Politische Psychoanalyse - Christine Bauriedl-Schmidt - E-Book

Politische Psychoanalyse E-Book

Christine Bauriedl-Schmidt

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Beschreibung

In diesem Band findet das gesellschaftskritische und kulturtheoretische Potenzial der Psychoanalyse und ihrer Nachbarwissenschaften (z. B. der Soziologie und der Geschichtswissenschaften) Anwendung auf aktuelle, politische Konfliktarenen (Gender, Postkolonialismus, Intersektionalität), Krisen (Pandemie, Kriege) und zeitgenössische Phänomene (Populismus, Verschwörungstheorien). Dabei soll ein historischer Bogen gespannt werden, der die Entwicklung der politischen Psychoanalyse aus ihren Anfängen bis hinein in die Gegenwart nachvollzieht.

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Seitenzahl: 545

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Christine Bauriedl-Schmidt

Markus Fellner / Gregor Luks (Hrsg.)

Politische Psychoanalyse

Jahrbuch für klinische und interdisziplinäre Psychoanalyse Band 2

Jahrbuch für klinische und interdisziplinäre Psychoanalyse

Reihenherausgeber:

Christine Bauriedl-Schmidt, Markus Fellner

Die Psychoanalyse ist über ihre Anwendung in den verschiedenen psychodynamischen, therapeutischen Verfahren hinaus eine besondere Theorie des Subjekts, die sich in einem epistemologischen Feld zwischen naturwissenschaftlichen Befunden und hermeneutischer Methodologie bewegt. Ihre Gegenstände liegen in der Klinik wie auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften, in der Biologie wie auch in den Sprach- und Geisteswissenschaften. Aufgrund dieser Pluralität und ihrer Vermittlungsfunktion ist die Psychoanalyse deshalb maßgeblich auf die Erarbeitung und Reflexion interdisziplinärer Schnittstellen angewiesen. Das Jahrbuch für klinische und interdisziplinäre Psychoanalyse versteht sich dabei als ein Forum der Auseinandersetzung und Beitrag in der Vernetzung der Psychoanalyse.

Bereits erschienen ist Band 1: Das Unbewusste und die Klimakrise

2025 erscheint Band 3: Kunst und Künstlichkeit – Fantasie, Abwehr und

Realitätsbewältigung. Was ist nocht echt, bedeutungsvoll und real?

Christine Bauriedl-Schmidt

Markus Fellner / Gregor Luks (Hrsg.)

Politische Psychoanalyse

Jahrbuch für klinische und interdisziplinäre Psychoanalyse Bd. 2

Beiträge von

Christine Bauriedl-Schmidt, Gudrun Brockhaus,

Charlotte Busch, Markus Fellner, Esther Hutfless,

Charlie Kaufhold, Christine Korischek,

Gregor Luks, Leonid Luks, Ursula Mayr, Ian Parker,

Eran Rolnik, Valerie Schneider, Ralph Weber,

Hans-Jürgen Wirth, Josef Zierl

Brandes & Apsel

Auf Wunsch informieren wir Sie regelmäßig mit unseren Katalogen »Frische Bücher« und »Psychoanalyse-Katalog«. Wir verwenden Ihre Daten ausschließlich für die Zusendung unserer beiden Kataloge laut der EU-Datenschutzrichtlinie und dem BDS-Gesetz. Bitte senden Sie uns dafür eine E-Mail an [email protected] mit Ihrer Postadresse. Außerdem finden Sie unser Gesamtverzeichnis mit aktuellen Informationen im Internet unter: www.brandes-apsel.de

1. Auflage 2024

© Brandes & Apsel Verlag GmbH, Frankfurt a. M.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, Mikroverfilmung, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen oder optischen Systemen, der öffentlichen Wiedergabe durch Hörfunk-, Fernsehsendungen und Multimedia sowie der Bereithaltung in einer Online-Datenbank oder im Internet zur Nutzung durch Dritte.

Umschlag: Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt a. M. unter Verwendung eines Bildes von Pixabay.

DTP: Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt a. M.

Druck: STEGA TISAK, d. o. o., Printed in Croatia

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem und chlorfrei gebleichtem Papier.

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-95558-357-6

ISBN E-Book 978-3-95558-361-3

Inhalt

Christine Bauriedl-Schmidt & Markus Fellner & Gregor Luks Einleitung

1. Psychoanalyse, Politische Theorie und Geschichtswissenschaft

Gregor Luks Eros, Thanatos und Logos – Historisches und Gegenwärtiges zur Politischen Psychoanalyse

Leonid Luks Alexander Dugin, das »Weimarer Syndrom« und Weltherrschaftsträume – Anmerkungen zu russisch-deutschen Parallelen

Ralph Weber WOLFSERWARTUNGEN – Der Alptraum des Leblosen im Traumbild der Urgeschichte

2. Psychoanalytische Sozialpsychologie und Zeitdiagnostik

Hans-Jürgen Wirth Gefühle machen Politik Populismus, Pandemie, Krieg und die Chance der Verletzlichkeit

Josef Zierl Überlegungen zum Stellenwert der analytischen Gruppentherapie angesichts der »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz)

Ursula Mayr Metamorphosen des Aliens

Gudrun Brockhaus »Ratlos dastehen in der fremd gewordenen Welt« – Dilemmata psychoanalytischer Zeitdiagnosen in virulenten Krisen

3. Psychoanalyse als Ideologiekritik und emanzipatorische Wissenschaft

Christine Korischek »Wir sind nicht allein, wir rufen zur Trompete geworden den Anderen, die Mitmenschen zum Kampf« Psychoanalyse und Politik im Werk von Paul Parin

Ian Parker Verschwörungstheoretische Vorstellungen von Subjektivität und Gesellschaft: Pandemie, Marxismus und Psychoanalyse

Eran Rolnik Wer ist Antisemit? Psychoanalytische Überlegungen zu einer uralten Debatte1

Eran Rolnik Politische Zäsur und ziviler Ungehorsam – Zur Psychodynamik der israelischen Widerstandsbewegung1

Esther Hutfless Gesellschaftliche Machtverhältnisse, Intersektionalitäten und das Unbewusste Zur Psychoanalyse als kritischer Theorie sozialer Ungleichheit

4. Befunde der psychoanalytischen Sozialforschung

Valerie Schneider & Charlotte Busch »Die Wunde des sexuell und geschlechtlich Möglichen blutet noch«

Charlie Kaufhold »Der NSU war nicht zu dritt!« – Zur psychosozialen Funktion der sogenannten Trio-These im NSU-Komplex

Die Autorinnen und Autoren

In Erinnerung an und gewidmet unserem sehr geschätzten Kollegen Josef Zierl

1. Psychoanalyse, Politische Theorie und Geschichtswissenschaft

Christine Bauriedl-Schmidt & Markus Fellner & Gregor LuksEinleitung

Schon in ihren Anfängen wandte sich die Psychoanalyse politischen Phänomenen und Fragestellungen zu. Aufgrund ihres kulturtheoretischen Potenzials war sie schon immer eine für kritische Gesellschaftheorie und Ideologiekritik ergiebige Theorie des Subjekts. Vor, während und nach der Katastrophe des deutschen Nationalsozialismus wurde die Psychoanalyse maßgeblich von der marxistisch orientierten Kritischen Theorie, zunächst eher auf den akademischen, sozialwissenschaftlich-philosophischen Raum beschränkt, rezipiert – bis die Psychoanalyse schließlich von der Aufbruchstimmung der westlichen Welt in den 1960er- und 1970er-Jahren breit erfasst wurde und stark zum gesellschaftskritischen und kulturellen Diskurs beitrug. Sozialwissenschaftler*innen wie Helmuth Dahmer, Klaus Horn oder Karola Brede stützten diese Auffassung von Psychoanalyse weiterhin akademisch ab.

Ab den 1980er-Jahren wurde zunehmend die Postmoderne zum neuen kulturellen Nährboden. Die Kapitalismuskritik ging zwar weiter, aber ihre Formen veränderten sich. Neben der traditionell marxistischen Kritik nahm sich der Poststrukturalismus der Gesellschaftskritik und auch der Psychoanalyse an. Materialismus wurde durch die Semiotik erweitert und die Kritik wurde weniger am Begriff der Ideologie, sondern an dem des Diskurses angebunden. Der am meisten rezipierte Psychoanalytiker dürfte hierbei Jaques Lacan sein, da er durch seine sprachliche Verfassung des Begriffs des Unbewussten die subjekttheoretische Leerstelle des alten Strukturalismus füllen konnte. Die gesellschaftlichen Konflikte wurden nun auf der Ebene eines Machtkampfes um Bedeutung untersucht. Vom breiten psychoanalytischen Mainstream wurde diese veränderte gesellschaftskritische Verwendung von Psychoanalyse wenig wahrgenommen, hier dominierte zunehmend der Rückzug ins Feld der Klinik im Verbund mit positivistischen Forschungsansätzen. Doch die gesellschaftskritische, kulturtheoretische Psychoanalyse ging dabei nicht verloren, vielmehr emigrierte sie sozusagen in die sprach-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen und beteiligte sich maßgeblich an der Entwicklung beispielsweise der Cultural Studies, Postcolonial Studies, Race Studies, Gender Studies oder Queer Studies. Im Zentrum dieser Forschungsfelder standen die diskursive Herstellung von Identität und Differenz sowie die zugrundeliegenden politischen Bedingungen und daraus folgenden politischen Konsequenzen. Der psychoanalytische Mainstream wirkte wie in einem gesellschaftstheoretischen Dornröschenschlaf, während die kritische psychoanalytische Theoriebildung in den Nachbardisziplinen sowie auch in der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Ethnopsychoanalyse und der stark an die Soziologie angebunden psychoanalytischen Sozialpsychologie vorangetrieben wurde.

Zur politischen Lage seit der Jahrtausendwende: Mit der Unberechenbarkeit von Terroranschlägen seit dem 11. September 2001, mit der Finanzkrise von 2008, der seit 2010 immer weiter in die Wahrnehmung rückenden Klimakrise, der Coronapandemie, der Zunahme faschistoider Entwicklungen in breiten Bevölkerungsschichten sowie in den parteipolitischen Landschaften und der »Zeitenwende« eines Krieges mitten in Europa durch den russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 stehen wir heute vor einer Welt, die wie in Fetzen zu liegen scheint, deren Zerfall prognostiziert wird. Kann es hier zu einer erneuten und breiten Hinwendung der Psychoanalyse zu gesellschaftspolitischen Themen kommen, damit ihr aufklärerisch-emanzipatorisches Potenzial – ihre universalistische und verstehende Kraft – in dieser Zeit voller Krisen, Spaltungen und Zerfall wirken kann? Der ukrainische Psychoanalytiker Jurko Prochasko antwortet auf die Frage, was der Westen für die Ukraine nun außer den für ihn unausweichlichen Waffen -und Güterlieferungen tun könne, Folgendes: »Erklären, aufklären, demonstrieren, nachdenken, diskutieren, überlegen und keine Angst haben.«

Gerade im Hinblick auf die deutsche NS-Vergangenheit gilt es, eine demokratische Mitverantwortung, die »Arbeit an der Erinnerung« (Thomas Auchter) und die »kollektive Ich-Stärke« (Alexander Mitscherlich) zu festigen. Hierfür kann die Psychoanalyse wichtige Erkenntnisse liefern. Was macht die Dynamik der verschiedenen Krisen mit uns als Individuen und Gesellschaft? Wie kann sich das Ich behaupten in Zeiten von Ohnmacht und starken Affekten wie Angst und Aggression? Wie lässt sich am Schutz vor totalitären Verführungen, vor Omnipotenzfantasien, vor Realitäts- und Vertrauensverlust arbeiten? Es geht auch darum, wie es Prochasko fordert, sich die individuelle und kollektive Denkfähigkeit zu bewahren, um ein »gesellschaftliches unbewusstes Agieren« und extreme Projektionen und Idealisierungen zu verhindern. Die Psychoanalyse hat dabei seit jeher ein Auge für die Ambivalenz des Menschen, für seine »realistische Zebranatur« (Auchter), für sein liebevollkonstruktives und sein hasserfüllt-destruktives Potenzial. Auchter schreibt in diesem Zusammenhang: »Alle menschlichen Beziehungen durchdringt eine tiefe Gefühlsambivalenz.« Alexander Mitscherlich mahnt in seinem Buch Kampf um die Erinnerung: »Solange es bei Aufmärschen bleibt, ist noch nicht alles verloren. Wenn die Aufmärsche in Uniform geschehen und schließlich im Stechschritt der Parade, hat sich die Niederlage der Vernunft vollzogen.«

Schon immer bot die Psychoanalyse einen Reflexionsraum, der individuelle und gesellschaftliche Entwicklungen aufeinander bezieht und theoretisch ineinander verschränkt. Ein besonderer Verdienst der Psychoanalyse ist hierbei, die ideologisch hergestellten Dichotomien zwischen Normalität und Abweichung zu relativieren und politische Krisen oder Fehlentwicklungen anhand der gesellschaftlichen Bedingungen von Subjektbildung zu untersuchen. Gerade aufgrund der heute vielfach diagnostizierten Pluralität der Psychoanalyse kann diese die Kraft entfalten, die Facetten von gesellschaftlichen Krisen zu untersuchen im Hinblick auf Abwehrkonstellationen und Prozesse der Unbewusstmachung – die dann zu dem besonderen affektiven Ausdruck der Krise führen können, von Lähmung, Ignoranz, Erschöpfung bis hin zu offener Gewalt. Die radikal verbindende und transformierende Kraft der Psychoanalyse nahm ihren gesellschaftstheoretischen Anfang bei Freuds Anerkennung der Liebe sowie auch der Aggression als Kulturfaktoren. Freuds Denken hatte dabei den Anspruch, den einen Ursprung, den einen Gedanken hinter den unterschiedlich zerstörerischen Phänomenen zu erahnen und zu benennen, während es ihn gleichzeitig dialektisch in der Schwebe hält – idealerweise unbeeinflusst von Macht, Autorität und Mehrheit. Dieses dabei anklingende Ideal einer herrschaftsfreien Wissenschaft wurde zwar durch die Kritische Theorie nachhaltig und berechtigt dekonstruiert, aber die Offenheit des psychoanalytischen Denkens kann – vielleicht im Sinne des Habermas’schen Konzepts eines herrschaftsfreien Diskurses – hilfreich sein, um den Raum der politischen Reflexion zu öffnen, und der Diskurs politischer Psychoanalyse zielt darauf ab, eine emanzipatorische, aufklärerische Wissenschaft zu sein – die sich positioniert und streitbar ist.

Die Politische Psychoanalyse beinhaltet das Potenzial, eine Wende, einen Umbruch, eine Zäsur im gesellschaftlichen Diskurs zu denken, zu unterstützen, voranzubringen. Heute müssen wir dabei anerkennen, wie sehr unsere Demokratien und Vorstellungen von Humanität durch Machtmissbrauch und politische Verkennungen real bedroht sind. Dies zeigt sich beispielsweise in der schmerzhaften Antwort einer russischstämmigen Autorin, die ihren Kapitelbeitrag zurückzog aufgrund der Befürchtung, mit ihrer Stimme die russischen Kolleg*innen zu gefährden. Und tatsächlich, die in ihrer Absehbarkeit doch schockierende Nachricht vom Tod des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny zeigt, dass staatlich initiierter Mord keine bloße Fantasie ist. Auch wenn der im Exil lebende russische Schriftsteller Viktor W. Jerofejew davon ausgeht, dass Nawalnys Tod diesen augenblicklich in eine mächtige historische Figur verwandelt hat,1 war dieser doch auch eine Projektionsfläche und Symbolfigur für die Hoffnung, mit kritischem Denken nicht allein zu sein. Nachdem die Gefahr vom Aufflammen relevanter rechtsextremer Strömungen Ende der 1980er-Jahre wie gebannt wirkte, kehren sie nun wieder und es ist nicht unwahrscheinlich, dass die AfD im Jahr 2024 in einigen Bundesländern erheblich an Stimmen gewinnen wird. Die für die Demokratie einstehenden Massendemonstrationen gegen den Rechtsruck sind an dieser Stelle zu erwähnen als Zeichen dafür, dass die Bedrohung einen Resonanzraum gefunden hat, der in seiner Vielfältigkeit diskursstiftend ist. Angesichts einer ungewiss und unübersehbar werdenden globalen Welt geht die Bedrohung unserer Demokratien nicht nur allein vom Ruf nach starken politischen Führern sowie deren selbstherrlichem Entscheiden und Handeln aus, sondern auch von entfesselter Destruktion und eskalierenden Gewaltakten. Dies zeigte sich durch das entsetzliche Massaker an mehr als tausend Menschen in Israel am 7. Oktober 2023 durch die Hamas. Es zeigt sich auch im kompromisslosen Bombardieren der Menschen im Gazastreifen. Wenn wir dem israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm folgen, dann kann der Überfall der Hamas nicht einmal mehr mit dem Begriff »Terrorismus« adäquat benannt werden.2

All das Leid und all die Gewalt, die sich an verschiedenen Schauplätzen auf der Welt abzeichnen, und die nicht nur daran geknotete Ungewissheit und Komplexität erfassen auch uns Psychoanalytiker*innen. Auch wir fühlen uns hilflos, ratlos, ängstlich, niedergeschlagen, auch wir können uns als Opfer narzisstisch-radikaler Machtansprüche fühlen oder als Täter*innen, wenn wir auf unser Zutun im Hinblick auf die Klimakrise blicken. Als Deutsche ringen wir immer wieder darum, nicht zu vergessen und unerlöstes Schulderleben in Trauer und Wiedergutmachung zu transformieren. In unseren psychotherapeutischen Praxen nehmen wir angesichts der individuell erlebten, der transgenerational und gesellschaftlich vermittelten Traumata unserer Patient*innen eine Rolle als aktive Zeug:innen ein (z. B. Dori Laub, Jeanne Wolff Bernstein), die gekennzeichnet ist durch die Fähigkeit zur Toleranz gegenüber existenzieller Ambiguität und Nichtwissen. Die Rolle der zuhörenden und hörenden Zeug*in (vgl. Orange, 2023) muss und darf nicht auf die vier Wände des Therapieraums begrenzt sein. Der Psychiater Robert J. Lifton versteht sich als aktivistischer Zeuge des Weltgeschehens, was für ihn bedeutet, dass er ein denkender, redender, schreibender Zeuge ist. Ein aktivistisches Bezeugen dokumentiert den Mut, der notwendig ist, im biografisch und historisch düstersten, vermeintlich fragmentiertesten Moment die Hoffnung an das individuell und kollektiv Gute weiter aufrechtzuerhalten. Oder wie ein Kollege es im Herbst 2023 ausdrückte: Für das Gelingen von Zusammenleben würde es ausreichen, wenn wir uns darauf fokussierten würden, den Schein unseres Lichts (i. S. eines kleinen, fragilen Lichts) mit der Welt zu teilen.

Im ersten Beitrag von GREGOR LUKs soll ein Bogen von den Anfängen der Politischen Psychoanalyse bei Sigmund Freud, Wilhelm Reich und bei anderen Pionieren dieses Metiers bis hin zu ausgewählten Schlaglichtern der gegenwärtigen Politischen Psychoanalyse gespannt werden. Dabei wird es u. a. um die Frage der gesellschaftlichen Aufarbeitung von früheren totalitären Systemen gehen und zugleich auch das heutige Russland unter Putin und sein aggressives Auftreten nach innen und nach außen kurz beleuchtet werden. Der Beitrag wird abschließend das Konzept des »emotional-transzendenten Logos« im Zusammenhang mit dem Bewusstsein und dem Unbewussten erläutern.

Ebenfalls um Russland geht es aus einer geschichtswissenschaftlichen, vertieften Perspektive in dem Artikel des Historikers LEONID LUKS. Der Titel lautet Alexander Dugin, das »Weimarer Syndrom« und Weltherrschaftsträume – Anmerkungen zu russisch-deutschen Parallelen. Parallelen zwischen dem postsowjetischen Russland und der Weimarer Republik gehören seit dem Beginn der 1990er-Jahre zum ständigen Repertoire der russischen und der westlichen Publizistik. Die Ähnlichkeiten sind auf den ersten Blick in der Tat erstaunlich. Wie damals in der Weimarer Republik assoziiert sich auch im postkommunistischen Russland die Demokratie für viele antidemokratisch gesinnte Gruppierungen mit dem Zusammenbruch der hegemonialen Stellung des Landes auf dem europäischen Kontinent, mit dem Verlust von Territorien und mit der Entstehung einer neuen Diaspora. Dabei geschah der Zusammenbruch der beiden Imperien im Grunde über Nacht. Im Wilhelminischen Deutschland hat man praktisch bis zuletzt an einen Sieg im Weltkrieg geglaubt. Ähnlich fassungslos reagierten viele Russen auf den Zusammenbruch des Sowjetreiches, das kurz zuvor gemeinsam mit den USA über die Geschicke der Welt entschieden hatte. Der am 24. Februar 2022 begonnene russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verlieh dem Diskurs über das »Weimarer Russland« zusätzliche Facetten, mit denen sich dieser Beitrag befasst.

Psychologische Dimensionen des Krieges sind auch Gegenstand des Beitrags WOLFSERWARTUNGEN – Der Alptraum des Leblosen im Traumbild der Urgeschichte von RALPH WEBER. Weber unternimmt den Versuch, die subjekttheoretischen Möglichkeiten der Psychoanalyse in Bezug auf die Hobbes’sche Vorstellung eines kriegerischen Naturzustandes des Menschen auszuleuchten, indem er den Freud’schen Begriff des Todestriebes dafür in ein neues Licht rückt. Ausgehend von »politphilosophischen Konstruktionen der Natur des Menschen (Naturzustände), die im 17. und 18. Jahrhundert von europäischen Denkern entwickelt wurden und bis heute die Identität des Europäers stabilisieren«, werden deren widersprüchliche Prämissen der Traumdeutung Freuds zugeführt, um »die Bilder und Erzählungen der Natur des Menschen als Resultate der Traumarbeit« kennenzulernen. »In diesem Sinne verstehen sich die Naturzustände nicht mehr als politphilosophische Fiktionen, sondern, und das gilt vor allem für die Vorstellung des Naturzustandes eines Krieges aller gegen alle, die Freud von Thomas Hobbes übernommen hat, als Endstrecke des Todestriebes vom latenten Traumgedanken zum manifesten Trauminhalt. Der Todestrieb offenbart sich in seiner unbewussten Bedeutung jedoch nicht im entstellten Bild oder einer Erzählung des Krieges aller gegen alle, sondern in seiner Funktion, die Unterbrechung des Leblosen durch das Leben zu beenden.«

Gesellschaftlich »dunklen« Phänomenen wie Krieg oder Rechtspopulismus und »dunklen« Gefühlen wie Hass, Neid oder Ekel wendet sich HANS-JÜRGEN WIRTH aus einer genuin sozialpsychologischen Perspektive zu. Der Titel seines Beitrags lautet: Gefühle machen Politik. Populismus, Pandemie, Krieg und die Chance der Verletzlichkeit. Wirth untersucht, wie in den Zeiten der Pandemie Verschwörungstheorien auf psychoanalytisch nachvollziehbaren Dynamiken emotionaler Systeme beruhen und beispielsweise individuelle sowie kollektive Ressentiments zeitigen. Vor diesem Hintergrund entwickelt er theoretische Impulse, wie die destruktiven gesellschaftlichen Dynamiken durch ein zunehmendes Bewusstsein für die Verletzlichkeit des Lebens »für ein neues Menschenbild und eine neue Sicht auf die Welt« überwunden werden können. Indem er den Begriff der Vulnerabilität auf seine komplexen Bedeutungsebenen hin ausleuchtet, geht er der Frage nach, »was der Begriff unter psychoanalytischer Perspektive bedeuten könnte und was er zu einer Neuorientierung des Menschenbildes beitragen kann.«

Ebenfalls aus einer sozialpsychologischen und darüber hinaus aus einer gruppenpsychoanalytischen Perspektive leuchtet JOSEF ZIERL in seinem Beitrag Überlegungen zum Stellenwert der analytischen Gruppentherapie angesichts der »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz) das Phänomen einer »Zunahme des spätmodernen kulturellen Ideals der (grenzenlosen) Selbstentfaltung und Selbstoptimierung« aus. Vor dem Hintergrund des soziologischen Konzepts einer »Gesellschaft der Singularitäten« führt Zierl aus, wie jenes kulturelle Ideal zu einer Überforderung des Subjekts führt und wie es psychonalytisch gesehen mit narzisstischer Vulnerabilität korrespondiert. Dabei wird der Schamaffekt »als Leitaffekt für die Gesellschaft der grenzenlosen Selbsterweiterung« und damit auch als wesentlicher Grund für den Rückgang der Nachfrage nach einer analytischen Gruppentherapie gesehen. »Entgegen dieses Trends hebt« Zierl »die steigende Notwendigkeit der therapeutischen (und nicht-therapeutischen) Anwendung der Gruppenanalyse in unserer spätmodernen Gesellschaft hervor.«

In URSULA MAYRS Beitrag Metamorphosen des Aliens wird die Figur des Außerirdischen im Science-Fiction-Film als »Projektionsfläche für das gefürchtete oder auch faszinierende Fremde« analysiert. In Bezug auf das gesellschaftliche Phänomen der Fremdenangst und des Fremdenhasses werden hierbei politische und wirtschaftlichen Gegebenheiten einerseits und psychodynamische Prozesse andererseits ins Verhältnis gesetzt.

GUDRUN BROCKHAUS setzt sich in ihrem Beitrag »Ratlos dastehen in der fremd gewordenen Welt« (Freud, 1915) – Dilemmata psychoanalytischer Zeitdiagnosen in virulenten Krisen mit der drängenden Frage auseinander, welche An- und Überforderungen »sich heute im Angesicht einer sich überschlagenden Dynamik multipler Krisen und Kriege« ergeben. »Wie kann man sich zu aktuellen, affektiv hochaufgeladenen Geschehnissen äußern, in denen man selber parteiisch ist?« Brockhaus untersucht zur Beantwortung dieser Frage die Bedeutung von Wissenschaft und speziell von psychoanalytischen Zeitdiagnosen in ihrem Verhältnis zu diskursiven, politischen Praktiken in Bezug auf den Ukraine- und den aktuellen Nah-Ost-Krieg sowie in Bezug auf die Klimakrise. Hierbei kritisiert sie psychologisierende Strategien im Sinne einer »Moralisierung« von »psychoanalytischen Zeitdiagnosen« als Versuch der Bewältigung der Verstörung und als Ausdruck einer »Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Gewissheit«.

Den Anfang des dritten Abschnitts »Psychoanalyse als Ideologiekritik und emanzipatorische Wissenschaft« macht CHRISTINE KORISCHEK mit ihrem Beitrag »Wir sind nicht allein, wir rufen zur Trompete geworden den Anderen, die Mitmenschen zum Kampf« – Psychoanalyse und Politik im Werk von Paul Parin. Sie identifiziert drei zentrale Themenfelder der Schriften Parins, die sich durch sein ganzes Werk ziehen: Parins Auseinandersetzung mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen, sein Widersetzen durch Tabubrüche und die Anpassung des Individuums an die soziale Umwelt. Die Verknotung dieser Motive spürt sie erstens in der Biografie Parins, zweitens in den von ihm dargestellten Verflechtungen psychoanalytischer Theorie und Praxis sowie drittens in seinen Stellungnahmen zu »brennenden Zeitproblemen« auf. Damit skizziert sie Parins Rede »Das Politische ist immer auch persönlich, das Persönliche immer auch politisch« als Spielform der gesellschaftlichen Subjektwerdung.

Der Beitrag Verschwörungstheoretische Vorstellungen von Subjektivität und Gesellschaft: Pandemie, Marxismus und Psychoanalyse von IAN PARKER befasst sich mit zentralen Aspekten von Verschwörungstheorien anhand paranoischer, faschistoider Darstellungen von Subjektivität und Gesellschaft im Zuge der COVID-19-Pandemie. Dabei zeigt Parker, wie zwei konzeptionelle Ressourcen, nämlich der Marxismus und die Psychoanalyse, von Nutzen sein können, um wesentliche Bestimmungsmerkmale von Verschwörungstheorien sowie deren Funktion in der kapitalistischen Gesellschaft erfassen zu können – und zwar genau deshalb, weil sie »jeweils auf unterschiedliche Weise Antithesen zu verschwörungstheoretischen Aussagen formulieren können.«

Im Beitrag Wer ist Antisemit? Psychoanalytische Überlegungen zu einer uralten Debatte skizziert der israelische Psychiater und Psychoanalytiker ERAN ROLNIK das Phänomen des Antisemitismus als transhistorische unbewusste Ausrottungsfantasie, die sich gegen das Rätselhafte an den Menschen und an dieser Welt richtet. Damit adressiert er die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass ein Genozid geleugnet und im Gewand einer Protestform legitimiert wird, oder: dass der Mensch immer noch imstande ist, Verrat zu begehen an seiner eigenen Humanität.

Im Beitrag Politische Zäsur und ziviler Ungehorsam – Zur Psychodynamik der israelischen Widerstandsbewegung schildert ERAN ROLNIK orientiert an Analogien zum Therapieprozess die Situation des israelischen Staats als Gefahr einer fragilen Demokratie. Er erhebt die Figur der Zäsur, der Unterbrechung, des Störenfrieds zu einer psychoanalytisch fundierten Haltung, aus der sich die Absage an Diktatur und Populismus ergibt, um sich dem kritischen Denken zuwenden zu können und um zum Ganzen eines demokratischen Selbstverständnisses zu gelangen, welches das Überleben sichern kann.

Den Abschluss des Kapitels zur Psychoanalyse als Ideologiekritik und emanzipativer Wissenschaft bildet ESTHER HUTFLESS’ Beitrag Gesellschaftliche Machtverhältnisse, Intersektionalitäten und das Unbewusste. Zur Psychoanalyse als kritischer Theorie sozialer Ungleichheit. Ausgehend von persönlichen Erfahrungen in einer Diskussion unter Psychoanalytiker*innen zu Didier Eribons Buch Rückkehr nach Reims, in dem er den Kampf um die Lebbarkeit seiner Homosexualität beschreibt, untersucht Hutfless verschiedene Schattierungen, Risiken und Chancen des psychoanalytischen Diskurses hinsichtlich der Subjektkonstitution im Überschneidungsfeld von vielfachen gesellschaftlichen Machtwirkungen. Hutfless nähert sich ihrem Gegenstand dabei sowohl aus einer theoriekritischen wie auch aus einer singulärklinischen Perspektive. In Verschränkung beider Zugänge greift sie das in den Geistes- und Sozialwissenschaften schon lange diskutierte Konzept der Intersektionalität auf, um danach zu fragen, inwiefern es für die Psychoanalyse produktiv gemacht werden könnte – und um zu zeigen, wie die Psychoanalyse damit nicht nur in ihrer sozialpsychologischen Ausprägung als kritische Gesellschaftstheorie, sondern auch in ihrer singulären klinischen Anwendung als eine kritische und emanzipatorische Theorie sozialer Ungleichheit verstanden werden kann.

Der vierte und letzte Abschnitt des Buches ist den Befunden der psychoanalytischen Sozialforschung gewidmet, die als ideologiekritische Sozial- und Kulturwissenschaft die Erforschung gesellschaftlich relevanter Problemfelder im dialektischen Spiegel ihrer Genese in der menschlichen Innenwelt ermöglicht. Den Anfang machen VALERIE SCHNEIDER und CHARLOTTE R. BUSCH. Im Beitrag »Die Wunde des sexuell und geschlechtlich Möglichen blutet noch« beschreiben sie, wie Sexualität immer wieder zum Spannungsfeld sozialer und politischer Aushandlungsprozesse wird. Anhand zweier tiefenhermeneutisch ausgewerteter Interviews zur Sexualität während des Covid-bedingten Lockdowns wird herausgearbeitet, wie Sexualität zugleich als »Seismograph« intrapsychischer Konflikte einzelner Individuen verstanden werden kann.

Im Beitrag »Der NSU war nicht zu dritt!« – Zur psychosozialen Funktion der sogenannten Trio-These im NSU-Komplex geht CHARLIE KAUFHOLD anhand der irritierenden Persistenz der »Trio-These« deren latenter unbewusster Bedeutung nach. Aufgedeckt und beschrieben werden Fehlleistungen, die auf Dethematisiertes und ins Außen Verlagertes verweisen – ob dies nun die als fremd erlebte rechte Gewalt in der eigenen Zugehörigkeitsgruppe ist oder das als verpönt vermiedene Eigene. Kaufhold zeigt, dass diese intra- und interpsychischen und gruppendynamischen Prozesse der Abwehr psychotischer Angst und damit der Stabilisierung der eigenen Identität als Dominanzdeutsche dienen.

Literatur

Jerofejew, V. (2024): Alles wird gut. SZ.de (18.02.2024); https://www.sueddeutsche.de/kultur/alexej-nawalny-viktor-jerofejew-1.6371863 (9.4.2024).

Orange, D.M. (2023): Klimagerechtigkeit und Psychotherapie. In: Bauriedl-Schmidt, C., Fellner, M., Hörter, K. & Schelhas, I. (Hrsg.): Das Unbewusste und die Klimakrise. Jahrbuch für klinische und interdisziplinäre Psychoanalyse, Band 1 (S. 19–36). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.

Gregor LuksEros, Thanatos und Logos – Historisches und Gegenwärtiges zur Politischen Psychoanalyse

Ich beginne diesen Text Ende Oktober 2023 zu schreiben. Gefühlt nach mehreren »Zeitenwenden« in den letzten Wochen, Monaten und Jahren. Die jüngste fand am 7. Oktober 2023 durch den terroristischen Überfall der Hamas auf den Staat Israel statt.

Ich schreibe auch an gegen das beklemmende Gefühl in mir, dass die Welt aus dem Ruder läuft und dass es keine Aussicht auf eine »ruhigere See« mehr geben könnte. Dass die Welt brennt und es zu wenig Löschkräfte gibt, sondern eher Brandbeschleuniger. Dass die Welt und ihre Bewohner sich selbst wirklich und endgültig zerstören könnten. Das Schreiben als »Therapeutikum« dient aber auch der Erinnerung an gegenläufige Kräfte. An die Fähigkeit des Menschen, sich zu »besinnen«, zur »Vernunft« zu kommen, sich einzufühlen in den Anderen – jenseits seiner Religion, seiner sozialen Klasse, seinem Geschlecht, seiner Hautfarbe oder der sexuellen Orientierung. Sich ihm, dem Anderen, anzunähern, ihn annähernd verstehen zu wollen. Hier kann nun auch die Psychoanalyse als weiteres »Therapeutikum« ins Spiel kommen. Und zwar neben ihrem Hauptwirkungskreis – der Begegnung zweier oder mehrerer Menschen im psychoanalytischen Praxisraum – auch in ihrem kulturkritischen Blick auf die Gesellschaft.

Im Folgenden sollen daher zunächst Auszüge aus der Historie der Politischen Psychoanalyse (also derjenigen Konzeption von Psychoanalyse mit einem weiten Blick auf die Gesellschaft und Kultur) beschrieben werden. Im Anschluss wird es, ebenfalls nur auszugsweise, um Aspekte der gesellschaftlichen Aufarbeitung von totalitären Systemen und den durch sie erzeugten Kriegen gehen. Daran schließt sich ein kurzer Blick auf den aktuellen großen Krieg in Europa zwischen dem Aggressor, Putins Russland, und seinem Widersacher, der freien Ukraine unter der moralischen Führung ihres Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, an. Schließlich werden Schlaglichter der gegenwärtigen Politischen Psychoanalyse im deutschsprachigen Raum vorgestellt, um zum Abschluss das Konzept des »emotional-transzendenten Logos« im Zusammenhang mit Bewusstsein und dem Unbewussten zu erläutern.

1https://www.sueddeutsche.de/kultur/alexej-nawalny-viktor-jerofejew-1.6371863

2https://www.youtube.com/watch?v=kd3Z3OFrBGY

1. Auszüge aus der Historie der Politischen Psychoanalyse

Eben weil der Mensch eine besonders bösartige Spezies ist, ist es so wichtig zu erkennen, daß er aber auch die Fähigkeiten besitzt, seine »Bestialität« zu überwinden und die ursprünglichen Triebe zu kulturvollem Tun umzugestalten.1

Der österreichisch-jüdische Psychoanalytiker und Holocaustüberlebende Ernst Federn (1914–2007) beschreibt in dem oben zitierten Satz einerseits das hohe Kränkungspotenzial der Psychoanalyse und andererseits den durch sie möglichen Erkenntnisgewinn in Bezug auf die ganzheitliche menschliche Natur.2 Er selbst hatte als Überlebender des KZ Buchenwald in den menschlichen Abgrund des NS-Terrorregimes geblickt – ein Blick, welcher ihn nachhaltig geprägt und motiviert hatte, seiner Umwelt das selbst- und fremddestruktive Potenzial des Menschen näher zu bringen, um ihn vor sich selbst zu schützen. Federn schreibt hierzu:

Wenn aber Furcht vor Strafe und Einfluß der Umwelt wegfallen, wenn Mord nicht mehr als Verbrechen angesehen wird und straflos bleibt, können sehr viele Naturen ihren »bösen Trieben« nicht widerstehen. In solchen Situationen kann man am besten beobachten, wie nahe an der Grenze der »Bestialität« sich der Mensch noch befindet und wie leicht er in sie hinabstürzen kann.3

Neben seiner psychotherapeutisch/psychoanalytischen Tätigkeit und seinen theoretischen Beiträgen zur Politischen Psychoanalyse (v.a. dem 1946 erstmals erschienenen »Versuch einer Psychologie des Terrors«), arbeitete Federn sehr praxisnah und mitten im Leben, u. a. als Sozialarbeiter mit Strafgefangenen. Für ihn ist »[d]as stärkste, gewaltigste Mittel des Terrors [...] die Erzeugung der Angst«.4 Dabei existieren laut Federn für den/die Täter/in verschiedene Lustgewinne durch die Gewaltanwendung, »wie etwa Befriedigung des Sadismus oder der Eigenliebe, letztere durch das Gefühl der körperlichen Überlegenheit«.5 Er/sie verfalle bei fehlender Aussicht auf eine strafrechtliche Konsequenz in eine Regression der »atavistischen Triebe und Pubertätsphantasien«.6 Diese Regression in den Sadismus während totalitärer Zeiten bezeichnet Federn als »allgemein menschliche Erscheinung«7, wobei er der Regression im Allgemeinen (nicht derjenigen in den Sadismus) auch eine wichtige Funktion für die »notwendige Erholung«8 der seelischen Tätigkeit zubilligt. Als Hauptschutzfaktor gegen die Indoktrinierung durch das Gift eines totalitären Systems betont Federn die Rolle des Über-Ichs. Hierzu nochmals Federn:

Zusammenfassend möchte ich aber sagen, daß die Überwindung von schwerem Leid davon abhängt, daß das Über-Ich stark genug ist, die Regression möglichst zu verhindern, und dort, wo sie nicht aufzuhalten ist, einzuschränken und rasch wieder zu überwinden.9

Doch kommen wir nun zu den Anfängen der Politischen Psychoanalyse. Diese liegen, wie wenig verwunderlich, beim Hauptgründungsvater der Psychoanalyse des Individuums, bei Sigmund Freud (1856–1939). In »Massenpsychologie und Ich-Analyse« schreibt er im Jahre 1921 über ein Kernphänomen der Psychologie der Masse: »Ja, wie im Traum und in der Hypnose, tritt in der Seelentätigkeit der Masse die Realitätsprüfung zurück gegen die Stärke der affektiv besetzten Wunschregungen.«10 Diese »Steigerung der Affektivität«11 durch »Gefühlsansteckung«12 in der Masse hatte bereits im Jahre 1895 der französische Mediziner und Psychologe Gustave Le Bon (1841–1931) in seinem Hauptwerk »Psychologie der Massen« beschrieben:

Die Heftigkeit der Massengefühle wird, besonders bei den heterogenen Massen, auch durch das Fehlen jeder Verantwortlichkeit gesteigert. Die Sicherheit der Straflosigkeit, die mit der Größe der Masse zunimmt, sowie das Bewusstsein einer durch die Menge bedingten beträchtlichen Momentangewalt ermöglicht der Gesamtheit Gefühle und Handlungen, die für das isolierte Individuum unmöglich sind.13

Freud bezog sich in seiner »Massenpsychologie und Ich-Analyse« u. a. auch auf Le Bons Erkenntnisse, wobei er im Gegensatz zu diesem ein entscheidendes massenpsychologisches Merkmal herausarbeitete, nämlich dass »das Wesen einer Masse bestehe in den in ihr vorhandenen libidinösen Bindungen«.14 Diese »Liebes- und Leidenschaftsbindungen« würden zum einen unter den einzelnen Mitgliedern einer Masse existieren, zum anderen aber auch jeweils zu einem über der Masse stehenden Anführer. Freud führt hierzu aus:

Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.15

Hierin zeigt sich eine tiefe Sehnsucht nach Unterwerfung und nach Verantwortungsabgabe in einem streng hierarchischen System. Sowohl Freud als auch Le Bon stellen diese Sehnsucht als charakteristisches Massenphänomen dar: »Alle Einzelnen sollen einander gleich sein, aber alle wollen sie von einem beherrscht werden.«16 Und bei Le Bon heißt es: »Stets zur Auflehnung gegen eine schwache Autorität bereit, beugt sich die Masse knechtisch vor einer starken Autorität.«17

Le Bons Ausführungen fallen ins Zeitalter des »Fin de Siècle« und waren zu diesem Zeitpunkt eher eine prophetische Vorahnung zukünftiger totalitärer Massenbewegungen, bei denen durch Regression das Primitive »wieder zum Vorschein gebracht werden«18 könne, wie es Freud in seiner 1930 erschienenen Schrift Das Unbehagen in der Kultur ausgedrückt hatte. Denn dieses Primitive, also das Archaische und Ur-Triebhafte im menschlichen Individuum und Kollektiv bestehe auch in der hoch zivilisierten und kultivierten Gesellschaft weiter, wie Freud ausführt: »Ein quantitativer Anteil einer Einstellung, einer Triebregung, ist unverändert erhalten geblieben, ein anderer hat die weitere Entwicklung erfahren.«19 Diese Weiterentwicklung hätte die Menschen zu geistig-kreativen Errungenschaften in der Wissenschaft und in der Kunst geführt, den »beiden Höchstleistungen des Menschen«,20 so Freud. Seine Hauptthese in diesem Werk über das Unbehagen in der Kultur lautet, dass »Kultur auf Triebverzicht aufgebaut«21 sei. Freud erläutert dazu:

Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen.22

Der Preis für diese geistigen Erwerbungen liege auch in der Einschränkung von individueller Freiheit und den Rechten des Einzelnen durch die Kulturentwicklung. Freud schreibt in diesem Zusammenhang:

Diese Ersetzung der Macht des einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, daß sich die Mitglieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken, während der einzelne keine solche Schranke kannte.23

Hier taucht der individuell und gesellschaftlich verzahnte Konflikt nun in ganzer Deutlichkeit zutage: Kulturentwicklung auf der einen Seite versus Triebverzicht sowie Einschränkungen von Freiheit und Rechten des Individuums auf der anderen Seite. Im Besonderen bringt Freud hier nun auch die »Aggressionsneigung«24 des Menschen ins Spiel:

Infolgedessen ist ihm [dem Menschen] der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?25

Diese Aggressionsneigung sei »Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebes«,26 welchen Freud erstmals in »Jenseits des Lustprinzips« aus dem Jahre 1920 beschreibt und ihn nach dem Todesgott der griechischen Mythologie als »Thanatos« benennt. In seinem Briefwechsel mit dem Physiker Albert Einstein »Warum Krieg?« (1933) erklärt er:

Der Todestrieb wird zum Destruktionstrieb, indem er mit Hilfe besonderer Organe nach außen, gegen die Objekte, gewendet wird. Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes Leben dadurch, daß es fremdes zerstört.27

Doch »Thanatos« herrscht nicht alleine über den Menschen, sondern er hat einen mächtigen Gegenspieler im sog. »Eros« (benannt nach dem griechischen Gott der Liebe und Begierde).

Wir nehmen an, daß die Triebe des Menschen von zweierlei Art sind, entweder solche, die erhalten und vereinigen wollen – wir heißen sie erotische, ganz im Sinne des Eros im Symposion Platos, oder sexuelle mit bewußter Überdehnung des populären Begriffs von Sexualität –, und andere, die zerstören und töten wollen; wir fassen diese als Aggressionstrieb oder Destruktionstrieb zusammen. [...] Der eine dieser Triebe ist ebenso unerläßlich wie der andere, aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken der beiden gehen die Erscheinungen des Lebens hervor.28

Zudem lassen sich auch vermischte oder, wie sich Freud ausdrückt, »legierte«29 Formen von beiden Triebsorten finden, welche sich auch im Phänomen der »Gefühlsambivalenz« bei libidinösen Beziehungen ausdrücken können. Freud macht sich keine Illusionen über den Menschen, wenn er schreibt: Homo homini lupus. Zugleich entdeckt er in ihm aber auch eine Gegenkraft zum »Wölfischen«: Eros vs. Thanatos – ein Kampf in jedem einzelnen Menschen, welcher sich in manchen Zeiten zu einem gesellschaftlichen Kampf ausweiten kann:

Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht. [...] Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten.30

Durch Erziehung in der Familie und das Heranwachsen in der Gesellschaft entwickelt sich im jungen Menschen ein Wertesystem, welches zwischen »Eros« und »Thanatos« zu unterscheiden lernt. Und doch ist die Aggressionsneigung dadurch nicht beherrscht oder eliminiert, sondern lediglich in Bezug zum anderen

als »Angst vor dem Liebesverlust«31 bzw. als schlechtes Gewissen beim Zulassen destruktiver Triebe gebunden. Dafür sorgen zunächst Autoritäten wie z. B. Elternfiguren, später dann die eigene innere Welt, wie Freud ausführt:

Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt und nun als »Gewissen« gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte.32

Dies also ist der »normale« und zivilisierte Weg der Triebsublimierung – die Aggressionsneigung wird aus Angst vor dem Liebesverlust durch die Autoritäten (in der Regel durch die elterlichen Objekte) nach innen gekehrt. Es entsteht eine Spannung, ein Schuldbewusstsein verbunden mit einem »Strafbedürfnis«33 im Ich: das Über-Ich. Was aber geschieht, wenn die Autoritäten (gesellschaftlich und innerfamiliär) von Anfang an die angeborene Aggressionsneigung fördern? Was, wenn sich innere Instanzen bilden, die sich dem Thanatos verschrieben haben und den Eros verachten?

Freuds jüngerer Kollege, Wilhelm Reich (1897–1957), ebenfalls österreichischer Psychoanalytiker, beschäftigte sich u. a. mit dieser Frage. In seinem Werk Die Massenpsychologie des Faschismus (1933) beschreibt er die faschistische Mentalität als »die Mentalität des kleinen, unterjochten, autoritätssüchtigen und gleichzeitig rebellischen ›kleinen Mannes‹.«34 Auch Reich interessierte sich sehr für die »Massenpsychologie«35 (oder anders ausgedrückt: für die Politische Psychoanalyse), »indem sie den Prozeß im menschlichen Seelenleben aufdeckt, der von den Seinsbedingungen bestimmt ist«36 Für Reich liegen die Gründe für eine faschistische Charakterentwicklung auch in der »Sexualunterdrückung«,37 der »Sexualverdrängung«38 und in der »moralischen Hemmung«39 durch die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit:

Die Sexualverdrängung stärkt die politische Reaktion nicht nur durch den beschriebenen Vorgang, der die Massenindividuen passiv und unpolitisch macht; sie schafft in der Struktur des Menschen eine sekundäre Kraft, ein künstliches Interesse, das die autoritäre Ordnung auch aktiv unterstützt. [...] So zum Beispiel steigert sich die natürliche Aggression zum brutalen Sadismus […].40

Sowohl in der Familie als auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext zeige sich laut Reich eine »passive, hörige Haltung der kleinbürgerlichen Menschen zu Führergestalten«41 und somit eine »wesenhafte Einheit von familiärer und nationalistischer Ideologie«.42 Die Führerfigur werde zu einer »autoritären Vatergestalt«43, welche dem »kindlichen Anlehnungsbedürfnis«44 des Massenmenschen entsprechen würde. Doch darüber hinaus erkenne der »kleine Mann« durch den Prozess der Identifizierung auch eigene Anteile in der Größe des Führers und in der gesamten Ideologie, hierzu nochmals Reich: »Der reaktionäre Kleinbürger entdeckt sich selbst im Führer, im autoritären Staat, er fühlt sich aufgrund dieser Identifizierung als Verteidiger des ›Volkssturms‹, der ›Nation‹ […].«45

Gemäß Freud entsteht diese Form von Identifizierung durch die erwähnten libidinösen Bindungen in kriegsbegeisterten (oder auch totalitären) Gesellschaften – dabei kommt es zu Spaltungsphänomenen und der Herausbildung von Feindbildern: »Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben.«46 Dieses radikale Freund-Feind-Denken war z. B. während der Zeit des Nationalsozialismus in der Gegenüberstellung von der »NS-Volksgemeinschaft« und den ausgegrenzten Juden sowie anderen Minderheiten zu beobachten.

Wie äußerten sich andere bedeutende Psychoanalytiker/innen zum Themenspektrum der »Politischen Psychoanalyse« und zur »Eros-Thanatos-Theorie« Freuds?

Der britische Psychoanalytiker Donald Winnicott (1896–1971) schreibt beispielsweise in seinem Buch über die menschliche Aggression:

Liebe und Haß sind die beiden Hauptelemente, aus denen menschliche Beziehungen aufgebaut werden. Beide, Liebe wie Haß, haben mit Aggression zu tun.

Andererseits kann Aggression auch ein Zeichen von Angst sein.47

Auch hier taucht die »Gefühlsambivalenz« des Menschen bei seinen libidinösen Beziehungen auf. Zugleich denkt Winnicott die Aggression aber auch nicht nur als Ausdruck eines angeborenen Triebes (Thanatos), sondern auch als Reaktion auf etwas, was Angst erzeugt.

Der österreichische Psychoanalytiker Heinz Kohut (1913–1981) gilt als Begründer der Selbstpsychologie. Er unterscheidet zwischen »Aggressionen, die auf Objekte gerichtet sind (welche geschätzten Zielen im Wege stehen), und Aggressionen, die auf Selbstobjekte gerichtet sind (die das Selbst beschädigt haben).«48 Letztere seien ähnlich wie bei Winnicott als Reaktion auf eine kränkende, lieblose bis hin zu einer versagenden Umwelt in den ersten Lebensjahren zu verstehen. Kohut nennt diese Aggressionsform »narzißtische Wut«: »Es ist daher die narzißtische Wut in der Kindheit (z. B. gegen die Eltern oder Geschwister als Selbstobjekte), die tatsächlich eine signifikante Rolle bei der Genese von Selbstpathologie spielt.«49

Auf das Leben und Werk des Schweizer Psychoanalytikers Paul Parin (1916– 2009) wird ein gesonderter Beitrag in diesem Buch (von Christine Korischek) noch genauer eingehen. Wichtig für uns hier ist zunächst festzuhalten, dass Parin sich sowohl als Psychoanalytiker als auch als Ethnologe große Verdienste um die »Politische Psychoanalyse« erworben hat. Über die Psychoanalyse und ihr Verhältnis zur Politik schreibt Parin:

Sie treibt keine Politik. Sie hat keine Macht. Sie ist jedoch der Aufklärung verpflichtet. Sie kann sich weder Illusionen noch Resignation vor der menschlichen Natur leisten. Und doch konstatiert sie, dass das Leben in unserer Gesellschaft unendlich viele Menschen dazu verurteilt, unbewusste Konflikte leidvoll zu wiederholen.50

Für die analytische Begegnung zwischen Analytiker/in und Analysand/in sei es jedoch immens wichtig, so Parin, die Neutralität auch im Politischen zu bewahren: »Dies schließt jede politische Äußerung aus, die unweigerlich eine Stellungnahme, eine politische Meinung enthält.«51 Und dennoch würden die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse unweigerlich auch in die Analysen hineinwirken, würden nicht haltmachen vor den psychoanalytischen Praxisräumen. Daher konstatiert Parin:

Man muss die politischen Kräfte, die im Leben der Nationen und Klassen wirksam sind, kennen. Diese Kenntnis ermöglicht es uns, die Konflikte, die das Individuum mit sich und seiner Umwelt hat, vollständiger zu erfassen. [...] Die Überschreitung der Grenze vom Leben des Individuums zum Kräftespiel in der Gesellschaft ist für den Analytiker ebenso unentbehrlich wie die Überschreitung der Grenze vom Bewussten zum Unbewussten.52

Über die konkrete analytische Situation im Praxisraum hinaus, bemerkt Parin jedoch auch eine Politikverdrossenheit bei den meisten seiner psychoanalytischen Kollegen/innen:

Die Aufarbeitung der eigenen politischen Vergangenheit scheint den Psychoanalytikern ebenso ferne zu liegen wie die Stellungnahme zu brennenden politischen Fragen der Gegenwart.53

Zwei seiner Hauptthemen waren zum einen die Aufarbeitung totalitärer Herrschaftsdynamiken aus psychoanalytischer Sicht und zum anderen die Frage des Umgangs mit der globalen nuklearen Bedrohungslage seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bei Letzterer sah er einen Mechanismus der Abspaltung wirken:

Es fällt nun auf, dass gerade die größte Gefahr, die eines nuklearen Krieges, so häufig verleugnet wird, genauer gesagt, dass diese Gefahr keine bewussten Angstgefühle hervorruft, dass sie nicht von einem adäquaten Angstaffekt begleitet ist.54

Für die Frage der totalitären Herrschaftssituation greift Parin auf ein Konzept der südamerikanischen Psychoanalytiker Horatio Amigorena und Marcel Vignar (1979) zurück, nämlich das der »tyrannischen Instanz«,55 welche sich »wie ein Introjekt«56 verhalte:

Hat sich die tyrannische Instanz einmal in der Persönlichkeit etabliert, ist jeder Versuch, sich anders, kritisch, irgendwie entgegen der erfolgten Gleichschaltung zu verhalten, zu sprechen oder auch nur zu denken, emotionell unerträglich und wird selbst als tödliche Bedrohung empfunden.57

Das Ich des von der tyrannischen Instanz beherrschten Individuums regrediere auf einen frühkindlichen Status, es verhalte sich »unmündig«58 oder »kindlich«,59 so Parin. Und er führt aus:

Das Streben geht nach Geborgenheit, Schutz, und nach Abhängigkeit von einer Instanz oder Person, die stärker bzw. mächtiger ist (oder so gewünscht wird), der die Verantwortung überlassen und das Recht zu bestimmen zugesprochen wird. [...] Tyrannei entlastet durch Wertsetzungen und durch die zumeist gebotene Ablenkung der Aggression auf einen […] Sündenbock das Über-Ich und stärkt das kindlich-regredierte Ich durch »Identifikation mit dem Angreifer« (mit der Herrschaft bzw. mit dem Herrscher).60

Im Gegensatz dazu bedeute Mündigkeit gemäß Parin in erster Linie »Autonomie gegenüber Abhängigkeit«.61 Hierfür müsse das mündige Individuum im totalitären System jedoch aus seiner systembedingten Isolation herausfinden und sich auf die Suche nach Gleichgesinnten begeben, was in der »paranoiden«62 Atmosphäre eines totalitären Staates zu einer extremen und lebensgefährlichen Herausforderung wird.

Parin beschäftigt sich auch mit der selbst gewählten Einsamkeit der Herrschenden und ihrem Hang zu einer »Unbeweglichkeit des narzisstisch-besetzten Selbst«.63 Bei totalitären Herrschern wie Hitler, Stalin oder auch gegenwärtig bei Putin könne eine »wahnhafte Überschätzung ihrer Macht«64 als Folge ihrer Einsamkeit beobachtet werden.

Bei den Beherrschten sei die durch gezielte Manipulation (»fake news«, Propaganda, Gleichschaltung der Medien) erfolgte »›bewusstlose‹ Verinnerlichung vermittelter Ideologien«65 vor allem durch den psychischen Abwehrmechanismus der projektiven Identifikation erleichtert. Umso schwieriger sei es, so Parin, diese Abwehr gegenüber der »tyrannischen Instanz« im Über-Ich wieder loszuwerden, wie Parin abschließend ausführt:

Im Kollektiv wirksam etablierte projektive Identifikationen sind einer einfachen Korrektur durch Aufklärung nicht oder nicht ausreichend zugänglich. […] D. h. die Ich-Kontrolle kann nicht ohne die Überwindung von Widerständen hergestellt oder wiederhergestellt werden.66

Das Ehepaar Margarete Mitscherlich (1917–2012) und Alexander Mitscherlich (1908–1982) versuchte sich daran, mit diesen Widerständen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu arbeiten. In ihrem 1967 erschienenen Buch Die Unfähigkeit zu trauern beschäftigten sie sich u. a. mit der »Ich-Entleerung unserer Gesellschaft«67 nach dem Kriegsende 1945 und nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes sowie mit gesamtgesellschaftlichen Abwehrprozessen: »In etwas vergröberter Formulierung ließe sich sagen, daß durch die Verleugnung der Geschehnisse im Dritten Reich deren Folgen nicht anerkannt werden sollen.«68 Statt sich mit diesen Folgen des NS-Regimes und mit dem jeweils individuellen Grad der Verstrickung in das System gewissenhaft und schonungslos auseinanderzusetzen, kam es zum sog. »Wirtschaftswunder«:

Alle unsere Energie haben wir vielmehr mit einem Bewunderung und Neid erweckenden Unternehmungsgeist auf die Wiederherstellung des Zerstörten, auf Ausbau und Modernisierung unseres industriellen Potenzials bis zur Kücheneinrichtung hin konzentriert.69

Dabei sei die »Unfähigkeit zu trauern« in zweifacher Hinsicht zu konstatieren, so die Mitscherlichs. Zunächst in Bezug auf das zerstörte nationalsozialistische Über-Ich mit all seinen Identifikationsangeboten und Omnipotenz-Illusionen:

Die Unfähigkeit zur Trauer um den erlittenen Verlust des Führers ist das Ergebnis einer intensiven Abwehr von Schuld, Scham und Angst; sie gelingt durch den Rückzug bisher starker libidinöser Besetzungen. Die Nazivergangenheit wird derealisiert, entwirklicht.70

Zum anderen beziehe sich die verleugnete Trauer auf das Zerstörungswerk der NS-Herrschaft, auf die millionenfache Schuld, auf die damit zusammenhängende Scham. Hierzu nochmals das Ehepaar Mitscherlich:

Erst in zweiter Linie folgt die Abwehr der Trauer um die zahllosen Opfer der Hitlerschen Aggression – einer Aggression, die wir so willig, so widerstandsschwach in der Identifikation mit ihm teilten.71

Wie Alexander Mitscherlich das Wesen der »Politischen Psychoanalyse« begreift, beschreibt er in seinem Buch Der Kampf um die Erinnerung:

Die Psychoanalyse möchte das Ihre beitragen, um diese psychische Entstellung in ihrer kollektiven Genese zu verstehen. Im Prinzip soll das Entstehen von unerwünschtem Gruppenverhalten aufgeklärt werden.72

Dabei schränkt Mitscherlich jedoch ein, dass die ursprüngliche Psychoanalyse des Individuums nicht einfach so auf die Gesamtgesellschaft übertragen werden könne: »Der Weg von der Analyse des Einzelfalles zum Verständnis kollektiven Verhaltens enthält immer einen Sprung, oft Sprünge.«73 Ähnlich wie beim Individuum gehe es jedoch auch im kollektiven Sinne darum, unbewusste Dynamiken und Konflikte ins Bewusstsein zu holen, sozusagen »durchzuarbeiten«: »Das ist sozusagen die analytische Hauptsache: der Kampf um die Erinnerung.«74 In diesem Kampf gehe es, ähnlich wie im individuellen analytischen Prozess, auch darum, kollektive Widerstands- und Abwehrphänomene zu verstehen und daran zu arbeiten, dass diese sich zurückbilden. Neben der »Stärkung der Fähigkeit zur Einfühlung«75 in sich selbst und in andere beschreibt Mitscherlich den letztlichen Sinn dieses Prozesses folgendermaßen: »Ziel ist die Rückgewinnung der inneren Balance, die Aufhebung der Selbstentfremdung und, wenn das erreicht ist, auch die Herstellung der Liebes- und Leidensfähigkeit.«76 Schmerzlich erinnern müsste man sich laut Mitscherlich u. a. an »das sadomasochistische Band, das ihn [den deutschen NS-Bürger] mit dem Führer [verbunden hatte]«,77 an die »Ich-Schwäche«78 vieler Mitglieder der »NS-Volksgemeinschaft« und an die »Lust [vieler] an der Zerstörung«79: »Die Massen genießen die Regression in die Verantwortungslosigkeit, die er [der Führer] ihnen einräumt, wenn sie ihm bedingungslos zu folgen bereit sind.«80

Der deutsche Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter (1923–2011), auf den später in diesem Artikel noch näher eingegangen werden wird, beschäftigte sich in vielen Büchern und in tätigem Engagement mit der »Politischen Psychoanalyse«. Den Blick vom Individuum auf das System der Familie und noch weiter auf die Gesellschaft hielt er für essentiell und hatte dabei große Anteile an der Entwicklung einer psychoanalytisch orientierten Familientherapie. Sein Buch Eltern, Kind und Neurose (1963) steht ganz im Zeichen dieses systemischen Charakters.

Abschließend soll in diesem Unterkapitel noch ein kurzer Blick auf die »Frankfurter Schule« (die aus dem 1924 gegründeten Frankfurter Institut für Sozialforschung entstanden war) geworfen werden, welche mit ihrer »Kritischen Theorie«, ihrer »Dialektik der Aufklärung« und verschiedenen theoretischen Konzepten einen wichtigen interdisziplinären Beitrag zur »Politischen Psychoanalyse« geleistet hatte. Zwar waren die Hauptvertreter der »Frankfurter Schule«, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse allesamt keine Psychoanalytiker, sondern Soziologen bzw. Philosophen, dennoch beschäftigten sie sich auch intensiv mit psychoanalytischen Theorien (v.a. mit Sigmund Freud) und hatten in Erich Fromm (1900–1980) auch einen psychoanalytischen Vertreter in ihren Reihen. Die deutsche Psychologin Lilli Gast schreibt in diesem Zusammenhang:

Die Feststellung, die Psychoanalyse betrachte das Subjekt als immer schon durchdrungen von Kulturellem, Gesellschaftlichem, wie dies vor allem von der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers, aber auch Marcuses untermauert und präzisiert wurde, macht die psychoanalytische Erkenntnismethode für die angrenzenden Wissenschaften bedeutsam, ist sie es doch, die die profundesten Einblicke in die innere Verfasstheit des Subjekts liefern kann.81

Das Konzept des »autoritären Charakters« wurde zunächst von Erich Fromm vorentwickelt und später (1950) u. a. von Theodor W. Adorno und Kollegen/innen der University of California in Berkeley ausgearbeitet. Das dortige Forschungsprogramm beschäftigte sich in erster Linie mit dem psychologischen Fundament von Vorurteilen. In der sog. »F-Skala« sollten spezifische Einstellungen und charakterliche Eigenschaften der autoritären Persönlichkeit erhoben werden.82 Das konzeptionelle Ergebnis eines »autoritären Charakters« und des daraus folgenden »Autoritarismus« prägte die »Politische Psychoanalyse« der Nachkriegszeit stark, wie auch der Psychologe Felix Brauner anmerkt:

Die Frage nach den psychodynamischen Grundlagen antidemokratischer Bewegungen wurde in psychoanalytisch geprägten Kontexten lange Zeit mithilfe des Konzepts des autoritären Charakters beantwortet. [...] Insgesamt gaben diese Forschungen der Frankfurter Schule den entscheidenden Anstoß zur modernen Autoritarismusforschung.83

Die Geschichte der »Politischen Psychoanalyse« nimmt ihren Anfang also – so wie die Geschichte der Individual-Psychoanalyse – bei Sigmund Freud, thematisiert zunächst psychologische Massenprozesse und ein gewisses Unbehagen, welche wie eine Aura dem totalitären »epileptischen Anfall« vorausgehen. Die »Politische Psychoanalyse« der Nachkriegszeit wiederum versucht, Erklärungen für die Zivilisationsbrüche des Holocaust und der stalinistischen Verbrechen zu finden, was uns zum nächsten Unterkapitel führt.

2. Aspekte der gesellschaftlichen Aufarbeitung von totalitären Systemen und den durch sie erzeugten Kriegen

Die Soziologin Carolin Amlinger und der Wirtschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey beschreiben in ihrem 2022 erschienenen Buch Gekränkte Freiheit einen neuen Typus des Autoritarismus, der uns im vierten Unterkapitel dieses Aufsatzes noch begegnen wird. In ihren einleitenden Kapiteln würdigen sie jedoch zunächst noch einmal die Pioniere der klassischen Autoritarismusforschung und deren Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno schreiben sie:

Dieses einflussreiche Werk verarbeitet zwei gesellschaftliche Erfahrungen, die für das 20. Jahrhundert in westlichen Gesellschaften prägend waren: die Heraufkunft der kapitalistischen Massendemokratien und den Faschismus. Aus diesen Erfahrungen speist sich die Einsicht, dass der modernen Freiheitsidee die Möglichkeit zur Regression – oder, drastischer ausgedrückt: der »Selbstzerstörung« – innewohnt.84

Gemäß der klassischen Autoritarismustheorie der »Frankfurter Schule« bestehe eine »Ambivalenz von devoter Unterwerfung und projektiver Aggression«,85 welche dazu führe, dass der moderne Mensch sich freiwillig in eine unmündige Position unter die Herrschaft eines Führers begebe, um das Gefühl der eigenen Abhängigkeit von seinen Mitmenschen nicht spüren zu müssen.86

In seiner 1980 erschienenen Autobiografie Ein Leben für die Psychoanalyse äußert der bereits erwähnte Alexander Mitscherlich seine Verwunderung darüber, dass in den Anfängen des Nationalsozialismus in Deutschland auch die geistige Elite des Staates nicht gegen diese Art des Autoritarismus immunisiert gewesen sei: »Es erstaunt immer wieder, daß gegen Verblendung sogenannte Intellektuelle, also ›Einsichtige‹, keineswegs gefeit sind.«87Als Student habe Mitscherlich 1933 diesen Umstand als »Autoritätsenttäuschung«88 erlebt: »Wo waren denn damals die Professoren, die uns geholfen hätten, aus dieser kruden Welt herauszufinden. Nirgendwo«.89 Rund um ihn herum erlebte Mitscherlich die »freiwillige Selbstunterwerfung«90 der Autoritäten und letztlich »das väterliche Versagen in unserer Zeit überhaupt«.91 Stellvertretend für diesen »pathologische[n] Gehorsam«92 und die »masochistische Unterwerfungslust«93 beschreibt er sein eigenes Vaterverhältnis so: »Ich war es gewöhnt, daß man dem Vater gegenüber Gehorsam zeigen mußte, und zwar fraglosen.«94

Auch der schon genannte Horst-Eberhard Richter beschäftigte sich mit den hierarchisch-autoritären Strukturen, aus denen das NS-System erwachsen war und spricht in seinem Buch Wer nicht leiden will, muss hassen (1993) u. a. von einer »Auslieferungsbereitschaft«95 und einem »Abhängigkeitsbedürfnis«96 großer Teile des deutschen Volkes zur NS-Zeit. Richter führt hierzu aus:

Diese wie selbstverständliche Ausschaltung des Gewissens zugunsten eines Hörigkeitsautomatismus stellt eines der Phänomene dar, deren Erhellung und Aufarbeitung ein besonderes Augenmerk verdienen. Es beruht auf einem zumal in Gesellschaften mit autoritärer Tradition wie der deutschen schon in der Kindheit gebahnten Mechanismus. Gelernt wird, Gewissensangst in Strafangst zu verwandeln.97

Sowohl Mitscherlich als auch Richter hatten die Dynamik und die Kraft des nationalsozialistischen Regimes am eigenen Leib erfahren. Für beide stand fest, dass das Individuum für die Aufarbeitung dieser Zeit wieder aus der Masse herausfinden musste, um sich mit eigenen Anteilen an dieser Dynamik zu beschäftigen, damit es nicht wieder in eine totalitäre Falle tappt oder aber das dazu führende Denken und Fühlen an die nächsten Generationen weitergibt. Mitscherlich schreibt also: »Denn dies bleibt doch das Ziel, Stärkung des Ich gegen die Gewalt und die Korruption des Gewissens, die vom Kollektiv ausgeht.«98 Für diese Ich-Stärkung allerdings hätte es eine schonungslose Ehrlichkeit den eigenen Abgründen gegenüber gebraucht. Zu häufig jedoch kam es, so Richter, zu einer »Unterschlagung des eigenen Beitrags zu der beklagten Entmündigung«.99

Der österreichische Psychoanalytiker Bruno Bettelheim (1903–1990) spricht in diesem Zusammenhang von einer »defensive[n] Amnesie«.100 Bettelheim kam während der NS-Zeit, wie der zuvor genannte Ernst Federn, als Jude in die Konzentrationslagerhaft in Dachau und Buchenwald. Für Bettelheim, wie für die allermeisten anderen Opfer des Nationalsozialismus, war danach das Verdrängen dieser Zeit nicht mehr möglich:

Für jene, die immer noch an dieser Verwundung leiden, ist es kein Geschehen der Vergangenheit; der Schmerz ist nach vielen Jahren so gegenwärtig, so real wie am ersten Tag.101

Ganz im Gegensatz zur nichtjüdischen deutschen bzw. österreichischen Mehrheitsgesellschaft: »Mit aller Kraft wendet sich das heutige Deutschland von der Vergangenheit ab und widmet sich wie besessen dem Aufbau der Gegenwart und der Zukunft.«102 Und Amlinger/Nachtwey führten in diesem Zusammenhang aus:

Das bundesrepublikanische Wirtschaftswunder diente der Abwehr einer narzisstischen Kränkung, also des verlorenen Kriegs und der Niederlage des Faschismus.

Nun waren es die kapitalistischen Normen und Ideale, die den Selbstwert stabilisierten und eine positive Identifikation mit der Nation ermöglichten.103

Hier taucht sie also auf, die jüdisch-nichtjüdische Kluft nach 1945. Nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust. Denn die Wahlmöglichkeit, sich mit der eigenen Vergangenheit während der NS-Zeit nach dem Kriegsende 1945 zu beschäftigen, war auf jüdischer Seite in aller Regel nicht vorhanden. Zwar wurde das Trauma Holocaust nicht selten tief ins Unbewusste verdrängt, führte dann jedoch typischerweise als traumatisches Introjekt ein Eigenleben.

Auf Seiten der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft in Deutschland können bis heute verschiedene Ebenen der Aufarbeitung unterschieden werden. Auf institutioneller und offiziell staatlicher Ebene kann im Verlaufe der Jahrzehnte nach Kriegsende sogar von einer vorbildhaften Aufklärung der NS-Verbrechen gesprochen werden. Paul Parin schränkt jedoch z. B. ein: »Die Verarbeitung der Vergangenheit hat bei vielen Deutschen intellektuell zwar stattgefunden, emotional aber nicht.«104 Dies fällt v. a. dort auf, wo es um konkrete NS-Verstrickungen in den eigenen Familien geht bzw. eine transgenerationale Symptomatik (z. B. problematische Täterintrojekte oder Schuldkonflikte) auftaucht.105 Diese emotionale Sprachlosigkeit beschrieb das Ehepaar Mitscherlich in dem bereits erwähnten Buch Die Unfähigkeit zu trauern. In Bezug auf die Opfer des Nationalsozialismus konstatierten sie bei der deutschen Mehrheitsgesellschaft einen Mangel an Empathie: »Die Gefühle reichen nur noch zur Besetzung der eigenen Person, kaum zu Mitgefühlen irgendwelcher Art aus«,106 welcher u. a. auch als Abwehrmechanismus verstanden werden kann:

Dieser Rückzug der affektiven Besetzungsenergie, des Interesses, soll nicht als ein Entschluß, als ein beabsichtigter Akt verstanden werden, sondern als ein unbewußt verlaufendes Geschehen, das nur wenig vom bewußten Ich mitgesteuert wird.107

In Form von emotionaler Kälte und Entfremdungsgefühlen sowie einem erschwerten Zugang zu den eigenen Gefühlen konnten sich die dysfunktionalen Folgen dieser Abwehr auch transgenerational in den nachfolgenden Generationen zeigen, wie dies in zahlreichen Autobiografien und psychotherapeutischen Fallgeschichten nachzulesen ist.108 Über diese häufige »Unfähigkeit zu trauern« schrieb Alexander Mitscherlich daher später in seiner Autobiografie:

Man funktionierte hierzulande ausgezeichnet, aber Gefühle, die man zu unterdrücken lernt, rächen sich, und Geschehnisse, die man zu vergessen oder zu entwerten versucht, werden damit nicht ungeschehen gemacht. Die Vergangenheit liegt deshalb nach wie vor wie Meltau auf uns allen und lähmt unsere soziale und kreative Lebendigkeit.109

Es gehe daher vor allem darum, sich emotional an die NS-Zeit und an all ihre Schrecken und Verbrechen zu erinnern. An die Gefühle von Grandiosität und Triumph ebenso wie an Angst, Wut, Trauer, Scham und Schuld im Zusammenhang mit dieser Zeit. Der Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth schreibt hierzu:

Die erinnernde Bearbeitung der traumatischen Vergangenheit kann Individuum und Gemeinschaft von dem Zwang befreien, die alten Traumata wiederholen zu müssen, und kann neue Denk- und Handlungsräume eröffnen.110

Die kanadische Autorin Lisa Appignanesi beleuchtet diesbezüglich die Gefahr der Rückkehr in alte Muster, wenn dieses emotionale Erinnern auf gesellschaftlicher Ebene zu selten stattfindet:

Erinnern (immer ein Teil der individuellen Therapie) und öffentliches Gedenken können die Konflikte lindern, die Akten kollektiver Verdrängung zugrunde liegen. Wo dies nicht geschieht, kann es im Leben von Völkern Triggerpunkte geben, die eine Wiederkehr verdrängter Aggressionen, Wünsche, scheinbar erkalteter Konflikte und so weiter bewirken […].111

Die Folge einer emotional oftmals nicht verankerten Erinnerungskultur kann eine fatale Mischung aus »Geschichtsbesessenheit« und »Geschichtsvergessenheit« sein, so wie dies anlässlich vieler Corona-Proteste der »Querdenken-Bewegung« in Deutschland auf den Straßen sichtbar geworden war, als Menschen mit bildlichen und verbalen Holocaustrelativierungen gegen die Corona-Politik der Bundesregierung protestierten. Hierzu Amlinger und Nachtwey: »Viele der Protestierenden wähnten sich auf dem Weg in eine Diktatur, zogen den Vergleich zum Nationalsozialismus. Einige trugen sogar Judensterne.«112 Neben dem Narrativ einer verfolgten Opfergruppe, »die kein normatives oder historisches Maß kennt«113, inszenierten sich manche Demonstranten auch als »Widerstandskämpfer« gegen die Regierung:

Befragte sahen sich als Opfer, als Ausgegrenzte und Verfolgte einer Diktatur, gegen die sie Widerstand leisten müssten. An dieser Stelle kam dann oft die bereits angesprochene Vergleichsfolie des Nationalsozialismus ins Spiel, mit der man die eigene Haltung heroisch aufwerten und die Machteliten dämonisieren konnte.114

Wie kommen solche kruden und empörenden Relativierungen zustande? Ein möglicher Erklärungsansatz (von vielen) wird von der Philosophin und Psychoanalytikerin Ewa Kobylinska-Dehe beschrieben, indem sie den zeitlich und gesellschaftlich-mental kurzen Übergang von der totalitären NS-Herrschaft zur Demokratie in Westdeutschland betont:

Es fehlte die Zeit für Übergangsprozesse, und es fehlte der Raum zum Durcharbeiten, zum Nachdenken darüber, wie aus totalitären Gesellschaften demokratische werden können. [...]

Es wurde unterschätzt, dass die totalitären Strukturen sich über die Generationen auf den Einzelnen auswirken und bestimmte Persönlichkeitseigenschaften hervorbringen, die charakterisiert sind durch die Neigung zur Spaltung in ein »Wir« und ein »Sie« sowie zur Projektion (schuld sind die anderen), durch mangelndes individuelles Verantwortungsbewusstsein und Reflexionsvermögen, durch eine angelernte Hilflosigkeit, durch eine auf Improvisation beruhende Lebensweise und den reflexartigen Hang zum Klagen, sowie zur Anfälligkeit für die Korrumpierung und den Missbrauch der Macht durch Institutionen (denen man nicht traut), von der Kirche ganz zu schweigen.115

Auf der anderen Seite gab und gibt es natürlich auch diejenigen in Deutschland, für die Erinnerungskultur eine gelebte und gefühlte Selbstverständlichkeit ist. Es gibt die »demokratische Mitte« immer noch. Sie ging und geht im Januar und Februar 2024 zu Zehn- und sogar zu Hunderttausenden auf Deutschlands Straßen, um gegen den Rechtsruck im Lande und für die Demokratie zu demonstrieren. Es gibt die Verteidiger des Grundgesetzes, die Hüter der Demokratie in Deutschland, die Verfechter der Freiheit. Diejenigen, die sich auch dem Kampf gegen die Gleichgültigkeit verpflichtet fühlen. Und dennoch zwingen uns die aktuellen Spaltungstendenzen innerhalb der Gesellschaft, das erneute Aufkochen des Antisemitismus und die immer unverhohlener werdende Drohung von Verfassungsfeinden, das Bewusstsein darauf zu lenken, wie brüchig und verletzlich unsere Werte sind. Und wie gefährlich die von Le Bon markierte »Macht der Worte«116 in Zeiten von Social Media, Fake News und inflationärem Hass im Internet weiterhin ist. Hans-Jürgen Wirth hält daher auch fest:

Die Auseinandersetzung mit unserer nationalsozialistischen Vergangenheit ist eine Aufgabe, die grundsätzlich nicht abgeschlossen werden kann. Sie erfordert eine »unendliche Analyse«, da sie zu unserer Geschichte gehört und damit Teil unserer kollektiven Identität ist.117

Und ergänzend lässt sich mit Horst-Eberhard Richter sagen: »Das Erinnern muß den Widerständen abgerungen werden, die aus den Beharrungskräften des alten Denkens resultieren.«118

Ein anderes Land mit autoritärer Vergangenheit und Gegenwart, nämlich die ehemalige Sowjetunion bzw. das heutige Russland, ging einen ganz eigenen Weg der emotionalen Aufarbeitung seiner totalitären Geschichte. Es müssen hierbei unterschiedliche Phasen der Vergangenheitsbewältigung unterschieden werden. Nach dem Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin (1878–1953) konnte es allmählich innerhalb des sowjetischen Regimes zu einem Entstalinisierungsprozess kommen. Stellvertretend kann hierfür der 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 genannt werden, indem der Nachfolger Stalins, Nikita Chruschtschow, in einer geheimen Rede die Verbrechen Stalins während der sog. »Säuberungen« der 1930er-Jahre in der Sowjetunion benannte und verurteilte. Anders als in Deutschland hatte sich hier also das Regime selbst (zumindest für bestimmte Taten unter Stalin) verurteilt, der Osteuropahistoriker Leonid Luks betont jedoch: »Eine ›Stunde Null‹ hat es in der Sowjetunion, anders als in Deutschland, nicht gegeben.«119 Und dennoch lässt sich festhalten: »Die KPdSU [...] hatte ihren Charakter nach dem Tode Stalins verändert.«120 Dieser Veränderungsprozess von Innen bezog sich zunächst in erster Linie auf das Ende des »großen Terrors« gegenüber der eigenen Bevölkerung, nicht jedoch auf die grundsätzlichen Machtstrukturen und Hierarchien. Und dennoch, so betont es Leonid Luks, sei »die oft in Ost und West vertretene These von der so gut wie nicht stattgefundenen Vergangenheitsbewältigung in Russland bzw. in der UdSSR alles andere als genau«.121 Dem sogenannten Tauwetter unter Chruschtschow sind auch der Beginn der sowjetischen Dissidentenbewegung und das Kursieren von geheimen Büchern und Zeitschriften im sogenannten Samisdat (Selbstverlag) zuzuordnen.

In einer alten russischen Tradition seit Zar Peter dem Großen (1672–1725) kann von einer inneren Spaltung des Landes gesprochen werden: nämlich zwischen dem Westen bzw. Europa offenen und freiheitlichen Kräften, den sog. »Westlern« auf der einen Seite und autoritären bzw. obrigkeitstreuen antiwestlichen Kräften auf der anderen Seite. Auch heute noch, so betont es Leonid Luks, »bleibt Russland auch weiterhin ein gespaltenes Land«.122 Spätestens in der Zeit der Perestroika unter Michail Gorbatschow (1931–2022) kam es zu einer »immer schärfer werdende[n] Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus«.123 Am Ende sei es »die Wahrheit über sich selbst«124 gewesen, so Leonid Luks, welche das sowjetische Regime zum Sturz gebracht habe. Der verzweifelte Versuch einer Rettung in Form eines Putsches vom August 1991 misslang. Kurz darauf zerfiel auch die Sowjetunion. Die westlich orientierten demokratisch-freiheitlichen Kräfte unter der Führung des russischen Präsidenten Boris Jelzin (1931–2007) hatten gesiegt. Und doch wurde hier eine historische Chance verpasst, Russland nachhaltig zu demokratisieren. Denn anders als nach der totalen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands kam es im postsowjetischen Russland zu keiner dem »Marshall-Plan« vergleichbaren westlichen Hilfe: »Wie die historische Erfahrung zeigt, ist die Überwindung des totalitären Erbes ohne massive Unterstützung von außen schwer durchführbar.«125 Das, was daher dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte, war eine, so Leonid Luks, »wirtschaftliche Schocktherapie, die den Lebensstandard der Bevölkerung zunächst beinahe halbierte«.126