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Wie entscheidet man, wer sein Leben aufs Spiel setzen muss? Das russische Dorf Pokrowskoje muss drei Männer für die Armee stellen, zwei sind festgelegt aber den dritten soll das Dorf selbst wählen. Der Verwalter schlägt den faulen Arbeiter Polikei vor, der im Dorf als stehlender Trinker bekannt ist. Die Gutsherrin spricht sich jedoch gegen die Wahl aus, da sie die Gutmütigkeit des Mannes schätzt und sich um das Überleben der fünf Kinder sorgt. Die Wahl fällt daher auf einen anderen und um die Vertrauenswürdigkeit Polikeis zu beweisen, wird er von der Gutsherrin auf einen wichtigen Auftrag geschickt. Was aber tun, wenn dieser ohne seine Schuld misslingt?-
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Seitenzahl: 117
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Lew Tolstoi
Übersezt von Karl Nötzel
Saga
Polikei
Übersezt von Karl Nötzel
Titel der Originalausgabe: Поликушка
Originalsprache: Russisch
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1862, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728017586
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Wie Sie zu befehlen geruhen, Herrin! Nur ist es um die Dutloffs leid. Alle ohne Ausnahme sind das prächtige Kerle; wenn man aber schon keinen Hofdiener abgibt, so kommen sie nicht darum, einen Soldaten zu stellen« – sprach der Verwalter – »auch jetzt schon weisen alle auf sie hin. Übrigens – ist das Ihr Wille!«
Und er legte die rechte Hand auf die linke, und indem er beide vor seinen Bauch hielt, beugte er den Kopf auf die andere Seite, zog, fast schmatzend, seine schmalen Lippen ein, wandte die Augen weg und verstummte in der offenbaren Absicht, lange zu schweigen und ohne Widerspruch den ganzen Unsinn anzuhören, den ihm die Gnädige hierauf entgegnen mußte.
Das war ein Verwalter aus den Hofleibeigenen, rasiert, in langem Rock (von einem ganz besonderen »Verwalterzuschnitt«), der an einem Herbstabend vor seiner Herrin stand, um Bericht zu erstatten. Dieser Bericht bestand nach den Begriffen der Gnädigen darin, Abrechnungen über erledigte Wirtschaftsangelegenheiten anzuhören und Verfügungen zu treffen über zukünftige. Nach den Begriffen des Verwalters Jegor Michailowitsch war die Berichterstattung eine Zeremonie, die darin bestand, die Fußspitzen nach auswärts, in gerader Haltung in der Ecke zu stehen, mit dem Gesicht zum Diwan gewendet, allerlei nicht zur Sache gehörendes Geschwätz anzuhören und die Gnädige durch verschiedentliche Mittel dahin zu bringen, daß sie endlich auf alle Vorschläge des Jegor Michailowitsch rasch und ungeduldig »Gut, gut!« sage.
Jetzt war die Rede von der Rekrutenaushebung. Von Pokrowskoje mußte man drei stellen. Zwei waren zweifellos durch das Schicksal selber dazu ausersehen: durch Zusammenfallen von häuslichen, moralischen und wirtschaftlichen Gründen. Hinsichtlich ihrer konnte kein Schwanken und kein Streit sein, weder von seiten der Bauernversammlung, noch von seiten der Gnädigen, noch von seiten der öffentlichen Meinung. Der dritte zu Stellende war dagegen anfechtbar. Der Verwalter wollte den »dreisöhnigen« Dutloff davor bewahren und den verheirateten Hofleibeigenen Polikuschka zur Aushebung schicken, der einen sehr schlechten Ruf besaß und mehrmals ertappt worden war beim Stehlen von Säcken, Zügeln und Heu; die Gnädige aber, die häufig die abgerissenen Kinder Polikuschkas liebkost und vermittelst Ermahnungen nach dem Evangelium seine Sittlichkeit gebessert hatte, wollte ihn nicht abgeben. Dabei wollte sie aber auch den Dutloffs nichts Übles, die sie gar nicht kannte und niemals gesehen hatte. Aus irgendeinem Grunde konnte sie aber durchaus nicht begreifen, und der Verwalter entschloß sich nicht, es ihr geradeheraus zu erklären, daß, wenn nicht Polikuschka, so Dutloff gehen müsse. »Ja, aber ich wünsche doch gar nicht das Unglück der Dutloffs,« sprach sie mit Gefühl. »Wenn Sie das nicht wollen, so zahlen Sie doch dreihundert Rubel für einen Rekruten!« Das ist es, was man ihr hierauf hätte antworten müssen. Die Politik ließ das aber nicht zu.
So nahm Jegor Michailowitsch ruhig eine bequeme Stellung ein, unbemerkt lehnte er sich sogar an den Türrahmen an, und den Gesichtsausdruck völliger Ergebenheit bewahrend, begann er zu betrachten, wie sich bei der Gnädigen die Lippen bewegten, und wie die Rüsche an ihrem Häubchen zugleich mit ihrem Schatten an der Wand unter dem Bildchen, das da hing, hin und her hüpfte. Er hielt es aber überhaupt nicht für nötig, auf den Sinn ihrer Reden einzugehen. Die Gnädige sprach lang und viel. Diese Töne waren ihm sogar angenehm, und er bekam einen Gähnkrampf hinter den Ohren; er verwandelte indes geschickt dieses Zucken in einen Husten, indem er mit der Hand seinen Mund bedeckte und sich anstellte, als ob er sich räusperte. Unlängst sah ich, wie Lord Palmerston dasaß, den Hut auf dem Kopfe, während ein Mitglied der Opposition das Ministerium niederdonnerte, und er sich plötzlich erhob und in einer dreistündigen Rede auf alle Punkte des Gegners Antwort gab; ich sah dies und staunte gar nicht, weil ich etwas Ähnliches tausendmal gesehen hatte bei Jegor Michailowitsch und seiner Herrin. Fürchtete er nun einzuschlafen, oder schien es ihm, daß sie sich schon allzusehr Hinreißen lasse – er verlegte das Schwergewicht seines Körpers vom linken Fuß auf den rechten und begann mit der sakramentalen Anfangsphrase, mit der er stets anfing:
»Das ist Ihr Wille, Herrin, nur ... nur die Bauernversammlung steht jetzt bei mir vor dem Kontore, und man muß ein Ende machen. In dem Befehle ist gesagt, bis zum Pokrowtage müsse man die Rekruten in die Stadt bringen. Von den Bauern weisen aber alle auf die Dutloffs hin, ja, und sonst auf niemanden. Die Bauernversammlung beobachtet aber nicht Ihr Interesse: ihr ist es gleichgültig, daß wir Dutloffs zugrunde richten. Ich weiß ja aber sehr wohl, wie sie sich durchschlugen. Von der Zeit an, daß ich Verwalter bin, haben sie ja immer in Armut gelebt. Eben, eben erst ist dem Greis sein jüngster Neffe herangewachsen, und jetzt soll man sie wieder ruinieren! Ich aber, Sie geruhen es zu wissen, bin um Ihr Eigentum besorgt wie um das meinige. Schade, Herrin; wie es Ihnen aber gefällig sein wird. Jene sind mir weder verschwägert noch blutsverwandt, und ich habe von ihnen nichts genommen ...«
»Ja, das habe ich ja gar nicht gedacht, Jegor ...« unterbrach ihn die Herrin und glaubte auch sogleich schon, daß er von den Dutloffs gekauft sei.
»... Es ist nur ihr Hof im ganzen Pokrowskoje der beste. Gottesfürchtige, arbeitsame Bauern sind das. Der Greis ist schon dreißig Jahre Kirchenältester, er trinkt weder Schnaps, noch nimmt er ein schlechtes Wort in den Mund; in die Kirche geht er immer.« (Es wußte der Verwalter, womit seine Herrin zu bestechen.) »Und die Hauptsache, ich sage es Ihnen, er hat nur zwei Söhne, der dritte ist nur sein Neffe. Die Bauernversammlung weist auf ihn hin; in Wirklichkeit müßte er ein ›Zweisöhnelos‹ werfen. Andere haben auch bei drei Söhnen sich ihr Land austeilen lassen, weil sie unfähig waren, gemeinsam zu wirtschaften; jetzt sind sie aber im Recht, und die sollen leiden wegen ihrer Tugend!«
Hier verstand die Herrin schon gar nichts mehr – sie verstand nicht, was hier »Zweisöhnelos« und »Tugend« zu bedeuten hätte, sie vernahm nur Töne und betrachtete die Nankingknöpfe an dem Rock des Verwalters: den oberen hatte er wahrscheinlich seltener zugeknöpft, so saß er denn auch fest, der mittlere war aber schon völlig losgerissen und hing eben noch, so daß es längst schon nötig wäre, ihn anzunähen. Wie aber allgemein bekannt, braucht man bei einer Unterhaltung, besonders einer geschäftlichen, durchaus nicht das zu verstehen, was zu einem gesprochen wird; man muß nur das im Gedächtnis behalten, was man selber sagen will. So verfuhr auch die Gnädige.
»Wie willst du denn gar nicht begreifen, Jegor Michailowitsch?« sprach sie. – »Ich will durchaus nicht, daß Dutloff zu den Soldaten kommt. Es scheint, soweit kennst du mich schon, um zu urteilen, daß ich alles tue, was ich kann, um meinen Bauern zu helfen, und ich will nicht ihr Unglück. Du weißt, daß ich bereit wäre, alles zu opfern, um mich von dieser kummervollen Notwendigkeit zu befreien und weder den Dutloff noch den Chorjuschkin abzugeben.« (Ich weiß nicht, ob es dem Verwalter in den Kopf kam, daß, um sich von dieser kummervollen Notwendigkeit zu befreien, man durchaus nicht alles zu opfern brauchte, vielmehr dreihundert Rubel genügten; dieser Gedanke hätte ihm aber leicht kommen können.) »Eines will ich dir nur sagen, daß ich den Polikei um keinen Preis abgeben werde. Als er nach jener Sache mit der Uhr mir selber alles eingestand und weinte und schwur, er werde sich bessern, sprach ich lange mit ihm und sah, daß er gerührt war und aufrichtig bereute.« (»Nun hat sie angefangen!« – dachte Jegor Michailowitsch und begann das Eingemachte zu betrachten, das sie in ein Glas Wasser hineingelegt hatte: »Ist es aus Apfelsinen oder Zitronen? Es muß wohl von bitterem Geschmack sein,« dachte er.) »Seitdem sind sieben Monate vergangen, und er war kein einziges Mal betrunken und führt sich ausgezeichnet auf. Mir sagte seine Frau, er sei ein anderer Mensch geworden. Und wie willst du denn da, daß ich ihn jetzt strafen soll, nachdem er sich gebessert hat? Ja, und ist es denn nicht unmenschlich, einen Menschen zu den Soldaten zu geben, der fünf Kinder hat und allein ist? Nein, sprich mir lieber gar nicht davon, Jegor ...«
Und die Gnädige trank aus dem Glas mit Eingemachtem.
Jegor Michailowitsch sah zu, wie das Wasser die Kehle durchlief, und entgegnete dann sanft und trocken:
»So befehlen Sie also, den Dutloff zu bestimmen?«
Die Gnädige rang die Hände.
»Wie kannst du mich denn gar nicht verstehen? Wünsche ich denn das Unglück Dutloffs, habe ich denn irgend etwas gegen ihn? Gott ist mein Zeuge, daß ich bereit bin, alles für ihn zu tun.« (Sie schaute auf das Bild in der Ecke, entsann sich aber, daß das nicht Gott sei: »Nun ja, einerlei, nicht darum handelt es sich«, dachte sie. Wiederum ist es seltsam, daß sie nicht auf den Gedanken kam an die dreihundert Rubel.) »Was soll ich dann aber tun? Weiß ich denn, was und wie? Ich kann das gar nicht wissen! Nun, ich verlasse mich auf dich; du weißt, was ich will. Mache es so, daß alle zufrieden sind und dem Gesetze nach. Was soll man denn machen? Nicht für sie allein – für alle gibt es schwere Augenblicke. Nur den Polikei darf man nicht abgeben. Du verstehst, daß dies furchtbar wäre von meiner Seite ...«
Sie hätte noch lange gesprochen – so sehr hatte sie sich belebt, da trat aber das Dienstmädchen ins Zimmer.
»Was willst du, Dunjascha?«
»Ein Bauer ist gekommen, er läßt Jegor Michailowitsch fragen, ob er der Bauernversammlung zu warten befiehlt!« – sprach Dunjascha und blickte zornig auf den Jegor Michailowitsch. (»Ach, dieser Verwalter!« – dachte sie – »er hat die Herrin aufgeregt; jetzt wird sie mich wiederum nicht vor ein Uhr in der Nacht einschlafen lassen.«)
»So gehe denn, Jegor« – sprach die Herrin – »mach' es möglichst gut!«
»Ich gehorche.« (Er sprach schon nichts mehr über Dutloffs.) »Wen befehlen Sie aber wegen des Geldes zum Gärtner zu schicken?«
»Ist denn Petruscha noch nicht aus der Stadt zurückgekehrt?«
»Nein.«
»Kann dann aber nicht Nikolai fahren?«
»Sein Väterchen liegt an Kreuzschmerzen,« sprach Dunjascha.
»Werden Sie nicht mir selber morgen zu fahren befehlen?« fragte der Verwalter.
»Nein, du bist hier nötig, Jegor.« (Die Gnädige dachte nach.) »Wieviel Geld?«
»1617 Rubel.«
»Schicke den Polikei« – sprach die Herrin, indem sie dem Jegor Michailowitsch entschlossen ins Gesicht schaute.
Jegor Michailowitsch verzog, ohne die Zähne zu zeigen, die Lippen, als ob er lächle; er veränderte sich aber nicht im Gesicht.
»Ich gehorche!«
»Schicke ihn zu mir!«
»Ich gehorche!« – und Jegor Michailowitsch ging ins Kontor.