Politische Schriften - Jean Paul - E-Book

Politische Schriften E-Book

Jean Paul

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Beschreibung

Jean Pauls politische Stellungnahmen fanden besonders bei patriotisch gesinnten Studenten lebhaften Widerhall. Jean Paul wurde zu einer Leitfigur der deutschen Burschenschaften. Dieser Band beinhaltet seine Schriften: Dämmerungen für Deutschland Friedens-Predigt an Deutschland Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche

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Politische Schriften

Jean Paul

Inhalt:

Dämmerungen für Deutschland

Vorrede

I. Über den Gott in der Geschichte und im Leben

II. Germanismen und Gallizismen

III. Kriegs-Erklärung gegen den Krieg

IV. Vorschlag politischer Trauerfeste

V. Vorschlag einer Oberexaminations-Kommission der Genies

VI. Vorschlag eines neuen Gesandtschafts-Personale für Fürsten, das beinahe unentgeltlich schreibt

VII. Evangelien und Jeremiaden der Zukunft

VIII. Geldnot und Notpfennig

IX. Über die jetzige Sonnenwende der Religion

Friedens-Predigt an Deutschland

Vorrede

I. Der kleine Krieg in der Brust

II. Die neuen Fürsten

III. Das deutsche Reich

IV. Vaterlands- oder Deutschlands-Liebe

V. Franzosen-Deutsche

VI. Politische Freiheit

VII. Luxus

VIII. Geschlechts-Enthaltsamkeit

IX. Egoismus

X. Vermischte Gelegenheits-Sprüche

XI. Hoffnungen und Aussichten

Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche

Vorrede

I. Nachdämmerungen für Deutschland

II. Mein Aufenthalt in der Nepomuks-Kirche während der Belagerung der Reichsfestung Ziebingen

III. Dämmerungsschmetterlinge oder Sphinxe

Erste Sphinx

Zweite Sphinx

Dritte Sphinx

Vierte Sphinx

Fünfte Sphinx

IV. Die Doppelheerschau in Großlausau und in Kauzen samt Feldzügen

Erstes Kapitel,

Zweites Kapitel,

Drittes Kapitel,

Viertes Kapitel,

Fünftes Kapitel,

Sechstes Kapitel,

V. Nachsommervögel gegen das Ende des Jahres 1816

Politische Schriften, Jean Paul

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849633059

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Jean Paul – Biografie und Bibliografie

Eigentlich Jean Paul Friedrich Richter, unter dem Namen Jean Paul berühmt gewordener Schriftsteller, geb. 21. März 1763 in Wunsiedel als Sohn eines Rektors und Organisten, gest. 14. Nov. 1825 in Bayreuth, verbrachte seine Kindheitsjahre, seit 1765, in dem Dorfe Joditz bei Hof, besuchte erst seit 1776 in dem nahen Schwarzenbach, wohin sein Vater versetzt worden war, regelmäßig die Schule, gewann aber die wesentlichsten Anregungen aus einer von früh an lebhaft, freilich auch wahllos betriebenen Lektüre, über die er in dicken Folianten ausführliche Auszüge eintrug. Um Ostern 1779 bezog er das Gymnasium in Hof. Durch den bald darauf erfolgten Tod des Vaters und der Großeltern geriet er mehr und mehr in materielle Bedrängnis, die ihn aber nicht hinderte, Ostern 1781 die Universität Leipzig zu besuchen, um Theologie zu studieren. Doch nahm er es mit den Studien (nur der Philosoph Platner fesselte ihn eine Weile) nicht sehr ernst und wandte sich bald ausschließlich der literarischen Tätigkeit zu, durch die er sich auch leichter über die äußere Not hinweghelfen zu können hoffte. Von bekannten Schriftstellern wirkten jetzt außer Hippel, der schon auf der Schule sein Lieblingsautor gewesen war, Rousseau und die englischen Humoristen und Satiriker stark auf ihn ein. Für sein erstes Buch, das nach des Erasmus' »Encomium moriae« verfaßte »Lob der Dummheit«, in dem er die Dummheit redend einführt, fand er keinen Verleger (es wurde erst lange nach Jean Pauls Tode bekannt). Besser ging es den des Dichters Eigenart schon deutlich verratenden »Grönländischen Prozessen«, die wenigstens einen Verleger fanden (Berl. 1783), wenn sie auch von dem Publikum und der Kritik sehr kühl aufgenommen wurden. Um den drängenden Gläubigern zu entrinnen, begab sich R. Ende 1784 heimlich von Leipzig hinweg und traf vom Frost erstarrt in Hof bei der Mutter ein, von wo es ihm auch in den nächsten Jahren nicht gelingen wollte, literarische Beziehungen anzuknüpfen, die seiner Not hätten ein Ende machen können. Erst zu Anfang 1787 bot sich dem Dichter wenigstens ein Unterkommen als Hauslehrer dar, er übernahm den Unterricht eines jüngeren Bruders seines Freundes Örthel in Töpen. Seine dortige Stellung war jedoch unbehaglich, und schon im Sommer 1789 kehrte er nach Hof zurück. Inzwischen schrieb er neue Satiren u. d. T.: »Auswahl aus des Teufels Papieren« (Gera 1789), die ebenso wenig Aufsehen erregten wie Jean Pauls Erstlingswerk. Im März 1790 übernahm er aufs neue ein Lehramt. Einige Familien in Schwarzenbach beriefen ihn zum Unterricht ihrer Kinder, und jetzt betrieb der Dichter sein Amt in angenehmen persönlichen Verhältnissen mit wahrhaft begeisterter Freudigkeit. Die Sonntagsbesuche in Hof gewährten erquickliche Erholung, und in dem damals mit seinem dortigen Freund Otto immer inniger geschlossenen Herzensbund erwuchs ihm ein köstlicher Besitz für sein ganzes späteres Leben. Um jene Zeit entstanden einige kleinere Humoresken: »Die Reise des Rektors Fälbel und seiner Primaner«, »Des Amtsvogts Freudels Klaglibell über seinen verfluchten Dämon« und das »Leben des vergnügten Schulmeisterleins Maria Wuz in Auenthal«. Sogleich nach Vollendung des »Wuz« begann R. einen großen Roman, dessen Plan ihn schon länger beschäftigte. Während der Arbeit zwar verflüchtigte sich der ursprüngliche Plan, die »Unsichtbare Loge« (Berl. 1793, 2 Bde.) blieb unvollendet; »eine geborne Ruine« nannte der Dichter selbst sein Werk, in dem neben einzelnen unvergleichlich schönen Stellen bereits die ganze Unfähigkeit Jean Pauls zu plastischer Gestaltung, die maßlose Überwucherung der phantastischen Elemente und alles, was sonst den reinen Genuß an seinen Dichtungen stört, zutage trat. Gleichwohl bildet das Erscheinen des Buches in Jean Pauls Leben einen Wendepunkt günstigster Art. Im Herbst 1792 legte er seine Hand an ein neues Werk, den »Hesperus« (Berl. 1795), der sich gleich der »Unsichtbaren Loge« eines großen Erfolgs beim Publikum erfreute. Seit dem Frühling 1794 wieder in Hof bei der Mutter weilend, schrieb er in den nächstfolgenden Jahren: »Das Leben des Quintus Fixlein« (Bayr. 1796), ein humoristisches Idyll wie das »Leben Wuz'«, nur in breiterer Anlage; die »Biographischen Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin« (Berl. 1796), ein Romantorso mit satirischem Anhang; die »Blumen-, Frucht- und Dornenstücke, oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Siebenkäs« (das. 1796–97, 4 Bde.), in gewissem Sinne die beste Schöpfung des Dichters, der in den Persönlichkeiten des sentimentalen Siebenkäs und des satirischen Leibgeber die entsprechenden Elemente seiner eignen Natur zu verkörpern versuchte. Noch während der Arbeit an dem letztgenannten Roman empfing Jean Paul eine briefliche Einladung nach Weimar, von weiblicher Hand geschrieben. In der Ilmstadt, meldete die Briefstellerin, die sich Natalie nannte (welchen Namen der Dichter alsbald einer Gestalt im »Siebenkäs« anheftete), seien die besten Menschen von Jean Pauls Werken entzückt. Ohne Verzug folgte dieser dem Ruf. Seine Aufnahme übertraf alle seine Erwartungen; vor allen andern begegnete ihm Charlotte v. Kalb (die pseudonyme Briefschreiberin) mit glühender Verehrung. Jean Paul hat von ihr manche Züge für die Schilderung der hypergenialen Linda im »Titan« entlehnt. Zurückhaltender empfingen Goethe und Schiller den Hesperusverfasser, der sich in Weimar meist im Kreis des ihm wahlverwandten Herder bewegte. In jene Zeit fallen die Anfänge des »Titan«, die Abfassung des »Jubelsenior« (Leipz. 1797) und die Schrift »Das Kampanertal, oder: Die Unsterblichkeit der Seele« (Erfurt 1798). Im Sommer 1797 trat eine neue weibliche Gestalt auf die Lebensbühne des Dichters, Emilie v. Berlepsch, eine junge und schöne Witwe, mit der Jean Paul eine Reihe wunderlich exaltierter Szenen durchmachte. Fast hätte eine (vermutlich unglückliche) Heirat den dramatischen Abschluß gebildet. Im Oktober 1797 führte eine Reise nach Leipzig den nun berühmt Gewordenen auf den Schauplatz seiner einstigen Kümmernis, und jetzt drängten sich die Bewunderer um ihn. 1798 folgte auf Einladung der Herzogin Amalie ein abermaliger Besuch in Weimar. Nach einem kurzen Aufenthalt in Hildburghausen (Frühjahr 1799), wo er vom Herzog den Titel eines Legationsrats erhielt, ging Jean Paul nach Berlin, in der Absicht, sich dort dauernd niederzulassen. Im Mai 1801 verheiratete er sich daselbst mit der Tochter des Tribunalrats Meyer, aber eine vom König erbetene Versorgung blieb versagt. Von den damals entstandenen Werken sind hervorzuheben: »Palingenesien« (Gera 1798, 2 Bde.); »Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf« (das. 1799; unter den hier vereinigten kleinern Aufsätzen seien erwähnt: »Der doppelte Schwur der Besserung« und die »Neujahrsnacht eines Unglücklichen«) und die »Clavis Fichtiana« (Erfurt 1800), eine Satire auf den Fichteschen Idealismus; er widmete sie F. H. Jacobi, den er als den größten Philosophen der Zeit bewunderte. In Berlin behagte es dem Dichter nicht auf die Dauer; bald nach seiner Hochzeit nahm er seinen Wohnsitz in Meiningen, wo er zum Herzog Georg in vertraute Beziehungen trat und den »Titan« (Berl. 1800–03, 4 Bde.) vollendete. Doch schon im Mai 1803 verließ er Meiningen wieder und siedelte sich nach kurzem Aufenthalt zu Koburg in Bayreuth an, wo er bis zu seinem Tode wohnen blieb. Das nächste größere Werk des fortan in nur selten unterbrochener idyllischer Zurückgezogenheit lebenden Dichters war ein philosophisches, die »Vorschule der Ästhetik« (Hamb. 1805, 3 Bde.; Tübing. 1813), ein Buch voll geistreichster Einfälle, wertvoll in den über die Theorie des Komischen handelnden Abschnitten. Danach folgte die Abfassung der »Flegeljahre« (Tübing. 1804–05, 4 Bde.). Auch in diesem Roman, der zu den genialsten Schöpfungen Jean Pauls gehört und ihm selbst die liebste blieb, hat er die eigne Doppelnatur, die Gemütsinnigkeit und die humoristische Neigung seines Wesens, jene in dem weich gestimmten Walt, diese in dessen Zwillingsbruder Vult, zur Darstellung bringen wollen. In der »Levana, oder Erziehungslehre« (Braunschw. 1807, 3 Bde.; Stuttg. 1815, 4. Aufl. 1861; neue Ausg. von R. Lange, Langensalza 1893) sollten die in der »Unsichtbaren Loge«, im »Titan« und in den »Flegeljahren« in Romanform dargelegten Grundsätze theoretisch ausgeführt wiederkehren. Während der Zeit der französischen Fremdherrschaft schrieb Jean Paul zu eigner und seines Volkes Erheiterung die Humoresken: »Des Feldpredigers Schmälzle Reise nach Flätz« (Tübing. 1809) und »Doktor Katzenbergers Badereise« (Heidelb. 1809, Bresl. 1823), zwei Erzählungen von derbster Komik. Aber auch in ernsthafteren, wenngleich an satirischen Schlaglichtern reichen Schriften suchte er den gesunkenen Mut der Nation auszurichten, so in der »Friedenspredigt in Deutschland« (Heidelb. 1808) und den »Dämmerungen für Deutschland« (Tübing. 1809). Das letztere Buch, gedruckt in der Zeit, als Davout das Bayreuther Land besetzt hielt, legt auch deshalb ein schönes Zeugnis für Jean Pauls männlichen Mut und edlen Sinn ab, weil er es veröffentlichte, nachdem ihm soeben durch den ganz von dem französischen Imperator abhängigen Fürst-Primas v. Dalberg eine Jahrespension von 1000 Gulden ausgesetzt worden war. Nachdem diese Pension mit dem Großherzogtum Frankfurt 1813 zu Ende gegangen, bezog der Dichter seit 1815 einen gleichen Jahresgehalt von dem König von Bayern. Aus den spätern Lebensjahren Jean Pauls sind zu verzeichnen als bedeutendere Schriften: »Das Leben Fibels« (Nürnb. 1811), »Der Komet, oder Nikolaus Marggraf« (Berl. 1820–22, 3 Bde.), die beiden letzten größeren Arbeiten des Dichters in der komischen Gattung; ferner das Buch »Selina, oder: Über die Unsterblichkeit der Seele« (Stuttg. 1827, 2 Bde.) und endlich das Fragment einer Selbstbiographie, das unter dem im Gegensatz zu Goethe gewählten Titel: »Wahrheit aus Jean Pauls Leben« (Bresl. 1826) erschien und die Jugenderinnerungen des Dichters enthält. Einen tiefen Schatten warf auf Jean Pauls Lebensabend der Tod seines einzigen Sohnes, der 1821 als Student in Heidelberg starb. Seitdem kränkelte er und war zuletzt über Jahresfrist des Augenlichts fast gänzlich beraubt. König Ludwig I. von Bayern ließ ihm 1841 in Bayreuth ein Erzstandbild (von Schwanthaler) errichten.

Jean Paul nimmt eine eigentümliche und schwer zu bezeichnende Stellung innerhalb unsrer klassischen Literaturperiode und zwischen den sich drängenden Richtungen seit dem Beginn des 19. Jahrh. ein. Unzweifelhaft vom besten Geiste des 18. Jahrh., von dem »Ideal der Humanität«, beseelt, schloss er sich doch in seiner Darstellungsweise weit mehr an die frühern Schriftsteller als an Lessing, Goethe oder Schiller an. Die Engländer, vor allen Swift und Sterne, die Franzosen Voltaire und Rousseau, die ostpreußische Schriftstellergruppe Hamann, Hippel und Herder beeinflussten die Entwickelung seines Talents und führten ihn im Verein mit seinem eignen Naturell und seinem persönlichen Schicksal auf wunderliche Abwege. Gemeinsam mit unsern großen Dichtern blieben R. die Überzeugung von der Entwickelungsfähigkeit des Menschengeschlechts und ein freiheitlicher Zug; aber er gelangte niemals zu einer Entwickelung im höheren Sinne des Wortes. Der Abstand zwischen seinen frühesten und spätesten Werken ist ziemlich unwesentlich; die Widersprüche des unendlichen Gefühls und des beschränkten realen Lebens bildeten den Ausgangspunkt aller seiner Romane; aus ihnen gingen die weichen, wehmut- und tränenvollen Stimmungen hervor, über die er sich dann durch seinen unter Tränen hell lachenden Humor erhob. In der empfindsamen Zeit, in der Jean Paul auftrat, musste er den größten Erfolg haben; die schreienden Mängel seiner Darstellung wurden geleugnet; ja, sie scheinen in den meisten Kreisen gar nicht empfunden worden zu sein. R. gelangte nur in dem Idyll und in den besten Episoden seiner größeren Romane zu wirklich künstlerischer Gestaltung; meist wurden bei ihm Handlung und Charakteristik unter einer wuchernden Fülle von Einfällen, reflektierenden Abschweifungen, Episoden und fragmentarischen Einschiebseln verdeckt und erstickt. Verhängnisvoller noch ward für ihn die oben schon erwähnte Vielleserei, in der er ein Gegengewicht gegen die Enge seiner Verhältnisse gesucht hatte, und in ihrer Folge die leidenschaftliche Bilderjagd und Zitatensucht. Alle diese Mängel vereint drückten seinem Stil mit endlosen Perioden und unzähligen Einschachtelungen den Charakter des Manierierten auf, den der Dichter nur da abstreift, wo er von seinem Gegenstand aufs tiefste ergriffen und in innerster Bewegung ist. Gegenüber dem Enthusiasmus, der R. eine Zeitlang zum gefeiertsten Schriftsteller der Nation erhob, heftete sich die spätere Kritik wesentlich an die bezeichneten Unvollkommenheiten seiner Erscheinung. Während in seinen ausgedehnteren Werken, der »Unsichtbaren Loge«, dem »Hesperus«, dem »Titan« und »Komet«, nur einzelne glänzende Beschreibungen, humoristische Episoden oder jene zahlreichen »schönen Stellen« noch zu fesseln vermögen, von denen mehrmals besondere Sammlungen veranstaltet wurden, gewähren alle in ihren Hauptteilen idyllischen oder entschieden humoristischen Dichtungen einen weit reinern Genuss und lassen das Talent und die tieferen Eigentümlichkeiten besser hervortreten. Immer steht die liebevolle, reine Teilnahme bei ihm an allen Mühseligen und Beladenen, an den Armen, Bedrückten und Bedrängten im Vordergrund. Sein Blick für das Köstliche im Unscheinbaren, das Große und Ewige im Beschränkten ist tief und beinahe untrüglich; auch seine Naturliebe verleiht allen seinen Werken Partien von bestrickendem Zauber. Seine scharfe Beobachtung des Komischen wirkt unwiderstehlich, und alle diese Vorzüge erwecken lebhaftes Bedauern, daß dem Dichter das Erreichen klassischer, künstlerisch vollendeter Form versagt blieb. Richters Werke erschienen gesammelt in erster, aber ungenügender Ausgabe in 60 Bänden (Berl. 1826–38), besser in 33 Bänden (das. 1840–42; 3. Ausg. 1860–62, 34 Bde.) sowie in Auswahl in 16 Bänden (2. Ausg., das. 1865); ferner in der Hempelschen Ausgabe, mit Biographie von Gottschall (das. 1879, 60 Tle.; Auswahl 31 Tle.) und eine Auswahl in Kürschners »Deutscher Nationalliteratur« (hrsg. von Nerrlich, Stuttg. 1882 ff., 6 Bde.). Nach des Dichters Tod erschien noch »Der Papierdrache« (hrsg. von seinem Schwiegersohn Ernst Förster, Frankf. 1845, 2 Bde.). Von verkürzenden Bearbeitungen, die den Dichter der Gegenwart näher bringen wollen, sei erwähnt die des »Titan« von O. Sievers (Wolfenbüttel 1878). Von seinen Briefen sind zu nennen: »Jean Pauls Briefe an Friedrich Heinrich Jacobi« (Berl. 1828); »Briefwechsel Jean Pauls mit seinem Freund Chr. Otto« (das. 1829–33, 4 Bde.); »Briefwechsel zwischen Heinrich Voß und Jean Paul« (hrsg. von Abr. Voß, Heidelb. 1833); »Briefe an eine Jugendfreundin« (hrsg. von Täglichsbeck, Brandenb. 1858). Die »Briefe von Charlotte v. Kalb an Jean Paul und dessen Gattin« (Berl. 1882) und »Jean Pauls Briefwechsel mit seiner Frau und Christian Otto« (das. 1902) gab Nerrlich heraus. Aus der zahlreichen Literatur über R. heben wir hervor: Spazier, Jean Paul Friedrich R., ein biographischer Kommentar zu dessen Werken (Leipz. 1833, 5 Bde.); die Fortsetzung von »Wahrheit aus Jean Pauls Leben« von Otto und Förster (Bresl. 1826–33, 8 Hefte); E. Förster, Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul (Münch. 1863, 4 Bde.); Henneberger, Jean Pauls Aufenthalt in Meiningen (Meiningen 1863); Planck, Jean Pauls Dichtung im Licht unsrer nationalen Entwickelung (Berl. 1868); Vischer, Kritische Gänge, neue Folge, Bd. 6 (Stuttg. 1875); Nerrlich, Jean Paul und seine Zeitgenossen (Berl. 1876) und Jean Paul, sein Leben und seine Werke (das. 1889); Jos. Müller, Jean Paul und seine Bedeutung für die Gegenwart (Münch. 1894), Die Seelenlehre Jean Pauls (das. 1894) und Jean Paul-Studien (das. 1899); Hoppe, Das Verhältnis Jean Pauls zur Philosophie seiner Zeit (Leipz. 1901); Reuter, Die psychologische Grundlage von Jean Pauls Pädagogik (das. 1902): Allievo, Gian Paolo R. e la sua Levana (Tur. 1900); Czerny, Sterne, Hippel und Jean Paul (Berl. 1904); F. J. Schneider, Jean Pauls Altersdichtung Fibel und Komet (das. 1901) und Jean Pauls Jugend und erstes Auftreten in der Literatur (das. 1905). Eine begeisterte, formvollendete »Denkrede auf Jean Paul« verfaßte Börne (1825).

Dämmerungen für Deutschland

Vorrede

Es wäre für den Verfasser aus manchen Gründen kein angenehmer Umstand, wenn man den Titel des Buchs deutlich fände anstatt dunkel und vieldeutig; indes will er das Gegenteil hoffen, da Dämmerungen so vielerlei bedeuten können – die des Abends, die des Morgens – an den Polen die am Mittage ohne Sonne und die in der Mitternacht ohne Nacht – und endlich in der nordischen Mythologie die sogenannte Götterdämmerung, d. h. den Götter-Sterb – oder Entgegengesetztes auf einmal.

Dämmerung übrigens ist ein so erquickliches Bild, sie führe uns nun der Sonne oder den Sternen zu. Wer konnte je den Frühgottesdienst einer Frühlings-Dämmerung voll Lerchen und Blüten vergessen, wenn er ihn gefeiert hatte! Denn was war der ganze Tag dagegen! In den Dämmerungen regiert das Herz.

Dieses Buch ist eigentlich bloß die Vollendung der Friedenspredigt. Möge die Lesewelt die Verzeihung der letztern wiederholen! –

Mit den deutschen Wunden sind zugleich auch die deutschen Ohren offen; daher rede Heilsames, wer es vermag; und möchten nur Männer, die es am besten vermöchten, jetzo nicht schweigen! – Die neue Zeit fodert neue Kräfte. Neue Staatsschiffe lassen wie neue Boote noch Wasser ein, bevor sie zugequollen sind.

Die Furcht entschuldige mit keinem Zwange ihr Schweigen. Wer nichts anderes aussprechen will als das Gute – aber nicht sich oder schlechtes Hassen und Schmeicheln –, kann stets unangefochten reden; nur habe ein wilder Gracchus immer die Flöte der Humanität und Dichtkunst hinter sich, um damit die Stimme zu stimmen. Im Schreiben und im Handeln trägt so manche gute Tat nicht die vollen Früchte, nur weil man die Persönlichkeit gleichsam als Schadloshaltung der Arbeit mit einschwärzte.

Wenn die Dämmerungen gerade da am längsten dauern, wo sie am wohltätigsten sind, in kalten Ländern: so wäre der Verf. für die wenigen Strahlen, die er weniger gibt als bricht, belohnt genug, wenn sie seinem eben nicht unter dem wärmsten Himmel liegenden Deutschland einige dunkle Viertelstunden ersparten oder erhellten. – Getauet hat es in die Blumen genugsam – aus Augen und Wunden –; gehe dann eine heitere Sonne über die nassen Gefilde auf und lasse diese schimmern!

Baireuth, den 6ten März 1809.

Jean Paul Fr. Richter

I. Über den Gott in der Geschichte und im Leben

Wer mit Goethe sagt: das Schicksal will gewöhnlich mit vielem nur wenig, dem ist »die Weltgeschichte ein Weltgericht«, aber eines, das unaufhörlich verdammt und sich mit.

Allerdings blickt die Vergangenheit uns so grausend an wie ein aufgedeckter Meeresboden, welcher voll liegt von Gerippen, Untieren, Kanonen, modernden Kostbarkeiten und verwitternden Götterstatuen. Es möge denn hier ein Geist, der sich an der Vergangenheit noch blutiger abquält als andere an der Gegenwart, seine Klage über den Weltgang recht aussprechen. Das Gleichnis vom Meere (wird er sagen) reicht weit genug: wir schiffen und holen auf dem leuchtenden und grünenden Meere; aber unter uns liegen die Bettler mit ihren Schätzen und Knochen, welche auch einst freudig darübergefahren. – Schwer geht das Erstarken der Staaten, flüchtig ihr Vollblühen, ekel-langsam ihr Niederfaulen. Wie lange mußte nicht der Barbar am römischen Reiche schlingen, bis das eine Raubtier das andere in sich gezogen, so widrig dem Auge, wie wenn die große Sumpfschlange ein lebendiges Krokodil hinterwürgt. Wie lange frißt der Sultanismus schon am ätherischen Griechenland!

Hoffe nur kein Herz Nachhülfe oder Rettung auf seiner Bahn zu irgendeinem reinsten Ziel! – Allerdings greift vielleicht ein Arm aus der Wolke herab, aber ebensooft, um eine Eiche beim Gipfel aus der Wurzel zu reißen, als eine gegen den Sturm aufrecht zu halten. Der edelste König Frankreichs, Heinrich IV., neben dem edelsten Minister, muß gerade auf dem Himmelswege zu einem allgemeinen europäischen Fürstenbunde, der nicht wie sonst Kriege beschloß, sondern ausschloß, dem Opfermesser auf dem Altare des Teufels heimfallen; dieser edle Fürsten-Geist, der, was unter allen fürstlichen Bestrebungen die seltenste ist, mit dem Wohle seines Staates das Wohl der Menschheit, d. h. aller Staaten, befruchten und erziehen wollte. Er starb; armer Sully, armes Frankreich! – Ein hohes Königs-Herz, das die Greuel eines Herzogs von Orleans, eines Ludwigs XV. und folglich der Revolution der matten Menschheit erspart hätte, mußte still stehen, nachdem es ein Evangelist Johannes, Fenelon, in göttlichen Gang gebracht. Armer Fenelon, armes Frankreich! – Und darauf wollt ihr doch euch wundern, wenn euch Einzelnen mitten im Ausstrecken euerer Hand, um zu helfen oder zurechtzuweisen, oder um eine fremde zu drücken, diese Hand von einem unsichtbaren Schlage abgehauen wird? Was ist denn das Beste, was ihr vorhabt, gegen das Beste, das schon verwehrt und verzehrt worden? – Daher glaube nur kein Fürst Leopold, etwa darum, weil er vom Ertrinken retten will, selber dem Ertrinken zu entrinnen; ihr werdet das Opfer euerer anfangs begünstigten Aufopferungen am Ende so gut als Howard das der Pest.

Auch was nur einmal da ist und nie wiederkommt, alexandrinische Bibliotheken, Schiffe und Städte voll Kunstgebilde, sanken unter; samt unersetzlichen Gedanken unsterblicher Griechen. Fast spöttisch band das Schicksal die Freiheit eines Staats an den Spinnenfaden des Zufalls: dort Englands an eine Schneiders-Schere., hier Genuas an ein Boot; dort aber hielt, hier riß er.

Der besondere Saatwurf eines großen Individuums – entsprösse auch daraus ein seliges Jahrtausend – gilt vor dem Verhängnis so viel wie der Saatwurf eines Völker vergiftenden Samens; zufällig wird der eine, zufällig der andere beregnet, nicht einmal der Giftsame ausschließlich. Oft wählt das Verhängnis auf dem Scheideweg zwischen Fegfeuer und Höllenfeuer das letztere. Wie glücklicher hätte sich das römische Reich unter einem Julius Cäsar gestaltet ohne Brutus' Dolch, diese Strafrute dreier Weltteile, wodurch der römische Thron bloß das breite Blutgerüste der Länder und Herrscher zugleich geworden. Das Verhängnis verschonte die Welt weder mit Katos Sterben, noch mit Brutus' Töten und Sterben, und drei solche Große mußten ihre Gräber zu Thron-Stufen für einen Augustus hergeben. Denn daß etwas ebenso Schlimmes oder noch Schlimmeres als der Leichenzug der römischen Kaiserhistorie erfolget wäre, wenn Julius Cäsar seinen Namen nicht einem Monate, sondern einer ganzen julianischen Regierungs-Periode hätte geben dürfen, läßt sich schwer behaupten.

Zuweilen wirft das Verhängnis in die eine Waagschale so viel Leichen und Siege als in die andere, damit von neuem nachgeworfen werden muß. Zweimal muß Nelson auf dem Wasser entscheidend siegen, zweimal Napoleon auf dem Lande, bloß damit entweder dort oder hier ein neuer Blut-Tränen-Nachguß in die Schalen die wägende steilrechte Zunge beuge.

Und eben das Grausamste in der Geschichte ist dieser Wechsel zwischen Glücken und Mißglücken jedes sittlichen oder unsittlichen Zwecks – fast ähnlich dem Jubeln, Befruchten und Lieben der organischen Welt im Frühling auf der einen Seite und dem Zusammenfressen auf der andern; der ganze frohe Frühling ist voll ungehörten Mord in drei Elementen; nur daß sich der Mord noch stiller im lauten Meere begeht, in welchem kein Leben anders lebt als von einem andern Leben, und welches gerade zwei Drittel der Erde ausmacht. Nur etwas sucht das Verhängnis heim, nicht die eigne Schuld des Herzens, sondern die unschuldige Schuld des Kopfes; und gegen ein Laster werden hundert Dummheiten gezüchtigt. So ist die Welt und unser Trost!

Gleichwohl könnte jemand diese Verzweiflung nachbeten, ohne darum etwas anders zu bleiben als ein Christ; denn er nähme bloß die Kirchhofs-Mauer zu seinem Verteidigungs-Wall und den kühnen Ausweg oder Ausflug in die zweite Welt, für deren Vorschule, Vorhimmel und Vorhölle er die erste erklärte; wozu er denn auch alle übrigen Erden und Sonnen noch schlagen müßte, da alles Irdische ein Unteilbares ist. Aber dieses ist auch ein Unanmeßbares (Inkommensurables) für die geistige Zukunft. Jede Welt von beiden muß sich selber rechtfertigen. Den erwarteten Gott der Ewigkeit kenn' ich denn schon in meinem jetzigen Innern, das eben in Zeit und Geschichte wandelt; folglich hab' ich durch den mir im Erden-Herz mitgegebnen Ewigkeits-Gott schon ein jetziges Verhältnis oder Mißverhältnis mit der gleichzeitigen Erde mitbekommen und zu erkennen.

Er nimmt in der Weltgeschichte drei Gestalten an. Laßt uns jede beschauen; aber sogleich uns vornehmen, daß wir den Unendlichen nicht als maître de plaisirs unseres Erdballs, sondern als den hinaufbildenden Lehrer und Vater seiner Kindervölker suchen und schauen wollen.

In der ersten, wo er als Gerichts- und Heilsordnung der Völker erscheint, hat ihn Herder am schönsten gemalt. Alle Gesetze der physischen Welt wenden sich – heilend, segnend, strafend – auf die freie an. Und wie sollte dieselbe physische Gesetzmäßigkeit des physischen Wachsens, Blühens und Welkens nicht als geistige in Geistern, auf Körper geimpft, wieder umkehren! Obgleich der Einzelne frei ist – zur schwärzesten und zur lichtesten Tat –, so ist die Masse doch nur eine beseelte schwere Körperschaft. Daher in der Geschichte, wo bisher die meisten Völker niedrig standen, die Völkermassen allen Stößen des Mechanismus gehorchen und erliegen. Denn alle jene Gesetze Herders: »Jedes Übermaß bestraft und vertilgt sich selber – der Überspannung folgt Abspannung, der Mäßigkeit Kraft, der Trägheit Kraftlosigkeit – entgegengesetzte Richtungen schwanken in einem Mittlern aus« – diese beherrschen Körper und Geister gleich sehr; und die Nemesis regierte früher über die Pflanzen und Tiere als über die Menschen. Aber die Freiheit des Einzelnen, es sei des Sünders oder des Heiligen, kann geradezu sich entgegengesetzte Gesetze und Bahnen wählen und wühlen und auf Jahrhunderte die Welt irren oder segnen und der Nemesis trotzen. In der Geschichte des Menschen-Reichs nur wiegt ein Mensch so überwiegend; ein Luther hatte in seiner Gehirnkugel den festen archimedischen Punkt außer der Erdkugel, um geradezu diese anders zu drehen; und vollends jener nicht zur Gesellschaft Jesu gehörige Jesus, der Reinste unter den Mächtigen, der Mächtigste unter den Reinen, hob mit seiner durchstochenen Hand Reiche aus der Angel, den Strom der Jahrhunderte aus dem Bette und gebietet noch den Zeiten fort! Folglich treffen wir in der Geschichte auf zwei entgegengesetzte Erscheinungen, welche uns deren Gott verhüllen. Die erste ist der Weltgang nach physischen Gesetzen, wonach Menschen und Staaten wie Bäume erstarken, aufblühen, sich abblättern und endlich aushöhlen. Und gerade dieses wiederkommende Untergehen gibt der Geschichte der Menschenmassen ein so trostloses Ansehen. Die Vorsehung läßt nun hier dem Lavastrom und dem Blitze wie dem Monds-Strahl den Naturlauf und Flug; ob ein physisches Erdbeben oder ein Krieg Länder umstürzen, ist gleich erlaubt. Wenn indes in Afrika ein Erdstoß sechshundert Städte auf einmal vergrub: so ist dieses doch nur zusammengerückter Tod und Winter, wie der Frühling ein zusammengerücktes Leben; und eine Klage klänge wie eine darüber, daß in jeder Minute auf unserer Kugel über sechzig Menschen sterben. Ebenso klingt das Jammern über die auf die erste Stufe zurückgefallnen Völker, d. h. über deren Urenkel, wie eine über deren Urahnen, die auch da lagen; und man müßte also weniger über den Verfolg als über den Anfang der Geschichte überhaupt wehklagen.

Die zweite Erscheinung ist der Weltgang nach freigeistigen Gesetzen; aber dieser entzweiet uns noch mehr mit unsern Hoffnungen als der vorige. Ein Mensch stürzt und bauet eine Welt, sobald ers will; wer sich opfern will, kann alles andere auch mit opfern; zu auffliegenden Schiffen, zu fallenden Kronhäuptern, zu verbrennenden Städten und Raffaelen mit allen ihren unabsehlichen, aber physischen Folgen, kurz zu ganzem Land- und Erden-Sturm braucht es nichts als die erste beste Hand und ein Herz, das will. Der Höllen-Maschinist in Paris hätte, wenn nicht seinen Ein- und Zufall ein zweiter, der eines Rausches des Kutschers, vernichtet hätte, die ganze jetzt veränderte Erde rückwärts verändert oder beim Alten gelassen; daher könnt ihr leichter auf Jahrtausende die Gestalt des Sternenhimmels als die der Erde weissagen, weil ihr nicht wißt, welcher Schwarz geboren wird, der sie mit seinem Pulver pulverisiert; indes gilt dasselbe auch für den Himmel, nur aber, daß dort erst Jahrbillionen eine neue Sonne gebären, die alles verrückt.

Auch solchen Menschen-Kometen läßt die reiche Natur ihr Stören aller Bahnen zu; denn sie ist mit geistigen und physischen Gesetzen bewaffnet genug, um damit – freilich mit Zeit-Verlust – wenn es einen für die unaufhörliche gäbe – die Schwankungen der Freiheit wieder mit der Regel auszugleichen.

Indes ist dem physischen Lebenslauf der Völker noch eine Freiheit eingemischt, welche dem der Tiere abgeht, so wie dem freien Machtschwung von Sturm-Menschen noch ein Festes vorgeordnet, welches die Unterlage seiner steigenden Hebel ausmacht. – Wenn ein Volk gegen alle Bewegungs-Gesetze Jahrtausende in demselben Stande gegen die Sonne einwurzelt, wie Sina – wenn andere schnelläufig, dann rückläufig sind, wie griechische Staaten – wenn ein Volk, an ein größeres wie ein Mond an die Erde geknüpft, sich damit um die Sonne bewegt, wie Juden mit Christen – wenn ein anderes kometenartig nach der Sonnenferne in die Sonnennähe kommt, wie die Franzosen und Deutsche, und dann in jene und diese wiederkehrt – wenn ein anderes, wie andere Kometen, niemals umkehrt, wie Ägypter: so spricht schon die lahme unzulängliche Allegorie durch ihr eignes Unvermögen, die Völkerbahnen zu beschreiben, die Verschiedenheit zwischen Weltkörpern und Geister-Körperschaften unwillkürlich aus. Denn eben kein Körper-Bild kann – in seine immer umlaufenden Wendezirkel gebannt – den gerade und zackig gehenden Völkergeist vorbilden. So ist das Bild von Aufblühen und Abwelken der Völker kein volles; denn jedes Volk hängt heute zu gleicher Zeit bedeckt voll Blüten, Früchte, Knospen und Welk-Laub, und morgen wieder voll, nur von andern aber. Nach welcher körperlichen Rangordnung mischen sich denn z. B. in Frankreich Herbst und Frühling und Winter und Sommer durcheinander zum neuen Weltspiele? Blühete Gallien voll in der Provence, als die Römer diese zuerst eroberten undProvincianannten? Oder mit den Dichtern der Provence? Oder unter Karl dem Großen besonders? Oder unter Heinrich IV.? – Oder unter Ludwig XIV.? – Oder unter der Revolution? – Oder unter Napoleon? – Hier wächst Klimax und Anti-Klimax ineinander. Oder fragt über die Vollblüte der Deutschen an, ob im Siege über das weltliche Rom? – In der Niederlage vor dem geistlichen? – In der Zeit der Kreuzzüge? – Der Hanse? – Der Ritter? – Ob im funfzehnten Jahrhundert – im sechzehnten – im jetzigen? Wo ist hier ein Fortsatz von Flug oder Fall, oder greifen nicht beide zusammen, nur aber immer mit neuem Steigen und Fallen? – Ein Irrtum war noch der, daß man Vergänglichkeit der Staaten oder Ablauf der Zeiten auf die Völker selber anwandte, welche ja immer verjüngt auf den Gräbern ihrer Staaten aufsprießen und, wie die Italiener im Mittelalter, auf dem großen Siebenhügel-Golgatha der Welt später neue, von nordischem Blut gewässerte Wurzeln treiben und frische Griechen-Blüten. Wie könnt ihr in den runden Totentanz des umkehrenden Untersinkens menschlicher Schöpfungen, d. h. der Staaten, die göttlichen hineinziehen, die Völker selber, in welchen nichts anders umkehrt als eben anders, welche auf unverwelklichem Stamme frische lebensgrüne Zweige den abgehauenen nachtreiben? – Freilich harrten schon lange auf ihren politischen Messias die Griechen auf ihren Felsen und Inseln; – und ebenso manches in große Verhältnisse verstrickte Volk. Aber Völker brauchen überall Zeit; und den Aufschub, wie den eines Frühlings, erstattet reichere Fülle.

Heben sich nun die Völker auf ihren Staaten-Gräbern in neue Regionen empor – und kommen alle sich neu und anders entwickelnden europäischen immer mehr in erregende Berührung, bis zuletzt auch die der andern Weltteile in die große galvanische Säule und Geisterkette geraten: wie könntet ihr denn jetzt die allgemeine Ausgleichung zum Schwer-Punkte einer vollendeten Zukunft aus bloßen einzelnen Staaten abmessen und ausrechnen?

Erst müssen alle Völker unserer Kugel in einer gemeinschaftlichen Ausbildung nebeneinander stehen, damit kein rohes sich zersetzend in das gebildete mische; – denn wo wäre die Unmöglichkeit, daß die Kultur nicht endlich Volk nach Volk erfasse und präge, und nicht vielmehr die Notwendigkeit, daß ihre wachsende Herrschaft nichts zur Allherrschaft bedürfe als nur Zeit? – Sonst brauchte man einige Fenster zu verhängen: so war das Erdengebäude verfinstert; aber jetzt waren der Fenster zum Verdecken zu viele; und selber im Finstern blieben Bücher als nachstrahlende Lichtmagneten zurück. – Ist einmal die Erdkugel, was physisch so unmöglich ist als bildlich notwendig, auf beiden Hälften erleuchtet: dann muß jenes Kreislaufen von Steigen und Fallen nachlassen, und wie auf niedrigsten Stufen langes Innehalten der Völker (fast aller Wilden) waltet, so wird, wenn die Jahreszeiten des Wachsens mit ihren Stürmen und Wechseln durchgelebt sind, auf der höchsten Stufe ein höheres Ruhen wiederkehren, so wie der Wille und Verstand des Einzelnen gerade auf dem zartesten Gipfel der Ausbildung am unveränderlichsten ruht.

Wenn uns die ganze Geschichte erzählt, daß die Menschen leichter und länger in ganzen Scharen und Schwärmen sich beflecken als sich heiligen; wenn Krieg, Seeräuberei, Knechtschaft, Parteimut tausend Herzen auf einmal und auf lange besetzen, indes die Tugenden wie Engel nur Einzelne begleiten: so hätten die Heere des Teufels längst die zerstreueten Engel und das Glück der Erde überwältigt und eingeschattet, wenn nicht ein unbekannter, Weltteile, Zeiten und Völker ordnender Geist dazwischenwehte, welcher bisher gerade umgekehrt ein wachsendes Heil aus dem weiten Unheil entwickelte. So steht ausgebreitet das salzige schmutzige Meer über der Erde; aber reines Wasser steigt daraus gen Himmel, fällt auf Berge zurück und steigt aus der Erde auf und tränkt und trägt mit reinen Strömen die Menschen.

Was unsern Blick am meisten verdunkelt, ist, daß wir die große Ausgleichung des geistig-freien Durcheinanderblühens und -welkens der Völker und ihr Zusammenreifen in irgendeinem Jahrtausend, kurz die körperliche Gegenwart der Gottheit schon Anno Eins oder als Geburtstags-Angebinde begehren. – Wir Eintagsfliegen wollen, wie an den Terzienuhren unseres Daseins, auch an der Jahrtausenduhr der Sternenzeit den Zeiger eilen sehen. Wir finden daher oft leichter Vorsicht und Gerechtigkeit in einem kurzen Menschen-, ja Kinds-Leben als in langen Völker-Altern, so wie wir den Umlauf des Erdballs um die Sonne früher entdeckten als den der Sonne um eine Ursonne, obgleich diese eiliger in ihrer weitern Bahn als die Erde in der engern zieht.

Das anhaltende Fieber, womit ein Volk sich seine Krankheitsmaterie durch Frost und Hitze austreibt, währet oft jahrhundertelang; man kann hier, da manche Nationen mit ihren Namen Krankheiten getauft, auch geistig von englischer, polnischer, neapolitanischer oder französischer Krankheit sprechen. Nur vergessen wir immer im Nachrechnen der hundertjährigen Völker-Krisen, daß die Störungen großer Weltkörper auch große Welt-Zeiten nötig haben zur Umkehr in den Regel-Lauf. Die langen Räume brauchen lange Zeiten; und daher kann eine Dissonanz oft Länder und Jahrhunderte weit von dem Tone liegen, worin sie sich auflöst, wenn schon lange das beleidigte Ohr der Eintagsfliege verweset. Doch den Menschen entschuldigt die oft von ihm selber beschuldigte Geschichte, indem sie ihn zwischen dem trägen Aufwachsen und trägen Abwelken der Völker so oft mit einem schnellen Blüten-Aufbruch unterbricht und überrascht. Und diese Eil-Entwicklungen – gegründet in der moralischen und politischen Natur, welche, wie die organische, so oft scheinbares Einhalten mit plötzlichem Aufschießen abbricht – will eben der kurzlebige, auf den halben Sold eines halben Jahrhunderts gesetzte Mensch leibhaft erleben. Er woll' es; nur richt' er nicht das Weltgericht.

Hinter uns bewegt sich die Vergangenheit mit ihren Völkern eilig zu Zielen, weil die Ferne uns scheinbar Weg und Schritte verbirgt und verkürzt; aber um und vor uns will uns alles anstocken, alles kreislaufen, an kein Ziel anlangen. Er schaue auf zum überirdischen Himmel wie zum irdischen, wo ihm alle Sterne zu stocken und zu ruhen scheinen, und denke daran, welch ein fliegendes Gewimmel von Welten sich einem höhern Auge droben aufdeckt.

Wer von uns hätte erraten – d. h. also die Vorsehung der Vorsehung sein können –, daß aus den reißenden Strömen des vierten, fünften, sechsten, zehnten Jahrhunderts noch die Goldkörner des sechzehnten u. s. w. gewaschen würden? Wer hätte, gerade in der Nähe des ein halbes Jahrtausend lang offnen Grabes aller Wissenschaften, daran zwei unsterbliche Wunderarzneien gesucht, die Erfindungen unseres Papiers und des Buchdrucks?

Es beweise ein großer Schriftsteller noch weiter fort: »Leer und töricht ist nicht jede Predigt, die es selbst dem Weisen manchmal dünkt. Als Christus zu den Aposteln sagte: gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker, möchte leicht ein Philosoph, der es gehört hätte, laut zu lachen angefangen haben. Wer hätte vor 300 Jahren wohl zu Rom geglaubt, daß ein Mönch in Deutschland dem dreifach Gekrönten die Hälfte seiner Herrschaft rauben und die andere Hälfte tödlich schwächen würde? Die mächtige Republik Holland entstand ohne alle dahin gehende Absicht und gegen alle Wahrscheinlichkeit. Nicht weniger unvermutet bestieg Karl II., nachdem alle seine Anschläge vereitelt waren und er nichts mehr tun konnte, den Thron von England. Alles lehrt uns, daß wir, was geschehen wird, nicht wissen können. Darum trau' ich mehr der Wahrheit, die ich klar empfinde, als ich meiner Vorsicht traue, die mich täglich irreführt, und als dem Dünkel meiner Weisheit. Nimia praecautio dolus. Das ewige Akkommodieren, das bei uns so sehr im Schwange geht und, wie Gleim sagt, noch am Ende eine Milch-Barbarei hervorbringen wird, ist nicht meine Sache. Ich begreife nicht einmal den Stolz, der sich Wahrheit zu verwalten untersteht; das ist Gottes Sache. Also laßt uns nur ehrlich bekennen, was wir ehrlich glauben. Er wird schon zusehen.«

Jetzt kann man noch die nordamerikanische und die französische Revolution (beide griffen ineinander zu einer dritten) dazufügen. Möge ein zweiter Washington uns von England befreien! – So oft grub eine Zeit den ausgerissenen Baum bei dem Gipfel in die Erde; aber siehe, letzterer wurde Wurzel und diese jener.

Wir werden jetzt leicht zur versprochenen zweiten Ansicht geführt.

Auch den einzelnen Schwung-Menschen – den Vorder-Geistern eines neuen Geisterreichs – wird bei aller Freiheit ihrer Richtung doch die Zeit und Nachbarschaft ihrer Einwirkung aufgenötigt, so wie die Werkzeuge, die Wurzelheber, die Ankerwinden, die Hebebäume ihrer Kraft, und sie müssen dienen, um zu herrschen.

Ein Bauherr stellt sie an als die Baumeister der Staatsgebäude. Man behauptet, solchen Geburtshelfern der Zeit sei schon alles von der Masse der Vergangenheit vorgearbeitet, und z. B. das Luthertum habe schon vor Luther unter der Erde gekeimt, wenn auch nur in Kirchhöfen aus der Asche verbrannter Ketzer. Aber man muß hinzufügen: oftmals sind Länder vorbereitet und umgepflügt mit Schwertern, gedüngt mit Blute – und bleiben doch brach, weil der Geist nicht kommt, der den guten Samen aussäet, sondern bloß der Feind mit Krallen voll Unkraut. Wiederum sind die Kreuzzüge u. s. w. (die französische Revolution) von größern Menschen gezeugt und schwangergetragen worden, und von kleinern als Wehmüttern entbunden. Klapperschlangen, welche den Riesen vergiften, zerschlägt die Rute in einer Kinderhand. – Der Unendliche allein weiß es, wozu Europa jetzt reif ist, und ob ihm ein Säemann fehle oder komme. Die Völker mit aller ihrer Weltgeschichte gleichen den Epileptischen, welche, sooft sie auch ihren Zufall schon erlitten haben, doch niemals vorhersehen, wenn er sie wieder hinwirft. Aber ebensooft gleichen sie Gelähmten, welche unter einem Gewitter so lange zitterten, bis es sie traf; – und dann hatte der Blitz sie hergestellt.

Es ist ein Unterschied, wie Anfangs-Geister einer neuen Zukunft zu Kronerben einer Vergangenheit und zu Herrschern der Gegenwart werden. Überall ackert ein Geist mit Übermacht der intellektuellen Kräfte leichter die Länder um und wurzelt sich darin mit seinen Pflanzungen ein als ein Geist mit Übermacht der sittlichen. Einsam steht der Heilige in seiner Kapelle, Sokrates in seinem Gefängnis; aber ganze Jahrhunderte werden von seinem Schüler Platon begeistert und besessen und von großen Gesetzgebern länger als von Dynastien beherrscht. Unter mehrern Ursachen ist auch dies eine: dem Geistes-Übermächtigen muß zuletzt auch der kopflose Gegenfüßler frönen und nachtraben; hingegen dem Herzens-Übermächtigen fühlt sich jeder als Bluts- und daher Kron-Verwandter nahe durch die göttliche Freiheit, womit jeder an sich der zweite Welt-Schöpfer und Gott und Kreatur zugleich sein kann. Natürlicherweise hatten Geister, welche am längsten die Welt bewegten, intellektuelles und sittliches Übervermögen, Kopf und Herz zu einer Macht verknüpft; vollends ein Heiligenschein um einen großen Kopf greift mit Himmel und Erde, mit Gewitter und Erdbeben zugleich die Länder an und läßt hinter sich Thronen und Tempel – gleich Muhammed. Indes wiewohl der Heilige einsam wirkt und seine Hände mehr gen Himmel hebt als wider die Erde, so treibt er doch wie aus einem wundertätigen Grabe, obwohl unscheinbar, fort; ein sittliches Musterbild teilt ohne Getöse stillen Seelen Jahrhunderte nach Jahrhunderten segnende Kräfte mit und treibt unten mit unsichtbarer Wärme Blumen und Früchte ins Freie heraus. (Verachtete Gebetbücher fassen tiefer oft in Jahrhunderte hinein als die Manifeste der Eroberer.)

Nur ein übermächtiger Geist des Herzens schließt sich hier aus und geht, wie das Universum, einsam neben Gott. Denn es trat einmal ein Einzelwesen auf der Erde, das bloß mit sittlicher Allmacht fremde Zeiten bezwang und eine eigne Ewigkeit gründete – das, sanftblühend und folgsam wie eine Sonnenblume, brennend und ziehend wie eine Sonne, selber dennoch mit seiner milden Gestalt sich und Völker und Jahrhunderte zugleich nach der All- und Ursonne bewegte und richtete – es ist der stille Geist, den wir Jesus Christus nennen. War er, so ist eine Vorsehung, oder er wäre sie. Nur ruhiges Lehren und ruhiges Sterben waren das Tönen, womit dieser höhere Orpheus Mensch-Tiere bändigte und Felsen zu Städten einstimmte. – Und doch sind uns aus einem so göttlichen Leben, gleichsam aus einem dreißigjährigen Kriege gegen ein dumpfes verzerrtes Volk, nur wenige Wochen bekannt. Welche Handlungen und Worte von ihm mögen vorher untergegangen sein, eh' er nur seinen vier von Natur ihm so unähnlichen Geschichtschreibern bekannt geworden! Wenn also die Vorsehung einem solchen Sokrates keinen ähnlichen Platon zuschickte, und wenn aus einem solchen göttlichen Lebens-Buch uns nur verstobne Blätter zuflogen – so daß vielleicht größere Taten und Worte desselben vergessen als beschrieben worden –: so murrt und rechtet nicht über den Schiffbruch kleiner Werke und Menschen, sondern erkennt im doch nachher aufblühenden Christentum die Fülle wieder an, womit der Allgeist jährlich mehr Blumen und Kerne untergehen als gedeihen läßt, ohne darum einen künftigen Frühling einzubüßen.

So nahe vor dem Bilde des größten Menschen dürfen wir uns vielleicht der dritten Ansicht, dem gewagten, ihm selber heiligen Glauben hingeben, daß ins kleine Leben des Einzel-Wesens noch etwas anders eingreife als das allgemeine Welt-Räderwerk. Oder wollt ihr so kühn sein, so viele Erfahrungen oder Bemerkungen frommer und wahrhaftiger Christen älterer Zeit bis zu Lavater und Stilling heran geradezu als Traum und Trug herabzuwerfen? Oder sie für bloße Verwechslungen mit allgemeinen Gesetzen oder mit Zufällen auszugeben? Es ist ebenso kühn, über diese Sache ein Ja als ein Nein auszusprechen; doch noch kühner wär' es, nach dem Ja einer besondern Vorsehung zu leben; auf dem festen Lande des Handelns sind uns die himmlischen Sterne weniger zu Wegweisern nötig als auf dem Meere des Innern. – Gegen das Sprichwort, daß jeder seines Glücks (und Unglücks) Schmied sei und daß folglich das moralische Gesetz der Bauplan der Vorsehung sei, obsiegt die Einwendung schneller Beglückungen oder Verunglückungen nicht ganz; denn wir schreiben irrig immer nur unserer letzten und neuesten Handlung das neueste Glück und Unglück zu, und wir vernehmen von unserer Stimme, wie bei einem Echo, nur die letzten Silben widergehallt; indes hinter der letzten Tat deren lange Ahnenreihe und Blutsverwandtschaft sich ins ganze Leben versteckt, welche uns entweder mit Gaben oder Ruten empfängt. »Es ist Verhängnis« (sagt die Jungfrau) – »Oder wird ein einziger Eitelkeits-Abend so schwer gebüßt?« – Ich antworte: »Du büßest nicht den Abend, sondern die Abende; und die Schuld borgender Jahre fodert irgendein letzter Martertag unbarmherzig ein.« – Die Menschen verwundern sich erstlich, wenn ein Tag lange Jahre straft; aber dafür straft er wieder jahrelang fort, und dann verwundern sie sich wieder zum zweiten Mal.

Gleichwohl sagen schon Sprichwörter der Völker noch eine andere Erfahrung aus: »Kein Unglück kommt allein« (ich setze dazu: auch kein Glück; denn die Grazien sind so gut verbunden als die Furien) – ebenso die Bangigkeit der Griechen nach einem großen Glück. Und wer von uns stand nicht oft erschüttert vor seltsamen wiederkehrenden Einmischungen des großen Geschicks in das seinige! – Weltleute, mehr das Thronhimmlische als das Sternhimmlische kennend, geben wiederkehrenden Seltsamkeiten des Lebens den Namen Glück und Unglück. Große Menschen glaubten (besonders vormals) am leichtesten an Vorsehung und Glück; – vielleicht weil in ihrem größeren Tatenleben alles in vergrößerter Schrift leichter zu lesen war. – »Du fährst den Cäsar und sein Glück,« sagte Cäsar mit Recht, bis ihm die Nemesis an der Bildsäule des Pompejus mit Dolchen erschien. Luther vertrauete Gott, obsiegte dem Teufel, und seine Nemesis war bloß ein Todesengel, der ihn abholte ins Land voll Cherubs, wo vielleicht Flamme und Ruhe sich besser vertragen.

Und wem tritt hier nicht der Held des Jahrhunderts vor das Auge, welcher, obwohl begleitet rechts von der kriegerischen und weisheitsvollen Pallas mit ihrem Medusenschilde, doch links von der Glücksgöttin geführt und beschirmt werden mußte, um die schwere Bahn durchzukommen! Auch glaubt der Wunder-Heros selber an sein Glück; und hütet es daher mit griechischem Sinne überall durch Vorsichts-Regeln. Wenn bei diesem Manne so viele Wunder wiederkommen, daß er z. B. zweimal ein Paar krönende und entthronende Siege an demselben Monatstage abgewinnt: so darf man vielleicht wenigstens als spielende Zufälligkeiten desselben Glücks der Bemerkungen erwähnen, daß Napoleon im Polnischen heißt: weitersiege, und daß die Wörter révolution française anagrammatisch lauten: un Corse la finira, wenn man das Veto herausläßt.

Lasse sich doch keine Seele vom Glauben an Gott in ihrer Lebens-Geschichte etwan dadurch abneigen, daß sie zu klein dafür sei in der Menge der Geister und Sonnen. Wiegt ein verwitternder grober Sonnen-Klumpe ein geflügeltes Ich auf? Es zählt ja das arme lebendige Räupchen neben dir mit seinen Ahnen bis zu Adam weit hinauf, und seine Voreltern wurden, ungeachtet aller Sündfluten und Vögel und Jahreszeiten, dennoch seine Voreltern, und das diesjährige Laub grünte für das Räupchen! – Und wo gäb' es denn im All etwas echt Kleines? Das All geht ebensogut auf Würmchen-Füßen als das Epos auf Verse-Füßen, und beide gehören dem Heldengedicht; aber dann muß der Dichter mitten im Feuer auch die kleinsten Füße lenken. Vor dem höchsten Auge muß das Kleinste wieder ein Größtes und All sein; und die Unendlichkeit der Teilbarkeit ist eine des Werts. Aber findet ihr denn nicht diese Wahrheit bei jedem Spaziergange auf jedem grünen Blatte? Ist etwan die niedrigste Mücke schlechter, unbestimmter ausgeführt mit Augen und Adern als der höchste Mensch? Die Natur kennt keinen Geiz, weder mit Kraft, noch Zeit, noch Verstand, noch Leben, so wie keine Unbestimmtheit; auch keine Vorliebe für irgendein äußeres Leben; sie wirft in den Spinnen-Kopf eine unbewußte Meßkunst, wie in ihres Newtons seinen eine bewußte.

Wie der alte ewige Ausbau des Blättchens und dessen Käfers eine stehende Vorsehung ist: so ist die Geschichte beider Wesen und der Völker eine wandelnde.

Die Geschichte ist keine Ausgleichung zwischen Glück und Wert, obwohl eine langsame zwischen Gesamt-Gange und Einzel-Flug; daher wird euch die welthistorische Sonnenuhr selten richtig genug im Mondschein eueres Lebens zeigen können. Ihr verlangt, die stark besetzte Instrumental-Natur soll mit der lebendigen Vokal-Natur in einer Note zusammentreffen; aber kann nicht euer Singstück hinauf und hinab sich ganz anders als das Instrumental-Stück, das euch frei begleitet, und sich doch mit ihm harmonisch bewegen?

Dem Menschen geziemts, bei dem demütigsten Herzen gleichwohl ein gläubig-offnes Auge für das Außerweltliche zu bewahren, um nicht Blumenstaub und Schwefelregen der Zukunft für bloßen Straßenstaub seines Wegs zu halten. Uns geziemt es, Begebenheiten, welche witzigen Einfällen des Ungefährs gleich scheinen, nachzusinnen, weil auch der Witz des Zufalls wie der menschliche zuletzt auf Regel und Besonnenheit beruht, damit wir nicht Pyramiden und Persepolis-Ruinen, wie jener Gelehrte, für Aufwürfe der blinden Natur ansehen. Wenn jahrtausendelang der Magnet dieselbe Himmelgegend unserm leiblichen Auge vergeblich zeigt: wie leichter muß unserm Blicke und Gefühl das richtungs-wechselnde Einwehen des geistigen Äthers entfliehen! Wird uns doch sogar am so nahen Menschen das Absondern seines Scheines von seinem Willen so schwer! – Aber in einem stillen frommen Herzen nennt sich der Geschichts-Gott lauter als im rauschenden Weltgebäude.

Verzweiflung ist der einzige echte Atheismus. Hole zum Glauben mit einem besonnenen Überglauben aus; achte vorzüglich auf das, was, ohne deine Schuld und Würdigkeit wiederkommend, wie ein Geist erscheint und geht, was plötzlich in der Nacht herunterfällt als ein Manna, das entweder ernährt, oder sanft ausheilt. Ist dir aber eine solche Sicherheit darüber in deinem Allerheiligsten gegeben worden, so vertraue und schweige; wage aber nicht; sondern bete nur durch fromme Taten die unbegreiflichen an.

Frage mich nicht, schuldloser Überunglücklicher (wenn du in diesem seltensten Falle bist), auf deinem Sterbebette mit gebrochner Stimme: wo aber deine Vorsehung sei. Schreitet hinter zu großem Glück die Nemesis strafend: so geht sie auch hinter zu großem Unglück belohnend; stirb nur, so mußt du sie sehen.

1. Kleine Zwielichter

AVölkerzehend

Ein Landesvater, welcher mehr einem Bienen-Vater als einer Bienen-Mutter zu gleichen wünscht, wird die Untertanen so gut wie Bienen behandeln, welchen man (nach Varro III. 16) bloß neun Teile des eingetragnen Honigs nimmt, den zehnten aber (oder den Zehenden) läßt, will man sie nicht selber füttern oder, wie sonst geschah, den Stock totschwefeln.

BNeue Regierungen

Neue Regierungen fahren mit den Pferden von Auroras Wagen, welche Flügel hatten; den Rossen an Phöbus seinem, die den längern Weg zu ziehen haben, mangeln sie.

CSelbsttätigkeit

Ein Pferd läuft so schnell als ein Strauß; aber jenes wird vom Reiter gespornt, dieser hat an seinen Flügeln Stacheln, womit er sich selber spornt und sticht – und ich bin lieber der Vogel.

DGeschichts-Würde

Mit Milton und Woltmann glaub' ich gerne: große Taten beschreiben (nämlich würdig) sei so erhaben als sie vollführen und wenig oder kein Unterschied zwischen Autor und Held. Daher hob sich unser Volk wieder etwas durch die häufigern Geschichtschreiber, welche würdig genug dessen Niederlagen und folglich, da diese ohne Siege nicht abgehen können, die größten Erhebungen darstellen, so daß wir immer einem Napoleon zehn Geschichtschreiber entgegenzusetzen haben und ihn damit schlagen. Sogar ich selber hier stelle die Darsteller vielleicht wieder würdig dar; und so stellt sich Ruhm auf Ruhm.

EVolks-Entschädigungen

Die Kriegs-Wunden eines Landes dadurch heilen, daß man es vergrößert oder sonst den Fürsten entschädigt, ist ein Grundsatz, welchen die politische Sympathie mit Glück von der gemeinen sympathetischen Kurart entlehnt, welche ebenfalls die Wundsalbe nicht auf die Wunde streicht, sondern nur auf das verwundende Instrument und dadurch heilt.

FEhre einiger Edelleute

Ein Edelmann, der durchaus nicht leidet, daß jemand anders gegen seine Ehre handle und sündige als er selber, und welcher daher bloß sich, nicht andern Ehrenschulden schuldig bleibt, sitzt ganz im Vorteile des englischen Volkes, das die ungeheuere Nationalschuld fast bloß bei sich selber geborgt hat, und das bei dieser Einerleiheit von Schuldner und Gläubiger recht blühen und kämpfen kann, ähnlich gedachtem Edelmanne.

II. Germanismen und Gallizismen

Mir träumte, Karl der Große halte mich für seinen Sohn, Ludwig den Frommen, und klage so: »Wie seid ihr Deutschen eingeschrumpft, von dir an bis zu den Sachsen und andern Deutschen, die ich besiegte! Wie wenige haben meine Natur! Sonst maß (nach Conring) der Deutsche 7 Fuß rheinländisch, wie ich selber; wenigstens war er 6 Fuß 3½ Zoll nach Zimmermann lang. Wo aber seh' ich dergleichen Potsdamer noch? Dich Betbruder daher wird man bald samt deinen Zwergen geschlagen haben. Himmel, welche Leibes-Stärke mögen unsere Vorfahren besessen haben, da schon Adelung in der zweiten Auflage seiner deutschen Orthographie aus ihrer Stärke die Menge ihrer Mitlauter ableitet, z. B. die sonstigen Chinothzsson statt unserer Genossen! – Wo gibt es denn noch Cäsars Römer um uns her, welche bloß auf Aussagen einiger Franzosen von der hohen Gestalt und Seele der Deutschen und von deren Augenblitze (acies oculorum) alle von den Kriegstribunen an bis zu den Gemeinen dermaßen in Furcht geraten, daß sie in Tränen ausbrechen (neque lacrymas tenere possunt