Polyneuropathie - Klaus-Dieter Kieslinger - E-Book

Polyneuropathie E-Book

Klaus-Dieter Kieslinger

0,0

Beschreibung

"Polyneuropathie − was ist das?" werden Betroffene oft gefragt. Diffuse Schmerzen oder Gefühlsstörungen in den Füßen, Beinen, Fingern oder Armen treten auf, wenn Nervenverbindungen vom Rückenmark in die Peripherie beeinträchtigt sind. Taubheitsgefühle bis hin zu Lähmungserscheinungen der Muskulatur können die Folge sein und belasten die Betroffenen sehr. Von medizinischer Seite stehen heute mit hochwirksamen Medikamenten, physikalischen Maßnahmen, aber auch komplementären Methoden maßgeschneiderte Therapien zur Verfügung. Wenn Patienten den gemeinsam erstellten Therapieplan aktiv umsetzen, so kann sich ihre Lebensqualität deutlich verbessern. "Besonders wichtig ist es deshalb, gut über die Erkrankung, den häufig chronischen Charakter und die langsame Besserungstendenz, die viel Gedulderfordern kann, ausreichend informiert zu sein. Hierzu kann dieses Buch in hervorragender Weise beitragen." Prim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Iglseder, Vorstand der Universitätsklinik für Geriatrie in Salzburg

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 181

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Einleitung

1 Wie Betroffene die Krankheit erleben

2 Wie funktioniert unser Nervensystem?

Auge an Großhirn

Zellen und Fasern

3 Beschwerden bei Polyneuropathie

Motorische Nerven

Sensible Nerven

Autonome/vegetative Nerven

Symptomübersicht

Verlaufsformen und Folgen

Interview: Gibt es Vorboten der Erkrankung?

4 Ursachen der Polyneuropathie

Überblick

Diabetes

Alkoholismus

Nährstoffmangel

Medikamente

Polyneuropathien durch von außen zugeführte Schadstoffe

Infektionskrankheiten

Autoimmunerkrankungen

Intensivmedizinische Behandlung

Nierenschwäche

Erkrankungen der Blutgefäße

Tumorerkrankungen

Vererbte Polyneuropathie

Idiopathische Neuropathie

Interview: Kann mein Lebensstil die Erkrankung auslösen­?

5 Diagnostische Möglichkeiten

Wie erfolgt die Abklärung einer Polyneuropathie?

Was möchte der Arzt über Ihre Beschwerden wissen?

Wie verläuft die Untersuchung beim Neurologen?

Welche Veränderungen sind bei Polyneuropathie zu beobachten?

Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (Elektroneurographie)

Messung der elektrischen Muskelaktivität (Elektromyographie)

Laboruntersuchung

Interview: Was erwartet den Patienten bei der neurologischen Untersuchung?

Mögliche Zusatzuntersuchungen

Krankheiten mit ähnlichen Beschwerden

Restless Legs – die unruhigen Beine

Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK)

Erkrankungen der Wirbelsäule

Überlastungssyndrom der Beine

Fehlhaltungen der Füße/Beine

Unterschenkelödeme

Gutartige Muskelkrämpfe

6 Therapie der Polyneuropathie

Ursächliche Therapie – das Übel an der Wurzel packen

Diabetes

Alkohol

Mangelerscheinungen

Vergiftungen

Medikamente

Nierenschwäche

Paraproteinämien

Tumoren

Immunreaktionen bremsen

Infektionen

Symptomatische Therapie – Beschwerden lindern

Medikamentöse Therapie bei neuropathischen Schmerzen

Nichtmedikamentöse Therapien

7 Psychotherapie und Entspannung

Psychotherapie

Entspannungstraining

Progressive Muskelentspannung

Autogenes Training

Training der Achtsamkeit

Atemtraining

Interview: Wie kann ich lernen, mich zu entspannen?

8 Neurologische Rehabilitation

Interview: Für welche Polyneuro­pathie-Patienten ist eine Neuro-Reha besonders geeignet?

9 Wichtige Selbsthilfe

10 Leben mit Polyneuropathie

Selbstmanagement

Sportliche Aktivitäten

Reisen

Ernährung

Angehörige miteinbinden!

Interview: Wie wirkt sich die Erkrankung auf das Sexualleben von Polyneuropathie-Patienten­ aus?

Lexikon der wichtigsten Begriffe

Die zehn wichtigsten Fragen zum Thema Polyneuropathie 

Die Autoren

Literaturverzeichnis

Dr. med. Klaus-Dieter Kieslinger

Mag. Wolfgang Bauer

 

Polyneuropathie

Wenn Nerven schmerzen

 

 

 

 

 

Impressum

© Verlagshaus der Ärzte GmbH, Nibelungengasse 13, A-1010 Wien

www.aerzteverlagshaus.at

1. Auflage 2020

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere das der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwendung, vorbehalten.

ISBN 978-3-99052-284-4

Umschlaggestaltung & Satz: Grafikbüro Lisa Hahsler, 2232 Deutsch-Wagram

Umschlagfoto: Shutterstock/Seasontime

Projektbetreuung & Lektorat: Marlene Weinzierl

Das Werk gibt den Wissensstand der Autoren bei Drucklegung wieder. Autoren und Verlag haben alle Buchinhalte sorgfältig geprüft, jedoch kann keine Haftung für die Richtigkeit und Vollständigkeit der hier publizierten Informationen übernommen werden.

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit – vor allem in Hinblick auf die Vermeidung einer ausufernden Verwendung von Pronomen – haben wir uns dazu entschlossen, alle geschlechtsbezogenen Wörter nur in eingeschlechtlicher Form – der deutschen Sprache gemäß zumeist die männliche – zu verwenden. Selbstredend gelten alle Bezeichnungen gleichwertig für Frauen.

Einleitung

Polyneuropathie – ein sperriger Begriff. So werden viele denken, wenn sie zum ersten Mal auf die Bezeichnung für diese neurologische Erkrankung stoßen. Doch der Name sagt bereits einiges über ihren Charakter aus:

Die Vorsilbe „Poly-“ bedeutet einfach „viele“, „-neuro-“ weist auf einen Zusammenhang mit dem Nervensystem hin und die Nachsilbe „-pathie“ kennzeichnet ganz allgemein eine Erkrankung. Die Polyneuropathie lässt sich demnach als eine Erkrankung vieler Nerven definieren.

Genau genommen meinen wir damit die sogenannten peripheren Nerven, also die mehr oder weniger langen Nervenfasern, welche vom Rückenmark bis in die Peripherie ziehen, das heißt in die Füße, in die Finger, in den Bauch- oder in den Brustraum. Diese Nerven können aus vielerlei Gründen Schaden nehmen, wie Sie weiter unten noch genauer lesen werden. Als besonders häufige Ursachen gelten die Zuckerkrankheit (Diabetes), übermäßiger chronischer Alkoholkonsum, Infektionskrankheiten, wie etwa Borreliose, die Einnahme bestimmter Medikamente oder – bei familiär gehäuftem Auftreten – ganz einfach die Genetik.

Ist die Funktion der peripheren Nerven einmal beeinträchtigt, dann macht dies dem Betroffenen auf unterschiedlichste Weise zu schaffen: Patienten berichten von diffusen Schmerzen, oft in Verbindung mit verschiedenartigen Missempfindungen und Gefühlsstörungen. Derartige Beschwerden treten auf, wenn für die Weiterleitung von Gefühlsreizen zuständige Nerven geschädigt sind. Werden motorische Nerven in Mitleidenschaft gezogen, also Nerven, welche die Bewegung der einzelnen Muskeln steuern, dann können sogar Lähmungserscheinungen die Folge sein. Dies kann das Aufstehen oder Gehen wegen der damit verbundenen Sturzgefahr mitunter zu einem gefährlichen Unterfangen machen.

Andere Patienten leiden unter einem quälenden Ziehen, einem Kribbeln oder einem Taubheitsgefühl in den Füßen oder in den Zehen. Sind jene Nerven betroffen, welche in den Brustraum ziehen, dann nehmen Betroffene manchmal sogar ernsthafte Probleme am Herzen nicht adäquat oder zu spät wahr: Es besteht die Gefahr, dass sie einen Herzinfarkt übergehen, weil sie den typischen Schmerz hinter dem Brustbein nicht spüren, der normalerweise mit einem Infarkt einhergeht.

 

Rund zwei bis drei Prozent der österreichischen Bevölkerung und acht Prozent bei den über 55-Jährigen sind von Poly­neuropathie betroffen; Männer etwa doppelt so häufig wie Frauen. Die Erkrankung kann jüngere Personen genauso treffen, tritt aber vornehmlich bei älteren Personen auf – der Altersdurchschnitt liegt bei 65 Jahren. Und da die Menschen hierzulande immer älter werden, dürfte sich an der Anzahl der Betroffenen kaum etwas zum Besseren wenden. Im Gegenteil.

Erfreulicherweise gibt es große Fortschritte, was die Diagnostik und die Therapie der Polyneuropathie betrifft. Man denke an die Möglichkeit der präzisen Messung der Geschwindigkeit und Stärke der Nervenleitung (sie ist bei den Betroffenen beeinträchtigt), an moderne bildgebende Verfahren (zum Beispiel Magnet­resonanztomographie oder Ultraschall) oder spezielle Untersuchungen im Labor. In vielen Fällen sind jedoch gar keine aufwändigen und schon gar keine schmerzhaften Untersuchungen nötig, um zu einer exakten Diagnose durch einen Neurologen zu gelangen.

Die Behandlung der Polyneuropathie ist sehr vielfältig, die Palette an Möglichkeiten reicht von der Verabreichung wirksamer Medikamente über physikalische Maßnahmen bis hin zur Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln und Vitaminen. Welche Behandlungsmethoden zum Einsatz kommen, hängt von der Ursache der Erkrankung sowie vom Beschwerdebild des jeweiligen Patienten ab. Die Behandlung muss genau auf die Symptome abgestimmt und zugeschnitten werden. Weil – wie gesagt – Diabetes, ein Vitaminmangel, übermäßiger Alkoholkonsum oder ein jahrelang unbehandelter Bluthochdruck die Nerven schädigen und Polyneuropathie verursachen kann, lässt sich die Krankheit in vielen Fällen durch eine Änderung des Lebensstils günstig beeinflussen.

Es zahlt sich also aus, wenn sich Betroffene mit der Erkrankung Polyneuropathie in all ihren Facetten befassen; am besten in einem frühen Stadium, in dem sie sich vielleicht noch gut beeinflussen bzw. an ihrem Fortschreiten hindern lässt. Das führt zu einem deutlichen Gewinn an Lebensqualität und einer Verminderung des Leidensdrucks. Und das ist es auch, was wir mit diesem Buch erreichen wollen. Denn Patienten, die nichts oder zu wenig gegen dieses Leiden unternehmen oder zu spät reagieren, müssen mit einem Fortschreiten der Erkrankung und einer Verschlimmerung der Beschwerden rechnen. Wir möchten mit diesem Buch dazu beitragen, dies zu verhindern.

Auf den folgenden Seiten lesen Sie, unter welchen Beschwerden Polyneuropathie-Patienten leiden, wie die Krankheit bei ihnen begonnen hat und wie sie damit zurechtkommen (Kapitel 1). Im darauffolgenden Kapitel 2 vermitteln wir einen Einblick in die Funktionsweise des Nervensystems und zeigen, was bei Polyneuropathie anders abläuft. Zu welchen Beschwerden die Beeinträchtigung der Nerven führt und was deren mögliche Ursachen sind – das bildet die Inhalte der folgenden Kapitel 3 und 4. Es folgt ein Abschnitt über die Methoden, mit deren Hilfe die Ärzte eine sichere Diagnose stellen und ähnliche Erkrankungen ausschließen (Kapitel 5). Danach bieten wir einen ausführlichen Überblick über die zahlreichen Behandlungsmethoden. Dazu zählen auch begleitende bzw. komplementäre Maßnahmen – wie das Entspannungstraining oder die Verabreichung von Heilpflanzen –, die das Leiden der Betroffenen lindern und deren Lebensqualität verbessern können (Kapitel 6 und 7). Im Anschluss daran zeigen wir, welche Chancen eine Neurologische Rehabilitation sowie Selbsthilfe bieten (Kapitel 8 und 9). Was Betroffene selbst zur Verbesserung ihrer Lebensqualität beitragen können, ist Inhalt des letzten Abschnittes (Kapitel 10).

Fragen, die nach bestimmten Kapiteln und Abschnitten auftauchen können, versuchen wir in Form von Interviews mit Experten zu beantworten. Am Ende des Buches finden Sie ein Lexikon der wichtigsten Begriffe rund um diese Erkrankung.

Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Polyneuropathie ist ein weit verbreitetes Leiden, mit Symptomen, die von den Betroffenen teilweise als sehr belastend empfunden werden. Von medizinischer Seite her gelingt es immer besser, die Ursachen dieses Leidens genau auszumachen, um eine maßgeschneiderte Therapie anzubieten. Doch um eines kommen Patienten nicht herum: Sie müssen mitmachen und aktiv den gemeinsam mit ihrem Arzt erstellten Therapieplan umsetzen, um eine Besserung erzielen zu können. Compliance – auch so ein sperriger Begriff wie die Bezeichnung der Erkrankung selbst: So nennt die Fachwelt dieses engagierte Einbringen und kooperative Verhalten auf Seiten der Betroffenen. Auch zu dieser Haltung möchten wir mit diesem Buch Mut machen.

Bei einigen Kapiteln haben uns externe Experten mit ihrem Fachwissen unterstützt. Unser ausdrücklicher Dank gilt daher (in alphabetischer Reihenfolge) dem Biologen und Schmerzforscher Univ.-Prof. Dr. Günther Bernatzky, Primar Dr. Peter Biowski, Facharzt für Physikalische Medizin und allgemeine Rehabilitation, der Psychologin Linda Anna-Maria Hillinger, B. Sc., dem ärztlichen Leiter des Neurologischen Therapiezentrums Gmundnerberg, Primar Dr. Hermann Moser, der Apothekerin und Präsidentin der Salzburger Apothekerkammer, Mag. pharm. Kornelia Seiwald, sowie dem Leiter der medizinischen Abteilung im VIVAMAYR Maria Wörth, Prof. Dr. Harald Stossier. Bedanken möchten wir uns auch bei jenen drei Polyneuropathie-Patienten, die offen über ihre Erkrankung erzählt haben – das Thema des folgenden Kapitels.

 

1Wie Betroffene die Krankheit erleben

Polyneuropathie, die „Erkrankung vieler Nerven“, zeigt auch viele Gesichter. Abhängig davon, welche Nerven geschädigt sind, kann sich das Beschwerdebild sehr unterschiedlich darstellen, wie von uns in der Einleitung bereits erwähnt wurde. Die Erkrankung verläuft nicht immer nach demselben Schema, ihre Symptome können sich im Laufe der Jahre verändern. So beginnt sie nicht selten mit einer Gefühlsstörung in Form von Taubheitsgefühlen in den Füßen, zu denen sich im Laufe der Zeit dann verschiedene Missempfindungen wie Kribbeln, Ziehen oder Elektrisieren hinzugesellen. Nach und nach kann es zu belastenden Schmerzen in den Unterschenkeln kommen. Mit der Zeit breiten sich diese Beschwerden dann häufig auch in die Hände oder sogar in die Arme aus. Die verminderte Wahrnehmung in den Füßen führt im weiteren Verlauf dann häufig zu Schwindelgefühlen in Form von Gangunsicherheit, weil die Betroffenen den Untergrund unter den Füßen und die Position ihrer Beine nicht mehr so gut wahrnehmen können.

Damit Sie sich ein besseres Bild über die vielfältigen Symptome dieser neurologischen Erkrankung machen können, möchten wir Ihnen drei Patienten vorstellen, die uns offen über ihre Beschwerden erzählt haben. Wir wollten von ihnen wissen, wie bei ihnen die Krankheit begonnen hat, wie sie in der Folge verlaufen ist, wie sich die Polyneuropathie auf ihr Leben auswirkt, was sie dagegen unternehmen und wie sie damit zurechtkommen.

Patientin 1: Mit einem Schock begann das Leiden

Die 70-jährige und alleinstehende Frau H. aus dem Bundesland Salzburg leidet seit vier Jahren an Polyneuropathie. Kurz nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter, den sie als großen Schock erlebte, traten die ersten Beschwerden auf. Es begann mit starken, stechenden Schmerzen in den Zehen und am Rist ihrer Füße, welche ihr jedes Mal das Gehen erschwerten. Diese unangenehmen Empfindungen traten vorwiegend auf, während sie sich bewegte. Aber nicht nur, sondern auch in Ruhe, zum Beispiel abends beim gemütlichen Sitzen vor dem Fernseher.

Frau H. konsultierte ihre Hausärztin, welche relativ rasch die Diagnose einer Polyneuropathie stellte. Wahrscheinlich, so vermutet unsere Patientin, weil sie bereits seit einigen Jahren an Diabetes mellitus Typ 2 litt: Die Zuckerkrankheit gilt ja als eine der häufigsten Ursachen für Polyneuropathie, wie noch genauer zu lesen sein wird. Die Diagnose der Hausärztin wurde in weiterer Folge durch die Untersuchung bei einem Neurologen bestätigt. Eine stationäre Aufnahme zur Abklärung und Therapie folgte.

Die Patientin erhielt Medikamente gegen neuropathische Schmerzen sowie zweimal jährlich Vitamin-B-Infusionen, um die Regeneration der Nerven zu fördern. Ihr Diabetes war ohnehin seit Jahren zufriedenstellend eingestellt. Trotz der frühzeitigen Diagnose und der rasch einsetzenden Therapie verschlechterte sich das Beschwerdebild weiter. Die Schmerzen breiteten sich von den Zehen allmählich weiter nach oben aus, bis in die Unterschenkel.

Manchmal verspürt Frau H. Beschwerden in der Wadenmuskulatur, die sich wie ein Muskelkater anfühlen – jedoch ohne vorangegangene sportliche Aktivität. Auch ein häufig auftretendes Ziehen und Stechen in den unteren Extremitäten quält sie: Es fühle sich so an, als ob sie in viel zu heißem Wasser stehen würde. Inzwischen schmerzen auch ihre Arme und Hände. Außerdem habe sie insgesamt an muskulärer Kraft eingebüßt. Sie getraue sich jetzt nicht mehr, wie früher mit dem Rad zu fahren – einerseits, weil ihr die Kraft dazu fehle, andererseits aber auch, weil sich ihr Gleichgewichtsgefühl stark verschlechtert habe.

Aufgrund ihrer Schmerzen begann Frau H., ihre körperlichen Aktivitäten nach und nach einzuschränken. Auch zog sie sich immer mehr aus ihrem Bekanntenkreis zurück. Und das, obwohl sie früher sehr aktiv gewesen war und im Laufe der Jahre zahlreiche Bergwanderungen und -touren unternommen hatte. Auch ihren Hometrainer benutzt sie kaum noch, weil ihr das Auf- und Absteigen immer schwerer fällt und weil sie Angst hat, dabei zu stürzen. Den Schmerzen, ihren nachlassenden koordinativen Fähigkeiten sowie der zunehmenden Gangunsicherheit begegnet sie, indem sie für kurze Gehstrecken Nordic-Walking-Stöcke verwendet. Längere Gehstrecken vermeidet sie überhaupt. Auf die Verwendung eines Rollators möchte sie verzichten, zumindest solange es irgendwie geht. Früher war sie in den Sommermonaten morgens häufig in das nahe gelegene Schwimmbad gegangen, um sich durch Schwimmen fit zu halten. Heute empfindet sie das Wasser als unangenehmen, ja schmerzhaften Reiz für die Muskulatur. Weniger Gehen, nicht mehr Rad fahren können, eine Reduktion vieler körperlicher Aktivitäten – das ergibt unterm Strich eine erhebliche Verringerung ihrer Mobilität und damit ihrer Lebensqualität. Ihre größte Sorge ist es, eines Tages an einen Rollstuhl gebunden zu sein.

Zufrieden sei Frau H. allerdings mit ihrer Nachtruhe, sie schläft ausreichend und gut. So etwas können nicht alle Polyneuropathie-Patienten über ihren Schlaf behaupten. Der Diabetes des Typs 2 ist – wie bereits erwähnt – durch die Therapie ihrer Internistin gut eingestellt. Es klingt paradox: Frau H. fühlt sich generell gut, ja vital. Wenn da nur nicht die schmerzhaften Einschränkungen beim Gehen wären!

Auf die Frage, welche ihrer beiden chronischen Krankheiten – Diabetes oder Polyneuropathie – sie als die schlimmere empfindet, nennt Frau H. spontan die Polyneuropathie.

Für Einkäufe und diverse Erledigungen ist Frau H. auf die Unterstützung ihrer Tochter angewiesen, die in der Nähe wohnt. Ihren Sohn, der in Übersee lebt, kann sie heute nicht mehr besuchen, wie sie es früher gerne getan hat. Ihr größter Wunsch wäre, dass sich die Beschwerden nicht noch weiter verschlechtern und dass ihr der Rest der Gehfähigkeit erhalten bleibt.

Patient 2: Die Krankheit gut im Griff

Auch bei Herrn A. hat es mit Missempfindungen in den Füßen angefangen. Der 71-jährige Tiroler erinnert sich, dass er damals – vor etwa 20 Jahren – ständig unter kalten Füßen zu leiden hatte, obwohl er in warmen Räumen und auf gut beheizten Böden in einem Altersheim arbeitete. Als sich dann in den Füßen auch noch ein Taubheitsgefühl einstellte, suchte er schließlich seinen Hausarzt auf. Dieser verschrieb ihm wärmende Salben, die keine Besserung der Beschwerden brachten. Wenig später gesellte sich ein Kribbeln in den Beinen dazu, was den Arzt veranlasste, den Patienten in eine Klinik zu überweisen. Doch die Durchblutung der Beine, die dort gecheckt wurde, war in Ordnung. „Dann musst du damit leben!“, lautete das Resümee des Arztes.

Das tat Herr A. auch eine Weile. Bis sein Hausarzt in Pension ging. Dann wandte sich der Patient an die junge Nachfolgerin, die ihn an eine große neurologische Klinik überwies. Die gründliche Untersuchung dauerte einen halben Tag, dann stand die Diagnose fest: Polyneuropathie. Eine Krankheit, von der Herr A. noch nie etwas gehört hatte. Der behandelnde Neurologe erklärte ihm, dass diese Erkrankung nicht wirklich geheilt werden könne, dass man allerdings einiges unternehmen könne, um gut damit zu leben. Der Patient war gewillt, sich auf das therapeutische Maßnahmenpaket einzulassen.

Als erstes erhielt er ein Medikament aus der Gruppe der Antiepileptika. Auch verschiedene physiotherapeutische Übungen, spezielle Gleichgewichtsübungen und ein gezieltes Training der Muskulatur standen auf seinem Therapieplan. Vieles davon konnte er sich während eines Kuraufenthaltes aneignen. Er besuchte regelmäßig die Sauna, weil er den Wechsel von „heiß“ und „kalt“ als wichtigen Impuls für sein Temperaturempfinden wahrnahm. Später kam auch die Hochton­therapie – die elektrische Stimulation der Nerven mit hochfrequenten Wechselströmen – zur Anwendung. Viele dieser Maßnahmen haben sich bewährt und Linderung gebracht, Herr A. führt sie heute noch regelmäßig durch.

Auf der Suche nach der Ursache der Polyneuropathie kam man anfangs nicht weiter, verschiedene Untersuchungen und Befunde erbrachten keine eindeutigen Ergebnisse. Nach beharrlichem Nachfragen des Arztes kamen Beziehungsprobleme mit der Partnerin ans Licht. Sein damaliger Neurologe hätte ihm geraten, diese Probleme zu bearbeiten. Denn er war überzeugt davon, dass der Körper erheblich Schaden erleide, wenn die Seele nicht atmen könne. Daraufhin beendete Herr A. diese Beziehung. Er sollte bald danach eine neue Partnerin kennenlernen... Darüber hinaus suchte er den Kontakt zu anderen Betroffenen. Er beteiligte sich an der Gründung der „Selbsthilfegruppe Polyneuropathie“ in Tirol, die er später sogar als Leiter übernehmen sollte.

Einen anderen Hinweis aus dem beruflichen Alltag des Patienten hätte der Arzt anfangs für nicht so bedeutend wie die Beziehungsproblematik gehalten: Herr A. war gelernter Tischler, musste aber vor Jahren diesen Beruf aufgeben, weil seine Lunge durch die verwendeten Chemikalien (insbesondere Nitrolacke) Schaden genommen hatte. Der Patient war jedoch überzeugt, dass sich die chemischen Giftstoffe aus dieser Zeit noch immer in seinem Körper befanden und seine Gesundheit nach wie vor beeinträchtigten. Also begann er auf eigene Faust, seinen Körper zu „entgiften“, und zwar mithilfe von Elektrolyse-Fußbädern.

Herr A. meint, dass er durch dieses Bündel an Maßnahmen heute – 20 Jahre nach der Diagnose – sagen kann, die Polyneuropathie im Griff zu haben. Einige Beschwerden, wie die Schmerzen und das Kribbeln in den Füßen, hätten sich seither sogar deutlich gebessert.

Patientin 3: Aktiv mit der Krankheit umgehen

Die 50-jährige Frau C. aus Niederösterreich leidet an CMT, das ist eine vererbte Form der Polyneuropathie. CMT ist die Abkürzung für Charcot-Marie-Tooth-Syndrom, eine Erkrankung, die nach ihren Entdeckern benannt worden war (Näheres siehe Seite 63). Die Diagnose CMT war bei Frau C. vor etwa 15 Jahren gestellt worden. Erste Erscheinungen hatte sie – aus heutiger Sicht – jedoch bereits Jahrzehnte früher verspürt...

Als Jugendliche war sie immer wieder plötzlich und wie aus heiterem Himmel gestürzt. Sie schenkte dem allerdings wenig Beachtung, tat die Stürze vielmehr als Missgeschick und reine Tollpatschigkeit ab. Sie war noch keine 20 Jahre alt, als ihr Freund beim Barfußgehen am Strand bemerkte, dass sie mit ihren Zehen immer eine kleine Menge Sand mitnahm und in die Luft schleuderte. Heute weiß sie, dass es sich dabei um die ersten Anzeichen einer sogenannten Fußheberschwäche gehandelt hatte. Diese besteht darin, dass ein normales Anheben der Fußspitzen und damit das Abrollen der Füße über die Zehen nur eingeschränkt gelingt. Denn der Nerv, der das Anheben der Vorfüße steuert, kann aufgrund einer verminderten Leitungsfähigkeit die entsprechenden Impulse nicht in ausreichendem Maße vom Rückenmark an die Fußmuskulatur senden. Daher schleift die Spitze des Fußes knapp über den Boden. Am Strand wird dadurch Sand hochgewirbelt. Auf festem Untergrund bzw. beim Treppensteigen besteht durch diese Schwäche der Vorfußheber die Gefahr, mit den Füßen bei jedem Schritt „hängen zu bleiben“ und zu stolpern. Was Frau C. seinerzeit nicht wirklich nachdenklich stimmte. Auch anderen Missempfindungen bzw. Gefühlsstörungen in den Füßen und Beinen schenkte sie anfangs kaum Beachtung. Bis sie mit Mitte 30 schwanger wurde und während dieser Zeit ständig unter kalten Füßen zu leiden hatte – trotz der Hitze des Sommers damals. Sie wandte sich auf Anraten ihrer Physiotherapeutin und Masseurin an einen Neurologen. Vom Verdacht bis zur sicheren Diagnose CMT vergingen jedoch nochmals rund drei Jahre, was auch der Schwangerschaft und der Geburt geschuldet war.

Im Laufe der Zeit kam es zu immer deutlicheren Ausprägungen der Beschwerden und Missempfindungen. Das Gehen wurde zusehends unsicher, Frau C. spürte ihre Füße immer schlechter. Vor allem die Empfindung von Berührungen und die Wahrnehmung von Qualitäten wie „warm“ und „kalt“ nahmen ab. Eine zunehmende Fehlstellung der Füße durch die langsam und unbemerkt schwindende Muskulatur sowie Verkrampfungen, die auch von den Fehlempfindungen herrührten, führten dazu, dass Frau C. beim Gehen mit den Fersen nicht mehr den Boden berührte. Eine Operation an den Füßen – die Achillessehnen wurden verlängert – erbrachte schließlich deutliche Erleichterung. Nun hat sie „beim Gehen die Ferse wieder am Boden“, wie sie es formuliert.

Frau C. ist trotz der Erkrankung noch immer sehr aktiv und sportlich, muss dabei allerdings immer wieder Stürze in Kauf nehmen. Allerdings versucht sie, dieses Risiko zu verringern. So ersetzte sie das Skifahren durch Schneeschuhwandern. Im Sommer geht Frau C. mit Hilfe von zwei Stöcken wandern und bevorzugt gute Wege. Sie tanzt nach wie vor leidenschaftlich gerne, jedoch ihren Möglichkeiten angepasst. Beim Gehen im Dunkeln oder wenn sie sich durch eine größere Menschenmenge bewegen muss, verwendet sie einen Gehstock. Sie fährt mit dem Auto zu ihrem Arbeitsplatz in einer Firma für Medizintechnik nach Wien und engagiert sich in der Selbsthilfe für CMT. Die Patientin unternimmt außer­dem vieles, um das Fortschreiten der Polyneuropathie zu bremsen oder aufzuhalten: von physio- und ergotherapeutischen Übungen über das Tragen von Spezialschuhen bis hin zur Stimulation von Nerven und Muskeln mittels Hochtontherapie.

Frei nach dem Motto: Auch wenn die Diagnose Polyneuropathie zunächst wie ein Schock wirken kann – es besteht die Möglichkeit, mit dieser Erkrankung gut zu leben und ihr gegenzusteuern: durch einen bewussten und aktiven Lebensstil!

2Wie funktioniert unser Nervensystem?

Für einen Menschen, der allzu häufig mit ausgeprägter Nervosität reagiert und wenig belastbar ist, hält die österreichische Mundart eine spezielle Bezeichnung parat. So jemand gilt als „Nerverl“. Oder – wie es weit über Österreichs Grenzen hinaus bekannt ist – als „Nervenbündel“, also jemand mit einem „dünnen Nervenkostüm“.