oft auch als versiert in Fragen der Politik. Warum eigentlich? Schließlich kennen wir so einige Romanciers an der Seite von Autokraten, Lyrikerinnen, die Diktatoren preisen, von Antisemiten ganz zu schweigen. Manchmal schreiben sie Polit-Kitsch, manchmal aber auch wirklich große Literatur. Jochen Hörisch verfolgt die Liaison der Poeten mit der Politik von Wieland über Goethe und Zola bis Amanda Gorman. Wer wichtige Bücher schreibt, versteht von Politik nicht unbedingt mehr als andere Menschen. Bedeutende Literatur freilich, manchmal sogar politisch inkorrekt, kann einen neuen Blick auf die Welt eröffnen – und dabei unsere politische Wahrnehmung schärfen.

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Über das Buch

Von Wieland über Goethe und Zola bis Amanda Gorman — warum interessieren wir uns für das politische Urteil von Autorinnen und Autoren? Wer Romane, Gedichte oder Theaterstücke schreibt, gilt oft auch als versiert in Fragen der Politik. Warum eigentlich? Schließlich kennen wir so einige Romanciers an der Seite von Autokraten, Lyrikerinnen, die Diktatoren preisen, von Antisemiten ganz zu schweigen. Manchmal schreiben sie Polit-Kitsch, manchmal aber auch wirklich große Literatur. Jochen Hörisch verfolgt die Liaison der Poeten mit der Politik von Wieland über Goethe und Zola bis Amanda Gorman. Wer wichtige Bücher schreibt, versteht von Politik nicht unbedingt mehr als andere Menschen. Bedeutende Literatur freilich, manchmal sogar politisch inkorrekt, kann einen neuen Blick auf die Welt eröffnen — und dabei unsere politische Wahrnehmung schärfen.

Jochen Hörisch

Poesie und Politik

Szenen einer riskanten Beziehung

Hanser

Für Herbert Anton, den großen Anreger

Ein Dichter ist immer gescheiter als er selbst; freilich auch dümmer als er selbst.

Friedrich Theodor Vischer:Auch Einer

Peinliche Allianzen von Poesie und Politik

Als der schwedische König Carl Gustaf am 10. Dezember 2019 in Stockholm Peter Handke den Literaturnobelpreis überreichte, gab es »aus dem Publikum höflichen Applaus und keine Pfiffe«.1 Auch in der festlichen Atmosphäre dieser Feierlichkeit war diese zurückhaltende Reaktion der Anwesenden nicht selbstverständlich. Vor dem Schloss demonstrierten während des Festakts mehrere Hundert Menschen gegen die Verleihung des wichtigsten Literaturpreises an einen Dichter, der sich über Verbrechen von Serben im jugoslawischen Bürgerkrieg der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts verstörend verständnisvoll geäußert hatte. Viele hatten angesichts der weltweit lange Wochen anhaltenden erregten öffentlichen Debatten um diese Preisverleihung mit stärkeren Protesten gerechnet, war doch der Ton der meisten Stellungnahmen zu Handkes Einschätzung der serbischen Politik scharf und unzweideutig. Handke hatte wiederholt (in seinem 1996 erschienenen Buch Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien) Verständnis für eine Politik geäußert, die Massenmorde nicht scheute; er hatte 1996 im bosnischen Pale den Lyriker, Psychiater und Milizenführer Radovan Karadžić besucht, der ihm einen Band mit seinen nationalistischen Gedichten überreichte und der nach einem jahrelangen gründlichen Verfahren 2019 in letzter Instanz vom UN-Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Am 18. März 2006 hatte Handke bei der Beisetzung des serbischen Nationalisten und Kriegsverbrechers Slobodan Milošević eine Trauerrede gehalten und dabei seine Nähe zu dem Verstorbenen betont.2 Mit diesen und anderen Aktivitäten und Äußerungen hatte er sich bei all jenen diskreditiert, die Krieg und Bürgerkrieg verabscheuen und sich für die Beilegung von Konflikten mit friedlichen Mitteln einsetzen. Im Sinne dieser Mehrheit schrieb Caroline Fetscher im Tagesspiegel: »Als gesicherte Diagnose dürfte gelten, dass Peter Handke dem Nobelpreis nicht gewachsen ist, den er heute in Empfang nimmt. Der Dichter wirkt von der höchsten literarischen Auszeichnung der Welt so überfordert wie ein Wanderer von einem zu hohen Berg. / ​Seit Wochen belegen das seine Auftritte und seine Pöbeleien, die zwischen Grandiosität und Verunsicherung zu oszillieren scheinen. Wünschenswert für ihn wäre ein geordneter Rückzug in seine ländliche Enklave gewesen.«3

Überfordert erscheint Fetscher dieser Dichter, weil er sich in politische Gefilde verirrt hat und dabei wenn nicht um Kopf und Kragen, so doch um seine Reputation redet und schreibt. Handkes poetische Kompetenz, so Caroline Fetscher, ist den moralisch-politischen Anforderungen des Nobelpreises so wenig gewachsen wie ein Flachland-Wanderer einem Berg, dessen Besteigung Kondition und alpinistisches Können erfordert. Der Dichter verirrt sich in Sphären, die seine Leistungsfähigkeit überfordern; hätte er doch die Hochgebirgs-Verwerfungen der großen Politik gemieden, wäre er doch in der ländlichen beziehungsweise vorstädtischen Enklave seiner auch von der Kritikerin nicht bestrittenen poetischen Hochbegabung geblieben. Si tacuisses. Die Fülle der Beiträge zur Debatte um die politischen Verirrungen des Literaturnobelpreisträgers Peter Handke ist kaum zu überschauen. Naheliegenderweise finden sich kaum Stellungnahmen, die Handkes Relativierungen und Entschuldigungen der serbischen Politik im jugoslawischen Bürgerkrieg als sachlich gerechtfertigt und als Dokumente einer umsichtigen politischen Urteilskraft einschätzten. Wohl aber grenzten zahlreiche Kommentare die außergewöhnliche Qualität und Preiswürdigkeit des dichterischen Werkes von Peter Handke gegen seine verstörenden politischen Einschätzungen und Fehlurteile ab. Wiederum stellvertretend für viele Beiträge zur Handke-Kontroverse sei Vladimir Vertlib im Magazin Cicero vom 25. Oktober 2019 zitiert: »Kaum jemand wird bestreiten, dass der Autor Handke den Literaturnobelpreis verdient hat. Seine Erzählungen, allen voran ›Wunschloses Unglück‹, gehören zum Schönsten und Tiefsinnigsten, was man auf Deutsch lesen kann. Seine Theaterstücke sind brillant, einzelne Reflexionen und Beschreibungen fantastisch. Wenn etwas ›der Menschheit den größten Nutzen erbracht hat‹, wie es in der von Alfred Nobel formulierten Bedingung für die Verleihung des Nobelpreises formuliert wurde, dann trifft dies auf Handkes Werk zweifellos zu. / ​Glücklicherweise ist das besagte Werk klüger als der Autor selbst. Als politischer Mensch setzt Handke der nüchternen Realität eine Welt der Ästhetik und der ›alternativen Fakten‹ entgegen, der man nur mit Erstaunen, Widerwillen, im allerbesten Fall mit Belustigung begegnen kann. Allein — seine Figuren und seine Texte wehren sich dagegen.«

Ein Tenor, der sich in vielen Beiträgen zur Debatte findet. Die Kontroverse um den Literaturnobelpreisträger Peter Handke ist von einer klaren Demarkationslinie geprägt — und von diffus mitlaufenden Zweifeln. Die klare Demarkationslinie ist schnell genannt; wer sich auf die eine oder andere Seite dieser Linie begibt, beantwortet damit auch eine erste Leitfrage dieses Essays: Diskreditieren abwegige, gar schockierende politische Äußerungen bzw. das Engagement eines Dichters dessen poetisches Werk, oder hat dieses Werk jenseits der politischen Überzeugungen seines Autors eine Geltung sui generis? Die diffus mitlaufenden Zweifel können durch die Beantwortung einer zweiten Frage explizit gemacht werden: Wie steht es überhaupt um die politische Kompetenz der Dichter und der Dichtung? Gibt es Gründe, politische Äußerungen von Dichtern für ebenso gewichtig oder gar gewichtiger zu halten als die von professionellen Analytikern und Kommentatoren (wie Journalisten, Historikern und Politikwissenschaftlern); verfügen Dichter über eine spezifische Kompetenz, die sie zu Einschätzungen politischer Akteure und Konstellationen befähigt, die erhellender, komplexer, prognostisch verlässlicher und sachlich überzeugender sind als die von Ärzten, Handwerkern, Landwirten, Ingenieuren, Juristen, Versicherungsvertretern, Profifußballspielern und welch anderen Berufszweigen auch immer? Kurzum und ganz unpolemisch formuliert: Ist man gut beraten, wenn man politische Äußerungen von Dichtern ernst nimmt, ihnen gar ein besonderes Gewicht beimisst, ihnen Vertrauen entgegenbringt?

Der vorliegende Essay versucht prägnante Antworten auf diese beiden Fragen — und er sucht nach prägnanten Begründungen für diese Antworten.4 Die Antwort auf die erste Frage lautet: Zwischen der poetischen Qualität eines Werkes und der politischen Kompetenz und Urteilskraft seines Autors besteht kein Zusammenhang, geschweige denn eine Kausalbeziehung. Produktive, gute, selbst großartige Autoren weltliterarisch bedeutender Werke können verstörende, diagnostisch falsche, prognostisch blamable, ethisch inakzeptable, hochgradig unsensible bis zynische politische Einschätzungen von sich geben; sie können sich auf die Seite von Politikern und Politiken schlagen, die vor Massenmord, Unterdrückung und Folter nicht zurückschrecken. Auch die Umkehrung gilt: Dichter, die sich nie mit brutaler und menschenrechtswidriger Politik gemein gemacht haben, Dichter, die im besten Sinne politisch korrekte Einschätzungen vorweisen können, sind im Hinblick auf die poetische Qualität ihrer Werke nicht per se die besseren Dichter.

Die Antwort auf die zweite Frage nach der spezifischen Kompetenz von Dichtern (und Dichtung) in politicis fällt ebenfalls eindeutig aus: Sogenannte schöne, also gelungene Literatur ist auf nichttriviale, überraschende, so reizvolle wie aufreizende Wahrnehmungen, Geschichten, Erklärungs- und Verständigungsmodelle fokussiert. Sie will und muss sich von anderen (etwa wissenschaftlichen, alltäglichen und journalistischen) Diskursen unterscheiden, indem sie unwahrscheinliche, mitunter abwegige Darstellungen und Einschätzungen eingespielter Wirklichkeitswahrnehmungen anbietet, anmutet und häufig genug auch zumutet. Zumutungsreich ist schon die Funktionsgrundlage aller schönen Literatur: ist sie doch vom Anspruch, wahre Sätze aneinanderreihen zu müssen oder zumindest zu sollen, dispensiert. Dichterische Sätze sind fiktionale Sätze, die sich nicht auf Fakten fokussieren. Man muss nicht viel von Literatur verstehen, um zu wissen, dass poetische Aussagen erfunden sind, dass sie also nicht verpflichtet sind, Ereignisse und Strukturen sachlich richtig darzustellen. Was nicht aus-, sondern einschließt, dass sogenannte schöne Literatur sich spannungsreich distanziert auf bekannte Tatsachen und Sachverhalte beziehen kann. Dichterische Darstellungen (etwa des Streitgesprächs zwischen Maria Stuart und Königin Elisabeth in Schillers Drama oder der Sprengung einer NS-Kundgebung durch einen Blechtrommler im Roman von Günter Grass) müssen sachlich nicht stimmen, aber sie müssen in sich stimmig und poetisch überzeugend sein. Gottfried Benns Zeilen »Der soziologische Nenner, / ​der hinter Jahrtausenden schlief, / ​heißt: ein paar große Männer, / ​und die litten tief«5 sind, um es zurückhaltend zu formulieren, sachlich hochproblematisch und haben wenig Aussicht darauf, kompetente Soziologen zu überzeugen, doch ihr Sound klingt bemerkenswert gut.

Akzeptabel wird die Fiktionszumutung, die Faktenindifferenz und die zweifelhafte Triftigkeit poetischer Urteile und Einschätzungen durch die Anmut ihrer Darbietung, also durch eine starke Akzentuierung formaler Diskursqualität (wie überraschender Reim, stimmige Leitmotivik, suggestives Metrum, produktive Assoziationen, souveräne oder auch rätselhafte Erzählperspektive, pointierte Monologe, Außerkraftsetzung von Tabus et cetera). Dichtung mutet ihrer Leserschaft systematisch zu, dies oder jenes (die Liebe, den Tod, das Geld, die Zeit, die Jugend, das Alter, die Landschaft, die Jahreszeiten, Kinder, Psychosen, Essen und Trinken, Einhörner und Aliens, alte und zukünftige Zeiten, historische Groß- und Kleinereignisse et cetera) irritierend anders als gewohnt zu sehen — und eben auch die Politik. Eine Konstellation anders zu beobachten, zu beschreiben und zu bewerten, als sachlich zuständige Diskurse dies tun, mag originell, anregend, überraschend, irritierend sein. Aber es gibt keinerlei handfeste Indizien, geschweige denn Garantien dafür, dass diese poetischen Alternativbeobachtungen verlässlich besser, zutreffender, produktiver und angemessener sind als konkurrierende Diskurse.

Bleibt eine dritte Frage: Wenn es um die politische Kompetenz der Dichter heikel bestellt ist, warum spüren dann so viele Autoren den unwiderstehlichen Drang, sich politisch zu äußern? Die Antwort fällt einigermaßen leicht. Menschen können, da sie in soziale und intersubjektive, von Hierarchien und Machtverhältnissen geprägte Konstellationen eingebunden und vor Entscheidungen gestellt sind, nicht apolitisch sein. Selbst Distanz zur und Desinteresse an Politik ist eine politische Haltung. Auch Dichter, die mythische und musische Selbstüberhöhungen nicht scheuen, sind Menschen und also ebenfalls politische Subjekte. Da sie ein besonders enges Verhältnis zum Medium Sprache pflegen und immer wieder vor der Frage stehen, wer wem was mit welchen Konsequenzen zu sagen hat, sind Dichter der Sphäre der Politik nahe, die ebenfalls sprachlich prozediert, nämlich Zustimmung und Gefolgschaft finden muss (etwa durch demokratische Wahlen, Charisma oder diktatorische Macht). Die Differenz zwischen der poetischen und der politischen Sprache ist jedoch scharf konturiert. Politiker in Entscheidungs- und Führungspositionen haben buchstäblich das Sagen; ihre Sprechakte haben handfeste Konsequenzen (im Hinblick auf Gesetze, Steuern, Vorschriften, gar im Hinblick auf Krieg und Frieden). Das muss Dichter irritieren, deren sprachliche Aktivitäten keine eindeutig zurechenbaren Effekte haben. Rilkes Imperativ »Du mußt dein Leben ändern« hat andere Qualitäten als der politische Imperativ, alle Bürger müssten wegen des Coronavirus ihr Alltagsleben massiv ändern. Der poetische Imperativ ist in einen stilistisch erlesenen lyrischen Kontext eingebettet, hat aber keinerlei pragmatische oder gar juristische Verbindlichkeit. Die Sprache der Coronaverordnungen ist stilistisch weniger ansprechend, verfügt aber über administrative und exekutive Hintergrundgewalt. Die Versuchung für Dichter, ihren poetischen Aussagen zumindest Anflüge von politischen Qualitäten, Konkretionen und Verbindlichkeiten zu verleihen und die Nähe zur Politik oder zu Politikern zu suchen, ist verständlich — und hochriskant. Dichter, die sich mit Machthabern überwarfen, stehen in wirkungsgeschichtlicher Perspektive seit den Zeiten von Ovids Verbannung in aller Regel besser da als diejenigen, die die Nähe zur Macht suchten. Einige wenige Ausnahmen (Goethe! — dazu bald mehr) bestätigen diese Regel und locken Nachahmer an, die in aller Regel scheitern.

Die unzähligen Blamagen von Dichtern, die sich politisch eindeutig positionierten, sollten jedem Autor zu denken geben, der nicht nur an seine literarische, sondern auch an seine politische Berufung glaubt. Eine kleine Blütenlese peinlichster poetischer Politengagements möge genügen, um der starken Intuition, die politische Kompetenz der Dichter sei recht zweifelhaft und krisenanfällig, Nachdruck zu verleihen. Si tacuisses, poeta mansisses — auffallend viele Dichter können der Versuchung offenbar nicht widerstehen, sich mit ihren politischen Äußerungen selbst so zu diskreditieren, dass die Scham sie überleben wird. Die Schriftstellerin Luise Rinser (1911—2002) genoss in reiferen Jahren als umweltsensible und tierliebende Autorin nicht nur hohe Auflagenzahlen, sondern auch ein so hohes Ansehen, dass sie 1984 von den Grünen gegen Richard von Weizsäcker als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten aufgestellt wurde. Ihre unverhohlenen Sympathien für das groteske und brutale Diktatorenregime in Nordkorea, über das sie ein ebenso bizarres wie rücksichtsloses Reisetagebuch6 verfasst hatte, irritierten zwar einige ihrer Fans, verhinderten diese Kandidatur aber nicht. Dass Luise Rinser nicht nur in ihren späten, sondern auch in ihren jungen Jahren eine Schwäche für einen starken Führer hatte, im Klartext: dass sie eine fanatische Nationalsozialistin (wie gendert man das Wort Nazi?) gewesen war, wollte sie selbst und wollten ihre Verehrer nicht (mehr) wissen.7 In voller Länge und Peinlichkeit sei nur eines ihrer Hitler gewidmeten Gedichte zitiert. Es trägt den Titel Junge Generation und erschien 1935 in der Zeitschrift Herdfeuer8:

Von den Grenzen des Lands hören wir nächtens

Fieberndes Wühlen dumpf und böse in der Erde.

In den Fabriken schlagen die Hämmer, schmieden

Eisen hart und kalt zu nackter Todeswaffe.

Gefährlich riecht es um Mitternacht aus Feindland,

Geheim brauen giftig schwelende gelbe Mordgase.

Um die Ecken der Städte schleicht grinsend der Tod.

Unter uns schüttert der Boden vom Bohren schlafloser Wühler.

In den weichen Dunstnestern des Tales aber liegen,

Eng sich wärmend und satt, die guten Bürger,

Und träumen schnarchend vom ewigen Frieden,

den ihnen ein sanfter verbindlicher Bürgergott schenkt.

Wir aber, angerufen von ewig eisernem Wort,

Wir, des großen Führers gezeichnet Verschworene,

Ungeborgen in scharfen Morgenstürmen,

Halten auf Türmen und Gipfeln klirrende Wacht.

Kühl, klar und willend ist dies wache Geschlecht,

Nüchtern, und heiliger Trunkenheit voll,

Tod oder Leben, ein Rausch, gilt uns gleich —

Wir sind Deutschlands brennendes Blut!

Todtreu verschworene Wächter heiliger Erde,

des großen Führers verschwiegene Gesandte,

Mit seinem flammenden Zeichen auf unserer Stirn,

Wir jungen Deutschen, wir wachen, siegen oder sterben,

denn wir sind treu!

Diese der Treue zum Führer und der Treue zum Tod gewidmeten Zeilen richten sich selbst; um die poetische Qualität von Versen wie »Geheim brauen giftig schwelende gelbe Mordgase« ist es trostlos bestellt. Das gilt auch von den Versen eines zu Lebzeiten prominenten und angesehenen expressionistischen Dichters, den es zu politisch konkreten Taten drängte und der es bis zum Kulturminister der jungen DDR brachte: Johannes R. Becher (1891—1958). Er, den der Staatsrats- und SED-Vorsitzende Walter Ulbricht in einem auf Seite eins der führenden DDR-Zeitung Neues Deutschland (12. Oktober 1958) platzierten Nachruf zum »größten deutschen Dichter der neuesten Zeit« erklärt hatte, erhielt ein Staatsbegräbnis. Die Nachrufe galten einem Dichter, der fünf Jahre vor seinem eigenen Ableben den Tod Stalins mit Versen betrauert hatte, die in der führenden DDR-Literaturzeitschrift Sinn und Form erschienen und offenbar ernst gemeint waren9:

In seinen Werken reicht er (Stalin, J. H.) uns die Hand.

Band reiht an Band sich in den Bibliotheken,

Und niederblickt sein Bildnis von der Wand.

Auch in dem fernsten Dorf ist er zugegen.

Mit Marx und Engels geht er durch Stralsund,

Bei Rostock überprüft er die Traktoren,

Und über einen dunklen Wiesengrund

Blickt in die Weite er, wie traumverloren.

Er geht durch die Betriebe an der Ruhr,

Und auf den Feldern tritt er zu den Bauern,

Die Panzerfurche — eine Leidensspur.

Und Stalin sagt: »Es wird nicht lang mehr dauern.«

In Dresden sucht er auf die Galerie,

Und alle Bilder sich vor ihm verneigen.

Die Farbentöne leuchten schön wie nie

Und tanzen einen bunten Lebensreigen.

Mit Lenin sitzt er abends auf der Bank,

Ernst Thälmann setzt sich nieder zu den beiden.

Und eine Ziehharmonika singt Dank,

Da lächeln sie, selbst dankbar und bescheiden.

Und so geht es noch einige Strophen weiter. Der junge Johannes R. Becher zählte (dies sei zu seiner Ehre angeführt) zu den wenigen deutschen Schriftstellern, die die gerade auch unter seinesgleichen, also in der dichtenden Zunft verbreitete Kriegsbegeisterung vom August 1914 nicht geteilt hatten. Nun aber macht er sich als Stalin-Fan unmöglich, der jenseits jeder Karikatur-Grenze übelsten Politkitsch über einen paranoischen Massenmörder produziert, der die junge Sowjetunion durch bewusst herbeigeführte Hungerkatastrophen und millionenfache Eliminierung von Menschenleben so schwächte, dass Hitler auf die aberwitzige Idee verfallen konnte, Russland anzugreifen.

Wer heute als Angehöriger der glücklichen Nachkriegsgeneration und Literaturliebhaber Verse wie die von Luise Rinser und Johannes R. Becher zitiert, wird eine Hemmung spüren, Dichter so vorzuführen, wie sie sich selbst vorgeführt haben. Zwei prominente Dichter mit starkem Hang zu konkretem politischen Engagement legen (nicht nur in den beiden zitierten Fällen) Werke vor, deren sensationell schlechte Qualität Anlass zum Fremdschämen gibt. Die Bereitschaft ihrer Verfasser, Diktatoren und Massenmördern zuzujubeln, lässt an ihrer politischen Kompetenz nicht nur zweifeln, sondern an ihrer grotesken Inkompetenz verzweifeln. Irritierend ist, dass die grotesken und peinlichen Dimensionen dieser Werke offenbar tödlich ernst gemeint sind und das Ihre zu einer Politik beitrugen, die Millionen Tote zu verantworten hatte. Das unterscheidet sie von den bizarren, aber ihre Verrücktheit immerhin stets signalisierenden Aktionen des italienischen Dichters Gabriele D’Annunzio. Der leidenschaftliche Flieger mobilisierte kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges eine Staffel von zehn Flugzeugen, die über Wien nicht Bomben, sondern Tausende von Flugblättern abwarfen, in denen er Italien hochleben ließ. Ein Jahr später wurde er handgreiflicher. Mit Freischärlern besetzte er im September 1919 die Adriastadt Fiume, um sie entgegen den soeben beschlossenen Friedensvereinbarungen für Italien zu annektieren.10 D’Annunzio begeisterte sich bald und ausdauernd (wie auch der Futurist Filippo Tommaso Marinetti und viele weitere Schriftsteller — wie selbst Cesare Pavese) für Mussolini — et vice versa. Diktatoren haben allesamt keine Einwände gegen eine Ästhetisierung der Politik und schon gar nicht gegen eine ästhetische Überhöhung ihrer Führerpersönlichkeit.

Schon der erste Befund ist verstörend: Dichter mit literarischer Reputation können Nazis, Faschisten und Stalinisten sein und ein enthusiastisches Verhältnis zu Diktatoren, Kriegstreibern und Massenmördern unterhalten. Ein kurzes kommentierendes Wort zu Kategorien wie politische (In-)Kompetenz, verheerendes Fehlurteil und bizarres Engagement: Dieser Essay will keine allgemeinverbindlichen Programme und Kriterien für eine, gar für die eine und einzig richtige zustimmungspflichtige Politik entfalten. Vielmehr analysiert er politische Einschätzungen, Äußerungen und Aktivitäten von Dichtern, die aus offensichtlichen, nicht näher zu erläuternden Gründen als inakzeptabel gelten müssen, weil sie eine Politik (und auffallend häufig auch persönlich Politiker) unterstützen, die auf Krieg, Massenmord, brutale Unterdrückung, Verfolgung von Minderheiten, Antisemitismus, Rassismus, Imperialismus, Folter und gröbste Verstöße gegen Menschenrechte setzt und dabei über Leichen geht. Das gelegentlich vorgetragene Argument, man habe zum Zeitpunkt der enthusiastischen Zustimmung von Dichtern zu Diktatoren nicht wissen können, wie übel, menschenverachtend und katastrophenträchtig deren Politik ist, sticht nicht. Wer wie Luise Rinser1935 (und noch Jahre später) Hitler preist, huldigt einem Diktator, über den man sich schon damals keine Illusionen machen konnte. Das war ebenso öffentlich bekannt wie der Umstand, dass Stalins Säuberungspolitik Millionen Todesopfer forderte. Johannes R. Becher lebte überdies im Moskauer Exil; er wusste nur zu gut, wie viele Genossen Stalin ermorden ließ oder in Lager schickte. Auf ostentatives Nichtwissen-Wollen war aber nicht nur Becher programmiert. Lion Feuchtwanger, um nur ihn noch anzuführen, war zwar klug genug, nicht wie Becher viele Jahre, sondern 1937 nur zwei Monate in Moskau zu verbringen und dann in den USA Exil zu suchen. Doch er wurde von Stalin empfangen und hofiert, und er revanchierte sich mit einem Buch, das den Titel Moskau 1937 trägt und ebenfalls dem Diktator huldigte — dem »großen Organisator, Rechner und Psychologen«, dem »ins Genialische gesteigerten Typus des russischen Bauern und Arbeiters«.11 Als 1940 Arthur Koestlers Roman Sonnenfinsternis erschien, der eindringlich Stalins paranoische Massenmordpolitik beschrieb und analysierte, wurde sein Autor, von 1931 bis 1938 Mitglied der KP, von zahlreichen Kollegen übel als Verräter beschimpft.

Gabriele D’Annunzio, Johannes R. Becher, Luise Rinser: drei Schlaglichter auf das Problem, wie es um die politische Kompetenz von Dichtern bestellt sein kann, von Dichtern, die als Freischärler, als Kulturminister oder als Kandidatin um das Amt der Bundespräsidentin ausdrücklich politisch aktiv sein wollen. Nun könnte man diese Fälle als groteske Extreme abtun, die vom Normalfall einer zurückhaltenden oder besonnenen politischen Haltung von Schriftstellern unangenehm abweichen. Aber dem ist nicht so. Die Genannten standen mit ihrer Bewunderung für Hitler oder Stalin oder mit ihrer Rechtfertigung der Gewalt als Mittel der Politik nicht isoliert da. Zu den ganz großen Namen der Weltliteratur zählen die drei freilich nicht — und schon gar nicht der Autor des 1929 erschienenen Romans Michael — Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, der dann eine steile politische Karriere einschlug: Joseph Goebbels